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Sechstes Kapitel.

Als die Nacht gekommen war, sagte er, sie noch immer in seinen Armen haltend:

»Bleibe!«

Doch sie hatte sich mit einer Anstrengung losgemacht.

»Ich kann nicht, ich muß heimkehren.«

»Nun, dann morgen ... Ich bitte dich, komm morgen wieder.«

»Morgen ist's unmöglich, aber bald. Lebewohl!«

Aber am nächsten Morgen war sie um sieben Uhr da, noch ganz rot von der Lüge, die sie der Frau Vanzade gesagt hatte: sie müsse eine aus Clermont ankommende Freundin auf dem Bahnhofe erwarten und wolle mit ihr den Tag zubringen.

Entzückt, sie einen ganzen Tag zu besitzen, wollte Claude sie auf das Land hinausführen in dem Bedürfnisse, sie weit fort im hellen Sonnenschein für sich allein zu haben. Sie war bezaubert von dem Vorschlage, und sie machten sich – närrisch vor Freude – auf den Weg nach dem Lazarusbahnhofe, wo eben ein Zug nach Havre abging. Er kannte das Dörfchen Bennecourt bei Mantes; dort war eine Künstlerkneipe, wo zuweilen die Schar der Kameraden sich getummelt; unbekümmert um die zwei Stunden Eisenbahnfahrt, führte er sie dahin frühstücken, wie er sie nach Asnières geführt haben würde. Sie fand ein großes Vergnügen an dieser schier endlosen Reise. Wenn's am Ende der Welt lag, um so besser. Es war ihnen, als solle der Abend niemals kommen.

Um zehn Uhr stiegen sie in Bonnières aus und ließen sich mittelst der Fähre – einer alten, an der Kette laufenden Fähre – über den Fluß setzen; denn Bennecourt lag am andern Ufer der Seine. Es war ein herrlicher Maitag; die Sonne bestreute das ruhig dahinfließende Wasser mit Goldsternen, das junge Laub prangte in zartem Grün unter dem fleckenlosen Blau des Himmels. Jenseits der Inseln, mit denen der Fluß an dieser Stelle bedeckt ist, erblickten sie zu ihrer Freude die ländliche Herberge mit ihrem kleinen Gewürzladen, ihrem großen Saal, der nach frischer Wäsche roch, ihrem großen, mit Dünger angefüllten Hofe, wo Enten in der Mistpfütze herumwatschelten.

»Vater Faucheur, wir kommen frühstücken ... Einen Eierkuchen, Würste, Käse.«

»Werden Sie hier schlafen, Herr Claude?«

»Nein, nein, ein andermal. Und Weißwein, von dem leichten, der ein wenig die Gurgel kratzt.«

Schon war Christine der Mutter Faucheur in den Hühnerhof gefolgt. Als letztere mit Eiern zurückkehrte, fragte sie den Maler mit dem schlauen Lächeln der Bäuerin:

»Sie sind also jetzt verheiratet?«

»Natürlich,« antwortete er rundweg; »es muß wohl so sein, da ich meine Frau bei mir habe.«:

Das Frühstück war köstlich, der Eierkuchen zu stark ausgebacken, die Würste zu fett, das Brot so hart, daß er ihr Tunkschnitten schneiden mußte, damit sie sich die Handknöchel nicht verrenke. Sie tranken zwei Flaschen und brachen eine dritte an; sie waren so heiter, so geräuschvoll, daß sie sich selbst betäubten in dem großen Saale, wo sie allein speisten. Christinens Wangen glühten, und sie versicherte, daß sie berauscht sei; es war ihr noch nie widerfahren, und sie fand es so drollig, so drollig! ... Sie lachte und konnte nicht an sich halten.

»Laß uns ins Freie gehen«, sagte sie endlich.

»Ja, wir wollen einen Gang machen. Wir fahren um vier Uhr zurück und haben drei Stunden vor uns.«

Sie gingen das Dorf Bennecourt hinauf, dessen gelbe Häuser sich zwei Kilometer lang am Flußufer hinziehen. Das ganze Dorf war bei der Feldarbeit; sie begegneten nur drei Kühen, die von einem kleinen Mädchen geführt wurden. Er erklärte ihr mit ausgestrecktem Arm die Gegend und schien genau zu wissen, wohin er ging. Als sie bei dem letzten Hause angekommen waren, einem alten Bau, der knapp am Flußufer gegenüber den Hängen von Jeufosse stand, machte er die Runde um das Haus und betrat ein kleines, dichtes Eichengehölz. Das war das Ende der Welt, das beide suchten, ein samtweicher Rasen, ein Obdach von Laub, wohin nur die Sonne in dünnen Flammenpfeilen dringen konnte. Sogleich fanden sich ihre Lippen in einem gierigen Kusse; sie gab sich ihm hin, und er nahm sie inmitten des frischen Geruches des Grases, wohin sie sich niedergelassen hatten. Lange verweilten sie an diesem Orte in bewegter Stimmung, nur selten ein leises Wort tauschend, bloß der Liebkosung ihres Hauches hingegeben, in Verzückung vor den Goldpünktchen, die sie am Grunde ihrer braunen Augen leuchten sahen.

Als sie zwei Stunden später aus dem Wäldchen herauskamen, erbebten sie: ein Bauer stand in der weit geöffneten Tür des Hauses; er schien sie mit den eingekniffenen Augen eines alten Wolfes belauert zu haben. Sie errötete tief; während er, um seine Verlegenheit zu verbergen, laut ausrief:

»Schau, Vater Poirette! Die Hütte gehört Euch?«

Der Alte erzählte unter Tränen, seine Mieter seien fort, ohne ihn zu bezahlen, und hätten ihre Möbel zurückgelassen. Er lud sie ein einzutreten.

»Sie können immerhin das Haus besichtigen; vielleicht wissen Sie jemanden, dem Sie es empfehlen würden. Es gibt viele Pariser, die damit zufrieden wären. Dreihundert Franken jährlich mit den Möbeln: das ist doch geschenkt, nicht wahr?«

Sie folgten ihm neugierig. Es war ein großer Bau in der Form einer Laterne, augenscheinlich aus einer Scheune umgestaltet; unten eine riesig große Küche und daneben ein Saal, der als Tanzboden hätte dienen können; oben gleichfalls zwei Gelasse, so geräumig, daß man sich darin verlor. Die Möbel bestanden aus einem Bett von Nußbaumholz, das in einem der Zimmer stand, aus einem Tisch und dem Küchengerät. Der verlassene Garten vor dem Hause war mit prächtigen Aprikosenbäumen bepflanzt und voll riesiger Rosenstöcke, die mit Rosen bedeckt waren. Hinter dem Hause lag ein kleines Kartoffelfeld, das sich bis zu dem Eichenwäldchen hinzog und mit einer lebenden Hecke eingefriedet war.

»Die Kartoffeln will ich dem Mieter überlassen«, sagte Vater Poirette.

Claude und Christine hatten sich angeschaut in dem plötzlichen Verlangen nach Einsamkeit und Vergessen, wie es die Liebenden so mächtig überkommt. Wie schön wäre es, sich da zu lieben in diesem Nest fern von den anderen! Doch sie lächelten sogleich; konnten sie denn? Sie hatten knapp Zeit, den Zug zu erreichen, um nach Paris zurückzukehren. Der alte Bauer – der Vater der Frau Faucheur – gab ihnen das Geleit bis zur Fähre. Als sie eingestiegen waren, rief er nach einem inneren Kampf ihnen nach:

»Hören Sie: ich will es für zweihundertfünfzig Franken überlassen! Schicken Sie mir Leute!«

In Paris begleitete Claude Christine bis zu dem Hause der Frau Vanzade. Sie waren sehr traurig geworden, tauschten einen langen, verzweifelten, stummen Händedruck aus und wagten nicht sich zu küssen.

Jetzt begann ein qualvolles Leben. In zwei Wochen hatte sie nur dreimal kommen können; atemlos war sie herbeigeeilt; sie hatte nur wenige Minuten Zeit, denn gerade jetzt zeigte sich die alte Dame sehr anspruchsvoll. Er befragte sie geängstigt, weil er sie so bleich, nervös, die Augen im Fieber brennen sah. Niemals hatte sie so sehr gelitten in diesem frommen Hause, in diesem luft- und lichtlosen Keller, wo sie beinahe vor Langeweile umkam. Ihre Schwindelanfälle waren wiedergekehrt; der Mangel an Bewegung hatte zur Folge, daß ihr Blut stürmisch an die Schläfen pochte. Sie gestand ihm, daß sie eines Abends in ihrem Zimmer ohnmächtig geworden; ihr war, als habe eine bleierne Faust ihr die Kehle zugeschnürt. Sie fand kein schlechtes Wort gegen ihre Gebieterin, sprach vielmehr mit Rührung von ihr: die arme Frau sei so alt, so gebrechlich und so gut und nenne sie immer ihre Tochter. Es koste ihr jedesmal eine Selbstüberwindung, als begehe sie eine schlechte Handlung, wenn sie die alte Frau verließ, um zu ihrem Liebhaber zu eilen.

Es verflossen noch zwei Wochen. Die Lügen, mit denen sie jede freie Stunde bezahlen mußte, wurden ihr unerträglich. Zitternd vor Scham, kehrte sie jetzt jedesmal nach diesem strengen Hause zurück, wo ihre Liebe ihr ein Fleck schien. Sie hatte sich ihm hingegeben, sie hätte es laut ausgerufen; ihre Ehrlichkeit sträubte sich dagegen, es wie eine Sünde zu verheimlichen, in niedriger Weise zu lügen wie eine Magd, die entlassen zu werden fürchtet.

Endlich warf sich eines Abends im Atelier in dem Augenblicke, wo sie wieder weggehen sollte, Christine schluchzend vor Schmerz und Liebe Claude in die Arme.

»Ach, ich kann nicht, ich kann nicht ... Behalte mich; laß mich nicht dorthin zurückkehren.«

Er hatte sie ergriffen und küßte sie zum Ersticken.

