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Die Mietlinge.

Obgleich der große Ozeandampfer mit gebildeten Amerikanern, die die Reise nach Europa machten, überfüllt war, so wußten doch wenige von ihnen, daß Rozenoffski an Bord sei, und selbst diese wenigen wußten kaum, daß er Pianist sei. Wenn zufällig beim Durchlesen der Passagierliste das Auge auf seinen Namen fiel, so dachte man, daß der Name russisch laute, und daß sein Träger wahrscheinlich semitischer Herkunft sei. Der Künstler selbst war, trotz seiner Löwenmähne, eine ziemlich unbedeutende Erscheinung, und da er außerdem immer so schlurfte, würdigte man ihn kaum eines zweiten Blickes.

Ihm selbst war das gerade recht; er hätte es nicht anders gewollt, sagte er sich, während er auf dem nach dem Abendessen beinahe ganz verlassenen Deck auf und ab schritt. Es war ja ein Segen, endlich einmal den ewigen Schmeicheleien musikwütiger Matronen und Schulmädchen entronnen zu sein. Aber sein Ehrgeiz war dennoch tief verletzt durch den Mißerfolg, den er in Amerika gehabt hatte, und mit allen Fasern seines Herzens sehnte er sich nach einem Trost.

Seine Mitpassagiere wußten freilich nichts von seinen getäuschten Hoffnungen, hatte er doch in Amerika niemals vor der großen Öffentlichkeit gespielt und die Kritik herausgefordert. Er hatte bei seiner amerikanischen Expedition die ihm von Freunden, die das Publikum der Neuen Welt genau kannten, vorgeschriebenen Regeln auf das genaueste befolgt. Man hatte ihn ernstlich davor gewarnt, ohne weiteres vor das Publikum zu treten, und ihm geraten, wenn er dies überhaupt tun wolle, jedenfalls es nicht eher zu wagen, bis er in den Salons großer tonangebender Damen gespielt und durch deren Protektion einen gewissen Ruf errungen habe. Es war ihm gelungen, eine Reihe erstklassiger Empfehlungsbriefe in die ersten Kreise zu bekommen. Ein deutscher Großherzog, ein bulgarischer Gesandter, Gräfinnen, französische und italienische, ja, sogar eine belgische Prinzessin hatten sich für ihn verwandt. Aber zu seinem maßlosen Erstaunen – denn er hatte immer gehört, daß die Amerikaner vor Titeln wachsweich würden – hatte keine der tonangebenden Führerinnen der Gesellschaft ihm den geringsten Beistand geleistet, selbst nicht die Eigentümerin des Chicagopalastes, der er durch die belgische Prinzessin empfohlen worden war. Man hatte ihn ein- oder zweimal in eine Gesellschaft eingeladen, aber man hatte dabei kaum Notiz von ihm genommen. Man hatte ihn nicht ein einziges Mal zum Spielen aufgefordert. Es dauerte einige Wochen, bis der kleine Prophet europäischer Konzertsäle dahinter kam, daß man nichts von ihm wissen wollte; es dauerte noch etwas länger, bis er begriff, daß man ihn nicht für salonfähig hielt, weil er ein Jude sei.

Diese barbarischen Amerikaner, wie weit stand ihre Kultur doch hinter der Europas zurück! Sie hatten es noch nicht begriffen, daß die Kunst adelt und jeden Unterschied der Nationalität und der Religion verwischt. Diese armen Dollarjäger mit ihren lächerlich spießbürgerlichen Ansichten und ihrer auf so niederer Stufe stehenden Bildung! Dabei war er tatsächlich längst kein richtiger Jude mehr. Bildeten sie sich vielleicht ein, daß er einen Gebetriemen und Ohrlocken trüge oder so etwas ähnliches? Die kurzen Kinderjahre, die er in Russisch-Polen verlebt, was bedeuteten sie gegen die langen Jahre, in denen er sich europäische Kunst und Kultur angeeignet! Und wenn er in Rom oder Paris mit Künstlern wie Schneemann oder Leopold Barstein verkehrt hatte, so hatte er es nur getan, weil diese ihn als Künstler anzogen – nicht als Juden. Glaubten diese unwissenden Yankees vielleicht, daß er ihre Abneigung gegen den Kaftan und die drei Erzkugeln nicht teile? O diese niedrig denkenden Antisemiten!

Der Decksteward stellte die Stühle zusammen, sammelte die liegengebliebenen Decken und Bücher und räumte das Deck für die Nacht auf. Aber der in seine trüben Gedanken vertiefte Musiker schritt immer noch rastlos unter dem stillen Schein der Sterne auf und nieder. Aus dem Rauchzimmer, wo gerade ein Amateur-Auktionator die Nummern eines Glückspiels versteigerte, kamen Töne, die in keiner Weise zu dem feierlichen Frieden des Sternenhimmels und des Meeres harmonierten.

