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Achtes Kapitel.

Endlich war Christine zum letztenmal mit dem Staubwedel über die Möbel gefahren, und die Einrichtung war beendet. Neben dem Atelier in der Douai-Straße, das klein und unbequem war, hatten sie nur noch ein schmales Zimmer und eine Küche, kaum größer als ein Kleiderschrank. Man mußte im Atelier essen; das Ehepaar lebte da fortwährend mit dem Kinde vor den Füßen. Christine hatte ihre liebe Not, mit ihren wenigen Möbelstücken auszukommen, denn sie wollte die Ausgabe vermeiden. Indes mußte sie bei einer guten Gelegenheit doch ein altes Bett ankaufen und gestattete sich sogar den Luxus von weißen Vorhängen zu sieben Sous den Meter. Fortan fand sie das Nest reizend; sie erhielt es in einer spießbürgerlichen Sauberkeit, war entschlossen, alles allein zu machen und keine Magd zu nehmen, um ihr Leben, das schwierig zu werden verhieß, nicht zu sehr belasten.

Claude durchlebte die ersten Monate in einer wachsenden Erregung. Die Wanderungen durch die geräuschvollen Straßen, die Besuche bei den Kameraden, noch erregt durch ihre Gespräche, alle die heißen Gedanken, die er so von außen mitbrachte: sie bewirkten, daß er sich in lauten, leidenschaftlichen Ausbrüchen erging, die ihn bis in den Schlaf verfolgten. Paris hatte ihn wieder gewaltig gepackt bis in das innerste Mark, und in der glühenden Hitze dieses Ofens erstand für ihn eine zweite Jugend, eine Begeisterung und ein Ehrgeiz, alles zu sehen, alles zu machen, alles zu erobern. Niemals hatte er eine solche Arbeitswut, noch eine solche Hoffnung gefühlt; es war, als brauche er nur die Hand ausstrecken, um die Meisterwerke zu schaffen, die ihn in die vorderste Reihe stellen würden. Wenn er Paris durchzog, entdeckte er überall Gemälde; die ganze Stadt mit ihren Straßen, ihren Plätzen, Brücken und lebendigen Horizonten entrollte sich vor ihm in riesigen Gemälden, die er – von dem Rausche ungeheurer Werke ergriffen – noch immer zu klein fand. Er kam vor Aufregung zitternd heim, im Schädel wirbelten Entwürfe; und des Abends warf er bei Lampenlicht Skizzen auf Papierstreifen und wußte sich nicht zu entscheiden, wo er die Reihe großer Bilder, von denen er träumte, beginnen sollte.

Ein ernstliches Hindernis war für ihn die räumliche Beschränktheit seines Ateliers. Hätte er doch nur den alten Dachboden vom Bourbonufer oder den geräumigen Speisesaal von Bennecourt gehabt! Aber was sollte er in diesem langen und schmalen Raum anfangen, der mehr einem Korridor glich, und den der Eigentümer, nachdem er ihn mit einem Glasdach hatte versehen lassen, an Maler für vierhundert Franken zu vermieten unverschämt genug war. Das Schlimmste war, daß dieses nach Norden gekehrte und zwischen zwei hohen Mauern eingeklemmte Glasdach nur ein grünliches Kellerlicht durchließ. Er mußte also die Verwirklichung seiner ehrgeizigen Pläne auf eine spätere Zeit verschieben und entschloß sich, vorerst einige mittelgroße Bilder in Angriff zu nehmen, indem er sich sagte, daß der Umfang der Werke nicht das Genie ausmacht.

Der Augenblick schien ihm sehr günstig für den Erfolg eines tüchtigen Künstlers, der endlich einen Ton der Ursprünglichkeit und der Offenheit mitbringt, während die alten Schulen zusammenbrechen. Die Formeln von gestern waren schon erschüttert; Delacroix war tot, ohne Jünger zu hinterlassen, Courbet hatte kaum einige ungeschickte Nachahmer hinter sich, ihre Hauptwerke konnten nichts werden als vom Alter geschwärzte Museum-Stücke, einfache Zeugnisse der Kunst eines Zeitabschnittes, und es schien leicht, die neue Formel vorauszusehen, die aus den ihren sich entwickeln werde, dieses Hervorbrechen der vollen Sonne, dieser klare Morgen, der unter dem beginnenden Einflüsse der Freilicht-Schule in den neuen Gemälden anbrach. Es war nicht hinwegzuleugnen: jene ›blonden‹ Werke, über die man im Salon der Zurückgewiesenen so viel gelacht hatte, wirkten im geheimen auf gar viele Maler und erhellten allmählich alle Paletten. Niemand gab es noch zu, aber der Anstoß war gegeben, eine Umwälzung trat zutage, die mit jeder Ausstellung sich mehr und mehr bemerkbar machte. Welcher Schlag, wenn inmitten dieser unbewußten Kopien der Unvermögenden, dieser furchtsamen und schlauen Versuche der Geschickten ein Meister hervortreten würde, der mit der Kühnheit der Kraft ohne jede Schonung die Formel verwirklichte, wie man sie hinstellen mußte, fest und ganz, damit sie die Wahrheit dieser Jahrhundertneige sei.

In dieser ersten Stunde der Leidenschaft und der Hoffnung glaubte Claude – sonst durch den Zweifel so sehr gequält – an sein Genie. Er hatte nicht mehr jene Anfälle, deren Beklemmung ihn tagelang auf dem Straßenpflaster herumtrieb auf der Suche nach seinem verlorenen Mute. Ein Fieber hielt ihn aufrecht; er arbeitete mit dem blinden Eigensinn eines Künstlers, der sich ins Fleisch schneidet, um daraus die Frucht hervorzuholen, die ihn quält. Die lange Ruhe auf dem Landleben hatte ihm eine seltsame Frische der Auffassung, eine helle Freude in der Ausführung verliehen; ihm war, als werde er in seiner Kunst wiedergeboren in einer Leichtigkeit und einem Gleichgewicht, die er niemals gehabt; dazu kam eine Gewißheit des Fortschritts, eine tiefe Befriedigung vor einzelnen gelungenen Stücken, die er nach den früheren unfruchtbaren Anstrengungen endlich schuf. Wie er in Bennecourt gesagt, hielt er endlich sein Freilicht fest, diese Malerei von einer geradezu singenden Heiterkeit der Töne, welche die Kameraden in Erstaunen versetzte, als sie ihn zurückkehren sahen. Alle bewunderten und waren überzeugt, daß er nur zu erscheinen brauche, um seinen Platz einzunehmen, einen sehr hohen Platz, mit Werken von einer durchaus persönlichen Kennzeichnung, in denen die Natur zum ersten Male in wirklichem Lichte badete, im Spiel der Reflexe und der fortwährenden Auflösung der Farben.

Drei Jahre lang kämpfte Claude unermüdlich, durch Mißerfolge angeeifert, nichts von seinen Gedanken aufgebend, mit der Kraft des Glaubens geradeaus fortschreitend.

Im ersten Jahre brachte er während der Dezember-Schneefälle täglich vier Stunden auf den Hohen von Montmartre an der Ecke eines leeren Grundes zu; dort malte er einen Hintergrund des Elends, niedrige Hütten, überragt von Fabrikschloten; in den Vordergrund, mitten in den Schnee hinein, hatte er zwei zerlumpte Straßenkinder – ein Mädchen und einen Knaben – gestellt, die sich an gestohlenen Äpfeln gütlich taten. Sein Eigensinn, nach der Natur zu malen, erschwerte ihm furchtbar die Arbeit, bereitete ihm schier unübersteigliche Hindernisse. Dennoch beendete er diese Leinwand draußen und gestattete sich in seinem Atelier nur eine Nachsäuberung. In dem toten Lichte unter dem Glasdache überraschte ihn selbst das Bild durch seine Wildheit: es war wie eine offene Tür nach der Straße, der Schnee blendete ordentlich, und die beiden Figuren in ihrem schmutzigen Grau hoben sich mitleiderregend davon ab. Er fühlte sogleich, daß ein solches Bild nicht angenommen werde; aber er machte keinen Versuch, es zu mildern, und sandte es dennoch in die Ausstellung. Nachdem er geschworen hatte, nie wieder auszustellen, stellte er jetzt den Grundsatz auf, man müsse immerhin irgend etwas den Richtern vorlegen, nur um ihnen zu zeigen, daß sie im Unrecht seien; er erkannte übrigens die Nützlichkeit des Salons an als des einzigen Kampffeldes, wo ein Künstler mit einem Schlage sich selbst entdecken könne. Die Richter lehnten sein Bild ab.

Das zweite Jahr suchte er ein Gegenstück. Er wählte einen Winkel aus den Anlagen von Batignolles im Mai: große Kastanienbäume, die ihren Schatten warfen, mehrere Rasenplätze, sechs Stock hohe Häuser im Hintergrunde, während im Vordergrunde auf einer grellgrün gestrichenen Bank Mägde und Bürger aus dem Stadtviertel saßen und drei kleinen Mädchen zuschauten, die im Sande Kuchenbacken spielten. Nachdem er die Erlaubnis erhalten, da zu arbeiten, bedurfte es für ihn nicht geringen Mutes, um inmitten der spottlustigen Menge sein Werk zu einem gedeihlichen Ende zu führen. Endlich hatte er sich dennoch entschlossen, um fünf Uhr morgens an Ort und Stelle zu erscheinen, um die Hintergründe zu malen; von den Figuren entwarf er nur Skizzen, um sie im Atelier auszuführen. Diesmal fand er sein Bild weniger abstoßend, die Arbeit hatte etwas von der Gedämpftheit des Lichtes, das durch das Glasdach hereinfiel. Er glaubte, das Bild werde angenommen; alle Freunde riefen, es sei ein Meisterwerk, und verbreiteten das Gerücht, es werde in der Ausstellung einen wahren Umsturz hervorrufen. Die Verblüffung und Entrüstung war denn auch allgemein, als sich die Nachricht verbreitete, daß die Richter auch dieses Bild abgelehnt hatten. Das Vorurteil war nicht mehr hinwegzuleugnen: es handelte sich um die systematische Erwürgung eines originellen Künstlers. Was Claude betrifft, so kehrte sich – nachdem die erste Aufregung vorüber – sein Zorn gegen sein Gemälde, das er als verlogen, unehrlich, abscheulich bezeichnete. Es sei eine wohlverdiente Lehre, die er sich merken werde; warum war er auch wieder in dieses Keller licht des Ateliers verfallen? sollte er zu der schmutzigen, spießbürgerlichen Küche zurückkehren, wo die geschniegelten Figürchen gemacht wurden. Als ihm sein Bild zurückgesandt wurde, nahm er ein Messer und zerschnitt es.