»Ist's wahr, du liebst mich? Oh, teurer Engel! ... Aber ich habe nichts, und du würdest alles verlieren. Darf ich zugeben, daß du dich so beraubst?«

Sie schluchzte noch stärker, ihre Worte erstarben in ihren Tränen.

»Ihr Geld, nicht wahr? Das Geld, das sie mir hinterlassen würde? Du glaubst, ich berechne das? Niemals habe ich daran gedacht, ich schwöre es dir. Sie kann alles behalten, wenn ich nur meine Freiheit wieder habe! ... Mir liegt an nichts und an niemandem; ich habe keinen Verwandten: darf ich nicht tun, was ich will? Ich verlange nicht, daß du mich heiratest; ich verlange nur bei dir zu leben ...«

Mit einem letzten bitterlichen Schluchzen fügte sie hinzu:

»Du hast recht, es ist schlecht, die arme Frau zu verlassen! Ich verachte mich; ich möchte, daß ich die Kraft habe ... Aber ich liebe dich zu sehr, ich leide zuviel; ich kann doch nicht daran sterben ...«

»Bleibe, bleibe!« schrie er. »Die anderen können sterben; wir leben für uns beide.«

Er hatte sie auf seine Knie gesetzt, beide weinten und lachten und schwuren sich unter Küssen, sich niemals, niemals zu trennen.«

Es war ein toller Streich. Christine verließ Frau Vanzade plötzlich und schaffte schon am nächsten Tage ihren Koffer weg. Sie erinnerten sich sogleich des verlassenen Hauses zu Bennecourt, der riesigen Rosenstöcke und der großen Stuben. Fort, fort, ohne eine Stunde zu verlieren; am Ende der Welt leben, der Wonne ihrer jungen Liebe hingegeben. Sie schlug freudig in die Hände. Noch gekränkt durch seinen Mißerfolg im Salon und erholungsbedürftig, sehnte er sich nach der tiefen Ruhe im Schoß© der gütigen Natur. Dort werde er das wahre Freilicht finden, bis zum Halse im Grase arbeiten können. Von dort werde er wahre Meisterwerke mitbringen. In zwei Tagen war alles bereit, das Atelier gekündigt, die spärliche Einrichtung nach dem Bahnhofe geschafft. Ein Glücksfall brachte ihnen ein Vermögen zu: Vater Malgras zahlte fünfhundert Franken für zwanzig Bilder, die er aus den Trümmern der Übersiedelung herausgefischt. Sie würden ein fürstliches Leben führen; Claude hatte seine Rente von tausend Franken, Christine brachte einige Ersparnisse mit, hatte ihre Ausstattung, Kleider zur Genüge. So ergriffen sie denn die Flucht, ohne auch nur die Freunde mit einer Zeile zu benachrichtigen. Mit einem frohen Lachen der Erleichterung verließen sie dieses mißachtete Paris.

Der Monat Juni ging zu Ende; in der Woche ihrer Einrichtung regnete es unaufhörlich in Strömen; sie entdeckten, daß der Vater Poirette, ehe er den Vertrag mit ihnen unterzeichnet, die Hälfte der Küchengeräte fortgeschafft hatte. Doch diese Enttäuschung verstimmte sie nicht; sie patschten im Regen mit Wonne meilenweit bis nach Vernon, um Teller und Schüsseln einzukaufen, die sie wie im Triumph heimbrachten. Endlich waren sie in ihrem Heim. Sie bewohnten oben nur ein Zimmer und überließen das andere den Mäusen; unten wandelten sie das Eßzimmer in ein geräumiges Atelier um, glücklich und kindlich vergnügt darüber, daß sie in der Küche essen konnten auf einem weichholzenen Tische neben dem Herde, wo der Fleischtopf summte. Zu ihrer Bedienung hatten sie ein Mädchen aus dem Dorfe genommen, das am Morgen kam und am Abends wegging; es war Melie, eine Nichte des Ehepaares Faucheur, eine Dirne, deren Dummheit sie belustigte. Wahrhaftig, man hätte im ganzen Kreise keine dümmere finden können!

Als die Sonne wieder zum Vorschein gekommen, folgten köstliche Tage. Monate verflossen in eintöniger Glückseligkeit. Sie wußten niemals das Datum und verwechselten alle Tage der Woche. Des Morgens blieben sie lange im Bett trotz der Sonnenstrahlen, welche durch die Ritzen der Fensterläden drangen und die weißgetünchten Wände der Stube in einen roten Schein tauchten. Nach dem Frühstück folgten endlose Bummel, weite Spaziergänge in der mit Obstbäumen bepflanzten Gegend, auf den grasbestandenen Wegen, Wanderungen längs der Seine zwischen Wiesen bis nach Roche-Guyon und noch weiter; wirkliche Reisen auf der andern Seite des Flusses durch die Getreidefelder von Bonnières und Jeufosse. Ein Bürger, der die Gegend verlassen mußte, verkaufte ihnen für 30 Franken einen alten Kahn; so hatten sie auch den Fluß; sie faßten für ihn eine wilde Leidenschaft, verbrachten ganze Tage auf dem Wasser, ruderten umher, entdeckten neue Länder, hielten sich unter den Weiden am Ufer oder in den kleinen, schattigen Seitenarmen des Flusses verborgen. Zwischen den Inseln, mit denen der Fluß übersät war, lag eine bewegliche und geheimnisvolle Stadt. Ein Netz von Gäßchen, durch welche sie sanft dahinglitten, von den tiefhängenden Zweigen geliebkost, allein in der Welt mit den Holztauben und Eisvögeln. Er mußte manchmal mit nackten Füßen auf den Sand springen, um den Kahn fortzuschieben. Sie handhabte kräftig die Ruder und wollte, stolz auf ihre Kraft, gegen die schwierigsten Wasserläufe steuern. Am Abend aßen sie ihre Kohlsuppe in der Küche und lachten über dieselben Dummheiten der Magd Melle, über die sie gestern gelacht hatten. Dann legten sie sich um 9 Uhr ins Bett, in das große, alte Bett von Nußholz, das groß genug war, um eine ganze Familie aufzunehmen, wo sie ihre zwölf Stunden schliefen, bei Tagesanbruch sich die Kopfkissen zuwarfen, dann einander umschlungen hielten und wieder einschliefen.

Jede Nacht sagte Christine:

»Jetzt, mein Liebster, versprich mir, daß du morgen arbeiten wirst«.

»Ja, morgen; ich schwöre es dir«.

»Diesmal werde ich böse ... Hindere ich dich vielleicht?«

»Du? Welcher Gedanke? ... Ich bin doch hierher gekommen, um zu arbeiten! Morgen sollst du sehen.«

Am nächsten Morgen fuhren sie wieder mit ihrem Boote ab; sie selbst schaute ihn mit einem verlegenen Lächeln an, wenn sie sah, daß er weder Leinwand noch Farben mitnahm; dann küßte sie ihn lachend, stolz auf ihre Macht, gerührt von diesem fortwährenden Opfer, das er ihr brachte. Wieder gab es zärtliche Vorwürfe: morgen, ja, morgen werde sie ihn vor seiner Leinwand festbinden.

Claude machte indessen einige Versuche zu arbeiten. Er begann eine Studie über die Hügel von Jeufosse mit der Seine im Vordergrunde. Allein Christine folgte ihm nach der Insel, wo er seinen Dreifuß aufgestellt hatte, streckte sich neben ihm im Grase aus und lag da mit halb geöffneten Lippen, die Augen nach dem blauen Himmel gerichtet. Sie war so begehrenswert inmitten all des Grünen in dieser Wüste, deren Stille nur das Geplätscher des Wassers unterbrach, daß er jede Minute die Palette hinlegte, um sich neben ihr auf der sie selig einwiegenden Erde zu lagern. Ein andermal verlockte ihn ein altes Gehöft, umgeben von uralten Apfelbäumen, die groß wie Eichen geworden waren. Zwei Tage nacheinander kam er dahin; am dritten Tage führte sie auf den Markt nach Bonnières, um Hühner zu kaufen; der nächste Tag war wieder verloren, die Leinwand war trocken geworden, er hatte keine Geduld, die Studie von neuem zu beginnen, und gab sie auf. Während der ganzen warmen Jahreszeit gab es bei ihm nur solche Anläufe, kaum skizzierte Gemälde, die er bei dem mindesten Vorwand im Stiche ließ; er hatte keine Spur von Ausdauer. Seine Leidenschaft für die Arbeit, das einstige Fieber, das ihm schon bei Tagesanbruch auf die Beine brachte und ihn den Kampf mit seiner widerspenstigen Malerei aufnehmen ließ: sie waren in einem Rückschlag von Gleichmut und Trägheit geschwunden. Köstlich wie nach einer schweren Krankheit lebte er dahin und genoß die einzige Freude, in voller Kraft sein Leben zu genießen.

