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Viertes Kapitel.

Sechs Wochen später saß Claude eines Morgens bei der Malerei in einer Flut von Sonnenlicht, welches durch das breite Fenster in das Atelier hereinfiel. Anhaltender Regen hatte die Mitte des Monats August trübselig gestaltet; mit dem blauen Himmel war ihm der Mut zur Arbeit wiedergekommen. Sein großes Gemälde wollte nicht vorwärts; lange Vormittage arbeitete er daran mit stillem Fleiße als kämpfender und ausdauernder Künstler.

Man klopfte an die Tür. Er glaubte, es sei die Haushälterin Frau Joseph mit seinem Frühstück; und da der Schlüssel immer in der Tür steckte, rief er einfach:

»Herein!«

Die Tür war aufgegangen, eine leichte Bewegung entstand, dann hörte alles wieder auf. Er fuhr fort zu malen, ohne sich auch nur umzuwenden. Allein diese bebende Stille, ein unbestimmter, zitternder Hauch erregte schließlich eine Unruhe in ihm. Er schaute sich um und war ganz verblüfft: eine Frau war da, in hellem Kleide, das Gesicht unter einem weißen Schleier halb verborgen. Er kannte sie nicht; sie hielt einen Rosenstock in der Hand, was ihn vollends stutzig machte.

Aber plötzlich erkannte er sie.

»Sie sind's, Fräulein? ... Wahrhaftig, an Sie habe ich nicht gedacht!«

Es war Christine. Er hatte nicht rechtzeitig diesen wenig liebenswürdigen Ausruf – den Ausruf der Wahrheit selbst – unterdrücken können. Anfänglich hatte ihre Erinnerung ihn beschäftigt; als später die Tage seit nahezu zwei Monaten dahinflossen und sie kein Lebenszeichen von sich gegeben, war sie zu einer flüchtigen, bedauerten Erscheinung geworden, zu einem reizenden Gesicht, das auf Nimmerwiedersehen verblaßt.

»Ja, ich bin's ... Ich dachte, es sei schlimm, Ihnen nicht zu danken ...«

Errötend und stammelnd hatte sie es gesagt, nur mit Mühe die rechten Worte findend. Ohne Zweifel hatte der Aufstieg auf der Treppe ihr den Atem benommen, denn ihr Herz pochte sehr heftig. War denn dieser Besuch nicht am Platze, den sie so lange erwogen und schließlich ganz natürlich gefunden hatte? Das Schlimmste war, daß sie am Ufer diesen Rosenstock gekauft hatte in der zarten Absicht, dem jungen Manne ihre Dankbarkeit zu bezeugen; diese Blumen waren ihr jetzt eine arge Verlegenheit. Wie sollte sie ihm sie übergeben? Was sollte er von ihr denken? Das Unziemliche aller dieser Dinge war ihr erst klar geworden, als sie die Tür öffnete.

Doch Claude, noch verlegener als sie, erschöpfte sich jetzt in einem Übermaße von Höflichkeit. Er hatte seine Palette hingelegt und durchstöberte das Atelier, um einen Sessel freizumachen.

»Ich bitte Sie, Platz zu nehmen, mein Fräulein. Wahrhaftig, das ist eine Überraschung! Sie sind zu liebenswürdig.«

Als Christine Platz genommen hatte, ward sie ruhiger. Er war so drollig mit seinen lebhaften, scheuen Bewegungen, und sie selbst fand ihn so schüchtern, daß sie lächeln mußte. Mutig reichte sie ihm die Rosen.

»Nehmen Sie; damit Sie sehen, daß ich nicht undankbar bin.«

Er sagte zuerst nichts, sondern schaute sie nur gerührt an. Als er sah, daß sie sich nicht lustig über ihn machte, drückte er ihre beiden Hände mit voller Kraft; dann setzte er den Strauß sogleich in eine mit Wasser gefüllte Vase, wobei er wiederholte:

»Aber Sie sind ja ein famoser Kerl! ... Zum erstenmal mache ich einer Frau dieses Kompliment, auf Ehre!«

Er trat wieder zu ihr und fragte, ihr fest in die Augen blickend:

»Ist's wahr, Sie haben mich nicht vergessen?«

»Sie sehen es ja«, antwortete sie lachend.

»Warum haben Sie denn zwei Monate gewartet?«

Sie errötete von neuem. Die Lüge, zu der sie ihre Zuflucht nahm, erneuerte ihre Verlegenheit.

»Ich bin nicht frei, wie Sie wissen ... Frau Vanzade ist sehr gut zu mir; allein sie ist gelähmt und kann nicht ausgehen. Sie selbst hat – um meine Gesundheit besorgt – mich nötigen müssen auszugehen, um ein wenig frische Luft zu schöpfen.«

Sie schwieg von der Scham, in die ihr Abenteuer vom Bourbonufer sie in den ersten Tagen gestürzt hatte. Als sie in dem Hause der alten Dame sich geschützt sah, folterte sie – gleich einem Fehltritt – die Erinnerung an die bei einem Manne verbrachte Nacht. Sie glaubte, es sei ihr gelungen, diesen Mann aus ihrem Gedächtnisse zu bannen; es war nur mehr ein böser Traum, dessen Umrisse sich verflüchtigten. Dann war aber, ohne daß sie wußte wie inmitten ihres ruhigen Dahinlebens das Bild aus dem Schatten wieder hervorgetreten, immer deutlicher, immer schärfer, bis es allmählich alle ihre Stunden ausfüllte. Warum sollte sie ihn vergessen? Sie hatte ihm keinen Vorwurf zu machen; war sie ihm nicht – im Gegenteil – Dank schuldig? Der Gedanke, ihn wiederzusehen, anfangs zurückgewiesen und später lange bekämpft, war unabweislich geworden. Jeden Abend ward sie in der Einsamkeit ihres Zimmers von der Versuchung neuerlich ergriffen; es war ein Unbehagen, das sie aufregte, ein ihr selbst unbekanntes Verlangen; sie war erst etwas ruhiger geworden, als sie sich diese Verwirrung mit ihrem Bedürfnis, sich dankbar zu erweisen, erklärte. Sie war in diesem schläfrigen Hause so allein, so beklommen; der Strom ihrer Jugend gärte so gewaltig; ihr Herz begehrte so stürmisch nach Freundschaft! ...

»So habe ich denn,« fuhr sie fort; »meinen ersten Ausgang dazu benutzt ... Und es war so schön heute morgen nach dem vielen unfreundlichen Regen! ...«

Claude stand selig vor ihr und beichtete auch seinerseits, aber ohne etwas zu verbergen zu haben.

»Ich wagte nicht mehr, an Sie zu denken ... Sie sind wie eine der märchenhaften Feen, die aus dem Fußboden auftauchen und durch die Mauern verschwinden immer in dem Augenblicke, wo man sich dessen nicht versieht. Ich sagte mir: es ist aus; es ist vielleicht gar nicht wahr, daß sie in diesem Atelier geweilt ... Jetzt sind Sie da, und das macht mir ein Vergnügen, ein großes Vergnügen!«

Christine wandte lächelnd und verwirrt den Kopf weg und tat jetzt, als schaue sie sich um. Ihr Lächeln verschwand; die grelle Malerei, die sie hier wiederfand, die flammenden Skizzen aus dem Süden, die furchtbar genaue Anatomie der Studien ließen ihr Blut erstarren wie das erstemal. Sie wurde von einer wahren Furcht ergriffen und sagte ernst, mit veränderter Stimme:

»Ich störe Sie, ich gehe.«

»Nein, nein!« rief Claude und hinderte sie, ihren Sessel zu verlassen. Ich war schon ganz dumm von der Arbeit, und es wird mir wohltun, ein wenig mit Ihnen zu plaudern ... Dieses verwünschte Bild peinigt mich schon genug!«

Christine erhob die Augen und betrachtete das große Bild, diese Leinwand, die das vorigemal zur Wand umgedreht war, und das sie vergebens hatte sehen wollen.

Der Hintergrund, die dunkle, von einem Lichtfelde durchbrochene Lichtung war nur mit großen Strichen angedeutet. Die zwei ringenden Frauen hingegen, die Blonde und die Braune, waren fast fertig und hoben sich im Lichte ab mit ihren frischen Tönen. Der Herr im Vordergrunde, dreimal neu begonnen, war unfertig geblieben. An der Hauptfigur, dem im Grase liegenden Weibe, arbeitete der Maler hauptsächlich. Er hatte den Kopf nicht wieder in Angriff genommen, sondern malte mit rastlosem Eifer an dem Körper, änderte jede Woche das Modell und war dermaßen verzweifelt darüber, sich selber nicht befriedigen zu können, daß er, der sich schmeichelte, nichts erfinden zu können, seit zwei Tagen sein Vorbild außerhalb der Natur suchte.

Christine erkannte sich sogleich. Das war sie: dieses Mädchen, das im Grase lag, einen Arm unter dem Nacken, lächelnd, mit leerem Blick unter den geschlossenen Augenlidern. Dieses Mädchen hatte ihr Gesicht; und eine Empörung richtete sie auf, als habe jene auch ihren Körper und als habe man ihre jungfräuliche Blöße hier roh enthüllt. Hauptsächlich verletzte sie die Rücksichtslosigkeit dieser Malerei, die so schroff war, daß sie sich dadurch wie entehrt, ihr Fleisch gleichsam zermartert fühlte. Sie begriff diese Malerei nicht, sie fand sie abscheulich; sie fühlte einen Haß gegen diese, einen instinktiven Haß wie gegen eine Feindin.

Sie erhob sich und sagte kurz:

»Ich gehe.«

Claude folgte ihr mit den Augen, erstaunt und betrübt über diese plötzliche Änderung.