Im dritten Jahre warf er sich mit aller Wut auf ein Werk, das einen Aufruhr hervorrufen sollte. Er wollte die volle Sonne haben, diese Pariser Sonne, die an manchen Tagen das Pflaster im blendenden Widerschein der Häuserreihen weißglühend macht; nirgends ist's heißer; selbst die Leute, die aus sonnverbrannten Ländern dahin kommen, wischen sich den Schweiß von der Stirne; es ist wie ein afrikanischer Boden unter dem drückenden Feuerregen aus einem lodernden Himmel. Der Gegenstand, den er behandelte, war ein Winkel des Karussel-Platzes um ein Uhr mittags, wenn die Sonne ihre Strahlen senkrecht herabsendet. Eine Droschke humpelte dahin; der Kutscher schlief auf dem Bocke, der Gaul war in Schweiß gebadet, ließ den Kopf hängen, verschwamm in der zitternden Hitze; die wenigen Fußgänger schienen betrunken, während eine junge Frau allein rosig und frisch unter ihrem Sonnenschirm mit den leichten Schritten einer Königin dahinwandelte, als lebe sie in dem Flammen-Element. Was hauptsächlich dieses Bild auffallend machte, war die neue Studie über das Licht, diese Auflösung, sehr genau beobachtet, im Widerspruche mit allen Gewohnheiten des Auges, Rot, Gelb, Blau dort betonend, wo niemand gewohnt war, solches zu sehen. Die Tuilerien im Hintergrunde verschwammen in einer Goldwolke; die Pflastersteine schienen zu bluten, die Passanten waren nur noch Andeutungen, dunkle Punkte, von der allzu lebhaften Helle verzehrt. Die Kameraden stießen wohl auch vor diesem Bilde Rufe der Bewunderung aus, aber es mengte sich eine Verlegenheit darein, sie waren alle von der nämlichen Unruhe ergriffen: eine solche Malerei mußte zum Martyrium führen. Er fühlte aus ihren Lobsprüchen sehr wohl den Riß heraus, der sich vollzog, und als die Richter ihm abermals den Salon verschlossen, rief er in einem Augenblicke des Hellsehens schmerzlich aus:

»Es ist ausgemacht, ich werde daran zugrunde gehen!« Obgleich sein Mut und seine Ausdauer zu wachsen schienen, verfiel er doch allmählich wieder in seine früheren Zweifel, ermüdet durch den Kampf, den er mit der Natur führte. Jedes abgelehnte Bild schien ihm schlecht, vor allem unvollständig, der versuchten Anstrengung nicht entsprechend. Dieses Unvermögen erbitterte ihn noch mehr als die Abweisungen der Richter. Gewiß, er konnte ihnen nicht verzeihen; seine Werke waren selbst in ihrem anfänglichen Zustande hundertmal mehr wert als die angenommenen Mittelmäßigkeiten; aber welches Leid, sich niemals ganz geben zu können in dem Meisterwerk, das sein Genie nicht zu erzeugen vermochte! Es gab immer prächtige Stücke unter seinen Bildern; er war mit diesem, mit jenem und mit jenem andern zufrieden. Warum dann die plötzlichen Lücken? warum einzelne unwürdige Teile, die während der Arbeit unbemerkt geblieben waren und dann auf dem Gemälde einen unauslöschlichen, tötlichen Fleck bildeten? Er fühlte sich unfähig der Verbesserung; in einem gegebenen Augenblick richtete eine Mauer sich auf, ein unübersteigbares Hindernis, über das hinauszugehen ihm versagt war. Wenn er das Stück zwanzigmal von neuem begann, verschlechterte er zwanzigmal das Übel, und alles verwirrte sich schließlich in einer heillosen Kleckserei. Er entnervte sich, sah nichts mehr, führte nichts mehr aus, gelangte schließlich zu einer wirklichen Lähmung seines Willens. War es denn möglich, daß in einem Fortschreiten seiner früheren Gebrechen, das ihn nachgerade beunruhigte, seine Augen, seine Hände ihm nicht mehr gehörten? Die Anfälle wurden häufiger, er durchlebte wieder furchtbare Wochen und verzehrte sich in seinem Schwanken zwischen Ungewißheit und Hoffnung; in diesen bösen Stunden, die er in erbitterter Hartnäckigkeit bei dem widerspenstigen Werke verbrachte, hielt ihn einzig der tröstende Traum von dem künftigen Werke aufrecht, von jenem Werke, in dem er endlich Befriedigung finden werde, bei dem seine Hände wieder ihre Freiheit des Schaffens erlangen würden. Vermöge einer andauernden Wundererscheinung eilte sein Schaffensdrang seinen Fingern voraus; er arbeitete niemals an einem Bilde, ohne das nächste Bild zu entwerfen. Nur eine Eile war ihm geblieben: sich der im Zuge befindlichen Arbeit zu entledigen, an der er verkümmerte; gewiß werde dieses Bild wieder nichts taugen; er habe sich wieder zu verhängnisvollen Zugeständnissen fortreißen lassen, zu trügerischen Kniffen, zu allem, was ein Künstler von seinem Gewissen preisgeben müsse; aber was er nachher machen werde, das sah er herrlich, unanfechtbar, unzerstörbar. Ewiges Blendwerk, das den Mut der Verdammten der Kunst anfeuert, Lüge aus Zärtlichkeit und Mitleid gewebt, ohne welche das Schaffen unmöglich wäre für jene, die sterben, weil sie nicht Leben hervorzubringen vermögen. Nebst diesem unaufhörlich sich erneuernden Kampfe mit sich selbst häuften sich auch die materiellen Schwierigkeiten. War es nicht schon genug, daß es ihm nicht gelang hervorzubringen, was er im Kopfe hatte? Er mußte außerdem noch gegen die Sachen ankämpfen! Obgleich er es nicht gestehen wollte, ward das Malen nach der Natur, im Freien unmöglich, sobald die Leinwand gewisse Maße überschritt. Wie sollte er sich in den Straßen mitten in der Menge zur Arbeit niederlassen? Wie sollte er für jede Person die genügende Stundenzahl für die Stellung erlangen? Dies gestatteten offenbar nur gewisse Vorwürfe, Landschaften, beschränkte Winkel der Stadt, wo die Figuren nur nachträglich ausgeführte Schattenbilder waren. Dazu kamen die tausend Widerwärtigkeiten des Wetters, der Wind, der die Staffelei entführte, der Regen, der die Arbeit unterbrach. An solchen Tagen kam er außer sich nach Hause, erhob die Faust drohend zum Himmel, beschuldigte die Natur, daß sie sich wehre, um nicht festgenommen und überwunden zu werden. Er beklagte sich bitter, nicht reich zu sein; denn er träumte davon, bewegliche Ateliers zu haben, einen Wagen in Paris, ein Boot auf der Seine, wo er wie ein Zigeuner der Kunst würde gelebt haben. Allein nichts unterstützte ihn; alles hatte sich gegen seine Arbeit verschworen.

Christine litt mit Claude. Sie hatte seine Hoffnungen mutig geteilt, hatte das Atelier mit der Tätigkeit einer Hausfrau erheitert; jetzt aber setzte sie sich entmutigt nieder, wenn sie ihn so verzagt sah. Bei jedem zurückgewiesenen Bilde bekundete sie einen lebhafteren Schmerz, sie fühlte sich in ihrer Eigenliebe als Frau verletzt, denn sie hatte den Stolz des Erfolges, wie ihn alle Frauen haben. Die Verbitterung des Malers ergriff auch sie; seine Leidenschaften waren die ihren, sein Geschmack war der ihre; sie verteidigte seine Malerei, die gleichsam ein ergänzender Teil ihrer selbst war, die große Angelegenheit ihres Lebens, fortan die einzige wichtige Sache, von der sie ihr Glück erhoffte. Sie begriff sehr wohl, daß diese Malerei ihr mit jedem Tage mehr ihren Geliebten nehme; und noch kämpfte sie nicht dagegen; sie gab nach, teilte seinen Zorn und seine Anstrengungen, um eins mit ihm zu sein. Allein aus dieser beginnenden Entsagung stieg eine Traurigkeit auf, ein Entsetzen vor dem, was am Ende ihrer harre. Ein Schauer des Zurückweichens ließ manchmal ihr Blut bis ins Innerste erstarren. Sie fühlte sich alt werden, während ein unermeßliches Erbarmen sie verstörte, ein Verlangen, ohne Grund zu weinen, das sie Stunden lang befriedigte, wenn sie in dem trübseligen Atelier allein war.

Um jene Zeit öffnete sich ihr Herz noch weiter, und aus der Geliebten ging die Mutter hervor. Dieses Mütterlichkeit für ihr großes Künstlerkind war zusammengesetzt aus dem unklaren und unendlichen Mitleid, das sie zärtlich stimmte, aus der unlogischen Schwäche, in die sie ihn so häufig verfallen sah, aus der fortwährenden Vergebung, die sie ihm gewähren mußte. Allmählich machte er sie unglücklich; sie hatte von ihm nur mehr jene Gewohnheits-Liebkosungen, die man wie ein Almosen den Frauen gibt, von denen man sich loslöst. Wie sollte sie ihn noch lieben, wenn er ihren Armen entschlüpfte, sich gelangweilt zeigte in den glühenden Umschlingungen, mit denen sie ihn noch immer zu ersticken drohte? Wie sollte sie ihn lieben, wenn sie ihn nicht mit jener andern, jede Minute sich erneuernden Zärtlichkeit liebte, in Anbetung vor ihm liegend, sich unaufhörlich aufopfernd? In ihrem Innern grollte die unersättliche Liebe; sie blieb das leidenschaftliche Fleisch, die Sinnliche mit den starken Lippen und dem trotzigen Vorsprung der Kinnladen. Nach dem geheimen Kummer der Nächte verharrte sie dann in stiller Trauer darüber, bis zum Abend nur eine Mutter zu sein, eine letzte und schwache Freude in der Güte zu finden, in dem Glück, das sie inmitten ihres jetzt vernichteten Lebens ihm zu bereiten trachtete.