Heute existierte Christine allein für ihn; sie hüllte ihn in jenen Flammenhauch, in dem sein Künstlerwille erstarb. Seit dem glühenden, unbesonnenen Kusse, den sie zuerst ihm auf die Lippen gedrückt, war aus dem jungen Mädchen ein Weib geworden, die Liebende, die mit der Jungfrau kämpfte, ihre Lippen blähte und sie in der Breite des Kinns vorstreckte. Sie enthüllte sich als das, was sie trotz ihrer langen Ehrbarkeit sein mußte: als ein von Leidenschaft durchglühter Körper, als einer jener sinnlichen Körper, die so verwirrend sind, wenn sie die Züchtigkeit abstreifen, in der sie bisher geschlummert. Mit einem Schlage und ohne einen Meister kannte sie die Liebe; sie brachte das ganze Ungestüm ihrer Unschuld in dieselbe mit; und da sie bisher noch unwissend und er noch wenig erfahren war, machten sie zusammen die Entdeckungen der Wollust und begeisterten sich in dem Entzücken dieses gemeinsamen Beginnens. Er machte sich Vorwürfe wegen seiner früheren Mißachtung des Weibes; man müsse ein rechter Tropf sein, um in kindischer Weise Seligkeiten zu verachten, die man nicht durchlebt hatte. Seine ganze Zärtlichkeit für das Fleisch des Weibes, jene Zärtlichkeit, deren Verlangen er früher in seinen Werken erschöpfte, brannte fortan nur für diesen lebendigen, geschmeidigen, warmen Leib, der ihm angehörte. Er hatte geglaubt, die Lichter zu lieben, die auf seidenweichen Brüsten spielen, die schönen, blassen Ambra-Töne, welche die Rundung der Hüften, die weiche Linie der rein geformten Bäuche vergoldeten. Welcher Wahn eines Träumers! Jetzt erst hielt er mit vollen Armen den Triumph fest, seinen Traum erfüllt zu sehen, der ihm bisher unter seinen Händen eines unvermögenden Malers stets entschlüpft war. Sie gab sich ihm ganz, und er nahm sie von ihren Nacken bis zu ihren Füßen; er umschloß sie, um sie zur Seinen zu machen, um sie mit seinem Leibe völlig zu vereinen, und sie verlängerte, nachdem sie die Malerei getötet hatte und ohne Nebenbuhlerin war, die Hochzeitsfeier. Ihre runden Arme, ihre samtweichen Beine waren es, die ihm am Morgen so spät im Bett zurückhielten, in der Ermüdung nach ihrem Liebesglück wie mit Ketten fesselten; wenn sie ruderten im Kahn, ließ er sich kraftlos fortbringen, berauscht durch den bloßen Anblick des Wiegens ihrer Lenden; auf den Inseln im Grase gelagert, wenn Aug' in Auge sich versenkt hatte, blieb er ganze Tage lang in Verzückung, völlig in ihr aufgegangen, geleert in Herz und Blut. Immer und überall besaßen sie sich in dem ungestillten Verlangen, sich von neuem zu besitzen.

Eine der Überraschungen Claudes war, sie wegen des mindesten unzarten Wortes, das ihm entschlüpfte, erröten zu sehen. Hatte sie einmal die Röcke wieder befestigt, dann lächelte sie verlegen mit abgewandtem Kopfe zu jeder kühnen Anspielung. Sie liebte es nicht, und eines Tages kam es bei solchem Anlasse fast zu einem Zerwürfnis zwischen ihnen.

Zuweilen gingen sie in das Eichenwäldchen hinter ihrem Hause, des ersten Kusses sich erinnernd, den sie daselbst bei ihrem ersten Besuche in Bennecourt ausgetauscht hatten. Von einer Neugierde geplagt, befragte er sie über ihr Leben im Kloster. Er hielt ihren Leib umfangen, kitzelte sie mit seinem Hauche hinter den Ohren und suchte sie zur Beichte zu bewegen. Was wußte sie dort vom Manne? was sprach sie darüber mit ihren Freundinnen? welche Vorstellung machte sie sich von der Sache?

»Laß hören, Schätzchen, erzähl' mir ein wenig ... Hattest du eine Ahnung?«

Doch sie lachte gezwungen und suchte sich loszumachen.

»Sei nicht dumm! ... Laß mich los! ... Was soll dir das?«

»Es macht mir Spaß... Also du wußtest?«

Sie errötete tief und machte eine Gebärde der Verwirrung.

»Mein Gott, soviel wie die anderen; gewisse Dinge... Man ist immerhin erstaunt«, schloß sie, das Gesicht an seiner Schulter verbergend.

Er brach in ein Gelächter aus, drückte sie wie toll an sich und bedeckte sie mit einer Flut von Küssen. Doch als er sie gewonnen zu haben glaubte und ihre Geständnisse erlangen wollte wie von einem Kameraden, der nichts zu verbergen hat, entschlüpfte sie ihm mit einigen ausweichenden Worten und hüllte sich schließlich in ein stummes, undurchdringliches Schmollen. Niemals gestand sie mehr, selbst ihm nicht, den sie anbetete. Es war dies jener Grund, den selbst die Freimütigsten für sich behalten, jenes Erwachen ihres Geschlechtes, dessen Erinnerung begraben, gleichsam heilig ist. Sie war sehr Weib; aber indem sie sich ganz hingab, behielt sie doch den innersten Schatz ihres Wesens für sich.

Zum erstenmale fühlte Claude an jenem Tage, daß sie einander fremd geblieben waren. Eine eisige Empfindung, die Kälte eines andern Körpers, hatte ihn ergriffen. Konnte denn nichts von dem einen in den andern übergehen, wenn sie in maßloser Leidenschaft sich umschlungen hielten, immer fester und inniger, selbst über den Besitz hinaus?

Die Tage vergingen indessen, und sie litten keineswegs durch die Einsamkeit. Kein Bedürfnis nach einer Zerstreuung oder nach einem abzustattenden oder zu empfangenden Besuch hatte sie noch aus sich selbst herauszutreten genötigt. Die Stunden, die sie nicht neben ihm, an seinem Halse verbrachte, nutzte sie als geräuschvolle Hauswirtin, stürzte das ganze Haus um durch große Säuberungen, die Melie unter ihrer Aufsicht vornehmen mußte; sie hatte zuweilen einen Heißhunger nach Tätigkeit, der sie dazu trieb, sich selbst mit den drei Schüsseln der Küche abzumühen. Hauptsächlich aber beschäftigte sie der Garten; mit einer Gartenschere bewaffnet, die Hände von den Dornen zerrissen, heimste sie ganze Ernten von den Rosenstöcken ein; sie hatte sich eine Verrenkung zugezogen, weil sie sich darauf versteift hatte, Aprikosen pflücken zu helfen, deren Ernte sie an englische Obsthändler für zweihundert Franken verkauft hatte; sie war ganz stolz darauf und träumte von den Erträgnissen des Gartens leben zu können. Claude hatte weniger Sinn für Garten- und Feldwirtschaft. Er hatte sein Sofa in den zum Atelier eingerichteten großen Saal bringen lassen und streckte sich auf ihm aus, um durch das weit geöffnete Fenster ihr zuzuschauen, wie sie pflanzte und säte. Es war ein tiefer Friede, die Gewißheit, daß niemand kommen, kein Anläuten ihn tagsüber stören werde. Diese Scheu vor der Außenwelt trieb er so weit, daß er es vermied, vor der Herberge der Faucheur vorbeizugehen in der fortwährenden Furcht, auf eine Schar seiner Pariser Kameraden zu stoßen. Den ganzen Sommer zeigte sich keine Seele. Jeden Abend, wenn sie schlafen gingen, wiederholte er, welch ein großes Glück das sei.

Am Grande dieser Freude blutete eine einzige geheime Wunde. Nach ihrer Flucht aus Paris hatte Sandoz ihre Adresse erfahren und brieflich angefragt, ob er zu Besuch kommen dürfe. Diesen Brief hatte Claude unbeantwortet gelassen; daraus war ein Bruch entstanden, und die alte Freundschaft schien tot. Christine war trostlos darüber, denn sie fühlte wohl, daß er ihretwegen mit Sandoz gebrochen habe. Sie sprach unablässig davon; sie wollte nicht, daß er mit seinen Freunden sich entzweie, und forderte, daß er sie zurückrufe. Er versprach wohl, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, aber tat nichts dergleichen. Es war aus; wozu auf die Vergangenheit zurückkommen?

Gegen Ende des Monats Juli war der Geldvorrat zusammengeschmolzen; Claude mußte nach Paris gehen, um dem Vater Malgras ein halbes Dutzend alter Studien zu verkaufen. Während sie ihm zum Bahnhof das Geleit gab, ließ sie ihn schwören, daß er Sandoz aufsuchen werde. Am Abend erwartete sie ihn wieder bei der Station Bonnières.

»Hast du ihn gesehen? habt ihr euch umarmt?«

In stummer Verlegenheit ging er neben ihr einher. Endlich antwortete er dumpf:

»Nein, ich habe keine Zeit gehabt«.

Da sagte sie bekümmert mit schweren Tränen in den Augen:

»Du kränkst mich sehr«.

Da sie eben unter den Bäumen gingen, küßte er sie auf die Wange und bat sie weinend, seinen Kummer nicht zu mehren. Konnte er das Leben ändern? War es nicht schon genug, daß sie zusammen glücklich waren?

Während dieser ersten Monate hatten sie eine einzige Begegnung. Es war oberhalb von Bennecourt auf einem Spaziergange nach Roche-Guyon. Sie gingen in einem einsamen, mit Bäumen besetzten, überaus lieblichen Hohlwege, als sie bei einer Krümmung des Weges auf eine lustwandelnde Familie stießen, bestehend aus Vater, Mutter und Tochter. Ganz allein sich wähnend, hatten sie sich eben um den Leib genommen als Liebende, die hinter den Hecken sich vergessen; sie hatte sich zu ihm geneigt und ihm die Lippen geboten, und er hatte sie geküßt. Die Überraschung war so lebhaft, daß sie vergaßen, ihre Umarmung zu lösen und langsam ihren Weg fortzusetzen. Die Familie blieb betroffen an der Böschung stehen, der Vater dick und schlagflüssig, die Mutter mager wie ein Messer, die Tochter unansehnlich bis zur Nichtigkeit, kahl wie ein kranker Vogel, alle drei häßlich, mit dem verdorbenen Blute ihrer Rasse. Sie waren eine Schmach mitten in dem safttrotzenden Leben der Erde, im hellen Sonnenschein. Das trübselige Kind, das mit verblüfften Augen die Liebe vorüberziehen sah, ward von Vater und Mutter rasch hinweggeführt; sie waren erbittert, außer sich wegen dieses freiem Kusses und fragten, ob es denn auf dem Lande keine Polizei mehr gebe; während die beiden Liebenden in ihrem strahlenden, siegreichen Glücke langsam ihre Wanderung fortsetzten.