»Wie, so rasch?«

»Ja, man erwartet mich. Leben Sie wohl!«

Sie war schon bei der Tür, als er ihre Hand ergreifen konnte. Er wagte die Frage:

»Wann werde ich Sie wiedersehen?«

Ihre kleine Hand wurde weicher in der seinen. Sie schien einen Augenblick zu zögern.

»Ich weiß es nicht, ich bin so stark beschäftigt«, sagte sie.

Dann machte sie sich los und ging mit den rasch hervorgestoßenen Worten:

»Wenn ich kann ... an einem dieser Tage ... Leben Sie wohl!«

Claude war unbeweglich auf der Türschwelle stehen geblieben. Was war ihr denn wieder? Was bedeutete diese plötzliche Zurückhaltung, diese dumpfe Gereiztheit? Er schloß die Tür und ging mit schlenkernden Armen, ohne zu begreifen, im Atelier herum, den Satz, die Bewegung suchend, die sie verletzt haben mochte. Jetzt ergriff ihn der Zorn, und er machte ihm mit einem Fluche, mit einem heftigen Achselzucken Luft, wie um sich von dieser blöden Sorge zu befreien. Kannte man sich jemals bei den Weibern aus? Doch der Anblick des Rosenstraußes in dem Blumentopfe beruhigte ihn; der Raum war von dem Dufte der Rosen ganz erfüllt, und in diesem Dufte machte er sich still wieder an die Arbeit.

Abermals verflossen zwei Monate. Wenn in den ersten Tagen das geringste Geräusch entstand, wenn Frau Joseph des Morgens das Frühstück oder Briefe brachte, hob Claude lebhaft den Kopf und machte unwillkürlich eine Gebärde der Enttäuschung. Er ging nicht mehr vor vier Uhr aus, und als eines Abends bei seiner Heimkehr die Hausbesorgerin ihm erzählte, daß gegen fünf Uhr ein Mädchen ihn gesucht habe, beruhigte er sich nicht eher, als bis er aus ihrer Schilderung erkannte, daß das Modell Zoé Piédefer die Besucherin gewesen. Als Tage auf Tage folgten, ohne daß sich etwas Neues ergab, kam ein wütender Arbeitseifer über ihn; er war für jedermann unzugänglich, heftig, daß selbst seine Freunde ihm nicht zu widersprechen wagten. Mit einer Gebärde fegte er die ganze Welt hinweg; es gab für ihn nichts mehr als die Malerei, man mochte seinethalben die Anverwandten, die Kameraden und vor allem die Weiber erdrosseln! Aus diesem Hitzfieber fiel er dann in eine furchtbare Trostlosigkeit; es kam eine Woche des Unvermögens und des Zweifels, eine ganze Marterwoche, daß er glaubte, vom Blödsinn befallen zu sein. Dann hatte er sich wieder gefaßt, hatte seine gewohnte Lebensweise, seinen einsamen Kampf mit seinem Gemälde wieder aufgenommen; da fuhr er an einem nebeligen Morgen gegen Ende Oktober plötzlich zusammen und legte rasch seine Palette hin. Man hatte nicht geklopft, aber er hatte einen die Treppe heraufsteigenden Schritt erkannt. Er öffnete, und sie trat ein. Sie war es endlich.

Christine trug an jenem Tage einen weiten Mantel von Wollstoff, der sie ganz einhüllte. Ihr Samthütchen war von dunkler Farbe; der Nebel hatte ihren schwarzen Spitzenschleier mit Perlen besetzt. Aber er fand sie sehr frisch in diesem ersten Frösteln des Winters. Sie entschuldigte sich, weil sie so lange nicht gekommen, und lächelte dabei mit ihrer ehrlichen Miene; sie gestand ihm, daß sie gezögert habe, daß sie überhaupt nicht mehr habe kommen wollen; ja, sie habe so ihre eigenen Gedanken; es seien dies Dinge, die er begreifen müsse. Er begriff nicht und suchte auch nicht zu begreifen; ihm genügte, daß sie da war, daß sie nicht zürnte, daß sie als gute Kameradin von Zeit zu Zeit heraufkommen wollte. Eine Erklärung fand zwischen ihnen nicht statt; die Qualen und Kämpfe der verflossenen Tage behielt jeder für sich. Fast eine Stunde lang plauderten sie sehr zutraulich ohne Rückhalt und Feindseligkeit, als sei ohne ihr Wissen während ihrer Trennung das gute Einvernehmen zwischen ihnen entstanden. Die Skizzen und Studien an den Wänden schien sie gar nicht zu sehen. Einen Augenblick betrachtete sie die große Leinwand, die nackte Frau, die vom flammenden Golde der Sonne umflutet, im Grase lag. Nein, das war nicht sie; dieses Mädchen hatte weder ihr Gesicht, noch ihren Körper. Wie hatte sie in diesem furchtbaren Farbengemengsel sich selbst erkennen können? Ihre Freundschaft verwandelte sich fast in Mitleid für diesen guten Jungen, der in seiner Figur nicht einmal ihre Ähnlichkeit anbrachte. Beim Scheiden reichte sie auf der Türschwelle ihm herzlich die Hand.

»Daß Sie es nur wissen: ich komme wieder.«

»Ja, in zwei Monaten.«

»Nein, die nächste Woche ... Sie werden schon sehen; am Donnerstag.«

Am Donnerstag kam sie wieder sehr pünktlich; und seitdem regelmäßig jede Woche einmal, anfänglich ohne einen Tag zu bestimmen, je nachdem sie freie Zeit fand; später wählte sie den Montag, weil Frau Vanzade ihr diesen Tag bewilligt hatte, um im Boulogner Gehölze sich zu ergehen und frische Luft zu schöpfen. Sie mußte um elf Uhr zu Hause sein; sie beeilte sich zu Fuße und kam ganz gerötet an, denn es war ein weiter Weg von Passy nach dem Bourbonufer. Während der vier Wintermonate Oktober bis Februar kam sie so, zuweilen im Regen, zuweilen im Nebel, oft bei dem bleichen Schein der Wintersonne, die eine sanfte Wärme an den Ufern verbreitete. Vom zweiten Monate ab kam sie zuweilen auch unversehens an einem andern Tage der Woche, einen Gang in die Stadt benutzend, um heraufzukommen; dann konnte sie nur zwei Minuten bleiben; man hatte knapp Zeit, sich guten Tag zu sagen, dann war sie schon wieder auf der Treppe, von wo sie ihm ein Lebewohl zurief.

Claude begann jetzt, Christine kennen zu lernen. In seinem ewigen Mißtrauen gegen das Weib war ihm ein letzter Argwohn geblieben, der Gedanke an ein galantes Abenteuer in der Provinz. Allein die sanften Augen und das helle Lachen des Mädchens hatten jeden Verdacht getilgt; er fühlte, daß er es mit einem unschuldigen großen Kinde zu tun habe. Wenn sie ankam ohne Verlegenheit in froher, ungezwungener Stimmung wie bei einem Freunde, ging ein unerschöpfliches Plaudern an. Zwanzigmal schon hatte sie ihm ihre in Clermont verlebte Kinderzeit erzählt, und immer wieder kam sie darauf zurück. An dem Abend, als ihr Vater, der Kapitän Hellgrain, seinen letzten Schlaganfall hatte und wie vom Blitz getroffen von seinem Lehnstuhl zu Boden fiel, war sie mit ihrer Mutter in der Küche. Sie erinnerte sich genau ihrer Rückkehr, dann der schrecklichen Nacht, wie der Kapitän, ein sehr großer, dicker Mann mit hervortretender Kinnlade auf der Matratze lag; sie hatte ihn nur so in ihrer Erinnerung behalten. Auch sie hatte diese vorspringende Kinnlade, und wenn ihre Mutter nicht wußte, wie sie das Kind bändigen sollte, pflegte sie ihr zuzurufen: »Ha, Spitzkinn, du wirst ein Wüterich wie dein Vater!« Arme Mutter! Wieviel Ärger hatte sie mit ihrer Unbesonnenheit, mit ihren geräuschvollen Spielen ihr verursacht! So weit sie nur zurückdenken konnte, sah sie diese immer an dem nämlichen Fenster, klein, schmächtig, geräuschlos ihre Fächer malend, mit ihren sanften Augen, die alles waren, was sie heute noch von ihr hatte. Man sagte es der guten Frau manchmal, um ihr eine Freude zu machen: »Sie hat ihre Augen«. Dann lächelte sie und war glücklich, daß sie sich wenigstens in diesem Teil des Gesichtes ihrer Tochter wiederfand. Seit dem Tode ihres Gatten arbeitete sie so spät in die Nacht hinein, daß sie dabei ihr Sehvermögen einbüßte. Aber wie wollte sie ihr Leben fristen? Ihr Witwengehalt von sechshundert Franken genügte kaum für die Bedürfnisse des Kindes. Fünf Jahre lang hatte sie ihre Mutter mit jedem Tage blasser und magerer werden sehen, bis sie nur mehr ein Schatten war. Sie machte sich jetzt unablässige Vorwürfe, weil sie nicht sehr artig gewesen, durch ihren Mangel an Fleiß die Mutter tief betrübt hatte. An jedem Montag hatte sie mit schönen Vorsätzen begonnen und versprochen, der Mutter bald in ihrem Gelderwerbe beizustehen, aber trotz ihrer Anstrengungen wollten Arme und Beine nicht ruhen; sie wurde krank, wenn sie stille saß. Eines Morgens hatte die Mutter sich nicht erheben können, und sie starb mit verlöschender Stimme, die Augen voll Tränen. Immer sehe sie die Tote so, die großen, tränennassen Augen auf sie gerichtet.