Der feinfühlige Künstler fühlte sich durch die vulgäre Heiterkeit seiner Mitreisenden in dieser stillen herrlichen Nacht auf das unangenehmste berührt. Und diese lärmend fröhlichen, dickmäuligen, in Tabaksrauch gehüllten Spieler da unten, das waren die Amerikaner, die ihre Salons vor ihm geschlossen hatten.

Er erinnerte sich der einzigen Gesellschaft, zu der man ihn geladen hatte, »um andere große Künstler kennen zu lernen«. Er fand zu seinem Erstaunen, daß es ein quasi öffentliches Vergnügen war, bei dem die Gäste in Reihen in einem Saale saßen, während er – mit anderen großen Künstlern – auf einem Podium Platz fand, wo dann einer nach dem anderen gebeten wurde, etwas vorzutragen – ohne Honorar dafür zu erhalten. Diese niedrig denkenden Plebejer! Aber vielleicht war es besser, daß sie ihm kein Geld für seine Kunst gaben; wie er augenblicklich empfand, glaubte er, daß seine Kunst zu gut für diese Leute sei. Er hatte wenigstens die innere Befriedigung, die Verächter noch grimmiger zu verachten; sein ganzer Künstlerstolz bäumte sich, wenn er jenes Abends gedachte. Diese teilweise recht häßlichen, mit Diamanten überladenen Damen, diese gewöhnlich aussehenden Herren und diese Berühmtheiten dritten Ranges, das also war die fashionable Gesellschaft, in die vollwertig ausgenommen zu werden, ein Jude niemals hoffen konnte.

Das Aroma einer teuren Zigarre wehte ihm entgegen, und das Gesicht, zwischen dessen großen vorstehenden Zähnen die Zigarre steckte, wurde plötzlich durch ein elektrisches Licht hell beleuchtet. Rozenoffski kannte jene Zähne. Er hatte zahllose Bilder und Karikaturen davon gesehen, umfaßten sie nicht mit ihrem Griff beinahe die ganze Erde? Es war der überall bekannte Multimillionär, der Napoleon in Dollars, wie ihn die Witzblätter nannten. Der Eindruck, den das Äußere Andreas P. Wildhammers auf ihn machte, versöhnte den Klavierspieler beinahe mit seiner eigenen Armut. Wer würde selbst für ein kaiserliches Einkommen auf sich genommen haben, mit dem Millionär zu tauschen und diese grotesken Zähne durch das Leben zu schleppen, die aussahen wie die in dem Schaufenster der Zahnärzte ausgestellten Riesengebisse? Aber als die Zähne näher kamen und das plumpe, hochrote Gesicht ihres Trägers ihm entgegenblickte, war es noch weniger die Größe dieser weitvorstehenden Schneidezähne als der Gedanke, welche Freßfähigkeit ein solches Gebiß wohl entwickeln könne, der ihn beschäftigte. Dieser Multimillionär kam ihm plötzlich vor wie ein kolossaler Raubvogel, der jeden Augenblick ihn, den armen Künstler, der doch nur ein kleiner Singvogel war, verschlingen konnte. Das langvergessene Wort › Risches‹ kam ihm plötzlich in den Sinn – war nicht der Antisemitismus dieses Mannes ebenso aufdringlich wie seine Zähne?

Risches, diese elende Bosheit, die dem verfolgten Volke mit der Zeit beinahe ein Synonym des Christentums geworden war! Er hatte nie mehr daran gedacht, hatte den Sinn des hebräischen Wortes beinahe vergessen, während er, von Erfolg zu Erfolg eilend, in den Konzertsälen Lorbeeren erntete, war denn Risches nicht überhaupt nur ein Schreckwort der verkümmerten Brut des Ghetto, die vor Hirngespinsten zurückbebte, bemäntelte sie nicht vielleicht eine Menge ihrer eigenen Sünden damit?

Nun aber erschien ihm das über ungezählte Millionen gebietende Mammon wie eine lebende Verkörperung des schattenhaften Wortes, die durch diese Zähne, die alles zu zermalmen bereit schienen, noch einen ganz besonderen Nachdruck erhielt.

Dann fiel ihm plötzlich ein, daß er gerade an die Frau dieses Mannes seine schönsten Hoffnungen geknüpft hatte. War sie nicht die Führerin der musikalischen Welt Amerikas, und hatte ihm die belgische Prinzessin nicht einen duftenden und mit ihrem Wappensiegel versehenen Empfehlungsbrief an die Dame mitgegeben, einen Brief, der ihm unfehlbar alle Türen und Ohren öffnen würde? Hatte er nicht schon in Europa von ihrem herrlichen marmornen Musiksale gehört – der zu den Sehenswürdigkeiten Chicagos gezählt wurde –, und hatte er nicht davon geträumt, dort der König ihrer Feste zu werden? Und wie erfüllten sich diese Olympischen Visionen? Ach, durch ein mit der Maschine geschriebenes Briefchen, das er wütend zerfetzte, – durch ein von einem Sekretär geschriebenes Briefchen erfuhr er, daß Frau Wildhammers Gesundheit es ihr leider nicht gestatte, das Vergnügen zu haben, einen Künstler mit solchen Empfehlungen zu empfangen. Risches, es war zweifellos Risches!