Claude befragte indessen sein widerspenstiges Gedächtnis. Wo zum Teufel hatte er diese Köpfe gesehen, diesen spießbürgerlichen Verfall, diese gedrückten Gesichter von Emporkömmlingen, denen man die den armen Leuten abgepreßten Millionen ansah? Sicherlich unter ernsten Umständen seines Lebens. Er erinnerte sich jetzt; er erkannte die Margaillans, den Unternehmer, den Dubuche im Salon der Zurückgewiesenen herumgeführt hatte, und der vor seinem Gemälde in ein donnerndes, blödes Lachen ausgebrochen war. Als er zweihundert Schritte weiter mit Christine aus dem Hohlwege heraustrat und sie sich einer weitläufigen Besitzung, einem großen, weißen, von schönen Bäumen umgebenen Hause gegenüber sahen, erfuhren sie von einer alten Bäuerin, daß die »Richaudière«, wie die Besitzung hieß, seit drei Jahren der Familie Margaillan gehöre. Der Unternehmer hatte anderthalb Millionen Franken dafür gezahlt und Verschönerungen für über eine Million daran vornehmen lassen.

»In diesem Winkel sieht man uns nicht wieder«, sagte Claude, während sie nach Bennecourt zurückgingen. Diese Ungeheuer verderben die Gegend.

Um die Mitte des Monats August trat ein wichtiges Ereignis in ihrem Leben ein. Christine war in gesegneten Umständen, und sie hatte mit der Sorglosigkeit einer Liebenden dies erst im dritten Monat wahrgenommen. Anfänglich waren beide höchlich betroffen; sie hatten nicht gedacht, daß es sich jemals ereignen könne. Dann fanden sie sich damit ab, doch ohne Freude; er war verlegen wegen dieses kleinen Wesens, das eine Verwicklung in ihr Leben bringen sollte; sie aber war von einer Angst ergriffen, die sie sich nicht zu erklären wußte, als hätte sie gefürchtet, daß dieses Ereignis das Ende ihrer großen Liebe werden könne. Sie weinte lange an seinem Halse und er – von der gleichen namenlosen Traurigkeit ergriffen – suchte vergeblich sie zu trösten. Als sie später sich daran gewöhnt hatten, rührte sie der Gedanke an das arme Kleine, das sie – ohne es zu wollen – an dem tragischen Tage gemacht hatten, an dem sie unter Tränen in dem in trübes Dämmerlicht getauchten Atelier sich ihm hingegeben hatte. Die Daten stimmten: es wird das Kind des Leidens und Erbarmens sein, bei seiner Empfängnis von dem blöden Gelächter der Menge beschimpft. Da sie nicht schlecht waren, erwarteten sie es fortan, sehnte es sogar herbei, beschäftigten sich schon mit ihm und bereiteten für sein Kommen alles vor.

Der Winter brachte furchtbare Fröste; Christine ward durch eine böse Erkältung in dem schlecht verschlossenen Hause, das man nicht durchzuheizen vermochte, zurückgehalten. Ihre Schwangerschaft verursachte ihr häufige Übelkeiten; sie blieb vor dem Feuer hocken und mußte ordentlich böse werden, um Claude zu nötigen, daß er ohne sie ausgehe und lange Spaziergänge auf den hartgefrorenen und hallenden Straßen mache. Wenn er auf diesen Spaziergängen nach monatelang währendem Zusammenleben sich allein sah, war er erstaunt, welche Wendung sein Leben ohne seinen Willen genommen hatte. Niemals hatte er ein solches Zusammenleben gewollt, selbst mit ihr nicht; es würde ihn angewidert haben, wenn man es ihm geraten hätte; es war dennoch geschehen und nicht ungeschehen zu machen; denn – abgesehen von dem Kinde – gehörte er zu jenen, die nicht den Mut haben, ein Verhältnis abzubrechen. Offenbar war ihm dieses Los beschieden; er mußte sich an die erste halten, die sich seiner nicht schämen würde. Die hart gefrorene Erde hallte unter seinen Tritten; der eisige Wind erstarrte seine Träumerei, die bei unklaren Gedanken verweilte: daß er Glück hatte, indem ihm doch wenigstens ein ehrbares Mädchen in den Weg gekommen, und wie grausam er gelitten haben würde, wenn er sich mit einem Modell, das schon in allen Ateliers herumgelegen, zusammengetan hätte. Er ward abermals von Zärtlichkeit ergriffen und beeilte sich heimzukehren, um Christine in seine zitternden Arme zu schließen, als ob er in Gefahr gewesen wäre, sie zu verlieren; er kam erst aus der Fassung, als sie sich mit einem Schmerzensschrei von ihm losmachte.

»Ach, nicht so stark, du tust mir weh!«

Sie griff mit beiden Händen an ihren Bauch und er betrachtete diesen Bauch noch immer mit derselben angstvollen Überraschung.

Um die Mitte des Monats Februar fand die Entbindung statt. Aus Vernon war eine Hebamme gekommen, und alles ging gut. Die Mutter war nach drei Wochen wieder auf den Beinen; das Kind, ein kräftig entwickelter Knabe, sog so gierig, daß sie fünfmal in der Nacht es stillen mußte, damit es nicht mit seinem Geschrei den Vater im Schlafe störe. Fortan brachte das kleine Wesen einen ordentlichen Umsturz im Hause hervor; denn sie, eine so tätige Hausfrau, erwies sich als eine sehr ungeschickte Amme. Die Mütterlichkeit wollte sich in ihr nicht entwickeln trotz ihres guten Herzens und ihrer Verzweiflung über den geringsten Schmerz des Kleinen; sie ward bald müde und verdrießlich, rief Melie, die mit ihrer Stockdummheit vollends alles verdarb; der Vater mußte zur Hilfe herbei eilen, und er war natürlich noch ungeschickter als die zwei Frauen. Ihr ehemaliges Unbehagen, wenn sie nähen sollte, ihre geringe Eignung zu den Arbeiten ihres Geschlechtes zeigte sich wieder in der Pflege, welche das Kind erforderte. Es wurde schlecht genug gewartet, erzog sich ein kleinwenig auf Geratewohl im Garten und in den trostlos unordentlichen Stuben, die voll waren mit Windeln, zerbrochenem Spielzeug, Unrat und den Spuren der Zerstörungswut eines Kerlchens, das seine Zähne durchbringt. Wenn es gar zu arg wurde, wußte Christine nichts anderes, als sich ihrem Liebsten in die Arme zu werfen; an der Brust des geliebten Mannes fand sie ihre Zuflucht; sie war die einzige Quelle des Vergessens und des Glücks. Christine war nichts als Geliebte; sie würde den Sohn zwanzigmal für den Gatten hingegeben haben. Nach der Geburt des Kindes hatte ein neues Aufflammen ihrer Liebe sie ergriffen; mit dem frei gewordenen Leibe und der wieder erblühenden Schönheit kehrte auch das safttrotzende Ungestüm der Liebenden wieder. Niemals hatte ihr von der Leidenschaft erfülltes Fleisch sich mit einem solchen Zittern des Verlangens dargeboten. Dies war übrigens die Zeit, wo Claude wieder ein wenig zu malen begann. Der Winter ging zu Ende; er wußte nicht, wie er die sonnigen Morgenstunden benützen sollte, seitdem Christine vor Mittag Hansens wegen nicht ausgehen konnte. Sie hatte den Kleinen, ohne ihn zur Taufe zu schicken, nach seinem Großvater von mütterlicher Seite so benannt. Um sich die Zeit zu vertreiben, arbeitete der Maler im Garten, machte eine Skizze von der Doppelreihe von Aprikosenbäumen und den riesigen Rosenstöcken und stellte Fruchtstücke zusammen: vier Äpfel, eine Flasche und einen Napf von Steingut auf einer Serviette. Es geschah, um sich zu zerstreuen, dann ward er wärmer; ihn beschlich der Gedanke, eine bekleidete Gestalt im Sonnenlichte zu malen. Von diesem Augenblicke an war seine Frau sein Opfer; sie tat es übrigens gern, war glücklich, ihm ein Vergnügen zu bereiten, ohne noch zu begreifen, welche furchtbare Nebenbuhlerin sie sich schuf. Er malte sie zwanzigmal, weiß gekleidet, rot gekleidet, inmitten des Grünen, stehend oder gehend, halb im Grase hingestreckt, mit einem Gartenhute auf dem Haupte, barhäuptig unter einem Sonnenschirm, dessen kirschfarbene Seide ihr Gesicht in ein rosiges Licht tauchte. Niemals fand er eine vollständige Befriedigung; nach zwei, drei Sitzungen kratzte er das Gemälde wieder weg und begann sogleich von neuem, eigensinnig an demselben Vorwurfe festhaltend. Einige Studien, unvollständig, aber von reizendem Ton und kraftvoller Mache, wurden vor dem Messer gerettet und an den Mauern des Speisezimmers aufgehängt.

Nach Christine mußte Hans Modell sitzen. Man entkleidete ihn und legte ihn an sonnenwarmen Tagen ganz nackt auf eine Bettdecke hin; da sollte er sich nicht rühren. Doch er war des Teufels; von der Sonne erheitert und gekitzelt, lachte und zappelte er, streckte die rosigen Beinchen in die Luft, wälzte sich, schlug Purzelbäume, daß der Hintere höher stand als der Kopf. Der Vater lachte zuerst, dann wurde er böse und fluchte über den vertrackten Kerl, der sich nicht eine Minute ruhig verhalten konnte. Durfte man mit der Malerei Spaß treiben? Dann war wieder die Mutter gekränkt und hielt den Kleinen, damit der Maler im Fluge die Zeichnung eines Armes oder eines Beines erhasche. Wochenlang blieb er auf diese Arbeit versessen, dermaßen war er durch die so hübschen Töne dieses Kinderfleisches in Anspruch genommen. Er studierte es nur mehr mit seinen Künstleraugen wie ein Motiv zu einem Meisterwerke, mit den Augen zwinkernd, von dem Gemälde träumend. Er begann die Studien von neuem; er beobachtete das Kind ganze Tage lang, erbittert über den Schlingel, der nicht einmal schlafen wollte in den Stunden, da man ihn hätte malen können.