Zu anderen Malen, wenn Christine von Claude über Clermont befragt wurde, vergaß sie alle Trauer, um sich in mehr heiteren Erinnerungen zu ergehen. Sie lachte hell auf, wenn sie sich erinnerte, wie sie in der Eclachestraße kampierten, sie zu Straßburg geboren, ihr Vater ein Gascogner, ihre Mutter eine Pariserin, alle drei nach der Auvergne verschlagen, die sie verabscheuten. Die Eclachestraße, die eng und feucht bis zum Pflanzengarten hinabsteigt, war trübselig wie ein Keller; kein Kaufladen, niemals ein Fußgänger, nichts als düstere Häuserseiten mit stets geschlossenen Fensterläden; um die Mittagsstunde jedoch drang die Sonne selbst in die inneren Höfe ein und ließ ihr helles Licht zu den Fenstern hereinströmen. Ihr Speisezimmer öffnete sich auf einen breiten Balkon, eine Art hölzerne Galerie, auf deren Geländer eine riesige Glycine stand, die sie in ihr Grün einhüllte. Dort war sie herangewachsen, anfänglich neben ihrem siechen Vater, dann mit ihrer Mutter eingeschlossen, welche der geringste Ausgang erschöpfte. Stadt und Umgebung waren ihr so vollständig unbekannt, daß sie und Claude schließlich lachten, wenn sie seine Fragen nur mit einem ewigen »Ich weiß nicht« beantworten konnte. Berge? Ja, die gab es auf einer Seite; man bemerkte sie am Ende der Straßen. Auf der andern Seite sah man, wenn man durch andere Straßen kam, ebene Felder sich endlos dahinziehen. Aber dahinging man niemals; es war zu weit. Sie kannte bloß den Puy de Dôme, der ganz rund war wie ein Höcker. In der Stadt hätte sie mit geschlossenen Augen nach der Kathedrale gehen können; man machte einen Umweg über den Youdeplatz und ging dann durch die Fleischerstraße. Mehr durfte man sie nicht fragen, der Rest verwirrte sich; es waren abschüssige Gäßchen und Promenaden, eine abfallende Stadt von schwarzer Lava, über welche sich Wolkenbrüche unter furchtbaren Donnergetöse entluden, um ihre Wassermassen gleich reißenden Strömen durch die Straßen zu wälzen. Sie zitterte jetzt noch, wenn sie sich dieser Ungewitter erinnerte. Der Blitzableiter des Museums, den sie von ihrem Fenster über den Dächern sah, stand stets im Feuer. In dem Speisesaal, der auch als Salon diente, hatte sie ein Fenster für sich, eine tiefe Nische, so groß wie ein Zimmer, wo ihr Arbeitstisch und ihre kleinen Sachen standen. Hier hatte ihre Mutter sie lesen gelehrt; hier war sie später bei den Vorträgen ihrer Lehrer eingeschlafen, so sehr ermüdeten sie die Unterrichtsstunden. Sie machte sich denn auch über ihre Unwissenheit lustig. Ein wohlunterrichtetes Fräulein, das nicht einmal die Namen aller Könige von Frankreich mit den Daten hersagen konnte; auch eine famose Musikerin, die es nicht weiter gebracht hatte als bis zum »Schifflein klein«; eine glänzende Aquarellistin, die keinen Baum zustande brachte, weil die Blätter so schwer nachzumachen sind. Dann ging sie plötzlich zu den fünfzehn Monaten über, die sie nach dem Tode ihrer Mutter bei den Schwestern von der Heimsuchung zugebracht hatte in einem großen Kloster vor der Stadt, mit herrlichen Gärten. Sie erschöpfte sich in Geschichten von den Nonnen: es gab da Eifersüchteleien, Dummheiten, Einfältigkeiten zum Erschrecken. Sie sollte Nonne werden, aber sie erstickte fast in der Kirche. Sie war aufs höchste überrascht, als die Oberin, die sie sehr liebte, ihr das Klosterleben ausredete und ihr diesen Platz bei Frau Vanzade verschaffte. Sie begriff noch heute nicht, wie die würdige Nonne so deutlich in ihrer Seele gelesen. Denn seitdem sie in Paris lebte, war sie tatsächlich in eine vollkommene religiöse Gleichgültigkeit verfallen.

Wenn die Erinnerungen aus Clermont erschöpft waren, wollte Claude ihr Leben bei Frau Vanzade kennen lernen; und sie erzählte ihm jede Woche neue Einzelheiten. In dem kleinen, stillen, verschlossenen Hause zu Passy floß das Leben regelmäßig dahin, mit dem leisen Ticktack der alten Uhren. Zwei alte Diener, – eine Köchin und ein Kammerdiener – seit vierzig Jahren im Hause, schlichen allein, geräuschlos wie Gespenster, durch die Gemächer. Von Zeit zu Zeit kam ein Besuch, ein achtzigjähriger General, dermaßen ausgetrocknet, daß er kaum auf den Teppich drückte. Es war ein Haus der Schatten; die Sonne drang durch die Ritzen der Jalousien nur mit dem gedämpften Schein einer Nachtlampe. Seitdem Frau Vanzade, blind und an den Knien gelähmt, ihr Zimmer nicht mehr verließ, hatte sie keine andere Zerstreuung, als sich fromme Bücher endlos vorlesen zu lassen. Wie lästig war dem jungen Mädchen dies fortwährende Vorlesen! Hätte sie irgendeine Arbeit verstanden, mit welcher Freude würde sie Kleider zugeschnitten, Hüte geputzt, Blumen gemacht haben! Wie traurig, daß sie zu nichts brauchbar war; sie hatte alles gelernt und taugte doch zu nichts als zu einer Beschäftigung, in der sie halb und halb Dienstmädchen war! Überdies litt sie in diesem verschlossenen, starren Hause, das nach Moder roch; sie ward zuweilen von den übermütigen Anfällen ihrer Kindheit ergriffen wie in jener Zeit, da sie sich ihrer Mutter zuliebe zur Arbeit zwingen wollte; es war ein Aufruhr des Blutes in ihr; sie hätte schreien und hüpfen mögen, trunken von dem Bedürfnisse zu leben. Allein Frau Vanzade behandelte sie so sanft, wenn sie sie aus ihrem Zimmer entließ und ihr lange Spaziergänge empfahl, daß sie von Gewissensbissen erfüllt war, wenn sie vom Bourbonufer zurückkehrend, lügen, vom Boulogner Gehölz reden, eine Feier in der Kirche erfinden mußte, wohin sie seit Monaten keinen Fuß mehr setzte. Mit jedem Tage schien Frau Vandaze eine größere Zärtlichkeit für sie zu empfinden; sie erhielt unaufhörlich Geschenke, bald ein Seidenkleid, bald eine alte kleine Uhr, selbst Leibwäsche. Sie liebte die alte Frau sehr und hatte eines Abends geweint, als die alte Dame sie ihre Tochter nannte; sie versprach, sie niemals zu verlassen; ihr Herz war von Mitleid erfüllt, wenn sie sie so alt und schwach sah.

»Bah!« sagte Claude eines Morgens, »Sie werden belohnt; Sie macht Sie zu Ihrer Erbin.«

Christine war bei diesen Worten ganz betroffen.

»Wo denken Sie hin? Man sagt, sie habe drei Millionen. Nein, nein, ich habe nie daran gedacht; ich will es nicht; was würde aus mir werden?«

»Reich würden Sie werden! Ohne Zweifel wird sie Sie vorher verheiraten.«

Bei diesem Worte unterbrach sie ihn mit einem hellen Lachen.

»Mit einem ihrer alten Freunde; vielleicht mit dem General, der ein silbernes Kinn hat. Das ist ein guter Spaß.«

Beide blieben zueinander wie alte Bekannte. Er war in allen Dingen fast ebenso unerfahren wie sie, denn er hatte nur Mädchen kennen gelernt, die ihm der Zufall in den Weg geführt, hatte über die Wirklichkeit erhaben, in romantischen Liebschaften gelebt. Es schien ihnen – ihm wie ihr – sehr einfach und natürlich, sich in dieser Weise im geheimen als Freunde zu sehen ohne andere Galanterie, als einen Händedruck beim Kommen und Gehen. Er fragte sich nicht einmal, was sie in ihrer Unwissenheit eines ehrbaren Mädchens vom Leben und vom Manne wissen mochte; sie hingegen ahnte seine Furchtsamkeit und schaute ihn zuweilen fest an mit dem Augenflimmern und der erstaunten Verwirrung der sich selbst unbekannten Leidenschaft. Aber nichts Glühendes, nichts Erregtes verdarb ihnen noch das Vergnügen, das ihnen ihr Beisammensein verursachte. Ihre Hände blieben frisch; sie sprachen von allem in heiterem Tone, zankten zuweilen wie Freunde, die sicher waren, niemals uneinig zu werden. Aber diese Freundschaft ward eine so lebhafte, daß sie ohne einander nicht mehr leben konnten.