Der kleine Hans allein hatte durch diese Verschiebung ihrer Zärtlichkeit zu leiden. Sie vernachlässigte ihn mehr; ihr Herz blieb stumm für ihn, in ihr lebte nur die Mutterliebe zu dem angebeteten, begehrten Mann; er ward ihr Kind; das andere, das arme Wesen, blieb ein bloßes Zeugnis ihrer großen Leidenschaft von ehemals. In dem Maße, als sie ihn wachsen und ihrer Pflege weniger bedürftig werden sah, hatte sie angefangen, ihn aufzuopfern, im Grunde ohne Härte, bloß weil sie so fühlte. Bei Tische gab sie ihm nur die minder guten Stücke; der beste Platz am Ofen war nicht für seinen kleinen Sessel; wenn eine Angst wegen eines Unfalls sie ergriff, galt der erste Schrei, die erste schützende Gebärde niemals dem schwachen Kinde. Unaufhörlich drängte sie es zurück: »Hans, schweige, du ermüdest deinen Vater! Hans bleib ruhig; du siehst, dein Vater arbeitet!«

Das Kind gewöhnte sich schlecht an Paris. Es hatte früher auf dem Lande im Freien sich herumgetummelt und erstickte jetzt schier in dem engen Räume, wo es sich still und ruhig verhalten mußte. Seine schöne rote Farbe verblaßte, er entwickelte sich schwächlich, war ernst wie ein kleiner Mann, und schaute die Dinge mit weitgeöffneten Augen an. Er war jetzt fünf Jahre alt, sein Kopf war unmäßig groß geworden, so daß sein Vater angesichts dieser seltsamen Erscheinung zu sagen pflegte: »Der Junge hat den Schädel eines großen Mannes!« Doch es schien als nehme der Verstand in dem Maße ab, wie der Kopf größer wurde. Von sehr sanftem, scheuem Wesen brütete das Kind stundenlang dahin, war zerstreut, fand auf die Fragen keine Antwort; und schüttelte er diese Unbeweglichkeit zuweilen ab, so kamen Anwandlungen toller Ausgelassenheit über ihn, in denen er hüpfte und jauchzte, wie ein munteres junges Tier, das von seinem Instinkte fortgerissen wird. Dann regnete es Ermahnungen: »Verhalte dich ruhig!« Die Mutter konnte solches plötzliche Ungestüm nicht begreifen, war bestürzt, wenn sie den Vater gereizt vor seiner Staffelei sah, ward auch ihrerseits unmutig und beeilte sich, das Kind in seinen Winkel zu setzen. Sogleich beruhigt, furchtsam erschauernd wie jemand, der plötzlich geweckt wird, schlummerte er wieder ein mit offenen Augen so trägen Lebens, daß sein Spielzeug, die Pfropfen, Bilder, Farbentüten ihm aus den Händen fielen. Sie hatte schon versucht, ihn lesen zu lehren, aber er hatte sich heftig weinend dagegen gewehrt, und man beschloß, noch ein oder zwei Jahre zu warten, ehe man ihn zur Schule schickte, wo ihn die Lehrer schon zum Lernen anhalten würden.

Christine begann endlich vor dem drohenden Elend zu erschrecken. Mit diesem heranwachsenden Kinde war das Leben in Paris teurer; und trotzdem sie überall sparte, wurden die letzten Monats tage schrecklich. Die Familie hatte außer der Rente von tausend Franken kein gesichertes Einkommen; wie wollte man – nach Abschlag von vierhundert Franken für die Miete – mit monatlich fünfzig Franken das Auslangen finden? Anfänglich halfen sie sich durch den Verkauf einiger Bilder aus der Verlegenheit; Claude hatte nämlich den ehemaligen Kunstliebhaber Gagnières wiedergefunden, einen jener mißachteten Spießbürger, die trotz ihrer törichten Gewohnheiten begeisterte Künstlerseelen besitzen. Dieser Mäcen, ein ehemaliger Amtsvorstand namens Hue, war unglücklicherweise nicht reich genug, um immer zu kaufen; er konnte nur jammern über die Verblendung des Publikums, das wieder einmal das Genie Hungers sterben ließ; denn er war überzeugt, vom ersten Augenblick an gewonnen und hatte die hervorstechendsten der Werke Claudes ausgewählt, sie neben seine Delacroix gehängt und ihnen eine gleiche Zukunft prophezeit. Das Schlimmste war, daß der Vater Malgras, nachdem er ein Vermögen gesammelt, sich zurückgezogen; es war übrigens ein sehr bescheidener Wohlstand, eine Rente von zehntausend Franken, die er als vorsichtiger Mann in einem Häuschen zu Bois-Colombes verzehrte. Man mußte ihn denn auch von dem famosen Naudet reden hören mit einer Verachtung gegen die Millionen, die dieser Börsenmakler in Verkehr setzte, und die ihm eines Tages auf die Nase fallen würden, wie Malgras versicherte. Bei einer Begegnung mit ihm konnte ihm Claude nur eine letzte Leinwand verkaufen, die er für sich behalten wollte; es war eine herrliche Bauchstudie, noch aus dem Atelier Boutin stammend, eine Studie, bei deren Anblick die alte Leidenschaft in dem ehemaligen Bilderhändler erwacht war. So drohte denn das Elend; die Auswege schlossen sich, anstatt sich zu öffnen; allmählich bildete sich eine beunruhigende Sage um diese vom Salon immer wieder zurückgewiesenen Gemälde, abgesehen davon, daß eine so unvollständige und aufrührerische Kunst, an der das erschreckte Auge nichts von dem Zulässigen und Herkömmlichen entdecken konnte, an sich genügte, das Geld scheu zu machen. Als eines Abends der Maler eine Farbenrechnung nicht zu begleichen vermochte, rief er aus, er wolle lieber von dem Kapital seiner Rente leben, als sich zur Erzeugung von Marktbildern erniedrigen. Allein Christine hatte sich diesem äußersten Auskunftsmittel heftig widersetzt: lieber wollte sie von den Ausgaben noch mehr abzwacken; kurz: alles eher als diese Torheit, die sie später ohne Brot auf die Straße werfen würde.

In dem Jahre, als Claudes drittes Gemälde zurückgewiesen wurde, gestaltete sich der Sommer so wunderbar schön, daß der Maler neue Kraft daraus zu schöpfen schien. Helle, wolkenlose Tage beleuchteten die riesige Tätigkeit von Paris. Claude hatte seine Wanderungen durch die Stadt wiederaufgenommen mit dem festen Willen, einen »Wurf« zu suchen, wie er sich ausdrückte; etwas Riesiges, Entscheidendes, er wußte nicht genau was. Bis zum September fand er nichts; er begeisterte sich eine Woche hindurch für einen Gegenstand und erklärte dann, es sei noch nicht das, was er suche. Er lebte in einem fortwährenden Zittern, stets auf der Lauer, stets vor dem Augenblicke, die Verwirklichung seines Traumes zu erhaschen, die immer wieder vor ihm floh. Sein unversöhnlicher Realismus barg im Grunde den Aberglauben eines nervösen Weibes: alles werde davon abhängen, ob er seinen Horizont glücklich oder unglücklich wähle.

Eines Nachmittags – an einem der letzten schönen Sommertage – hatte Claude Christine mitgenommen. Sie ließen den kleinen Hans in der Obhut der Pförtnerin, einer guten, alten Frau, wie sie es immer taten, wenn sie zusammen ausgingen. Es war ein plötzliches Verlangen nach einem Spaziergang, ein Bedürfnis, mit ihr alle die Orte wiederzusehen, die ihnen einst teuer gewesen; hinter diesem Verlangen barg sich die unbestimmte Hoffnung, daß sie ihm vielleicht Glück bringen werde. Sie gingen so bis zur Louis-Philipp-Brücke hinab, verweilten eine Viertelstunde am Ulmenufer, lehnten schweigend an der Brüstung und betrachteten das gegenüber, jenseits der Seine gelegene alte Hotel Martoy, wo sie sich geliebt hatten. Dann schlugen sie – immer schweigend – ihren früheren Weg wieder ein, den sie oft gemacht; sie wanderten unter den Platanen die Ufer entlang und sahen bei jedem Schritte die Vergangenheit auftauchen. Alles entrollte sich vor ihnen: die Brücken, deren Bogen sich von dem Samt der Wasserfläche abhoben; die in Schatten getauchte Altstadt, von den gelblich schimmernden Türmen der Liebfrauenkirche überragt; die ungeheure, krumme Linie des rechten Ufers, in Sonnenlicht getaucht, durch die fernen Umrisse des Flora-Pavillons abgeschlossen; und die breiten Alleen, die Denkmäler an den beiden Ufern und das Leben auf dem Flusse, die Waschhäuser, die Bäder, die Kähne. Wie einst folgte ihnen auch jetzt das niedergehende Gestirn, über die Dächer der fernen Häuser hinrollend, hinter der Kuppel des Instituts teilweise verschwindend: ein blendender Sonnenuntergang, wie sie keinen schöneren gehabt, ein langsames Niedersteigen inmitten kleiner Wolken, die sich in ein purpurnes Geflecht verwandelten, dessen Maschen Goldfluten ausströmen ließen. Allein aus dieser wiederauftauchenden Vergangenheit ging nur eine unüberwindliche Traurigkeit hervor, das Gefühl des ewigen Vergehens, die Unmöglichkeit einer Rückkehr und eines Wiederbeginnes des Lebens. Die alten Steine blieben kalt; das Wasser, das unter diesen Brückenbogen hin weggeflossen, schien ein Stück ihrer selbst hinweggeschwemmt zu haben, den Reiz des ersten Verlangens, die Freude des Hoffens. Jetzt, da sie einander angehörten, genossen sie nicht mehr das bescheidene Glück, den warmen Druck ihrer Arme zu fühlen, während sie langsam dahinwandelten, wie eingehüllt in das unermeßliche Leben von Paris.

An der Brücke der heiligen Väter war Claude verzweifelt stehengeblieben; er hatte den Arm Christinens losgelassen und sich nach der Spitze der Altstadt umgewandt. Sie fühlte die Loslösung, die sich da vollzog, und Avard sehr traurig; und als sie sah, daß er sich in der Betrachtung vergaß, wollte sie sich seiner wieder bemächtigen.

»Liebling, laß uns heimkehren, es ist Zeit ... Hans erwartet uns, du weißt es.«

Doch er ging bis in die Mitte der Brücke. Sie mußte ihm dahin folgen. Abermals stand er unbeweglich da, die Augen immer auf die Insel dort unten gerichtet, die ewig vor Anker zu liegen schien, auf diese Wiege und dieses Herz von Paris, wo seit Jahrhunderten alles Blut seiner Adern pulsierte, fortwährend umdrängt von den Vororten, welche die Ebene bedecken. Eine Flamme war ihm in die Wangen gestiegen, seine Augen belebten sich.