Als eines Tages Hans sich wieder einmal weigerte, die Pose zu halten, und zu flennen begann, sagte Christine sanft:

»Liebling, du ermüdest das arme Kind.«

Da ereiferte sich Claude und rief, von Gewissensbissen geplagt:

»Das ist wahr! ich bin blöd mit meiner Malerei ... Die Kinder sind nicht dazu geeignet!«

Das Frühjahr und der Sommer flössen dahin und waren sehr lieblich. Sie gingen jetzt weniger aus; man hatte das Boot fast völlig vergessen, und es faulte an seiner Ankerkette; es war eben sehr schwierig, das Kind nach den Inseln mitzunehmen. Aber sie machten häufig Spaziergänge am Flußufer, ohne sich jemals über einen Kilometer weit zu entfernen. Ermüdet von den ewigen Garten-Motiven, machte Claude jetzt Studien am Flußufer; an solchen Tagen suchte sie ihn mit dem Kinde auf, setzte sich ins Gras, um ihm beim Malen zuzuschauen, und. wartete da, bis man zu Dreien im fahlen Dämmerschein den Heimweg antrat. Eines Nachmittags war er überrascht zu sehen, daß sie ihr altes Album aus ihrer Kinderzeit mitgebracht hatte. Sie scherzte darüber und erklärte, er erinnere sie an allerlei Sachen, wenn sie hinter ihm dasitze. Ihr© Stimme zitterte dabei ein wenig. Die Wahrheit war, daß sie das Bedürfnis fühlte, bei seiner Arbeit mitzutun, seitdem diese Arbeit ihn ihr mit jedem Tage ein wenig mehr entführte. Sie zeichnete oder wagte zwei oder drei Aquarelle mit der sorgfältigen Hand einer Schülerin. Als sein Lächeln sie entmutigte und sie einsah, daß auf diesem Gebiete die Gemeinsamkeit nicht zu finden sei, legte sie ihr Album wieder weg und nahm Claude das Versprechen ab, daß er später, wenn er Zeit habe, ihr Malunterricht gebe.

Sie fand übrigens seine letzten Bilder sehr hübsch. Nach diesem Jahre der Ruhe auf dem Lande im Freien malte er mit einer neuen, gleichsam helleren Auffassung und mit einer klangvollen Heiterkeit der Töne. Niemals hatte er diese Kenntnisse der Reflexe gehabt, dieses richtige Empfinden für die Wesen und die Dinge, die in dem reichen Lichte badeten. Sie würde, von diesem Farbenreichtum gewonnen, diese Malerei fortan für unbedingt gut erklärt haben, wenn er seine Bilder besser hätte ausarbeiten wollen und wenn nicht zuweilen ein fliederfarbener Erdstreif oder ein blauer Baum sie in maßlose Verblüffung versetzt, alle ihre Begriffe von der Farbengebung in Verwirrung gebracht hätte. Als sie eines Tages wegen einer azurblauen Pappel eine kritische Bemerkung wagte, ließ er sie in der Natur selbst dieses zarte Blau der Blätter konstatieren; es war richtig und wahr: der Baum war blau; aber im Grunde ergab sie sich nicht, verurteilte sie die Wirklichkeit; es konnte in der Natur keine blauen Bäume geben.

Sie sprach fortan nur in ernstem Tone von den Studien, die er an den Mauern des Ateliers aufhängte. Die Kunst war wieder ein Element ihres Lebens geworden, und diese Tatsache beschäftigte dauernd ihre Gedanken. Wenn sie ihn mit Malkasten, Dreifuß und Sonnenschirm aufbrechen sah, drängte es sie, sich an seinen Hals zu hängen.

»Liebst du mich, sprich?«

»Närrchen! Warum sollte ich dich nicht lieben?«

»Dann küsse mich, wie du liebst, sehr stark, sehr stark!«

Wenn sie auf der Straße schieden, empfahl sie ihm noch:

»Arbeite! Du weißt, ich habe dich niemals an der Arbeit gehindert ... Geh, geh; ich bin glücklich, wenn du arbeitest.«

Als der Herbst dieses zweiten Jahres das Laub gelb färbte und die ersten Fröste brachte, schien eine Unruhe Claudes sich bemächtigt zu haben. Die Jahreszeit war abscheulich; es regnete zwei Wochen hindurch in Strömen, was ihn nötigte, müßig zu Hause zu bleiben; dann kamen jeden Augenblick Nebel, die ihn in seinen Studien störten. Er saß verdüstert vor dem Feuer und sprach niemals von Paris; aber die Stadt tauchte an seinem Horizonte auf, die winterliche Stadt mit ihrem Gaslicht, das um fünf Uhr aufflammte, mit den Zusammenkünften der Freunde, die mit ihrem Wetteifer einander aufmunterten, mit ihrem Leben voll rastlosen Schaffens, das selbst die Dezemberfröste nicht verlangsamten. Im Laufe eines Monats begab er sich dreimal dahin unter dem Vorwande, den Vater Malgras aufzusuchen, dem er wieder einige Bilder verkauft hatte. Jetzt vermied er es nicht mehr, bei der Herberge der Eheleute vorüberzugehen; er ließ sich sogar vom Vater Poirette in ein Gespräch ziehen und nahm ein Glas weißen Wein an. Seine Blicke durchforschten den Saal, als habe er – trotz der späten Jahreszeit – Kameraden von ehemals aufgesucht, die am Morgen gekommen seien. Er verweilte da in Erwartung; dann kehrte er wieder heim, trostlos wegen der Einsamkeit, schier erstickend an allem, was in ihm gärte; krank, weil er niemanden hatte, dem er alles zurufen konnte, was ihm den Schädel zu sprengen drohte.

Der Winter ging indes vorüber, und Claude hatte den Trost, einige schöne Schnee-Effekte zu malen. Ein drittes Jahr begann, als – gegen Ende des Monats Mai – eine unerwartete Begegnung den Maler in Erregung brachte. Er hatte eines Morgens die Höhe erstiegen, um ein Motiv zu suchen, weil er der Seineufer schließlich überdrüssig geworden war; und er blieb betroffen stehen, als er bei einer Wegkrümmung Dubuche erblickte, der zwischen zwei Hollunderhecken daherkam mit einem schwarzen Hute auf dem Kopfe und sehr vornehm in seinem Überrock.

»Wie, du bist's?«

Der Architekt stammelte verdrossen:

»Ja, ich will einen Besuch machen ... Ist's dumm auf dem Lande, wie? Aber was willst du? Gewisse Bekanntschaften müssen gepflegt werden ... Du wohnst also in dieser Gegend? Ich wußte es ... Das heißt nein, man hatte mir etwas Ähnliches erzählt; aber ich glaubte, es sei weiter am jenseitigen Ufer.«

Claude, der in starke Aufregung geraten war, half ihm aus der Verlegenheit.

»Es ist gut, du brauchst dich nicht entschuldigen; der am meisten Schuldige bin ich ... Wie lange haben wir uns nicht gesehen! Ich kann dir nicht sagen, wie es mich im Herzen gepackt hat, als ich deine Nase aus dem Laub hervortauchen sah.«

Er nahm ihn beim Arm und begleitete ihn mit vergnügten Kichern. Der andere begann in der ewigen Sorge um seine Laufbahn, die ihn nötigte, immer von sich selbst zu reden, sogleich von seiner Zukunft zu sprechen. Er war in der Schule Hörer erster Klasse geworden, nachdem er mit unsäglicher Mühe die vorgeschriebenen Prüfungen abgelegt. Allein dieser Erfolg hatte ihn in arge Verlegenheiten gebracht. Seine Verwandten jammerten über ihr Elend und sandten ihm keinen Sou mehr, wollten im Gegenteil von ihm unterstützt werden. Er hatte auf den Preis von Rome verzichtet, weil er sicher war, in dem Wettbewerb geschlagen zu werden, und weil er auf seinen Lebensunterhalt bedacht sein mußte. Er war schon müde; es widerte ihn an, Stellen zu suchen, einen Franken und 25 Centimes die Stunde bei unwissenden Architekten zu verdienen, die ihn wie einen Handlanger behandelten. Welchen Weg sollte er einschlagen? wie sollte er am kürzesten an sein Ziel gelangen? Er wollte die Schule verlassen und eine Stütze an seinem Lehrer finden, an dem mächtigen Dequersonnière, der ihm wegen seiner Gefügigkeit eines fleißigen Schülers wohlwollte. Allein wieviel Mühsal, wieviel unbekannte Hindernisse waren noch zu überwinden! Er beklagte sich bitter über die Schulen der Regierung, wo man soviele Jahre sich abplagen muß und die allen, die aus ihnen hervorgegangen, nicht einmal eine Stelle sichern.

Plötzlich blieb er mitten auf dem Wege stehen. Die Hollunderhecken endeten in einer flachen Ebene, und man erblickte die Richaudière zwischen ihren großen Bäumen.

»Richtig!« rief Claude; »ich wußte nicht, was dich hierher führt ... Du gehst in jene Baracke. Sind das abscheuliche Pagoden!«

Dubuche war ärgerlich über diese Worte des Künstlers und verteidigte sich mit süßsaurer Miene.

»Was nicht hindert, daß der Vater Margaillan, so blöd er dir scheint, in seinem Geschäft ein ganzer Mann ist. Man muß ihn auf seinen Werkplätzen sehen inmitten seiner Bauten: da entfaltet er eine höllische Tätigkeit, einen erstaunlichen Sinn für gute Verwaltung, eine wunderbare Witterung für die Anlage von Straßen und für den Ankauf von Materialien. Man erwirbt keine Millionen, wenn man nicht ein tüchtiger Kerl ist. Was will ich übrigens von ihm? Ich wäre doch recht dumm, einen Mann, der mir nützen kann, nicht höflich zu behandeln.«

Während er so sprach, versperrte er den schmalen Weg und verhinderte seinen Freund weiter zu gehen, ohne Zweifel aus Furcht kompromittiert zu werden, wenn man sie zusammen sehen würde, und um ihm zu verstehen zugeben, daß sie sich hier trennen müßten.