Sobald Christine ankam, zog Claude den Schlüssel aus der Tür. Sie selbst verlangte es: so würde sie niemand stören. Schon nach wenigen Besuchen hatte sie von dem Atelier Besitz ergriffen; sie schien daselbst zu Hause zu sein. Es quälte sie, daselbst einige Ordnung zu schaffen, denn es ging ihr an die Nerven, sich inmitten einer solchen Verwahrlosung zu bewegen. Allein das war keine leichte Arbeit; der Maler verbot der Frau Joseph auszukehren aus Furcht, daß der Staub sich auf die frischen Malereien legen könne; und die ersten Male, wenn seine Freundin ein wenig aufzuräumen versuchte, folgte er ihr mit unruhigem, flehendem Blick. Wozu die Dinge von ihrem Platze zu rücken? Genügte es nicht, sie zur Hand zu haben? Allein sie bekundete eine so muntere Ausdauer, schien so glücklich, Hausmütterchen spielen zu können, daß er sie schließlich gewähren ließ. Wenn sie ankam und die Handschuhe abgestreift hatte, steckte sie ihren Rock auf, um ihn nicht zu beschmutzen, schob alles durcheinander und räumte im Handumdrehen in dem geräumigen Atelier auf. Vor dem Ofen lag kein Aschehaufen mehr; der Wandschirm verbarg das Bett und' die Toilette; das Sofa war gebürstet, der Schrank abgewischt, daß er schimmerte, der weichholzene Tisch vom Kochgeschirr befreit und von den Farbenflecken gereinigt. Über den in schöner Gleichmäßigkeit aufgestellten Sesseln und den an die Wände gelehnten lahmen Staffeleien hing die große Kuckucksuhr mit ihren flammendroten Farben, und ihr Ticktack schien heller zu klingen. Es war prächtig; man hätte das Atelier kaum wieder erkannt. Erstaunt sah er sie hin und her gehen, singend schalten und walten. War das die Faulenzerin, die bei der geringsten Arbeit unerträgliche Krämpfe bekam? Doch sie lachte bei dieser Frage; die Kopfarbeit sei ihr zuwider, die Arbeit der Füße und Hände hingegen tue ihr wohl, richte sie auf wie einen jungen Baum. Sie gestand – wie man einen Fehler gesteht – ihren Geschmack für die niedrigen Sorgen der Hauswirtschaft, diesen Geschmack, der ihre Mutter zur Verzweiflung brachte, deren Erziehungsideal die Kunst des angenehmen Lebens war, die Lehrerin mit den feinen Händen, die nichts anrührt. Darum wollte man es ihr auch verwehren, wenn sie – noch als kleines Mädchen – mit wonnigem Eifer fegte und scheuerte und die Köchin machte. Heute noch würde sie weniger Langeweile haben, wenn es bei Frau Vanzade ihr erlaubt wäre, sich mit der Hauswirtschaft zu befassen. Aber was würde man gesagt haben? Sie würde sogleich aufgehört haben, eine Dame zu sein. So kam sie, um diese ihre Neigung zu befriedigen, nach dem Bourbonufer in das Atelier, wo sie ordnete und schaffte, bis ihr der Atem ausging, mit den Augen einer Sünderin, die von der verbotenen Frucht kostet.

Claude merkte jetzt in seiner Umgebung die fürsorgliche Hand einer Frau. Um sie Platz nehmen zu lassen und ruhig mit ihr plaudern zu können, bat er sie zuweilen, einen zerrissenen Hemdärmel oder eine geplatzte Naht seiner Jacke wieder zusammenzunähen. Sie selbst hatte sich erbötig gemacht, seine Leibwäsche zu untersuchen. Aber da war sie nicht mehr seine schöne, rührige Hauswirtin. Vor allem verstand sie es nicht; sie hielt die Nadel wie ein Mädchen, das in der Verachtung gegen die Näherei erzogen worden. Und dann: diese Unbeweglichkeit, diese Aufmerksamkeit, diese kleinen Punkte, die einer nach dem andern sorgfältig beobachtet werden mußten, brachten sie zur Verzweiflung. Das Atelier schimmerte wie ein Salon, aber Claude blieb in Lumpen; und beide scherzten darüber und fanden es drollig.

Wie glücklich verbrachten sie diese vier Wintermonate, während es draußen regnete und fror, in diesem Atelier, wo der rotglühende Ofen summte wie eine Orgelpfeife. Der Winter schien sie hier noch mehr zu vereinsamen. Wenn der Schnee die benachbarten Dächer bedeckte, daß die Spatzen herbeiflogen und an die Scheiben des breiten Fensters klopften, lächelten sie, weil es ihnen so warm war in diesem weltverlorenen Winkel inmitten der großen, stillen Stadt. Nicht bloß in diesem engen Winkel waren sie beisammen; sie erlaubte ihm schließlich, sie nach Hause zu begleiten. Lange hatte sie darauf bestanden, allein fortzugehen, von der Scham gequält, draußen am Arme eines Mannes gesehen zu werden. Als aber eines Tages ein plötzliches Regenschauer niederging, mußte sie einwilligen, daß er mit einem Regenschirm sie hinunter begleitete; und da der Regen sogleich, kaum daß sie jenseits der Louis-Philipp-Brücke waren, aufgehört, hatte sie ihn sogleich zurückgesandt; sie waren nur wenige Minuten, an die Brüstung gelehnt, beisammen geblieben, um das Treiben auf dem Markte zu betrachten, ganz glücklich, so unter dem freien Himmel beisammen zu sein. Unten hart am Pflaster des Hafens lagen die großen Kähne voll Äpfel in vier langen Reihen so dicht beisammen, daß man Bretterstege zwischen sie legen konnte, wo Frauen und Kinder umherliefen. Sie fanden ihre Freude an diesen massenhaft aufgestapelten Früchten, die in großen Haufen auf der Böschung lagen oder in Körben befördert wurden. Ein starker, fast widriger Geruch – ein Geruch von gärendem Apfelsaft – drang mit dem feuchten Hauch des Flusses herauf. Als in der nächsten Woche die Sonne wieder zum Vorschein kam und Claude Christinen die Einsamkeit der Ufer rings um die Ludwigsinsel rühmte, willigte sie ein, einen Spaziergang dahin zu machen. Sie gingen das Anjouufer hinauf, blieben bei jedem Schritte stehen, interessierten sich für das Leben auf der Seine, für das Baggerschiff mit seinen kreischenden Zubern, für das schwimmende Waschhaus, aus dem lautes Gezänk hervordrang, für einen Krahn weit unten, der die Ladung eines Lastenschiffes löschte. Sie war ganz besonders erstaunt: war es möglich, daß dieses so lebhafte Ulmenufer drüben, daß dieses Ufer Heinrichs IV. mit seiner unermeßlichen Böschung, seinem Strande, wo Scharen von Kindern und Hunden sich auf Sandhaufen wälzten, daß dieser ganze Horizont einer bevölkerten und arbeitsamen Stadt jener Fleck eines verwunschenen Ortes sei, den sie in der Nacht ihrer Ankunft gleichsam in Blut getaucht gesehen? Sie umgingen dann die Spitze der Insel, verlangsamten ihren Gang noch mehr, um sich der Einsamkeit und der Stille zu freuen, die rings um die alten Paläste herrschte. Sie betrachteten das Wasser, wie es sich schäumend durch den Balkenwald der Verpfählung wälzte, und kehrten dann längs des Bethuneufers und des Orleansufers zurück, gleichsam einander näher gebracht durch die Ausbreitung des Flusses, sich enger zusammendrängend angesichts dieser ungeheuren Flut, die Blicke in der Ferne schweifend, bis zum Weinhafen und bis zum Botanischen Garten. Unter dem blassen Himmel blauten die Kuppeln von Monumentalbauten. Als sie bei der Ludwigsbrücke ankamen, mußte er ihr die Liebfrauenkirche nennen, die sie nicht erkannte, weil sie sie von der Rückseite sah, kolossal und zwischen ihren Strebepfeilern hockend, die ruhenden Pranken glichen, beherrscht von dem Doppelhaupt ihrer Türme über dem ungeheuerlich langen Rücken. Eine wahre Entdeckung war ihnen an jenem Tage die Westspitze der Insel, dieser Schnabel eines stets verankerten Schiffes, das mitten in der Flucht der beiden Strömungen Paris betrachtet, ohne es jemals zu erreichen. Sie stiegen eine sehr steile Treppe hinab und entdeckten eine mit großen Bäumen bestandene Böschung, es war ein köstlicher Schlupfwinkel, ein Zufluchtsort inmitten der Menge; ringsumher das lebendige Gewühl von Paris an den Ufern, auf den Brücken, während sie hier, am Flußufer die Freude genossen, allein zu sein, ungekannt von allen. Fortan war dieses Ufer ihr ländlicher Winkel, der Fleck im Freien, wo sie sonnenhelle Stunden zubrachten, wenn die große Hitze des Ateliers, wo der rotglühende Ofen summte, sie beinahe erdrückte und ihre Hände in ein Fieber zu versetzen begann, vor dem sie Angst bekamen.

Indes hatte Christine bisher sich geweigert, sich weiter als bis zum Markthafen begleiten zu lassen. Auf dem Ulmen-Ufer verabschiedete sie stets Claude, als ob Paris, mit seiner Menge und seinen möglichen Begegnungen bei dieser langen Zeile des Ufers angefangen hätte, die sie entlang gehen mußte. Allein Passy war so fern, und sie langweilte sich so sehr, allein einen so weiten Weg zurückzulegen, dass sie allmählich nachgab und ihm erlaubte, zuerst bis zum Rathause, später bis zum Pont-Neuf und dann bis zu den Tuilerien mitzugehen. Sie vergaß die Gefahr; die beiden gingen jetzt Arm in Arm dahin wie ein junges Ehepaar; dieser unaufhörlich wiederholte Spaziergang, dieses langsame Gehen auf demselben Bürgersteig neben dem Flusse hatte für sie einen unendlichen Reiz angenommen, ein so glückliches Genießen, daß ihnen dünkte, sie könnten niemals Schöneres empfinden. Sie gehörten einander im Tiefinnersten an, ohne sich einander noch hingegeben zu haben. Es war, als steige die große Seele der Stadt aus dem Flusse auf und hülle sie mit all der Liebe ein, die durch all die Jahrhunderte in diesen alten Mauern gewaltet.