»Schau! schau!« rief er endlich mit einer weiten, umfassenden Bewegung.

Zunächst im Vordergrunde unter sich hatten sie den Nikolaus-Hafen, die niedrigen Kabinen der Dampfschifffahrts-Büros, das breite, gepflasterte Ufer, bedeckt mit Sandhaufen, Fässern und Säcken, eingesäumt mit einer Reihe noch vollbeladener Kähne, wo ein ganzes Heer von Ausladern sich tummelte und ein eiserner Krahn, alles beherrschend, seinen Riesenarm ausstreckte, während auf der anderen Seite des Wassers ein kaltes Bad, von dem Lärm der letzten Badenden widerhallend, die grauen Zelttücher, die ihm als Dach dienten, lustig im Winde flattern ließ. In der Mitte floß die offene Seine heran, grünlich, mit kleinen hüpfenden Wellen, auf denen weiße, blaue und rote Lichter tanzten. Die Brücke der Künste bildete ein zweites Feld; sie stand sehr hoch auf ihrem eisernen Gebälk, so leicht wie schwarze Spitzen, belebt durch das unaufhörliche Hin und Wieder der Passanten, einen Ameisenzug auf der schmalen Linie des Steges. Darunter setzte die Seine ihren Lauf fort; man sah die alten Bogen der Neuen Brücke gebräunt vom Rost der Steine; links gestattete der Fluß einen Ausblick bis zur Ludwigs-Insel, es war gleichsam ein fliehender Spiegel in blendender Verkürzung; der andere Arm bog kurz ab, die Schleuse bei der Münze schien mit ihrem Schaumbalken die Aussicht zu versperren. Die Neue Brücke entlang zogen große, gelbe Omnibusse und buntfarbig gestrichene Möbelwagen mit der mechanischen Regelmäßigkeit von Kinderspiel werken. Der ganze Hintergrund war hier von den Perspektiven der beiden Ufer eingerahmt: am rechten Ufer die Häuser der Ufer, halb verborgen hinter einer Gruppe großer Bäume, die am Horizont eine Ecke des Rathauses und den viereckigen Turm der Gervasius-Kirche sehen ließen, schier verschwimmend in dem Häuserwirrsal der Vorstadt; am linken Ufer ein Flügels des Instituts, die flache Vorderseite der Münze, Bäume in langer Zeile. Doch den Mittelpunkt in diesem ungeheuren Bilde, was aus dem Flusse aufstieg, sich erhob und den Himmel einnahm, bildete die Altstadt, dieses Vorderteil des alten Schiffes, ewig vergoldet durch die untergehende Sonne. Unten auf dem Damm grünten die Pappeln in dichter Masse und verbargen die Statue. Weiter oben brachte die Sonne die beiden Ufer in einen Gegensatz zueinander, indem sie die grauen Häuser des Ulmenufers im Schatten verschwinden ließ, während sie ein loderndes Licht über die roten Häuser des Goldschmiedufers ausgoß, ganze Reihen von unregelmäßig gebauten Häusern, die so deutlich sichtbar waren, daß das Auge ihre geringsten Einzelheiten, die Läden, die Aushängeschilder, ja selbst die Fenstervorhänge unterscheiden konnte. Noch höher zwischen dem Zahnwerk der Schlote hinter dem schiefen Schachbrett der kleinen Hausdächer zeigten die Pfefferbüchsen des Industrie-Palastes und die Dächer der Präfektur ihre Schieferfelder, durchbrochen von einer ungeheuren Ankündigung, deren Riesenbuchstaben auf einer Mauer von ganz Paris gesehen wurden, gleichsam als Ausschlag des modernen Fiebers an der Stirn der Stadt. Noch höher, über den Zwillingstürmen der Liebfrauen-Kirche, strebten zwei Pfeile von der Farbe alten Goldes in die Höhe, hinten der Pfeil der Kathedrale, links der Pfeil der heiligen Kapelle in so feiner Eleganz, daß sie in der Abendluft zu zittern scheinen, die stolzen Masten des vielhundertjährigen Schiffes, die in der klaren Luft zum Himmel streben.

»Kommst du, Liebling?« wiederholte Christine sanft.

Claude hörte sie noch immer nicht; dieses Herz von Paris hatte ihn ganz gefangengenommen. Der schöne Abend erweiterte den Gesichtskreis. Es gab helle Lichter und tiefe Schatten, etwas Freundliches in der Genauigkeit der Einzelheiten, eine Durchsichtigkeit der freudig zitternden Luft. Und das Leben auf dem Flusse, das tätige Schaffen an den Ufern, diese Menschheit, deren Flut aus den Straßen hervorbrach und über die Brücken sich ergoß: es kam von allen Rändern dieser ungeheuren Kufe und dampfte in einer sichtbaren Woge, in einem Leben, das im Sonnenlichte zitterte. Ein leichter Wind wehte, ein Flug kleiner, rosiger Wolken zog sehr hoch unter dem erblassenden Blau dahin, während man ein ungeheures und langsames Zucken vernahm; die Seele von Paris, die hoch rings um seine Wiege verbreitete.

Da ergriff Christine Claudes Arm; es beunruhigte sie, als sie ihn so in Betrachtung versunken sah; sie ward von einer Art andächtiger Furcht erfaßt und zog ihn fort, als habe sie ihn in großer Gefahr gewußt.

»Laß uns heimkehren, du machst dich krank. Ich will heimkehren.«

Bei ihrer Berührung fuhr er zusammen wie ein Mensch, der plötzlich geweckt wird. Dann wandte er den Kopf um und murmelte mit einem letzten Blick:

»Ach, mein Gott, wie schön!«

Er ließ sich hinwegführen. Aber den ganzen Abend, bei Tische, nachher am Ofen und bis zum Schlafengehen blieb er wie betäubt, dermaßen zerstreut, daß er nicht vier Sätze sprach, und daß seine Frau, da sie keine Antwort von ihm erlangen konnte, schließlich ebenfalls schwieg. Sie betrachtete ihn ängstlich: war eine ernste Krankheit über ihn gekommen, irgendein böser Luftzug, den er sich mitten auf jener Brücke geholt? Seine Augen irrten ruhelos umher; sein Antlitz ward durch eine innere Anstrengung rot gefärbt; es war wie eine dumpfe Keimarbeit, ein Wesen, das in ihm erstand, jene Überspannung und jenes Übelbefinden, welches die Frauen kennen. Anfangs schien die Sache schmerzlich, verworren, durch tausend Bande gehindert; dann löste sich alles, er hörte auf, sich im Bette herumzuwälzen, und verfiel in den tiefen Schlaf, der großen, mühseligen Anstrengungen zu folgen pflegt.

Am folgenden Tage verließ er nach dem Frühmahl das Haus. Christine verbrachte einen leidvollen Tag; denn obgleich sie sich ein wenig beruhigt fühlte, als sie ihn am Morgen seine Lieblingsweisen aus dem Süden pfeifen hörte, hatte sie doch eine andere Sorge, die sie vor ihm geheim hielt aus Furcht, ihn noch mehr niederzudrücken. Es war der erste Tage, an dem sie Mangel an allem hatten: eine ganze Woche trennte sie noch von dem Tage, an dem sie ihre kleine Rente in Empfang nehmen sollten; und sie hatte am Morgen ihren letzten Sou ausgegeben, es blieb ihr nichts für den Abend, nicht einmal soviel, um ein Brot auf den Tisch legen zu können. An welche Tür konnte sie klopfen? Wie sollte sie ihn noch länger anlügen, wenn er hungrig heimkehrte. Sie entschloß sich, das schwarze Seidenkleid zu verpfänden, das Frau Vanzade ihr einst zum Geschenk gemacht hatte. Aber es kostete ihr einen schweren Kampf; sie zitterte vor Furcht und Scham bei dem Gedanken an das Leihhaus, dieses öffentliche Haus der Armen, das sie noch niemals betreten hatte. Eine solche Angst vor der Zukunft peinigte sie jetzt, daß sie von den zehn Franken, die man ihr lieh, nur soviel nahm, um eine Sauerampfer-Suppe und ein Kartoffel-Ragout zu bereiten. Als sie aus dem Leihhause trat, hatte sie eine Begegnung, und dies gab ihr den Rest.

Claude kam gerade an jenem Abend sehr spät heim; er war heiter, eine geheime Freude spiegelte sich in seinen hellen Augen. Er war sehr hungrig und schrie, daß der Tisch noch nicht gedeckt war. Als er zwischen Christine und dem kleinen Hans bei Tische saß, verschlang er seine Suppe und einen Teller voll Kartoffeln.

»Wie, das ist alles?« fragte er. Du hättest wohl etwas Fleisch hinzufügen können ... Oder hast du wieder Schuhe kaufen müssen?«

Sie stotterte, wagte nicht die Wahrheit zu sagen, war durch diese Ungerechtigkeit im Innersten verletzt. Doch er fuhr fort, neckte sie jetzt wegen der Sous, die sie verschwinden ließ, um sich allerlei Sachen zu gönnen; immer erregter, in der Selbstsucht der lebhaften Empfindungen, die er für sich behalten zu wollen schien, wurde er plötzlich böse gegen Hans.

»Schweig'; verwünschter Bengel! Es wird mir am Ende über!«

Hans hatte zu essen vergessen und schlug mit seinem Löffel auf den Rand des Tellers mit lachenden Augen, entzückt von dieser Musik.

»Hans, sei still!« ermahnte jetzt auch die Mutter. »Laß den Vater ruhig essen!«

Der erschreckte Kleine ward sogleich artig, verfiel wieder in seine mürrische Unbeweglichkeit und starrte mit den matten Augen auf seine Kartoffeln, die er noch immer nicht aß.