Claude war im Begriff, ihn über die Pariser Kameraden zu befragen, aber er schwieg. Kein Wort ward über Christine gesprochen. Er schickte sich an, ihn zu verlassen, und reichte ihm schon die Hand, als wider seinen Willen seinen zitternden Lippen die Frage entschlüpfte:

»Wie geht es Sandoz?«

»Nicht übel. Ich sehe ihn nur selten ... Er hat mir im vorigen Monat wieder von dir gesprochen; er ist noch immer trostlos darüber, daß du uns so vor die Tür gesetzt hast.«

»Aber ich habe euch gar nicht vor die Tür gesetzt!« rief Claude außer sich; »ich bitte euch, besucht mich! Ich wäre so glücklich!«

»Gut, wir werden kommen. Ich werde ihm sagen, daß wir kommen, auf Ehre! ... Lebewohl! ich eile.«

Dubuche ging nach der Richaudière, während Claude ihm nachblickte, wie seine Gestalt zwischen den Feldern immer kleiner wurde mit der schimmernden Seide seines Hutes und dem schwarzen Fleck seines Überrockes. Langsam kehrte er heim, das Herz von einer Traurigkeit beklommen, die er nicht begründen konnte. Er sagte seiner Frau nichts von dieser Begegnung.

Acht Tage später war Christine zu Faucheur gegangen, um ein Pfund Nudeln zu kaufen, und verweilte auf dem Wege im Gespräche mit einer Nachbarin, während sie den kleinen Hans auf dem Arme hatte, als ein Herr, der von der Fähre kam, sich ihr mit der Frage näherte:

»Geht man hier zu Herrn Claude Lantier?«

Sie war ganz betroffen und antwortete bloß:

»Ja, mein Herr. Wenn sie mir folgen wollen.

Sie gingen etwa hundert Meter nebeneinander her. Der Fremde, der sie zu kennen schien, hatte sie mit einem gutmütigen Lächeln betrachtet; doch weil sie – ihre Verlegenheit unter einer ernsten Miene verbergend – ihre Schritte beschleunigte, schwieg er. Sie öffnete die Tür und führte ihn in die Stube.

»Claude, du hast Besuch!« sagte sie.

Ein lauter Ausruf, und die beiden Männer lagen einander in den Armen.

»Ach, mein alter Peter! wie schön ist's, daß du gekommen bist! ... Und Dubuche?«

»Im letzten Augenblick hat ein Geschäft ihn zurückgehalten, und er hat mir eine Depesche gesandt, ich möge ohne ihn abreisen.«

»Gut, ich war einigermaßen darauf gefaßt ... Aber du bist da, mein Junge, und ich freue mich, daß ich beinahe aus der Haut fahre!«

Zu Christine gewandt, die lächelnd diese Szene mit ansah, setzte er hinzu:

»Es ist wahr, ich habe es dir nicht erzählt. Ich habe neulich Dubuche getroffen, der nach der Besitzung der Ungeheuer da oben ging ...«

Aber er unterbrach sich von neuem, um wie närrisch auszurufen:

»Ich verliere entschieden den Kopf! Ihr habt euch noch nie gesprochen, und ich lasse euch so da stehen ... Mein Kind: das ist mein alter Kamerad Pierre Sandoz, den ich liebe wie einen Bruder ... Und dir, mein lieber Junge, stelle ich hier meine Frau vor. Küßt euch sogleich.«

Christine lachte gutmütig und reichte ihm bereitwillig die Wange. Sandoz hatte ihr sogleich gefallen mit seiner Gemütlichkeit, seiner festen Freundschaft und der väterlich teilnehmenden Miene, mit der er sie betrachtete. Tränen der Rührung traten ihr in die Augen, als er ihre Hände in den seinen behielt und sagte:

»Es ist sehr hübsch von Ihnen, daß Sie Claude lieben; ihr müßt euch immer lieben, das ist das Beste, was es gibt.«

Dann neigte er sich hernieder, um den Kleinen zu küssen, den sie auf dem Arme hatte.

»Also, einer ist schon da?« sagte er.

»Mein Gott, das kommt, ohne daß man daran denkt«, antwortete der Maler mit einer Gebärde der Entschuldigung.

Claude behielt Sandoz im Ateliersaale, während Christine das Haus umstürzte, um das Frühstück vorzubereiten. In wenigen Worten erzählte er ihm ihre Geschichte, wer sie sei, wie er sie kennen gelernt hatte, welche Umstände ihr Zusammenleben herbeigeführt hatten; er schien erstaunt, als sein Freund wissen wollte, weshalb sie nicht heirateten. Mein Gott, weshalb? weil sie noch nie davon gesprochen hatten, weil Christine es nicht zu verlangen schien und weil sie deshalb gewiß nicht mehr und nicht weniger glücklich seien. Kurz, es sei eine Sache, die nichts weiter zu bedeuten habe.

»Gut«, sagte der andere: »für mich hat es nichts weiter zu bedeuten. Aber du hast sie als ehrbares Mädchen gefunden und müßtest sie heiraten.«

»Sobald sie will. Es fällt mir gewiß nicht ein, sie mit ihrem Kinde sitzen zu lassen.«

Sandoz bewunderte jetzt die Studien, die an den Wänden hingen. »Der Junge hatte seine Zeit gut benützt! Welche Richtigkeit des Tones, welche Wahrheit des Sonnenlichtes!« Claude, der entzückt und mit stolzem Lachen ihm zuhörte, wollte ihn eben nach den Freunden befragen, und was alle trieben, als Christine mit der Meldung kam:

»Rasch, rasch, die Eier stehen auf dem Tische.«

Man frühstückte in der Küche, es war ein ganz außerordentliches Frühstück: gebratene Gründlinge nach den Eiern, dann das Rindfleisch von gestern mit Salat und Kartoffeln und endlich ein saurer Hering. Es war köstlich: der starke, Appetit erregende Geruch des Herings, den Melie ein wenig auf der Kohlenglut geröstet hatte, und das Summen des Kaffees, der in einer Ecke des Herdes langsam abtropfte. Als erst der Nachtisch erschien: frisch gepflückte Erdbeeren und ein Stück Käse aus der Milchwirtschaft einer Nachbarin, da stützte man die Ellbogen auf den Tisch, und eine endlose Plauderei ging an. Die Kameraden in Paris? mein Gott, nie täten nichts Neues. Aber sie tummelten sich und drängten sich, und jeder möchte zuerst ans Ziel kommen. Natürlich haben die Abwesenden Unrecht; wenn man nicht vergessen werden will, muß man mit dabei sein. Allein das Talent bleibt immer das Talent; mit Kraft und Willen muß man den Erfolg erringen. Ja, das war der schöne Traum: auf dem Lande leben, daselbst Meisterwerke anhäufen, dann eines Tages Paris verblüffen, indem man seine Schätze auspackt.

Als Claude am Abend seinen Freund Sandoz zum Bahnhof begleitete, sagte ihm dieser:

»Ich habe dir ein Geständnis zu machen. Ich glaube, daß ich heiraten werde.«

Der Maler lachte hell auf.

»Ei, du Spaßvogel! Jetzt begreife ich deine Moralpredigt von heute morgen!«

Sie plauderten noch eine Weile, bis der Zug kam.

Sandoz erklärte ihm seine Ansichten über die Ehe, die er für die großen Künstler unserer Tage ganz spießbürgerlich als die Hauptbedingung der ersprießlichen Arbeit des geordneten und soliden Schaffens ansah. Das zerstörende Weib, das den Künstler tötet, ihm das Herz zermalmt und das Gehirn frißt, ist eine romantische Vorstellung, welche die Tatsachen widerlegen. Er bedürfe einer Liebe, die seine Ruhe behüte, eines traulichen Liebesnestes, wo er sich einschließen könne, um sein ganzes Leben dem großen Werke zu widmen, von dem er unablässig träumte. Er fügte hinzu, alles hänge von der Wahl ab; er glaubte, die gefunden zu haben, die er suchte, eine Waise, die anspruchslose Tochter kleiner Geschäftsleute ohne jedes Vermögen, aber schön und klug. Er habe vor sechs Monaten sein Amt niedergelegt und sich auf den Journalismus geworfen, wo er reichlicher seinen Lebensunterhalt finde. Er habe seine Mutter in einem Häuschen in Batignolles untergebracht; dort wolle er ein Leben zu dreien führen zwischen zwei Frauen, die ihn liebten; und er fühlte sich kräftig genug, seine Familie zu ernähren.

»Heirate,« sagte Claude. »Man soll nach seinen Gefühlen handeln ... Und nun lebewohl; dein Zug ist da. Vergiß nicht dein Versprechen, uns zu besuchen.«

Sandoz kam sehr oft; er kam zufällig, wenn seine Zeitung es ihm gestattete; er war noch frei, denn es sollte erst im Herbste Hochzeit gemacht werden. Es waren glückliche Zeiten; ganze Nachmittage mit dem Austausche von Bekenntnissen, mit der gemeinsamen Wiederaufnahme der alten Ruhmesträume zugebracht.

Als er eines Tages mit Claude auf einer Seine-Insel im Grase ausgestreckt lag, die Augen in den Himmelshöhen verloren, gestand er ihm seinen hochfliegenden Ehrgeiz, legte eine Beichte ab.