Seit den sehr kalten Tagen des Dezembers kam Christine nur nachmittags, und gegen vier Uhr, wenn die Sonne unterging, begleitete Claude an seinem Arm sie zurück. Wenn sie an hellen Tagen bei der Louis-Philippe-Brücke anlangten, lag der ganze Ausblick auf die endlosen Ufer vor ihnen da. Von einem Ende bis zum andern erwärmte die zur Rüste gehende Sonne mit einem Goldstaub die Häuser des rechten Ufers, während das linke Ufer, die Inseln, die Gebäude sich in einer schwarzen Linie vom flammenden Abendhimmel abhoben. Zwischen diesem schimmernden und diesem dunklen Saum leuchtete die Seine mit dem tanzenden Widerschein der Abendsonne auf ihren Wellen, quer durchschnitten durch die dünnen Striche ihrer Brücken, die fünf Bogen der Liebfrauen-Brücke, den einzigen Bogen der Arcole-Brücke, dann der Wechselbrücke, dann der Neuen Brücke, einer immer schwächer als der andere und jeder nach seinem Schatten einen lichten Fleck zeigend, ein Stück samtblaues Wasser, das wie im Widerschein eines Spiegels verblaßte; während die vom dämmernden Abendhimmel sich abhebenden Linien des linken Ufers mit dem Schattenbilde der spitzigen Türme des Justizpalastes endigten, die schroff in die Leere starrten, rundete sich rechts eine weiche Krümmung in der Helle so unendlich lang, daß der Flora-Pavillon weit unten, der am äußersten Punkte wie eine Zitadelle hervortrat, ein Feenschloß schien, bläulich, leicht zitternd in dem rosigen Dunst am Horizonte. Sie aber wandten, unter den laublosen Platanen im Sonnenlichte dahin schreitend, die Augen von diesem blendenden Bilde ab und erfreuten sich an gewissen Winkeln, immer denselben, besonders an einem: dem Haufen sehr alter Häuser über dem Markthafen; unten kleine Läden mit Trödelkram und Fischereiartikeln in einstöckigen Häuschen, überragt von Terrassen mit Lorbeerbäumen und wildem Wein; dahinter standen noch höher wackelige Häuser mit Trockenwäsche in den Fenstern, eine Anhäufung von sonderbaren Gebäuden, ein Wirrsal von Brettern und Fachwerk, einstürzende Mauern und hängende Gärten mit farbigen Glaskugeln, von den letzten Strahlen der Abendsonne beschienen. Weiter wandernd, ließen sie bald die einander folgenden großen Gebäude, die Kaserne, das Rathaus hinter sich, um sich für die andere Seite des Flusses zu interessieren, für die Altstadt, die eng gedrängt hinter ihren geraden, glatten Mauern ohne Uferböschung sich dahinzog. Die die dunklen Häuser überragenden Türme der Liebfrauenkirche strahlten wie neu vergoldet. Die Brüstung des Ufers war von da an mit den Kästen der Antiquar-Buchhändler besetzt; unter einem Bogen der Liebfrauen-Brücke kämpfte ein Kohlenkahn mit der reißenden Strömung. An Blumen-Markttagen machten sie trotz des rauhen Wetters hier Halt, um die ersten Veilchen und Frühnelken zu betrachten. Das linke Ufer lag jetzt frei und zog sich endlos dahin. Jenseits der Pfefferbüchsen des Justizpalastes tauchten die kleinen, fahlen Häuser des Uhrenufers auf, bis zu dem Baumdickicht am Uferdamm; je weiter sie vorwärts kamen, tauchten andere Ufer aus dem Dunste auf: in sehr großer Ferne das Voltaire-Ufer, das Malaquais-Ufer, die Kuppel des Instituts, der viereckige Bau der Münze, ein langer, grauer Strich von Häusern, an denen man selbst die Fenster nicht unterscheiden konnte, ein Vorgebirge von Dächern, deren ungleiche Schornsteine sie einer felsigen Küste ähnlich machten, die sich mitten aus einem leuchtenden Meere erhebt. Gegenüber trat der Flora-Pavillon aus dem traumhaften Nebeldunste hervor und hob seine Umrisse kräftig in dem letzten Aufflackern der Sonne ab. Jetzt entfaltete sich rechts und links zu beiden Seiten des Flusses der tiefe Hintergrund der Sebastopol- und Palast-Promenade; es waren die neuen Bauten am Gerber-Ufer, das neue Polizeigebäude, die frühere Neue Brücke mit dem schwarzen Fleck seiner Statue; dann der Louvre, die Tuilerien; und im Hintergrunde, jenseits von Grenelle, die endlosen Fernen, die Hänge von Sèvres, das in eine Strahlenflut getauchte Land. Claude ging niemals weiter mit; vor der Königs-Brücke, bei den großen Bäumen der Badeanstalt Vigiers ließ ihn Christine stets haltmachen; wenn sie sich umwandten, um im goldigen Lichte der roten Sonnenscheibe noch einen Händedruck zu wechseln, schauten sie zurück und entdeckten am anderen Horizont die Ludwigs-Insel, woher sie kamen: ein verschwimmendes Ende der Hauptstadt, über welche unter dem schiefergrauen Osthimmel sich bereits die Nacht herabsenkte.

Welch schöne Sonnenuntergänge genossen sie während dieser allwöchentlichen Bummel! Die Sonne begleitete sie in dieser zitternden Helle der Ufer durch das Leben an der Seine mit dem hüpfenden Widerschein ihres Lichtes auf den Wellen des Flusses, vorbei an den Kaufläden, die so warm waren wie Treibhäuser, an den Blumentöpfen der Samenhändler, an den geräuschvollen Käfigen der Vogelhändler, durch all den Lärm der Töne und Farben, das aus dem Flußufer die ewige Jugend der Städte macht. Während sie gingen, kleidete sich links über der dunklen Linie der Häuser der glühende Abendhimmel in Purpurrot. Das Gestirn schien sie zu erwarten, neigte sich immer tiefer, rollte langsam nach den entfernten Dächern, sobald sie die Liebfrauen-Brücke hinter sich hatten, angesichts des verbreiterten Flusses. In keinem hundertjährigen Walde, auf keiner Bergstraße, in keiner wiesenreichen Ebene hat es jemals solche großartigen Sonnenuntergänge gegeben wie hinter der Kuppel des Instituts. Paris geht in seiner Herrlichkeit schlafen. Bei jedem ihrer Spaziergänge wechselte der Sonnenbrand; neue Glutherde fügten ihre Feuer dieser Flammenkrone hinzu. Als eines Abends ein Platzregen sie überraschte, tauchte die Sonne hinter dem Regen wieder auf, entzündete das ganze Gewölk, und sie sahen über ihren Häuptern nichts als diesen flammenden Wasserstaub, der in blau und rosa schimmerte. An solchen Tagen hingegen, an denen der Himmel hell war, sank die Sonne einer Feuerkugel gleich majestätisch in einem ruhigen Saphir-See hernieder; einen Augenblick legte sich die schwarze Kuppel des Instituts vor, daß sie wie ein abnehmender Mond aussah; dann nahm die Kugel eine violette Färbung an und versank in einem blutrot gewordenen See. Vom Februar ab vergrößerte sich ihre krumme Bahn, und sie fiel geradeaus in die Seine, die am Horizonte bei der Annäherung dieses rotglühenden Eisens zu sieden schien. Die großen Dekorationen aber, die großen Zaubererscheinungen des Raumes flammten nur an stürmischen Abenden auf. Je nach der Laune des Windes gab es dann Schwefelmeere, die Korallenfelsen peitschten, oder Paläste und Türme, über einander geschobene Bauten, die brannten, einstürzten, Lavaströme durch ihre Breschen ergießend; oder auch das Gestirn, das schon hinter einem Dunstschleier verschwunden gewesen, durchbrach diesen Wall mit einer solchen Lichtflut, daß Funkengarben hervorsprühten und von einem Ende des Himmels bis zum anderen schossen, sichtbar wie ein Flug goldener Pfeile. Es dämmerte der Abend, und sie schieden mit dieser letzten blendenden Erscheinung in den Augen; sie fühlten, daß dieses sieghafte Paris mitschuldig sei an der Freude, die sie nicht erschöpfen konnten, an der Freude, immer wieder von neuem diesen Spaziergang längs der steinernen Brustwehren zu beginnen.

Eines Tages ereignete sich plötzlich, was Claude befürchtet hatte, ohne es zu sagen. Christine schien nicht mehr zu glauben, daß man ihr begegnen könne. Wer kannte sie übrigens? Sie werde so ewig unbekannt einherwandeln können. Er aber dachte an die Kameraden und erbebte manchmal, wenn er in der Ferne den Rücken eines Bekannten zu erkennen glaubte. Ihn ängstigte ein Gefühl der Scham; der Gedanke, daß man das junge Mädchen anschauen, anreden, Spaße mit ihr machen könne, verursachte ihm ein unerträgliches Mißbehagen. Gerade an diesem Tage, als sie sich fest an seinem Arm schmiegte, und sie sich dem Pont-des-Arts näherten, stieß er auf Sandoz und Dubuche, welche die Stufen der Brücke herabkamen. Es war unmöglich, ihnen auszuweichen; sie befanden sich fast einander gegenüber; seine Freunde hatten sie übrigens sicherlich schon bemerkt, denn sie lächelten. Sehr bleich schritt er weiter und hielt schon alles für verloren, als er sah, wie Dubuche sich zu ihm wenden wollte; allein schon hielt Sandoz ihn zurück und führte ihn hinweg. Sie gingen mit gleichgültiger Miene vorüber und verschwanden im Hofe des Louvre, ohne sich umzuwenden. Beide hatten das Original jenes Pastellkopfes erkannt, den der Maler mit der Eifersucht eines Liebhabers verbarg. Christine war sehr heiter und hatte nichts bemerkt. Claude, dessen Herz stürmisch pochte, antwortete ihr mit beklommenen Worten, zu Tränen gerührt, von Dankbarkeit überfließend für die Höflichkeit seiner beiden alten Gefährten.

