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Warum ist der Stieglitz so bunt? – Warum hat der Hase eine gespaltene Lippe?

Daß Kinder alles Märchenhafte dem Wirklichen vorziehen, ist bekannt. Bei Erwachsenen, namentlich aber bei Gebildeten, sollte man das Gegenteil annehmen. Das ist aber nicht der Fall. Wie oft bin ich von gebildeten Leuten gefragt worden: »Wissen Sie auch, weshalb der Stieglitz so bunt ist?« Für Kinder ist die Erzählung, daß der liebe Gott mit den Farbenresten nichts mehr anzufangen wußte und sie deshalb bei der Schaffung des Stieglitzes anwendete, wunderschön, weil sie ihren Anschauungen entspricht. So ist für Kinder das schöne Gedicht, das ausgerechnet Kind über die Entstehung des bunten Stieglitzgefieders gemacht hat, sehr empfehlenswert. Der Gebildete sollte sich jedoch nicht mit einem Märchen als Erklärung begnügen, sondern seinen Verstand anstrengen, um eine vernünftige Erklärung zu finden.

Die nächstliegende Antwort dürfte folgende sein: Bekanntlich gibt es bei uns eine Unmenge kleiner Vögel, namentlich zur Sommerszeit. Den unbefangenen Tierbeobachter muß es mit Staunen erfüllen, daß die einzelnen Arten sich ohne jeden Irrtum zusammenfinden, obwohl sie doch niemals zoologischen Unterricht erhalten haben. So wird sich das Buchfinkenweibchen mit keinem andern Finken paaren, obwohl das Männchen doch ganz anders aussieht. Woher weiß es, daß es das richtige Männchen ist?

Die verschiedenen Arten sollen also auseinandergehalten werden können, und das kann bei gleichgroßen und formähnlichen Vögeln nur durch Färbung geschehen.

Die besondere Färbung des Stieglitzes dürfte sich daraus erklären, daß er bei dem Besuche von Disteln sehr gefährdet ist, da er hier kaum Deckung hat. Deshalb verschwimmt er durch seine Färbung fast mit der besuchten Pflanze. Das Rot des Vorderkopfes stimmt ganz mit dem Rot der Distel überein.

Eine Färbung ist also erforderlich, um die einzelnen Arten auseinanderzuhalten. Die besondere Färbung des Stieglitzes dürfte als Schutzfärbung aufzufassen sein.

Ähnlich liegt die Sache mit der gespaltenen Lippe des Hasen. Kürzlich ging durch die Zeitungen ein flämisches Märchen, das sich hiermit beschäftigt. Hiernach hatte der Hase mit Rücksicht auf seine zahllosen Feinde den Entschluß gefaßt, sich das Leben zu nehmen. Zu diesem Zwecke suchte er das Wasser eines nahen Grabens auf, um sich dort zu ertränken. Bei der Annäherung an den Graben hörte er ein Plumpsen, das von einem flüchtenden Frosch herrührte. Dem Hasen war es unfaßbar, daß es ein Geschöpf gebe, das vor ihm, dem furchtsamsten Tier, die Flucht ergriffe. Er mußte hierüber so gewaltig lachen, daß ihm die Lippe zersprang.

Als Märchen ist die Erzählung ganz nett – wie liegt die Sache jedoch in Wirklichkeit? Ich habe mir die Erscheinung folgendermaßen zu erklären versucht: Der Hase als Nager hat eine besondere Vorliebe dafür, die Rinde von jungen Bäumen abzuschälen. Bäume haben häufig allerlei Unebenheiten an der Rinde. Beim Abschälen der Rinde würde der Hase durch eine größere Unebenheit leicht gehemmt werden, wohl gar Schmerzen empfinden, wenn die Lippe nicht gespalten wäre. Die Spaltung ist also für ihn von großem Vorteil.

Vielleicht weiß einer der Leser eine bessere Erklärung.


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