»Die Zeitung ist nichts als eine Kampfstätte. Man muß leben und kämpfen, um zu leben ... Die vertrackte Presse ist – trotz der Widrigkeiten des Handwerks – eine große Macht, eine unüberwindliche Waffe in der Hand eines überzeugten Mannes ... Doch wenn ich jetzt auch genötigt bin, mich dieser Waffe zu bedienen, werde ich dabei nicht alt werden, gewiß nicht. Ich habe schon gefunden, was ich suchte: ja, eine Aufgabe, die Arbeit für das ganze Leben erheischen wird; etwas, worin ich mich versenken will, um vielleicht nicht herauszukommen.«

Es ward still unter dem in der schwülen Hitze unbeweglichen Laub. Sandoz fuhr nach einer Weile mit verlangsamter Stimme in zusammenhangslosen Sätzen fort:

»Den Menschen studieren, wie er ist; nicht mehr ihren vergeistigten Hampelmann, sondern den körperlichen Menschen, der seine Umgebung bestimmt, und der unter dem Zusammenwirken all seiner Organe handelt ... Ist es nicht eine Posse, immer und ausschließlich die Funktion des Gehirns zu studieren unter dem Vorwande, daß das Gehirn das edle Organ sei? Der Gedanke, der Gedanke ... Ach, Donner Gottes! der Gedanke ist das Erzeugnis des ganzen Körpers. Bringt ein Gehirn allein zum Denken; seht zu, was aus dem Adel des Gehirns wird, wenn der Magen krank ist! ... Nein, es ist albern: nicht dort sitzt die Philosophie, nicht dort sitzt die Wissenschaft. Wir sind Positivisten und Evolutionisten und sollten die literarische Gliedergruppe der klassischen Zeiten beibehalten und fortfahren, das verworrene Garn der reinen Vernunft abzuhaspeln? Psychologie heißt Verrat an der Wahrheit. Die Physiologie und Psychologie bedeuten übrigens gar nichts; die eine hat die andere durchdrungen, beide zusammen sind heute eins: der Mechanismus des Menschen, zur Totalsumme seiner Funktionen gelangt ... Das ist die Formel; unsere moderne Revolution hat keine andere Grundlage; es ist der verhängnisvolle Tod der alten Gesellschaft, die Geburt einer neuen Gesellschaft; es ist notwendigerweise das Hervorsprießen einer neuen Kunst auf dem neuen Boden. Ja, man soll die Literatur sehen, die für das nächste Jahrhundert der Wissenschaft und der Demokratie aufkeimen wird!«

Sein Aufschrei stieg empor und verlor sich unter dem unermeßlichen Himmel. Kein Hauch zog vorüber; die Weiden entlang war nichts als das stille Gleiten des Wassers zu vernehmen. Er wandte sich plötzlich seinem Gefährten zu und sagte ihm rundweg ins Gesicht:

»Ich habe also gefunden, was ich brauchte. Nichts Großes, bloß einen kleinen Winkel; es genügt für ein Menschenleben, selbst wenn es von sehr weitgehenden Plänen getragen ist ... Ich will eine Familie zum Vorwurf nehmen, will ihre Mitglieder einzeln studieren, woher sie kommen, wohin sie gehen, wie die einen auf die anderen einwirken, kurz: eine Menschheit im kleinen, die Art und Weise, wie die Menschheit hervorsprießt und sich bewegt ... Anderseits werde ich meine Menschen in eine abgeschlossene Geschichtsperiode setzen; dies wird mir die Umgebung und die Verhältnisse liefern, es wird ein Stück Geschichte sein. Du verstehst mich: eine Reihe von Büchern, fünfzehn, zwanzig Bücher, Ereignisse, die zusammenhängen und dennoch – jedes für sich – ihren eigenen Rahmen haben, eine Folge von Romanen, die mir ein Haus für meine alten Tage bauen sollen, wenn ich darunter nicht zusammenbreche.

Er sank wieder auf den Rücken und breitete die Arme im Grase aus, um gleichsam in die Erde einzudringen, und lachte und scherzte.

»Gütige Erde, nimm mich! Du bist die gemeinsame Mutter, die einzige Quelle des Lebens; du bist die Ewige, Unsterbliche, in der die Seele der Welt kreiset, jener Saft, der sich bis in die Steine ergießt und aus den Bäumen unsere großen, unbeweglichen Brüder macht ... Ja, in dir will ich mich verlieren; du bist es, die ich da unter meinen Gliedern fühle, mich umfangend und entflammend; du allein wirst in meinem Werke sein wie die Urkraft, das Mittel und der Zweck, die ungeheure Arche, wo sich alle Dinge durch den Atem aller Wesen beleben!«

In spöttischem Tone begonnen, von seiner lyrischen Begeisterung getrieben, endigte dieser Anruf in einem Schrei glühender Überzeugung, zitternd in der tiefen Ergriffenheit eines Dichters. Seine Augen feuchteten sich; um seine Rührung zu verbergen, sagte er mit schroffer Stimme und einer weiten, den Gesichtskreis umfassenden Gebärde:

»Ist es nicht dumm: eine Seele für jeden von uns, wenn diese große Seele da ist!«

Claude lag im Grase vergraben und hatte sich nicht gerührt:

»Ganz recht; vernichte sie alle! ... Aber nimm dich in acht, daß sie dich nicht totmachen.«

»O«, sagte Sandoz, indem er sich erhob und die Glieder reckte, »ich habe harte Knochen; sie werden sich die Hände wund schlagen ... Laß uns zurückkehren, ich will den Zug nicht versäumen.«

Christine, die seine Tüchtigkeit und Rüstigkeit im Kampfe des Lebens sah, hatte eine lebhafte Freundschaft für Sandoz gefaßt und wagte ihn. endlich zu bitten, Hansens Taufpate zu sein. Sie hatte allerdings seit langer Zeit keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt; aber wozu war es gut, den Kleinen außerhalb der Gebräuche zu lassen? Vornehmlich bestimmte sie der Wunsch, ihm eine Stütze zu geben in diesem Paten, der ihr trotz seiner ungestümen Kraftäußerungen ein gemessener, vernünftiger Mann schien. Claude war erstaunt, willigte aber achselzuckend ein. Die Taufe fand statt, die Tochter einer Nachbarin nahm die Stelle der Taufpatin an. Es war ein kleines Fest; man aß einen Hummer, den Sandoz aus Paris mitgebracht hatte.

Als man an jenem Tage schied, nahm Christine Sandoz beiseite und sagte ihm mit flehender Stimme:

»Kommen Sie bald wieder, ja? Er langweilt sich.«

Claude versank in der Tat in traurige Stimmungen. Er ließ seine Studien im Stich, ging allein aus, trieb sich unwillkürlich vor der Herberge der Faucheur herum an der Stelle, wo die Fähre anlegte, als rechne er immer damit, Paris landen zu sehen. Paris; beschäftigte seine Gedanken; er ging jeden Monat dahin und kam von dort trostlos, arbeitsunfähig zurück. Es kam der Herbst, dann der Winter, ein nasser, schmutziger Winter; er verbrachte ihn in einer mürrischen Schlaffheit, in bitterer Laune selbst Sandoz gegenüber, der, seit dem Oktober verheiratet, die Reise nach Bennecourt nicht so oft machen konnte. Claude schien nur bei jedem solchen Besuche zu erwachen; er blieb noch eine Woche hernach in Aufregung, erging sich unerschöpflich in fieberhaften Worten über die Nachrichten aus Paris. Während er früher sein Verlangen nach der Hauptstadt verheimlicht hatte, betäubte er jetzt Christine mit Paris, redete ihr vom Morgen bis zum Abend davon aus Anlaß von Dingen, die sie nicht kannte, und von Leuten, die sie nie gesehen. Wenn Hans eingeschlafen war und sie noch am warmen Kamin verweilten, begann eine endlose Erklärung. Er ereiferte sich leidenschaftlich, und sie mußte ihre Meinung sagen, sich über die Geschichten aussprechen.

War es von Gagnière nicht blöd, bei der Musik zu verdummen, während er eine so schöne Begabung für die Landschaftsmalerei hatte? Man erzählte, er nehme jetzt Klavierstunden bei einem Fräulein, – in seinem Alter! Was halte sie davon? Eine rechte Torheit! Und Jory? Seitdem Irma Bécot ein kleines Haus in der Moskauer Straße besaß, suchte der junge Mann sich ihr wieder zu nähern. Sie kannte ja die beiden? Zwei Dummköpfe, die ein Paar abgeben. Der Pfiffigste aber sei Fagerolles, dem er die Wahrheit sagen wolle, wenn er ihn treffe. Dieser Abtrünnige hatte um den Preis von Rome sich beworben, – allerdings ohne ihn zu erlangen. Ein Kerl, der die Schule verspotte, der davon sprach, alles niederzumachen! Fürwahr, die Gier nach dem Erfolg, das Bedürfnis, die Kameraden zu überholen und von den Schwachsinnigen beglückwünscht zu werden: sie drängten die Menschen zu vielen schmutzigen Handlungen. Sie werde ihn doch nicht verteidigen wollen? sie sei doch nicht spießbürgerlich genug, um ihn zu verteidigen? Wenn sie sich so aussprach wie er, kam er mit lautem, nervösem Gelächter immer wieder auf die nämliche Geschichte, die er außerordentlich komisch fand: auf die Geschichte von Mahoudeau und Chaine, die den kleinen Jabouille, den Gatten Mathildens, der schrecklichen Kräuterhändlerin, getötet hatten: – jawohl, getötet eines Abends, als dieser kranke Hahnrei einen Ohnmachts-Anfall hatte und diese beiden, von der Frau herbeigerufen, ihn so heftig rieben, daß er unter ihren Händen liegen blieb.

Wenn Christine sich nicht mit ihm freute, erhob sich Claude und sagte:

»Du lachst über gar nichts ... Gehen wir schlafen, das wird besser sein.«

Er betete sie noch immer an und besaß sie mit dem verzweifelten Ungestüm eines Liebhabers, der von der Liebe die einzige Freude, das Vergessen alles andern erwartet. Aber er konnte über den Kuß nicht hinausgehen; sie genügte ihm nicht, eine andere Qual hatte ihn mitunbezwinglicher Gewalt ergriffen.

Claude, der, um seine Verachtung gegen den Salon zu bekunden, geschworen hatte, nie wieder auszustellen, begann im Frühjahr sich viel um den Salon zu kümmern. Wenn er Sandoz sah, befragte er ihn, was die Kameraden zur Ausstellung senden würden. Am Tage der Eröffnung ging er hin und kam noch am nämlichen Abend bebend, in sehr gereizter Stimmung zurück. Nur eine einzige, unbedeutende Büste Mahoudeaus tauge etwas; eine kleine Landschaft Gagnières, die in der Masse durchgeschlüpft, zeige einen hübschen, blonden Ton; dann sei nichts mehr da als ein Bild Fageralles, eine Schauspielerin vor ihrem Spiegel, im Begriff sich zu schminken. Anfänglich hatte er ihn gar nicht erwähnt und sprach nachher von ihm mit Hohn und Entrüstung. Welch ein Schwindler, dieser Fagerolles! Nachdem er den Preis von Rome nicht erhalten hatte, wolle er wieder ausstellen; er breche entschieden mit der Schule, aber man müsse sehen, mit welcher Geschicklichkeit er es tue und welchen Handel er eingehe; es sei ein Bild, das kühn die Wahrheit gebe, ohne einen einzigen originellen Zug zu haben. Es werde aber Erfolg haben,, denn die Spießbürger liebten es gar zu sehr, daß man sie kitzle, wenn man sich nur stelle, als stoße man sie. Es sei hohe Zeit, daß in der öden Wüste des Salons unter den Schwindlern und Tröpfen ein wirklicher Maler erscheine. Da gebe es eine breite Lücke auszufüllen.