Einige Tage später gab es eine neue Aufregung. Er erwartete Christine nicht und hatte Sandoz ein Stelldichein gegeben. Als sie herauf geeilt kam, um ein Stündchen da zu verbringen – eine jener Überraschungen, die sie so sehr entzückten – und er der Gewohnheit gemäß den Schlüssel abgezogen hatte, pochte jemand vertraulich an die Tür. Er erkannte sogleich diese Art, sich anzukündigen, und war dermaßen verstört durch dieses Vorkommnis, daß er einen Sessel umwarf. Jetzt war es unmöglich, nicht zu antworten. Doch sie war erbleicht und flehte mit verzweifelter Gebärde; er stand unbeweglich da mit zurückgehaltenem Atem. Das Pochen an die Tür dauerte fort; eine Stimme rief: »Claude! Claude!« Er rührte sich noch immer nicht, kämpfte aber mit sich selber, die Lippen bleich, die Augen zu Boden gesenkt. Tiefe Stille herrschte; man hörte Tritte hinabsteigen, die hölzerne Treppe ächzen. Seine Brust erfüllte unendliche Trauer, ihm war, als müsse sie von inneren Vorwürfen zerspringen bei jedem dieser sich entfernenden Schritte, wie wenn er die Freundschaft seiner ganzen Jugendzeit verleugnet hätte.

Doch eines Nachmittags ward abermals an die Tür geklopft, und Claude hatte nur mehr Zeit, verzweifelt die Worte zu murmeln:

»Der Schlüssel ist an der Tür geblieben!«

In den Tat hatte Christine vergessen, ihn abzuziehen. Entsetzt flüchtete sie hinter den Wandschirm, wo sie auf den Rand des Bettes niedersank und ihr Taschentuch an den Mund drückte, um das Geräusch ihres Atems zu unterdrücken.

Man klopfte jetzt stärker; draußen wurde gelacht, und der Maler mußte rufen:

»Herein!«

Sein Mißbehagen wuchs, als er Jory bemerkte, der Irma Bécot galant am Arme führte. Seit zwei Wochen hatte Fagerolles sie ihm überlassen oder sich vielmehr in diese Laune gefügt aus Furcht, sie ganz zu verlieren. Sie trieb sich jetzt in allen Ateliers herum, dermaßen toll vernarrt in ihren Körper, daß sie jede Woche mit den drei Hemden, die sie besaß, anderswohin zog, um für eine Nacht zurückzukehren, wenn ihr Herz es ihr gerade eingab.

»Sie wollte dein Atelier sehen, und ich führte sie dir her«, erklärte der Journalist.

Doch ohne die Antwort des Malers abzuwarten, ging sie im Atelier schon herum und rief ohne jeden Zwang:

»Ach, da ist's aber drollig! ... Ist das eine drollige Malerei! ... Seien Sie doch liebenswürdig und zeigen Sie mir alles; ich möchte alles sehen ... Und wo schlafen Sie?«

Claude hatte furchtbare Angst, daß sie den Wandschirm von der Stelle rücken könnte. Er dachte an Christine, die dahinten verborgen saß, und war schon verzweifelt darüber, was sie bisher gehört hatte.

»Weißt du, was sie von dir verlangt?« fuhr Jory heiter fort. »Wie, du erinnerst dich nicht? Du hast ihr versprochen, irgend etwas nach ihr zu malen... Sie sitzt dir für alles was du willst; nicht wahr, Liebste?

»Gewiß, sogleich!«

»Ja ... aber ...« stammelte der Maler verlegen; »mein Bild wird mich bis zur Eröffnung der Ausstellung in Anspruch nehmen ... Es ist eine Figur darauf, die mir sehr viel Mühe verursacht. Mit diesen verwünschten Modellen kann ich nicht vorwärts kommen!«

Sie hatte sich vor die Leinwand hingepflanzt und hob das Naschen mit Kennermiene.

»Dieses nackte Weib im Grase ... Wie, wenn ich Ihnen dabei von Nutzen sein könnte?«

Jory ereiferte sich sogleich.

»Schau, das ist ein Gedanke! Du suchst ja ein schönes Mädchen und kannst es nicht finden ... Sie wird sich entkleiden. Entkleide dich, Liebste: entkleide dich, damit er sehe.«

Mit der einen Hand löste Irma rasch die Bänder ihres Hutes, mit der andern suchte sie die Nesteln ihres Leibchens, trotz der energischen Weigerungen Claudes, der sich wehrte, als ob man ihm Gewalt antue.

»Nein, nein, es ist unnötig ... Sie sind zu klein ... das brauche ich nicht; nein, durchaus nicht.«

»Was verschlägt's?« sagte sie. »Sie werden immerhin sehen.«

Auch Jory bestand auf seinem Vorhaben.

»Laß' sie doch; du machst ihr ein Vergnügen damit. Gewöhnlich sitzt sie nicht, sie hat es nicht nötig: aber es ist ihr eine Freude, sich zu zeigen. Sie möchte am liebsten ohne Hemd leben. Entkleide dich, Liebste; nur die Brust; er fürchtet, du könntest ihn fressen.«

Endlich verhinderte Claude sie, sich zu entkleiden. Er stammelte Entschuldigungen; später werde er sich glücklich schätzen; in diesem Augenblicke könne ein neues Modell nur neue Verwirrung anrichten. Sie begnügte sich die Achseln zu zucken und heftete die schönen, lasterhaften Augen fest auf ihn, wobei ein verächtliches Lächeln ihren Mund umspielte.

Jory plauderte jetzt von der Schar. Warum war Claude letzten Donnerstag nicht zu Sandoz gekommen? Man sah ihn nicht mehr; Dubuche beschuldigte ihn, daß er sich von einer Schauspielerin aushalten lasse. Ferner habe zwischen Fagerolles und Mahoudeau einen Streit über die Zulässigkeit des Fracks in der Skulptur stattgefunden. Gagnière hatte am letzten Sonntag einem Wagner-Konzert beigewohnt; dabei sei eine Prügelei entstanden, aus der er ein geschwollenes Auge heimgebracht habe. Er, Jory, habe sich im Café Baudequin schier ein Duell an den Hals geredet; das war wegen eines seiner letzten Artikel im »Tambour«. Er sei aber auch grausam mit diesen Farbenklecksern, mit diesen erborgten Berühmtheiten umgesprungen! Der Feldzug gegen die Richter des Salons mache großes Aufsehen; sie sollen zu Brei verarbeitet werden, diese Schufte von Idealismus, die der Natur den Zutritt wehren wollten. Gereizt und ungeduldig hörte Claude ihm zu. Er hatte seine Palette wieder ergriffen und trippelte vor seinem Gemälde herum. Der andere begriff endlich.

»Du willst arbeiten; wir lassen dich allein.«

Irma fuhr fort, den Maler zu betrachten mit ihrem halben Lächeln, erstaunt über die Albernheit dieses Laffen, der nichts von ihr wissen wollte, und nunmehr gequält von der Laune, ihn gegen seinen Willen zu ergattern. Sein Atelier sei zwar häßlich und auch an ihm selbst nichts Schönes; aber warum spiele er den Tugendhaften? Sie scherzte einen Augenblick mit ihm wie eine, die in der Lasterhaftigkeit ihrer Jugend schon ihr Glück heraufziehen sieht. An der Tür bot sie sich ihm noch ein letztesmal an; mit einem heißen langen Händedruck sagte sie: »Sobald Sie wollen.«

Sie waren fort, und Claude beeilte sich den Wandschirm zu entfernen, denn Christine war hinter ihm auf dem Bettrande sitzen geblieben, wie ohne Kraft, sich zu erheben. Sie sprach nicht von diesem Mädchen; sie erklärte einfach, daß sie große Angst gehabt, und wollte sogleich fortgehen, weil sie zitterte, daß neuer Besuch kommen könne. Sie nahm auf dem Grunde ihrer Augen eine Verwirrung über alle die Dinge mit, die sie nicht auszusprechen wagte.

Dieser Ort einer rohen Kunst, dieses mit grellen Gemälden angefüllte Atelier verursachte ihr übrigens lange Zeit ein Mißbehagen. Sie konnte sich an die wahrhaftigen Nacktheiten der Studien, an die rauhe Wirklichkeit der aus der Provence mitgebrachten Skizzen nicht gewöhnen; sie stießen sie ab, verletzten sie. Vor allem verstand sie nichts davon; sie war in der Liebe und Bewunderung für eine andere Kunst herangewachsen, für die feinen Aquarelle ihrer Mutter, jene traumhaft-zarten Fächer, auf denen lilafarbene Schmetterlinge in bläulich schimmernden Gärten herumflatterten. Oft noch vertrieb sie selbst sich die Zeit damit, mit schülerhafter Hand kleine Landschaften zu zeichnen, zwei oder drei Motive, die sich immer wiederholten, einen See mit einer Ruine, eine Mühle an einem Bache, ein Häuschen mit schneebedeckten Bäumchen davor. Sie war erstaunt: war es möglich, daß ein verständiger junger Mann in einer so unvernünftigen, häßlichen, falschen Weise male? Denn sie fand diese Wirklichkeiten nicht bloß ungeheuer häßlich, sie beurteilte sie auch außerhalb aller statthaften Wahrheit. Kurz, es mußte jemand toll sein, solche Sachen zu malen.

Eines Tages verlangte Claude durchaus ihr kleines Album aus Clermont zu sehen, von dem sie ihm gesprochen hatte. Nachdem sie sich lange geweigert, brachte sie es ihm endlich, im Grunde geschmeichelt, mit der lebhaften Neugierde zu erfahren, was er sagen werde. Er blätterte lächelnd darin, und da er schwieg, murmelte sie zuerst:

»Sie finden es schlecht, nicht wahr?«

»Nein, es ist nur harmlos«, erwiderte er.

Dieses Wort verletzte sie trotz des gutmütigen Tones, der ihn so liebenswürdig machte.

»Mein Gott, ich habe von Mama nur wenig Unterricht bekommen. Ich verlange, daß die Malerei gut gemacht ist und daß sie gefällt.«

Da brach er in ein helles Gelächter aus.

