Ignaz Vinzenz Zingerle
Sagen aus Tirol
Ignaz Vinzenz Zingerle

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Die Kaiserfrau am Nachtberg

Nachtberg heißt der Berg, der die Täler Brantenberg und Thiersee von einander scheidet. Seinen Namen hat er wahrscheinlich von den tiefen Schatten, die seine dichten Föhren- undFichtenwälder über ihn ausbreiten. In diesen Forsten hielt sich einst viel Hoch- undRotwild auf, und allbekannt war der Reichthum des Wildes auf dem Nachtberge. Das war zulockend für Jäger und Wilderer. Der Nachtberg war ihr liebstes Jagdrevier, aber mancherSchütze verschwand auch spurlos und ward nie wieder gesehen. Da ereignete es sich aucheinmal, daß der Senner einer Alpe, die im Bereiche des Nachtberges lag, Butter und Käsezu Thale trug. Wie er so für sich hingieng, sah er plötzlich auf einem niedrigen Hügel, derbeiläufig hundert Schritte von ihm entfernt lag, eine hohe Frau stehen, in deren ganzerGestalt und Haltung hohe Würde ausgedrückt war. Sie trug einen grünen Hut und ein langes,dunkles Kleid, das an die alten, faltenreichen Jagdröcke mahnte. Als der Senner diessah, blieb er verwundert stehen. Da winkte sie ihm freundlich und er folgte etwaszögernd diesem Zeichen. Wie er ihr nahe stand, überfiel ihn ein kalter Schauer, denner hatte noch nie eine so schöne und so geisterhafte Frau gesehen. Sie sprach zuihm: »Einstmals waren hier die herrlichsten Jagdreviere, und Grafen und Fürsten jagten indiesen Wäldern nach edlem Wilde, doch jetzt haben die bösen Menschen bald die unschuldigenThiere hier oben ausgetilgt und mancher ehrliche Mann ist hier den Wilderernerlegen. Darum habe ich dich zum Beschützer meines Reiches und meiner Thiere erwählt unddich gerufen, auf daß du das Wild schützest und jeden Wilddieb tödtest!«

Da graute dem Senner vor diesem Vorschlage und er wollte nicht darauf eingehen. Als die Frau dies sah, drohte sie ihm mit erhobenem Finger und sprach: »Wehe dir, wenn du mirnicht folgest! Ich werde dann deine Alpenwirthschaft, die ich so lange beschützt habe,verderben und kein einziges Stück deiner Herde soll am Leben bleiben.« Da schaudertees dem Sennen und er versprach, der Mahnung zu folgen und jeden Wildschützen ausdem Wege zu räumen. – Er hielt auch sein Wort und schonte keinen. Da begann dasWild wieder auf dem Nachtberge sich zu vermehren und der Berg war gescheut derKaiserfrau wegen, der man das Verunglücken so vieler Wildschützen zuschrieb.

Heutzutage zeigt man noch die Fußspuren am Steine, worauf sie damals gestanden war, und noch lebt ein alter Wildschütze, der sie einmal auf jenem Felsen stehend und ihmdrohend gesehen haben will. Nie, sagen alte Schützen, sei der Berg seither wildlosgewesen. Selbst dann, wenn man glaubte, die letzte Gemse sei dort geschossenworden, seien wieder neue Gemsenherden gekommen, ohne daß man wußte woher. (Bei Kirchbühel.)

 


 


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