Christine, die ihn allmählich erregt werden sah, bemerkte schließlich zögernd:

»Wenn du willst, können wir nach Paris zurückkehren.«

»Wer spricht denn davon? Man kann mit dir nicht plaudern, ohne daß du vom Hundertsten ins Tausendste fällst.«

Sechs Wochen später erfuhr er eine Nachricht, die ihn acht Tage lang beschäftigte: sein Freund Dubuche heiratete Fräulein Regina Margaillan, die Tochter des Besitzers der Richaudière. Es war eine verwickelte Geschichte, deren Einzelheiten ihn in Erstaunen versetzten und ungemein erheiterten. Vor allem war es diesem Tölpel Dubuche gelungen, mit dem zur Ausstellung gesandten Entwurf eines Pavillons, der inmitten eines Parkes stand, eine Medaille zu erringen. Das allein war schon ergötzlich genug, denn man erzählte, der Entwurf habe von seinem Lehrer Dequersonnière auf die Beine gestellt werden müssen; dieser habe dann als erster Richter ihm ruhig die Medaille zuerkennen lassen. Das Schönste aber war, daß diese erwartete Belohnung seine Heirat entschied. Das sei ein sauberes Geschäft nicht wahr? wenn künftig die Medaillen dazu dienen sollen, die guten, mittellosen Schüler im Schoße der reichen Familie unterzubringen! Der Vater Margaillan träumte wie alle Emporkömmlinge davon, einen Schwiegersohn zu finden, der ihn in seinen Unternehmungen unterstützen, echte Diplome und elegante Überröcke mitbringen solle. Seit einiger Zeit hatte er seine Augen auf diesen jungen Mann, diesen Zögling der Schule der schönen Künste geworfen, der ausgezeichnete Fortschritte gemacht hatte, sehr fleißig und von seinen Lehrern warm empfohlen war. Die Medaille begeisterte ihn; sogleich bewilligte er ihm die Hand seiner Tochter und nahm ihn zum Gesellschafter in der Überzeugung, daß er die Millionen verzehnfachen werde; denn er wußte, was man wissen mußte, um gut zu bauen. Überdies werde die arme, kränkelnde, stets traurige Regina einen gesunden, kräftigen Gatten bekommen.

»Wie sehr muß man das Geld lieben, um diese arme, kleine, geschundene Katze zu heiraten«, sagte Claude wiederholt zu seiner Frau.

Als Christine sie mitleidig in Schutz nahm, rief er:

»Aber ich schimpfe ja nicht über sie! Wenn die Ehe ihr nicht den Rest gibt – umso besser. Sie ist doch sicherlich unschuldig daran, daß ihr Vater, der Maurer, den blöden Ehrgeiz hatte, die Tochter eines Spießbürgers zu heiraten, und daß sie zusammen sie so schlecht gemacht haben, er mit seinem durch Geschlechter von Säufern verdorbenen Blute, sie erschöpft, das Fleisch verzehrt von allen Giften der verkümmernden Rassen. Ein schöner Niedergang inmitten der Hundertsous-Stücke! Erwerbt nur Reichtümer, um eure Fötusse in Weingeist zu legen!«

Er ward nachgerade wild; seine Frau mußte ihn in ihren Armen behalten und küssen und lachen, damit er wieder so gemütlich werde wie in den ersten Tagen.

Ruhiger geworden, begriff er und billigte die Ehen seiner zwei alten Kameraden. Alle drei hatten sich beweibt! Wie drollig war doch das Leben!

Noch einmal ging der Sommer zu Ende, der vierte, den sie in Bennecourt zubrachten. Sie konnten niemals glücklicher sein. Das Leben war friedlich und wohlfeil in diesem Dorfe. Seitdem sie da wohnten, hatte ihnen das Geld nie gemangelt; die tausend Franken Rente und der Erlös für die wenigen Bilder, die er verkaufte, genügten für ihre Bedürfnisse; sie machten sogar einige Ersparnisse und schafften Leinenzeug dafür an. Der kleine Hans, der jetzt zweiundeinhalb Jahre zählte, gedieh kräftig auf dem Lande. Beschmutzt und zerfetzt trieb er sich vom Morgen bis zum Abend in den Feldern herum und war dabei gesund und rosig. Oft wußte seine Mutter nicht, bei welchem Ende sie ihn anfassen solle, um ihn ein wenig zu reinigen; wenn sie ihn nur gut essen und gut schlafen sah, kümmerte sie sich nicht weiter um ihn und widmete ihre Zärtlichkeit und ihre Sorge ihrem andern Kinde, dem großen, dem Künstler, dem teuren Manne, dessen düstere Stimmungen sie mit Bangigkeit erfüllten. Mit jedem Tage verschlimmerte sich die Lage; lebten sie auch ruhig, ohne den geringsten Kummer, so stellte sich doch eine Traurigkeit, ein Mißbehagen ein, das sich in einer fortwährenden Verbitterung äußerte.

Es war geschehen um die ersten Freuden des Landlebens. Ihre Barke war verfault, hatte den Boden verloren und war schließlich in der Seine versunken. Es fiel ihnen übrigens nie ein, sich des Bootes zu bedienen, das Vater Faucheur ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Der Fluß langweilte sie; sie waren zu träge zu rudern; sie wiederholten die begeisterten Worte von ehemals über gewisse köstliche Plätze auf den Inseln, aber sie fühlten sich nicht versucht, sie wieder aufzusuchen. Auch die Spaziergang« am Flußufer hatten ihren Reiz verloren; im Sommer wurde man da gebraten, im Winter holte man sich einen Schnupfen; und die ausgedehnte, mit Obstbäumen bepflanzte Hochebene, welche das Dorf beherrschte, lag zu fern, als daß man seine Beine abmühen mochte. Auch ihr Hans ärgerte sie, diese Kaserne, wo man inmitten aller widrigen Gerüche der Küche essen mußte und wo in ihren Zimmer alle Winde freien Durchzug hatten. Um das Mißgeschick vollzumachen, fiel in diesem Jahre die Aprikosen-Ernte schlecht aus, und die schönsten Rosenstöcke waren verdorrt, an Alterschwäche zugrunde gegangen. Welch eine trübselige Abnützung durch die Gewohnheit! wie alt wurde die ewige Natur in dieser Ermüdung und Sättigung durch die nämlichen Ausblicke. Das Schlimmste aber war, daß in ihm der Maler dieser Gegend überdrüssig wurde, kein einziges Motiv mehr fand, das ihn anregen konnte, und wo er mit müden Schritten in den Feldern umherschlich wie in einer ausgenutzten Besitzung, deren Leben er erschöpft hatte, ohne daselbst auch nur das Interesse für einen unbekannten Baum, für eine unvorhergesehene Lichtwirkung zurückzulassen. Nein, es war aus, es war eisig kalt; in diesem Hundelande konnte er nichts Rechtes mehr schaffen!

Der Oktober mit seinem Regenhimmel war gekommen. An einem der ersten Regentage wurde Claude böse, weil das Essen nicht rechtzeitig fertig war. Er warf Melie, die blöde Gans, hinaus, und ohrfeigte Hans, der ihm gerade zwischen die Beine gelaufen war. Da küßte ihn Christine weinend und sagte:

»Laß uns fort! laß uns nach Paris zurückkehren!«

Er machte sich los und rief mit zorniger Stimme:

»Wieder diese Geschichte! ... Niemals; hörst du?«

»Tue es um meinetwillen, bat sie in dringendem Tone. Ich bitte dich darum; mir wirst du damit ein Vergnügen bereiten.«

»Langweilst du dich denn hier?«

»Ja, ich würde sterben, wenn wir noch länger hier blieben. Du mußt arbeiten; ich fühle, daß dein Platz dort ist; es wäre ein Verbrechen, dich noch länger zu vergraben.«

»Nein, laß mich!«

Er zitterte, Paris rief ihn am Horizont, das winterliche Paris, das von neuem aufflammt. Er glaubte die Anstrengungen der Kameraden zu hören und sah sich schon dahin zurückkehren, damit man nicht ohne ihn triumphiere, damit er wieder das Oberhaupt werde, weil kein einziger die Kraft und den Stolz hatte, es zu sein. In diesem Wahn, in dem Bedürfnis, das er fühlte, dorthin zu eilen, weigerte er sich beharrlich, dahin zu gehen; es geschah vermöge eines unwillkürlichen Widerspruches, der aus seinem Innern aufstieg, ohne daß er selbst sich ihn erklären konnte. War es die Furcht, die selbst die Tapfersten erzittern macht? war es der dumpfe Kampf des Glückes gegen das verhängnisvolle Schicksal!

»Ich packe die Koffer und führe dich hinweg«, sagte Christine heftig.

Fünf Tage später brachen sie nach Paris auf, nachdem sie alles eingepackt und zur Eisenbahn gesandt hatten.

Claude war mit dem kleinen Hans schon unterwegs, als Christine sich einbildete, daß sie etwas vergessen habe. Sie kehrte allein nach dem Hause zurück; sie fand es vollkommen leer und begann zu weinen. Ein Riß ging ihr durch das Herz; ihr war, als lasse sie etwas von sich selbst da, ohne sagen zu können: was. Wie gern wäre sie geblieben! wie glühend war ihr Verlangen, stets da zu leben, die soeben diesen Aufbruch gefordert hatte, diese Rückkehr nach einer Stadt der Leidenschaft, in der sie eine Nebenbuhlerin ahnte. Indes suchte sie weiter, was ihr fehlte, und pflückte schließlich eine Rose von einem Rosenstock, der vor der Küche stand, eine letzte, im Herbst verdorrte Rose. Dann schloß sie die Tür des verlassenen Gartens.


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