»Gestehen Sie, daß meine Malerei Sie krank macht. Ich habe es bemerkt; Sie spitzen die Lippen und machen entsetzte Augen. Gewiß, es ist keine Malerei für Damen, am allerwenigsten für junge Mädchen ... Aber Sie werden sich daran gewöhnen, das Auge muß dazu erzogen werden; und Sie werden sehen, daß es sehr gesund und ehrbar ist, was ich da mache.«

In der Tat gewöhnte sich Christine allmählich daran. Die künstlerische Überzeugung hatte anfänglich nichts damit zu schaffen, um so weniger als Claude in seiner Geringschätzung für die Urteile der Frauen sie nicht belehrte, vielmehr vermied, über Kunst mit ihr zu sprechen, als habe er diese Leidenschaft seines Lebens für sich behalten wollen, frei von der neuen Leidenschaft, die ihn ergriff. Allein sie gewöhnte sich allgemach daran und empfand schließlich Interesse für diese abscheulichen Bilder, als sie sah, welchen vornehmen Platz sie in dem Leben des Malers einnahmen. Das war ihr erster Haltepunkt; sie ward gerührt durch die Arbeitswut, durch die absolute Hingebung eines ganzen Wesens. War es nicht ergreifend? Lag darin nicht etwas Ehrenwertes? Als sie die Freuden und Leiden sah, die ihn erregten, je nachdem er eine gute oder schlechte Sitzung gehabt, gelangte sie bald dahin, Anteil an seinem Streben zu nehmen. Sie ward betrübt, wenn sie ihn traurig fand; sie ward heiter, wenn er sie fröhlich empfing. Von da ab war es ihre Sorge: hatte er viel gearbeitet? war er zufrieden mit dem, was er gemacht, seitdem sie sich zuletzt gesehen? Nach zwei Monaten war sie gewonnen; sie stellte sich vor die Bilder hin, hatte keine Furcht mehr davor. Sie billigte zwar noch immer nicht diese Art zu malen, begann aber gewisse Kunstausdrücke zu wiederholen, erklärte, es sei »kräftig, kühn aufgebaut, gut beleuchtet.« Er schien ihr so gut, sie liebte ihn so sehr, daß sie ihn zuerst entschuldigte, weil er solche Scheußlichkeiten schmierte, und schließlich Vorzüge daran entdeckte, um sie auch ihrerseits ein wenig zu lieben.

Aber ein Bild war da, – das große, für den nächsten Salon bestimmte – mit dem sie sich lange Zeit nicht befreunden konnte. Sie betrachtete schon ohne Mißvergnügen die Studien aus dem Atelier Boutin und die Skizzen aus Plassans, während sie sich noch immer über das im Grase gelagerte nackte Weib aufregte. Es war ein persönlicher Groll, die Scham darüber, daß sie einen Augenblick sich da zu erkennen geglaubt hatte, eine dumpfe Verlegenheit angesichts diesen großen Körpers, der sie noch immer verletzte, obgleich sie an ihm immer weniger und weniger ihre Züge wiederfand. Anfänglich hatte sie protestiert und die Blicke weggewendet. Jetzt verharrte sie minutenlang mit festen Blicken in stummer Betrachtung vor dem Gemälde. Wie war ihre Ähnlichkeit so verschwunden? In dem Maße, als der Maler – ewig unzufrieden – mit erbitterter Ausdauer hundertmal wieder zu demselben Fleck zurückkehrte, verblaßte diese Ähnlichkeit immer mehr. Ohne daß sie es erklären konnte, ohne daß sie es sich zu gestehen wagte, empfand sie – deren Schamhaftigkeit am ersten Tag sich aufgelehnt hatte – einen steigenden Verdruß darüber, daß nichts von ihr mehr übrig blieb. Ihre Freundschaft schien dadurch zu leiden; mit jedem schwindenden Zuge fühlte sie sich ihm weniger nahe. Liebte er sie nicht, daß er sie so aus seinem Werke wegließ? Wer war dieses neue Weib, dieses unbekannte und unklare Gesicht, das unter dem ihrigen hervorbrach.

Trostlos darüber, den Kopf verdorben zu haben, wußte Claude nicht, wie er sie bitten solle, ihm einige Stunden Modell zusitzen. Sie sollte bloß sitzen, damit er einige Andeutungen aufnehmen könne. Aber er hatte sie so verdrossen gesehen, daß er fürchtete, sie noch mehr zu reizen. Nachdem er den Vorsatz gefaßt, scherzend seine Bitte vorzubringen, fand er jetzt die Worte nicht, und schämte sich plötzlich, als ob es sich um etwas Unschickliches handele.

Eines Nachmittags erschreckte er sie durch einen jener Zornanfälle, die er selbst in ihrer Gegenwart nicht meistern konnte. Diese Woche wollte nichts von statten gehen. Er sprach davon, alles wegzulöschen, ging wütend im Atelier hin und her und stieß die Möbel über den Haufen. Plötzlich faßte er sie an den Schultern und setzte sie auf das Sofa.

»Ich bitte Sie, erweisen Sie mir einen Dienst, oder ich gehe daran zugrunde, bei meiner Ehre!«

Sie war bestürzt und begriff nicht.

»Wie? was wollen Sie?«

Als sie ihn nach seinen Pinseln greifen sah, fügte sie unbesonnen hinzu:

»Ach ja ... Warum haben Sie es nicht schon früher verlangt?«

Sie legte sich auf ein Kissen zurück und schob den Arm unter den Nacken. Aber eine Überraschung und Verwirrung darüber, daß sie so schnell eingewilligt, hatten sie ernst gestimmt; denn sie hatte selbst nicht gewußt, daß sie zu dieser Sache entschlossen sei; sie würde bestimmt erklärt haben, daß sie ihm niemals als Modell dienen werde. Entzückt rief er:

»Wirklich? Sie willigen ein? Sapperlot, welch' ein Prachtweib wollen wir zusammen aufbauen!«

Abermals sagte sie, ohne zu überlegen:

»Aber nur den Kopf!«

In der Hast eines Menschen, der da fürchtet, zu weit gegangen zu sein, stammelte er: »Gewiß, nur den Kopf!«

Beide schwiegen verlegen; er begann zu malen, während sie, unbeweglich ins Leere blickend, noch immer darüber verwirrt war, daß ihr ein solcher Satz entschlüpft. Schon empfand sie Reue über ihre Willfährigkeit, als ob sie sich in etwas Sträfliches einlasse, indem sie gestattete, daß man dieser im hellen Sonnenlichte daliegenden nackten Frau die Ähnlichkeit mit ihrem Gesichte gebe.

In zwei Sitzungen malte Claude den Kopf fertig. Er strömte von Freude über und rief, das sei sein bestes Stück Malerei. Er hatte Recht: niemals hatte er ein lebendigeres Gesicht in wahrem Lichte gebadet. Glücklich, weil sie ihn so glücklich sah, war auch Christine heiter geworden; sie fand ihren Kopf sehr gut, noch immer nicht sehr ähnlich, aber erstaunlich ausdrucksvoll. Sie verharrten lange vor dem Bilde, zwinkerten mit den Augen, rückten bis an die Wand zurück.

»Jetzt will ich Sie mit Hilfe eines Modells fertig machen«, sagte er ... »Endlich habe ich das sakrische Weib!«

In einem Anfall übermütiger Laune faßte er Christine um den Leib, und sie tanzten zusammen, was er einen »Siegestanz« nannte. Sie lachte laut und spielte für ihr Leben gern; weg war ihre Verwirrung, weg waren ihre Bedenken und ihr Unbehagen.

Allein in der nächsten Woche verdüsterten sich Claudes Züge wieder. Er hatte Zoé Piédefer zum Modell für den Körper gewählt, und sie lieferte ihm nicht, was er suchte: der feine Kopf, sagte er, sitze nicht recht auf den ordinären Schultern. Aber er verharrte eigensinnig bei dem Werke, löschte das Geschaffene aus, um von neuem anzufangen. Um die Mitte des Januar verlor er den Mut, ließ die Arbeit im Stiche, wandte das Gemälde zur Mauer um; vierzehn Tage später machte er sich wieder daran mit einem anderen Modell, der langen Judith, was ihn die Töne zu ändern zwang. Da wurde die Sache noch schlimmer; er ließ Zoé wiederkommen, verlor die Richtung und ward krank vor Angst und Ungewißheit. Das Schlimmste war, daß die Hauptfigur allein ihn so in Wut versetzte; denn der Rest des Werkes: die Bäume, die zwei Frauen im Hintergrunde, der Herr in der Jacke waren fertig, gelungen, befriedigten ihn vollständig. Der Februar ging zu Ende; er hatte nur noch einige Wochen, um das Bild nach dem Salon zu senden. Es war ein Unglück.

Eines Abends fluchte er vor Christine und brach in den Wutschrei aus:

»Donnerwetter! Wer hat auch je gehört, daß man den Kopf eines Weibes auf den Körper eines andern Weibes setzt! ... Ich sollte mir die Hand abhacken!

In seinem Innern keimte jetzt ein einziger Gedanke: von ihr zu verlangen, daß sie ihm für die ganze Figur sitze. Anfangs war es ein schüchterner Wunsch, den er als einen unsinnigen schnell wieder von sich wies; dann entstand in ihm ein stiller immer wieder aufgenommener Widerstreit, der sich schließlich – unter dem Zwang der Notwendigkeit – zu einem klaren, heftigen Verlangen steigerte. Die Erinnerung an die Brust, die er einige Minuten gesehen, wollte nimmer von ihm weichen. Er sah sie wieder in der Frische ihrer Jugend, strahlend, unerläßlich. Wenn er sie nicht haben konnte, war es ebenso gut, auf sein Gemälde zu verzichten, denn keine andere werde ihn befriedigen. Wenn er auf einen Sessel hingesunken, sich stundenlang in seinem Unvermögen verzehrte und nicht mehr wußte, wo er einen Pinselstrich anbringen sollte, faßte er einen heldenmütigen Entschluß: sobald sie eintrete, werde er ihr seine Pein gestehen in so rührenden Worten, daß sie vielleicht nachgebe. Doch wenn sie ankam mit ihrem kameradschaftlichen Lachen in ihrem keuschen Kleide, das nichts von ihrem Körper auslieferte, verlor er allen Mut und wandte die Augen weg aus Furcht, daß sie ihn dabei ertappen könne, wie er unter ihrem Leibchen die geschmeidige Linie des Torso suchte. Man konnte von einer Freundin einen solchen Dienst nicht verlangen; niemals werde er die Kühnheit dazu finden.