Claude stopfte sich auffällig mit Käse, während die trostlose Christine sich erbötig machte, vom Wursthändler ein Stück kaltes Fleisch zu holen; aber er lehnte ab und hielt sie mit Worten zurück, die sie noch mehr kränkten. Als der Tisch abgedeckt war und alle drei wieder um die Lampe saßen, um da den Abend zu verbringen, sie nähend, das Kind stumm in einem Bilderbuche blätternd, begann Claude mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln, mit seinen Gedanken dort weilend, woher er nach Hause gekommen. Plötzlich erhob er sich, holte ein Blatt Papier und einen Stift und begann in dem runden, hellen Lichte unter dem Lampenschirm hastige Striche auf das Papier zu werfen. Diese aus dem Gedächtnisse hingeworfene Skizze, die er in dem Bedürfnisse machte, den Gedanken, die in seinem Kopf sich tummelten, einen Ausdruck zu geben, genügte bald nicht mehr, ihn zu erleichtern. Diese Skizze regte ihn nur noch mehr an; der ganze Aufruhr, von dem er überströmte, brach sich über seine Lippen Bahn, und er erleichterte sein Herz schließlich durch eine Flut von Worten. Er hätte zu den Mauern geredet und sprach zu seiner Frau, weil sie da war.

»Das ist's, was wir gestern gesehen haben ... Es ist prächtig! Ich habe heute drei Stunden dort zugebracht und gefunden was ich suchte; eine erstaunliche Sache; ein Zug, der alles über den Haufen werfen wird ... Ich nehme meine Stellung unter der Brücke; im Vordergrunde habe ich den Nikolaus-Hafen mit seinem Krahn, seinen Kähnen, die ausgeladen werden, seinem Volk von Ausladern. Du begreifst: es ist das arbeitende Paris; kräftige Burschen mit nackter Brust und entblößten Armen ... Auf der andern Seite das kalte Bad, Paris, das sich da vergnügt, und ohne Zweifel eine Barke, um den Mittelpunkt des Bildes einzunehmen; doch das weiß ich noch nicht genau, ich muß darüber noch nachdenken ... Natürlich die Seine in der Mitte, breit, unermeßlich ...«

In dem Maße wie er sprach, zeichnete er mit dem Stifte sehr kräftig die Umrisse, nahm zehnmal die flüchtig hingeworfenen Striche wieder auf und zerriß in seinem Eifer schier das Papier. Um ihm angenehm zu sein, neigte sie sich vor und tat, als interessiere sie sich für seine Erläuterungen lebhaft. Allein die Skizze verirrte sich bald in einem solchen Durcheinander von Linien, füllte sich mit einem so großen Wirrsal von oberflächlich angedeuteten Einzelheiten, daß sie bald nichts mehr unterscheiden konnte.

»Du bist bei der Sache, nicht?«

»Ja, ja, sehr schön!«

»Endlich habe ich den Hintergrund, die zwei Flußarme mit den Ufern, die stolze Altstadt in der Mitte, wie sie vom Himmel sich abhebt ... Dieser Hintergrund, wie wunderbar! Man sieht ihn alle Tage, man geht vorüber, ohne stehen zu bleiben; aber er durchdringt uns, die Bewunderung wächst in uns, und eines Tages erscheint er vor uns. Nichts in der Welt ist größer; es ist Paris selbst, herrlich unter der Sonne ... War ich nicht dumm, nicht früher daran zu denken? Wie oft habe ich es gesehen, ohne es zu schauen ... Ich mußte erst nach dieser langen Wanderung an den Ufern an diesem Punkte haltmachen ... Du erinnerst dich: es findet sich auf dieser Seite ein Stück Schatten, die Sonne brennt gerade hernieder; dort hinten die Türme, der Pfeil auf der heiligen Kapelle verdünnt sich, scheint eine Nadel unter dem Himmel ... Nein, der Pfeil ist mehr rechts; wart', ich will dir zeigen.

Er begann von neuem, ward nicht müde, nahm die Zeichnung immer wieder auf, verbreitete sich in tausend kleinen, charakteristischen Merkmalen, die sein Malerauge festgehalten; da schimmerte das rote Aushängeschild eines Ladens aus der Ferne herüber; da näher ein grünlicher Fleck der Seine, wo Ölflecke zu schwimmen schienen; dann der feine Ton eines Baumes, die Stufenleiter der grauen Tünche der Häuser und das leuchtende Blau des Himmels. Sie stimmte freundlich zu, suchte sich zu begeistern.

Doch Hans vergaß sich wieder einmal. Nachdem er lange still vor seinem Buche gesessen, in die Betrachtung eines Bildes versunken, das eine schwarze Katze darstellte, hatte er angefangen, einige Worte, die er selbst zusammengefügt, still vor sich hinzusummen: »Oh, schöne Katz', oh, häßliche Katz'; 'ne schöne und 'ne häßliche Katz'.« Das ging so ins Unendliche, immer in dem nämlichen trübseligen Ton.

Durch dieses Gesumme gereizt, hatte Claude nicht sogleich begriffen, was ihn so nervös machte, während er sprach. Dann waren ihm die unaufhörlich wiederkehrenden Worte des Kindes deutlich in die Ohren gedrungen.

»Wirst du endlich aufhören, uns mit deiner Katze zu peinigen?« schrie er wütend.

»Hans, schweige, wenn dein Vater spricht,« wiederholte Christine.

»Auf mein Wort, der Bengel wird blöd! ... Schau nur den Schädel an: ist das nicht der Schädel eines Blöden? Es ist zum Verzweifeln! Was willst du denn sagen mit deiner schönen Katz' und häßlichen Katz'? Sprich?«

Der Kleine war erblaßt, schaukelte den allzu großen Kopf und antwortete mit dummer Miene:

»Weiß nicht.«

Als seine Eltern sich mutlos ansahen, legte er eine Wange in sein offenes Buch und blieb so, ohne sich zu bewegen, ohne zu sprechen, mit weitoffenen Augen.

Es ward spät, Christine wollte das Kind zu Bett bringen, doch Claude hatte seine Erläuterungen wiederaufgenommen. Er kündigte jetzt an, er werde schon am morgigen Tage eine Skizze nach der Natur machen, um seine Gedanken festzuhalten. Das führte ihn zu der Bemerkung, daß er eine kleine Feldstaffelei kaufen wolle. Seit Monaten träumte er schon von dieser Anschaffung. Er beharrte bei der Sache und sprach von Geld. Sie geriet in Verwirrung und gestand ihm schließlich alles: daß sie für das Frühstück den letzten Sous ausgegeben und ihr Seidenkleid verpfändet habe, um das Abendessen bereiten zu können. Da ward er von Reue und Zärtlichkeit ergriffen, küßte sie und bat um Verzeihung, weil er sich bei Tische beklagt habe. Sie müsse ihn entschuldigen; er würde Vater und Mutter getötet haben, – wie er sagte – wenn die verdammte Malerei ihn in den Eingeweiden packte. Das Leihhaus brachte ihn übrigens zum Lachen; er hatte keine Angst vor der Not.

»Ich sage dir, ich habe, was ich suche!« rief er. »Dieses Bild wird der Erfolg sein.«

Sie schwieg; sie dachte an die Begegnung, die sie gehabt, und die sie ihm hatte verheimlichen wollen; aber es kam unaufhaltsam über ihre Lippen, ohne scheinbare Ursache, ohne Übergang, in einer Art von Betäubung, die über sie gekommen.

»Frau Vanzade ist gestorben,« sagte sie.

Er war erstaunt. Ach, wirklich? Woher wußte sie es?

»Ich bin dem ehemaligen Kammerdiener begegnet. Der ist jetzt ein Herr, sehr rüstig trotz seiner siebzig Jahre. Ich hatte ihn nicht erkannt; er hat mich angesprochen ... Ja, sie ist vor sechs Wochen gestorben. Ihre Millionen hat sie den Krankenhäusern hinterlassen mit Ausnahme der Renten, welche die zwei alten Diener jetzt als kleine Bürgersleute verzehren.«

Er sah sie an und murmelte endlich mit trauriger Stimme:

»Meine arme Christine, du fühlst Reue, nicht wahr? Sie hätte dir eine Mitgift gegeben und dich verheiratet, ich sagte dir es ja ehemals. Du wärest vielleicht ihre Erbin und müßtest nicht am Hungertuche nagen mit einem Narren meines Schlages!«

Doch da schien sie sich zu besinnen. Sie zog hastig ihren Sessel näher, ergriff ihn mit einem Arm und lehnte sich an ihn, um mit ihrem ganzen Wesen diese Worte abzuwehren.

»Was sagst du? O nein, o nein! ... Es wäre eine Schande, wenn ich an ihr Geld gedacht hätte. Ich würde es dir gestehen; du weißt, daß ich nicht lüge; aber ich weiß selbst nicht, was über mich kam, eine Verstörtheit, eine Traurigkeit, weil ich glaubte, es sei alles aus für mich. Es war ohne Zweifel die Reue, aber nur die Reue darüber, daß ich diese arme, gebrechliche, alte Frau, die mich ihre Tochter nannte, so plötzlich verlassen habe. Ich habe schlecht gehandelt, das wird mir kein Glück bringen. Sage nicht nein; ich fühle es, daß für mich fortan alles aus ist.«

Sie weinte und erstickte fast an dieser unklaren Reue, die sie sich nicht zu deuten wußte, in dem einzigen Gefühl, daß ihr Dasein verdorben sei, daß sie vom Leben nur mehr Unglück zu erwarten habe.

»Christine, nimm Vernunft an, trockne deine Augen,« sagte er zärtlich. »Du warst niemals nervös; wäre es möglich, daß du dir Gedanken machst und dich in solcher Weise quälst? Zum Teufel! Wir werden uns durchkämpfen. Vergiß nicht: Du hast mich mein Bild finden lassen ... Du bist doch nicht gar so verdammt, da du Glück bringst!«

Er lachte; sie nickte, da sah sie, daß er sie heiter stimmen wollte. Doch sein Bild verursachte ihr jetzt schon Leid; denn dort auf der Brücke hatte er sie vergessen, als habe sie aufgehört, die Seine zu sein. Seit gestern fühlte sie, wie er sich immer mehr und mehr von ihr entfernte. Er war anderwärts, in einer Welt, zu der sie sich nicht emporschwang. Doch sie ließ sich trösten; sie tauschten einen ihrer Küsse von ehemals, ehe sie vom Tische aufstanden, um zu Bett zu gehen.

Der kleine Hans hatte nichts gehört. In seiner Unbeweglichkeit ermattet, war er schließlich eingeschlafen, die Wange in seinem Bilderbuche ruhend; und sein übergroßer Kopf eines mißratenen Künstlerkindes, sein Kopf, der mit seiner Schwere oft seinen Nacken beugte, war ganz bleich im Lichte der Lampe. Als seine Mutter ihn zu Bett brachte, schlug er die Augen nicht auf.

Um jene Zeit erst dachte Claude daran, Christine zu seiner Frau zu machen. Indem er den Ratschlägen Sandoz' folgte, der über die Unnötigkeit dieses ungeregelten Zusammenlebens erstaunt war, gehorchte er vornehmlich einem Gefühl des Mitleids, dem Bedürfnisse, sich ihr gütig zu zeigen, Vergebung für sein mannigfaches Unrecht zu erlangen. Seit einiger Zeit sah er sie so traurig, so unruhig wegen der Zukunft, daß er nicht wußte, durch welche Freude er sie erheitern solle. Er selbst verbitterte, verfiel wieder in seine ehemaligen Zornesausbrüche, behandelte sie manchmal wie eine Magd, die man achttägig kündigt. Ist sie erst seine legitime Frau, dann wird sie sich ohne Zweifel heimischer fühlen und weniger durch seine plötzlichen Aufwallungen leiden. Sie hatte übrigens von der Heirat nicht mehr gesprochen; sie lebte wie losgelöst von der Welt, so verschwiegen, daß sie außer ihm fast mit niemandem Verkehr hatte; aber er begriff, daß sie sich darüber härmte, bei Sandoz nicht empfangen zu werden; und anderseits war es nicht mehr die Freiheit und Einsamkeit des Landlebens; es war Paris mit den tausend Bosheiten der Nachbarschaft, mit gezwungenen Verbindungen und mit allem, was eine Frau verletzen kann, die bei einem Manne lebt. Er hatte im Grunde gegen die Ehe nichts einzuwenden als das alte Vorurteil des Künstlers, den das Leben zügellos gemacht. Da er sie niemals verlassen sollte, warum ihr nicht dieses Vergnügen machen? In der Tat: als er ihr davon sprach, stieß sie einen Freudenschrei aus und warf sich ihm an den Hals, selbst überrascht, daß sie dadurch so sehr ergriffen wurde. Eine Woche lang war sie sehr glücklich; dann beruhigte sie sich wieder lange vor der Feier.

Claude beschleunigte übrigens keinen der nötigen Schritte, und man hatte auf die notwendigen Papiere lange zu warten. Er fuhr fort, Studien für sein Gemälde zu sammeln, sie schien ungeduldig wie er. Wozu auch sich ereifern? Es werde gewiß nichts Neues in ihr Leben bringen. Sie hatten beschlossen, sich bloß auf dem Standesamte trauen zu lassen, nicht etwa um eine Mißachtung gegen die Religion zu zeigen, sondern um die Sache rasch und einfach abzumachen. Die Frage der Trauzeugen brachte sie einen Augenblick in Verlegenheit. Da sie keine Bekannten hatte, gab er ihr Sandoz und Mahoudeau; anfänglich hatte er wohl an Dubuche gedacht, allein er sah ihn nicht mehr und fürchtete, ihn bloßzustellen. Für sich selbst begnügte er sich mit Jory und Gagnière. So werde die Sache unter Kameraden bleiben und niemand davon reden.

Wochen waren vergangen; man war im Dezember, und es herrschte eine furchtbare Kälte. Am Tage vor der Hochzeit besaßen sie fünfunddreißig Franken; dennoch sahen sie ein, daß sie ihre Zeugen nicht einfach mit einem Händedruck entlassen konnten; weil sie eine Unordnung in der eigenen Behausung vermeiden wollten, beschlossen sie, ihnen in einem kleinen Restaurant auf der Clichy-Promenade ein Frühstück anzubieten. Dann sollte jeder nach Hause gehen.

Am Hochzeitsmorgen holte Christine ein Kleid von grauem Wollstoff hervor, daß sie – als einzige Koketterie – für diese Gelegenheit sich hatte machen lassen und an das sie einen weißen Kragen heftete. Inzwischen trippelte Claude, der schon seinen schwarzen Rock angelegt hatte, ungeduldig im Atelier herum und kam endlich auf den Einfall, Mahoudeau abzuholen unter dem Vorwande, daß dieser Bursche sehr wohl fähig sei, das Stelldichein zu vergessen. Seit dem Herbste bewohnte der Bildhauer ein kleines Atelier in der Lindenstraße; er war dahin übergesiedelt infolge einer ganzen Reihe von aufregenden Vorfällen, die sein Leben verstört hatten; vor allem war er, weil er den Mietzins nicht bezahlt hatte, aus dem ehemaligen Obstladen in der Mittagsstraße verjagt worden; nachher war ein endgültiger Bruch mit Chaine einzutreten, den die Verzweiflung darüber, daß er von seinen Pinseln nicht leben konnte, in ein geschäftliches Abenteuer gestürzt hatte: er bereiste die Jahrmärkte in der Umgebung von Paris mit einem Ringspiel für Rechnung einer Witwe; und schließlich war Mathilde plötzlich ausgeflogen, die Kräuterhandlung verkauft, die Kräuterhändlerin verschwunden, ohne Zweifel entführt und von irgendeinem mit seltsamen Leidenschaften behafteten Herrn in einer verschwiegenen Wohnung verborgen gehalten. So lebte Mahoudeau jetzt allein in noch größerem Elend als zuvor; er hatte nur zu essen, wenn er ein Zierstück für eine Hausfassade zu »kratzen« oder irgendeine Figur von einem glücklicheren Kollegen »fertigzustellen« bekam.

»Ich will ihn abholen, das ist sicherer,« sagte Claude zu Christine.« Wir haben noch zwei Stunden Zeit ... Wenn inzwischen die anderen kommen, laß sie warten. Wir werden alle zusammen nach dem Standesamt gehen.

Draußen beschleunigte Claude seine Schritte, denn es war grimmig kalt, sein Schnurrbart belegte sich mit Eiszäpfchen. Das Atelier Mahoudeaus lag im Hintergrunde eines Wirrsals von Häusern, und Claude mußte eine ganze Flucht von kleinen, mit winterlichem Reif bedeckten Gärten durchschreiten, die traurig und kahl wie Friedhöfe dalagen. Schon von fern erkannte er die Tür an dem riesigen Gipsmodell der »Winzerin«, die man in dem engen Erdgeschoß nicht hatte unterbringen können. Da verfaulte sie gleich einem Schutthaufen, zerfallend, trübselig, mit großen, schwarzen Tränen, die der Regen in ihrem Gesichte zurückgelassen. Der Schlüssel steckte in der Türe, er trat ein.

»Du kommst mich holen!« rief Mahoudeau überrascht. »Ich habe nur noch meinen Hut aufzusetzen ... Aber wart', ich dachte gerade darüber nach, ob ich nicht ein wenig einheizen sollte; meiner Badenden wird es wohltun.«

Das Wasser in einem Zuber war in Eis verwandelt; denn es fror in dem Atelier geradeso wie draußen. Seit acht Tagen war er ohne einen Sou; darum sparte er mit einem Rest von Kohle, den er noch besaß und ließ das Feuer im Ofen nur eine oder zwei Stunden des Morgens brennen. Dieses Atelier glich mehr einem trübseligen Keller, mit dem verglichen der ehemalige Obstladen ein Ort voll Behagen und Wohlleben war; von den kahlen Mauern und der stellenweise bloßliegenden Decke strömte eine gruftartige Kälte hernieder. In den Winkeln fröstelten andere Statuen, die weniger Raum erforderten, Modelle, die er mit Leidenschaft entworfen und ausgestellt hatte, und die ihm wegen Mangels an Käufern zurückgesandt worden. Da standen sie nun, mit den Gesichtern zur Wand gekehrt, eine trübselige Reihe von Siechen, mehrere schon zerbrochen, ihre Stümpfe zeigend, alle mit Staub belegt, mit Tonerde bespritzt. So moderten diese erbarmungswürdigen nackten Figuren jahrelang unter den Augen des Künstlers, der ihnen von seinem Blute gegeben und sie – obgleich er nur wenig Platz hatte – anfänglich mit eifersüchtiger Leidenschaft behütete, um sie dann in die plumpe Scheußlichkeit toter Dinge verfallen zu lassen, bis er schließlich einen Hammer nahm und sie mit eigenen Händen in Staub verwandelte, um sein Leben von ihnen zu befreien.

»Wie? Du sagtet, wir haben noch zwei Stunden?« fragte Mahoudeau. »So will ich ein wenig einheizen, das ist klüger.«

Während er Feuer machte, klagte er dem Kameraden mit grollender Stimme sein Leid. Welch ein Hundeberuf ist doch die Skulptur! Die geringsten Maurer sind glücklicher. Eine Figur, welche die Regierung für dreitausend Franken gekauft, hatte ihm selbst nahezu zweitausend Franken an Ausgaben für Modell, Erde, Marmor, Bronzen usw. usw. verursacht. Alles, um die Figur in irgendeinem Amtskeller eingesperrt zu halten unter dem Vorwande, daß man keinen Platz habe. Die Nischen der Denkmäler standen leer; in den öffentlichen Gärten harrten die Sockel der Bildsäulen, – aber es war kein Platz vorhanden. Auch von den Privatleuten gab es keine Arbeit, kaum eine Büste von Zeit zu Zeit oder eine Bildsäule zu ermäßigtem Preise, deren Kosten durch öffentliche Spendensammlungen aufgebracht wurde. Es sei die edelste und männlichste Kunst, aber zugleich die, bei der man am sichersten Hungers sterbe.

»Geht es vorwärts mit deiner Figur?« fragte Claude.

»Sie wäre fertig, wenn diese verdammte Kälte nicht wäre,« erwiderte er .»Du wirst sie übrigens sogleich sehen.«

Er erhob sich, nachdem der Ofen zu summen begonnen. Mitten im Atelier stand auf einem Bock, den er aus einer Packkiste verfertigt und mit Querleisten befestigt hatte, eine Bildsäule, in alte Leinwandtücher eingehüllt; stark gefroren, in den Falten hart und kantig, zeichnete sie die Figur wie unter einem weißen Totenlaken ab. Das war endlich sein alter Traum, den er bisher wegen Geldmangels nicht hatte verwirklichen können: eine aufrechte Figur, die »Badende«, von der mehr als zehn Entwürfe seit Jahren bei ihm herumstanden. In einer Stunde ungeduldiger Empörung hatte er selbst aus Besenstielen eine Art Gestell angefertigt, auf das notwendige Eisen verzichtend, in der Hoffnung, daß das Holz stark genug sein werde. Von Zeit zu Zeit rüttelte er daran, um die Festigkeit zu prüfen; doch das Gestell hatte sich bisher nicht gerührt.