Als er sich eines Abends anschickte, sie heimzugeleiten, und sie ihren Hut aufsetzte, die Arme emporgehoben, blieben sie zwei Sekunden Aug' in Auge, er erbebend angesichts der Brustknospen, die schier den Stoff sprengten, sie plötzlich ernst und bleich werdend, daß er sich verraten sah. Während sie die Ufer entlang gingen, sprachen sie kaum: diese Sache schwebte zwischen ihnen, während die Sonne am tiefroten Himmel zur Rüste ging. Noch bei zwei anderen Gelegenheiten las er in ihrem Blick, daß der ihn unablässig quälende Gedanke ihr bekannt sei. In der Tat dachte sie, seitdem er daran dachte, ebenfalls unwillkürlich daran, durch Anspielungen aufmerksam gemacht, die ihm unwillkürlich entschlüpft waren. Anfänglich wurde sie davon gestreift, später mußte sie dabei Halt machen; aber sie glaubte sich nicht dagegen wehren zu müssen, denn es schien ihr außerhalb der Möglichkeiten des Lebens zu sein, einer jener Träume, deren man sich schämt. Die Furcht, daß er wagen könne, es von ihr zu verlangen, war ihr fern; sie kannte ihn jetzt sehr wohl; sie würde ihn mit einer Maulschelle zum Schweigen gebracht haben, bevor er die ersten Worte vorgebracht hätte, trotz seiner plötzlichen Zornausbrüche. Er war einfach wahnsinnig. Niemals! niemals!

Tage vergingen, und derselbe Gedanke wuchs zwischen ihnen an. Sobald sie beisammen waren, konnten sie sich nicht erwehren, daran zu denken. Sie sprachen kein Wort, aber ihr Stillschweigen war davon erfüllt; sie wagten keine Bewegung mehr, tauschten kein Lächeln aus, ohne am Grunde die Sache wiederzufinden, die unmöglich zu sagen war, und von der sie überströmten.

Bald blieb nichts anderes übrig in ihrem kameradschaftlichem Leben. Wenn er sie ansah, glaubte sie sich von seinem Blick entkleidet; die harmlosen Worte nahmen eine verwirrende Bedeutung an; jeder Händedruck ging über die Handwurzel und ließ einen Schauer den Körper entlanggehen. Was sie bisher vermieden hatten, die Störung ihres Verhältnisses, das Erwachen des Mannes und des Weibes in ihrer innigen Freundschaft: es brach endlich los unter der beständigen Herausforderung dieser jungfräulichen Nacktheit. Allmählich empfanden sie ein geheimes Fieber, das bisher ihnen selbst unbekannt gewesen. Eine plötzliche Hitze stieg zuweilen in ihre Wangen; eine Berührung ihrer Finger ließ sie erröten. Es war fortan gleichsam eine Erregung von Minute zu Minute, die ihr Blut peitschte, während in dieser Unterjochung ihres ganzen Wesens die Qual durch das, was sie so verschwiegen, ohne es sich verheimlichen zu können, dermaßen ins Ungeheuerliche wuchs, daß ihre Brust von tiefen Seufzern gehoben wurde und sie schier daran erstickten.

Um die Mitte des Monats März fand Christine, als sie zu Besuch kam, Claude vom Kummer erdrückt, vor seinem Gemälde sitzen. Er hatte sie nicht kommen hören und blieb unbeweglich, die leeren, unsteten Augen auf das unvollende Werk gerichtet. In drei Tagen ging die Frist für die Einsendung zur Ausstellung im Salon zu Ende.

»Nun?« fragte sie sanft, verzweifelt wegen seiner Verzweiflung.

Er schauerte zusammen und wandte sich um.

»Es ist aus; ich werde in diesem Jahre nicht ausstellen ... Ich hatte auf diesen Salon so stark gerechnet! ...«

Beide versanken wieder in ihre Niedergeschlagenheit, in der sie von großen unbestimmten Dingen bewegt wurden. Dann sagte sie laut denkend:

»Es ist noch Zeit!«

»Zeit? Nein; es müßte ein Wunder geschehen. Wo soll ich jetzt ein Modell finden? Seit heute Morgen kämpfe ich und glaubte einen Augenblick einen Gedanken zu haben. Ja, ich wollte diese Irma aufsuchen, die neulich gekommen ist, als Sie hier waren. Ich weiß wohl, daß sie klein und rund ist, und daß ich vielleicht alles werde ändern müssen ... aber sie ist jung, sie ist vielleicht möglich ... entschieden, ich will es versuchen ...«

Er unterbrach sich. Die glühenden Augen, mit denen er sie betrachtete, sagten deutlich: »Ach, Sie sind ja da; es wäre das erwartete Wunder, der sichere Triumph, wenn Sie mir dieses höchste Opfer bringen wollten. Ich flehe Sie an und verlange dieses Opfer von Ihnen wie von einer angebeteten Freundin, der schönsten und keuschesten!« Sehr bleich vor ihm stehend, hörte sie jedes dieser Worte, als seien sie ausgesprochen; das heiße Flehen seiner Augen übte eine mächtige Wirkung auf sie aus. Ohne Hast legte sie Hut und Mantel ab; dann nestelte sie mit der nämlichen ruhigen Gebärde ihr Leibchen auf und zog es aus, ebenso das Mieder; hierauf ließ sie die Röcke fallen und knöpfte die Achselbänder des Hemdes auf, das auf die Hüften herabglitt. Sie hatte kein Wort gesprochen; sie schien fern von diesem Orte zu sein, wie an jenen Abenden, wo sie in ihrem Zimmer eingeschlossen, in einem Traum verloren, sich mechanisch entkleidete, ohne darauf zu achten. Warum sollte sie es zugeben, daß eine Nebenbuhlerin ihren Körper leihe, nachdem sie selbst schon ihr Gesicht gegeben? Sie wollte ganz da sein, zu Hause sein in ihrer Zärtlichkeit; denn sie begriff endlich, welches eifersüchtige Mißbehagen diese ungeheuerliche Zwitterschöpfung ihr seit langer Zeit verursachte. Noch immer stumm legte sie sich nackt und jungfräulich auf das Sofa hin und nahm die Stellung an: ein Arm unter dem Nacken, die Augen geschlossen.

Tief ergriffen, unbeweglich in seiner Freude sah er ihr zu, wie sie sich entkleidete. Er fand sie wieder. Die flüchtige Erscheinung, die er so oft in seine Erinnerung zurückgerufen: sie ward jetzt wieder lebendig. Es war diese noch schmächtige Kindlichkeit, aber so geschmeidig, von einer so frischen Jugend; und er erstaunte von neuem: wo verbarg sie diese entwickelte Brust, die man unter dem Kleide nicht einmal vermutete. Auch er sprach nichts mehr, sondern begann zu malen, in der schier andächtigen Stille, die eingetreten war. Drei Stunden lang harrte er bei der Arbeit aus, mit einer so mannhaften Anstrengung, daß er in einem Zuge eine prächtige Skizze des ganzen Körpers anfertigte. Niemals zuvor hatte das Fleisch des Weibes ihn in dem Maße berauscht: sein Herz pochte wie vor der Blöße einer Anbetungswürdigen. Er näherte sich nicht; er blieb überrascht von der Umwandlung des Gesichtes, dessen Kinnladen – ein wenig massig und sinnlich – unter der zarten Ruhe der Stirn und Wangen sich verfeinert hatten. Während dieser drei Stunden rührte sie sich nicht, ließ keinen Laut vernehmen, machte ihm das Geschenk ihrer jungfräulichen Scham ohne Verlegenheit, ohne ein Frösteln. Beide fühlten, daß wenn sie einen einzigen Satz sprächen, es eine große Scham über sie bringen müsse. Allein von Zeit zu Zeit öffnete sie ihre hellen Augen und heftete sie auf einen unbestimmten Punkt des Raumes, blieb so einen Augenblick, ohne daß er etwas von ihren Gedanken hätte lesen können, schloß sie dann wieder, sank in ihrer Unbeweglichkeit einer schönen Marmorstatute zurück mit dem eigenartigen starren Lächeln ihrer Stellung.

Mit einer Gebärde gab Claude zu verstehen, daß er fertig sei; er war wieder linkisch geworden und warf einen Sessel um, damit er schneller den Rücken kehren könne, während Christine, sehr rot geworden, das Sofa verließ. Hastig kleidete sie sich wieder an; ein plötzlich ausbrechender Schauer durchrieselte, eine solche Bewegung ergriff sie, daß sie sich verkehrt zunestelte, zog die Ärmel herunter, schob den Kragen hinauf, um nicht das kleinste Fleckchen ihrer nackten Haut freizulassen. Sie war schon in ihren Mantel gehüllt, als er noch immer zur Mauer gekehrt stand und sie nicht anzublicken wagte. Endlich kam er zu ihr zurück; sie sahen sich zögernd an, von einer tiefen Ergriffenheit beklommen, die sie noch immer keine Worte finden ließ. War es Traurigkeit, eine endlose, unbewußte, namenlose Traurigkeit? Denn ihre Augen füllten sich mit Tränen, als hätten sie ihr Leben verdorben, an den Grund menschlichen Jammers gerührt. In seiner zärtlichen Rührung und Kümmernis, und weil er kein Dankeswort über die Lippen brachte, küßte er sie auf die Stirn.


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