»Alle Wetter!« murmelte er; »das sitzt auf ihr wie ein Kür aß; ein wenig Wärme wird ihr wohltun.«

Die Leinwandtücher krachten unter seinen Fingern, und Eisschollen fielen zu Boden. Er mußte warten, bis die Tücher unter der Einwirkung der Wärme ein wenig auftauten; dann enthüllte er sie mit äußerster Vorsicht, zuerst den Kopf, dann die Brust, dann die Hüften, war glücklich, daß sie unberührt sei, und lächelte wie ein Verliebter beim Anblicke der Nacktheit des geliebten Weibes.

»Was sagst du dazu?«

Claude, der sie nur als Skizze gesehen hatte, nickte mit dem Kopfe, um nicht sogleich zu antworten. Der gute Mahoudeau war entschieden ein Verräter geworden, unwillkürlich zur Anmut zurückgekehrt durch alle hübschen Sachen, die unter seinen plumpen Fingern eines ehemaligen Steinmetzen hervorkamen. Seit seiner kolossalen Winzerin hatte er sich an immer kleinere Figuren gemacht, ohne es selbst zu merken; er schrie noch immer sein Lieblingswort »Temperament«, aber er gab der Milde nach, mit der seine Augen sich füllten. Die Riesenbrüste nahmen kindliche Formen an, die Schenkel verlängerten sich zu eleganten Spindeln; es brach endlich die wahre Natur hervor, nachdem der übermäßig aufgeblähte Ehrgeiz nachgelassen. Obgleich noch immer übertrieben, war seine Badende doch von einem großen Reiz mit dem Frösteln ihrer Schultern, ihren beiden gekreuzten Armen, welche die Brüstchen hinaufschoben, verliebte Brüstchen, in seinem durch die Not verbitterten Verlangen nach dem Weibe geformt; notgedrungen keusch hatte er ein sinnliches Fleisch aus ihr gemacht, das ihn in Verwirrung brachte.

»Also sie gefällt dir nicht?« fragte er mit verdrossener Miene.

»Doch, doch ... Ich glaube, du tust recht, wenn du dein Werk ein wenig milderst, da es deinem Empfinden entspricht. Du wirst Erfolg damit haben. Ja, gewiß, es wird sehr gefallen.«

Mahoudeau, den solche Lobsprüche früher erschreckt hätten, schien jetzt entzückt. Er erklärte: er wolle das Publikum erobern, ohne etwas von seinen Überzeugungen preiszugeben.

»Es gereicht mir zur Freude, daß du damit zufrieden bist; ich hätte sie zerschlagen, wenn du mir gesagt hättest, ich solle sie zerschlagen, bei meiner Ehre! Noch zwei Wochen Arbeit, dann verkaufe ich meine Haut dem erstbesten, der sie haben will, um den Formgießer zu bezahlen. Sprich: ich werde einen bedeutenden Erfolg in der Ausstellung haben; vielleicht gar eine Medaille!«

Er ging dabei lachend in dem Räume umher. Dann unterbrach er sich und rief:

»Wir haben Zeit; setze dich doch ... Ich warte, bis die Tücher ganz aufgetaut sind.«

Der Ofen begann rot zu werden und eine starke Hitze zu verbreiten. Die Badende, ganz nahe beim Ofen aufgestellt, schien sich zu beleben unter dem warmen Hauch, der ihr über den Rücken, von den Fußknöcheln bis zum Nacken emporstieg. Beide saßen jetzt vor ihr und fuhren fort, sie von der Vorderseite zu betrachten und sie in den Einzelheiten zu besprechen, bei jedem Teile ihres Körpers verweilend. Der Bildhauer wurde in seiner Freude immer erregter und schien sie mit einer Rundbewegung aus der Ferne zu liebkosen. Was? ist das ein Muschelbauch! und die schöne Falte in der Taille, welche die Schwellung der linken Hüfte verrät!

Claude, dessen Augen noch immer auf den Bauch gerichtet waren, glaubte in diesem Augenblicke ein Traumgesicht zu haben. Die Badende bewegte sich, der Bauch war in einer leichten Wellenbewegung erbebt, die linke Hüfte hatte sich noch mehr gespannt, als solle das rechte Bein sich in Bewegung setzen.

»Die kleinen Flächen, die nach den Lenden sich hinziehen,« fuhr Mahoudeau fort, ohne etwas zu sehen. »Das habe ich sehr sorgfältig gemacht! Diese Haut, mein Lieber, ist der reine Samt!«

Allmählich belebte sich die ganze Statue. Die Lenden rollten, die Brust schwoll an wie in einem tiefen Seufzer. Plötzlich neigte der Kopf sich vor, die Schenkel knickten ein, und sie fiel wie eine Lebende mit dem Entsetzen und dem leidvollen Schwung einer Frau, die sich hinabstürzt.

Claude begriff endlich, als Mahoudeau einen furchtbaren Schrei ausstieß.

»Herrgott im Himmel! Es bricht, sie fällt zur Erde!«

Der Ton hatte auftauend die allzu schwachen Hölzer des Gestells gesprengt. Es entstand ein Krachen und Knacken, wie wenn Knochen bersten. Mit derselben zärtlichen Bewegung, mit der er sie von fern geliebkost hatte, öffnete Mahoudeau die beiden Arme auf die Gefahr hin, von der Figur zermalmt zu werden. Einen Augenblick schwankte sie, dann stürzte sie auf das Antlitz, bei den Fußknöcheln entzwei gebrochen, ihre Füße auf dem Brett zurücklassend.

Claude war hinzugeeilt, um ihn zurückzuhalten.

»Schafskopf, du wirst erschlagen!«

Doch vor Angst zitternd, daß sie auf dem Boden in Trümmer gehe, war Mahoudeau mit ausgestreckten Armen stehengeblieben. Sie schien ihm an den Hals zu fallen, er fing sie auf, schloß die Arme um diese große, jungfräuliche Nacktheit, die sich beseelte wie unter dem ersten Erwachen des Fleisches. Er schien in sie einzudringen; der verliebte Busen druckte sich an seiner Schulter platt, die Schenkel schlugen an die seinigen, der Kopf rollte zur Erde. Die Erschütterung war so heftig, daß er bis an die Mauer geschleudert wurde; ohne den Rumpf loszulassen, blieb er betäubt neben der Figur liegen.

»Schafskopf!« wiederholte Claude wütend, der ihn tot glaubte.

Mahoudeau richtete sich mühsam auf die Knie auf und brach in ein schmerzliches Schluchzen aus. Bei seinem Sturze hatte er sich bloß im Gesichte verletzt. Aus einer seiner Wangen floß Blut und vermengte sich mit seinen Tränen.

»Ist das ein Jammer! Da soll man sich doch lieber gleich in der Seine ertränken, wenn man nicht soviel hat, um zwei Eisenstäbe zu kaufen. Da liegt sie ... da liegt sie ...«

Er begann noch stärker zu schluchzen; es war eine Totenklage, der heulende Schmerz eines Liebhabers vor dem verstümmelten Leichnam der zärtlich Geliebten. Mit irren Händen betastete er die ringsherum verstreuten Glieder, den Kopf, den Leib, die gebrochenen Arme; die eingedrückte Brust, der abgeplattete Busen, der wie nach einer furchtbaren Krankheit operiert war, erstickte ihn schier, ließ ihn immer wieder dahin zurückkehren, die Wunde zu prüfen, den Riß zu suchen, durch den das Leben entflohen war; von neuem flössen die blutigen Zähren und färbten die Wunden rot.

»Hilf mir doch!« stammelte er. »Man kann sie nicht so dalassen.

Die Rührung hatte auch Claude ergriffen. Auch seine Augen wurden feucht in dem brüderlichen Gefühl des Künstlers. Er zeigte sich teilnahmsvoll, allein der Bildhauer, der soeben erst seine Hilfe angerufen, wollte allein die Trümmer zusammenlesen, als fürchte er, sie der rauhen Berührung eines andern auszuliefern. Langsam kroch er auf den Knien herum, nahm die Stücke eines nach dem andern, und legte sie nebeneinander auf ein Brett. Bald war die Figur wieder ganz, einer Selbstmörderin gleichend, die aus Liebesgram sich aus der Höhe hinabgestürzt, und die man zu einem jämmerlich-komischen Leichnam zusammengeflickt hat, um ihn nach der Totenhalle zu schaffen. Er saß jetzt wieder vor der Figur, wandte keinen Blick von ihr und versank in eine kummervolle Betrachtung. Doch allmählich hörte sein Schluchzen auf, und er sagte schließlich mit tiefem Seufzer:

»Ich werde jetzt eine liegende Figur machen ... Es hat mir soviele Mühe gemacht, die Ärmste auf die Beine zu stellen, und ich fand sie so groß.

Doch plötzlich ward Claude unruhig; er hatte die Hochzeit vergessen. Mahoudeau mußte die Kleider wechseln. Da er keinen andern Leibrock besaß, mußte er sich mit einer Jacke begnügen. Nachdem die Figur mit Leinentüchern bedeckt war, wie man das Bahrtuch über eine Tote breitete, eilten beide davon. Der Ofen summte; alles taute auf im Atelier, wo jetzt das Wasser floß und den Staub auf den alten Gipsabdrücken in flüssigen Schmutz verwandelte.

In Claudes Wohnung war nur mehr der kleine Hans unter der Obhut der Pförtnerin. Des Wartens müde war Christine mit den drei anderen Zeugen aufgebrochen; sie glaubte, es walte ein Mißverständnis ob: vielleicht hatte Claude ihr gesagt, er werde mit Mahoudeau geradeaus zum Standesamt gehen. Diese beiden machten sich denn endlich auf den Weg, und erreichten die junge Frau und die Kameraden erst in der Drouot-Straße vor dem Standesamt. Sie gingen zusammen hinauf und wurden oben wegen der Verspätung vom Saalhüter sehr unwirsch empfangen. Die Trauung wurde übrigens in einem vollständig leeren Saale binnen wenigen Minuten vollzogen. Der Standesbeamte leierte seine Formeln herunter, die beiden Gatten sagten kurz das übliche Ja, während die Zeugen sich über die Geschmacklosigkeit des Saales verwunderten. Draußen nahm Claude den Arm Christinens, und – das war alles.

Es war ein angenehmer, klarer, kalter Wintertag. Die Schar trat langsam zu Fuße den Rückweg an, ging durch die Märtyrer-Straße, um sich nach dem Restaurant Clichy zu begeben. Man hatte für sie in einem kleinen Saal gedeckt, und das Frühstück gestaltete sich sehr freundschaftlich. Kein Wort wurde über die soeben vollzogene einfache Feier gesprochen; man redete die ganze Zeit von anderen Dingen wie bei ihren gewöhnlichen kameradschaftlichen Zusammenkünften.

So geschah es, daß Christine, die trotz ihres scheinbaren Gleichmutes im Innern sehr bewegt war, drei Stunden lang ihren Gatten und die Kameraden von der »Badenden« Mahoudeaus reden hörte. Seitdem die anderen die Geschichte wußten, verbreiteten sie sich über die geringsten Einzelheiten. Sandoz fand das Ereignis sehr erstaunlich: Jory und Gagnière sprachen über die Festigkeit der Gestelle; dem ersteren ging der Geldverlust nahe, der letztere zeigte an einem Sessel, daß man die Statue hätte aufrecherhalten können. Mahoudeau, noch immer erschüttert und wie erstarrt, klagte über eine schmerzliche Schwere der Glieder, die er nicht sogleich gefühlt hatte; ihm seien die Muskeln zerdrückt, die Haut zerquetscht, als komme er aus den Armen einer steinernen Geliebten. Christine wusch ihm die Wange, die neuerlich zu bluten begonnen hatte, und es war ihr, als habe diese verstümmelte Bildsäule sich mit ihnen zu Tische gesetzt, als habe sie allein Bedeutung an diesem Tage, als interessiere sie allein Claude leidenschaftlich; denn seine zwanzigmal wiederholte Erzählung war unerschöpflich in der Schilderung seiner Aufregung angesichts dieser tönernen Brüste und Hüften, die zertrümmert zu seinen Füßen gelegen.

Beim Nachtisch war das Gespräch auf einen andern Gegenstand gelenkt. Gagnière sagte plötzlich zu Jory:

»Ich habe dich Sonntag mit Mathilden gesehen ... Ja, ja, in der Dauphine-Straße.«

Jory, der sehr rot geworden, versuchte zu leugnen; doch seine Nase zitterte, sein Mund legte sich in Falten, und er brach mit alberner Miene in ein Lachen aus.

»Es war mir eine zufällige Begegnung ... Auf Ehre, ich weiß nicht, wo sie wohnt, ich würde es euch gesagt haben.«

»Wie? Du hältst sie verborgen?« rief Mahoudeau. »Du magst sie behalten, niemand wird sie zurückfordern.«

Die Wahrheit war, daß Jory, mit all seinen vorsichtigen und geizigen Gewohnheiten brechend, Mathilde jetzt in einem kleinen Zimmer verborgen hielt. Sie hatte ihn durch ihr Laster in ihrer Gewalt; er war im besten Zuge, mit dieser großmäuligen Dirne einen gemeinschaftlichen Haushalt zu führen, – er, der früher, um nicht zahlen zu müssen, – von den Straßen-Abenteuern lebte.

»Bah, man nimmt sein Vergnügen, wo man es findet,« sagte Sandoz in philosophischer Nachsicht.

»Das ist richtig,« erwiderte Jory einfach, indem er eine Zigarre anbrannte.

Man verweilte lange; die Nacht war hereingebrochen, als man Mahoudeau heimgeleitete, der entschieden verlangte, sich zu Bett legen zu dürfen. Als Claude und Christine Hans von der Pförtnerin abgeholt hatten und ihr Heim wieder betraten, fanden sie das Atelier kalt und so finster, daß sie lange herumtappten, ehe sie die Lampe anzünden konnten. Sie mußten auch im Ofen Feuer machen; es schlug sieben Uhr, als es wieder behaglich geworden war. Aber sie hatten keinen Hunger und aßen einen Rest gekochten Rindfleisches nur, um das Kind zu ermutigen, seine Suppe zu essen; und als sie Hans zu Bett gebracht hatten, nahmen sie – wie an jedem andern Abend – ihre Plätze unter der Lampe ein.

Christine hatte keine Arbeit zur Hand genommen; sie war zu sehr bewegt, um zu arbeiten. Sie ließ die Hände müßig auf dem Tische ruhen und betrachtete Claude, der sich sogleich in eine Zeichnung versenkt hatte, die einen Teil seines Bildes darstellte, Arbeiter des Nikolaus-Hafens, mit dem Ausladen von Gips beschäftigt. Ein unwiderstehliches Brüten nahm sie gefangen: Erinnerungen und Reue tauchten auf und spiegelten sich in ihren umschleierten Augen; allmählich ward sie von einer wachsenden Traurigkeit, von einem großen, stummen Schmerze völlig durchdrungen inmitten dieser Gleichgültigkeit, dieser unendlichen Einsamkeit, in die sie so nahe bei ihm versunken war. Wohl war er noch immer da an der andern Seite des Tisches; aber sie fühlte, daß er fern sei, dort hinten vor der Spitze der Altstadt und noch weiter, in der unnahbaren Unendlichkeit der Kunst, jetzt so fern, daß sie ihn nie wieder erreichen werde. Wiederholt hatte sie versucht, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, jedoch ohne: eine Antwort zu erhalten. Die Stunden gingen dahin, sie drohte, bei dem Nichtstun einzunicken, und zog schließlich ihr Geldtäschchen hervor, um ihr Geld zu zählen.

»Weißt du, mit wieviel wir in den Ehestand eintreten?«

Claude blickte nicht auf.

»Wir haben neun Sous ... Welcher Jammer!«

Er zuckte mit den Achseln und sagte endlich:

»Laß gut sein, wir werden reich!«

Es trat wieder Stille ein, und Christine versuchte gar nicht, sie zu brechen; sie versenkte sich in die Betrachtung der neun Sous, die nebeneinander gereiht auf dem Tische lagen. Als es Mitternacht schlug, schauerte sie zusammen, schier krank durch das Warten und die Kälte.

»Gehen wir schlafen?« flüsterte sie. »Ich halte mich nicht länger aufrecht.«

Er war dermaßen in seine Arbeit versunken, daß er ihre Worte nicht hörte.

»Der Ofen ist kalt, wir werden krank; laß uns zu Bette gehen,« sagte sie wieder.

Diese flehende Stimme rüttelte ihn auf; ihn erfaßte eine plötzliche Erbitterung.

»Ei, lege dich doch schlafen, wenn du willst! ... Du siehst doch, daß ich etwas beenden will.«

Einen Augenblick blieb sie noch da, schmerzlich betroffen durch diesen Ausbruch seines Zornes. Als sie begriff, daß sie ihm lästig war, daß ihre bloße Anwesenheit als unbeschäftigte Frau ihn außer sich brachte, verließ sie den Tisch und ging zu Bette, wobei sie die Tür weit offen ließ. Eine halbe Stunde, drei Viertelstunden verflossen: kein Geräusch, nicht ein Hauch kam aus dem Zimmer; aber sie schlief nicht, sie lag auf dem Rücken mit offenen Augen in dem dunklen Raume; endlich wagte sie einen letzten Ruf.

»Ich erwarte dich, Männchen; komm' doch schlafen, ich bitte dich.«

Ein Fluch war die Antwort. Nichts mehr rührte sich; sie war vielleicht eingeschlafen. Im Atelier ward es immer kälter, der verkohlte Docht der Lampe brannte mit roter Flamme; während Claude, über seine Zeichnung gebeugt, das Bewußtsein von den langsam dahinfließenden Minuten verloren zu haben schien.

Um zwei Uhr erhob sich Claude wütend, daß die Lampe, in der das Öl ausgebrannt war, zu erlöschen drohte. Er hatte nur noch soviel Zeit, sie in das Zimmer zu tragen, um sich nicht im Finstern auskleiden zu müssen. Doch seine Unzufriedenheit wuchs noch, als er Christine mit offenen Augen fand.

»Wie? Du schläfst nicht?«

»Nein, ich bin nicht schläfrig.«

»Ach ja, das ist ein Vorwurf ... Ich sagte dir schon zwanzigmal, wie sehr es mich ärgert, wenn du mich erwartest.

Als die Lampe erloschen war, streckte er sich im Finstern neben ihr aus. Sie bewegte sich noch immer nicht; er gähnte zweimal, von Müdigkeit überwältigt. Beide blieben wach, aber sie fanden sich nichts zu sagen. Er durchkältete das Bett mit seinen kalten, starren Beinen. Endlich rief er nach langem Brüten und als schon der Schlaf ihn überkam, plötzlich in die Höhe fahrend aus:

»Das Erstaunlichste ist, daß sie sich den Bauch nicht eingedrückt hat. Ein schöner Bauch!«

»Wer denn?« fragte Christine entsetzt.

»Mahoudeaus Figur!«

Sie fuhr jäh zusammen, wandte sich um und vergrub den Kopf in den Kissen. Er war höchlich betroffen, als er sie in Tränen ausbrechen hörte.

»Was? Du weinst?«

Sie erstickte schier; sie schluchzte so heftig, daß die Matratze dadurch geschüttelt wurde.

»Was hast du denn? Ich habe doch nichts gesagt ... Sprich, Liebste!«

Doch während er zu ihr sprach, erriet er jetzt die Ursache dieses großen Kummers. Gewiß, an einem Tage wie dem heutigen hätte er gleichzeitig mit ihr zu Bett gehen sollen; aber er war ganz unschuldig, er hatte an so etwas nicht gedacht. Sie kannte ihn ja; er ward zum Tier, wenn er bei der Arbeit war.

»Aber, Liebste, wir sind doch nicht seit gestern beisammen ... Ja, du hast es dir so in deinem Köpfchen zurechtgelegt. Du wolltest die Neuvermählte sein, nicht wahr? Nun, weine nicht; du weißt ja, daß ich nicht schlecht bin ...«

Er hatte sie in seine Arme genommen, und sie überließ sich ihm; allein vergebens umfingen sie sich, die Leidenschaft war tot. Sie begriffen es, als sie einander losließen und wieder Seite an Seite ausgestreckt lagen; sie waren sich fortan fremd und empfanden, daß es ein Hindernis zwischen ihnen gebe, einen andern Körper, dessen Kälte sie schon zur Zeit des leidenschaftlichen Beginns ihres Verhältnisses an gewissen Tagen gestreift hatte. Fortab würden sie einander nimmermehr angehören. Es gab etwas Nichtwiedergutzumachendes zwischen ihnen; ein Bruch, eine Leere war entstanden. Die Gattin galt weniger als die Geliebte; die Eheschließung schien die Liebe getötet zu haben.


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