Als sich der Künstler mit einem gewissen krankhaften Interesse umwandte, um dem sich zurückziehenden Millionär nachzusehen, fand er ihn mit einer an der Türe einer Kajüte stehenden Dame plaudernd. Konnte sie es sein, die große Kunstkennerin? Er trat ein wenig näher. Nein, es war nur ein junges Mädchen, und wenn ihn nicht alles täuschte, so war es ein jüdisches Mädchen – eine wunderschöne junge Jüdin, mit jenem so seltenen goldroten Haare, wie es zuweilen in Russisch-Polen vorkommt, was hatte sie mit diesem christlichen Kolosse zu reden? Er versuchte vergebens zu entdecken, ob ein Trauring an ihrer linken Hand stecke, die bloße Möglichkeit, daß sie etwa Frau Wildhammer sein könne, verletzte sein semitisches Ehrgefühl. Wildhammer jedoch verschwand in der Kajüte – die Beziehungen der beiden waren offenbar intim – während das Mädchen an der Tür stehen blieb, eine in tiefes Sinnen versunkene traumhaft schöne Gestalt.

Er verspürte die größte Lust, sie anzureden, aber er besiegte diese inkorrekte Regung und begnügte sich damit, seinen Spaziergang fortsetzend, ihr jedesmal, wenn er an ihr vorbeikam, einen forschenden Blick zuzuwerfen. Als er das Ende des Decks nun wieder erreicht hatte, lenkte er jedoch seine Schritte auf die dem Winde ausgesetzte Seite. Nachdem er sich aber ein paar Minuten hatte durchwehen lassen, kehrte er fröstelnd zu seinem bisherigen Spazierplatze zurück. Sie stand immer noch da, war jedoch näher an die elektrische Lampe getreten und las einen Brief. Als er an ihr vorbeikam, bemerkte er mit Staunen, daß große Tränen über ihre rosigen Wangen flossen. Er stieß unwillkürlich einen kleinen überraschten Schrei aus, und das junge Mädchen, das offenbar sehr betroffen war, sich beobachtet zu sehen, ließ vor Schrecken ihren Brief aus der Hand gleiten, der rasch von einem Windstöße davongetragen wurde. RozenoffsKi suchte ihn aufzufangen, aber der tückische Wind wehte das Papier dem Hinterdecke des Schiffes zu. Er jagte ihm nach, stolperte über im Wege vergessene Stühle, und als er endlich so glücklich war, den Brief wieder zu erlangen und er ihn der Eigentümerin, die seinen Schritten gefolgt war, überreichte, bemerkte er mit einem leisen freudigen Schaudern, daß er mit hebräischen Schriftzügen geschrieben war.

»Wie kann ich Ihnen danken, mein Herr?« sagte sie, und der deutsche Akzent, mit dem sie die wenigen englischen Worte sprach, gab ihm den Mut, ihr höflich und in deutscher Sprache zu erwidern:

»Indem Sie es mir vergönnen, Ihnen einen wirklichen Dienst zu leisten.«

»Ach, mein Herr,« antwortete sie nun auch auf deutsch, »ich weinte vor Freude und nicht aus Kummer.« Wie ihr Amerikanisch-Englisch einen deutschen Akzent hatte, so erinnerte ihr Deutsch ihn an das Jüdische, das er in seiner nun schon so weit zurückliegenden Kindheit gehört; diese Erinnerung, vereint mit der wunderbaren Weichheit ihrer Stimme, rührten das Herz des Musikers. Er bemerkte mit großer Befriedigung, daß sie keine Ringe an den Fingern trug.

»Das freut mich sehr,« wagte er zu antworten.

Sie lächelte pathetisch und ging langsam zu ihrer Kabine zurück. »Bei uns Juden,« sagte sie, »ist Lachen und Weinen nahe beieinander«.

»Bei uns Juden?« Er zuckte leise.

Es war so lange her, daß Fremde ihn seinem äußeren nach für einen Juden angesehen! Aber vielleicht hatte er sie nur falsch verstanden, vielleicht bezogen sich diese Worte nur auf ihre Rasse, nicht auf seine.

»Es ist eine herrliche Nacht«, murmelte er unsicher. Aber er erweckte mit diesen Worten ihr Rassebewußtsein noch mehr.

»Ja,« erwiderte sie einfach, »und ein solcher Himmel voller Sterne ist nun auch endlich über der Nacht Israels aufgegangen. Ist sie nicht wunderbar, diese Entwicklung unseres Volkes? Als ich Rußland verließ, ich war damals noch ein kleines Mädchen und sehr jung, so jung,« sie lächelte traurig, »daß man mich sogar noch nicht verheiraten konnte, da verließ ich ein von seinen Führern verlassenes, kriechendes, feiges und mutloses Volk – ich werde niemals die Panik vergessen, die sich in unserer Synagoge verbreitete, als ein Trupp Kosacken mit einer lügenhaften Blutanklage hereinritt.

Nun aber ist Israel ein willenskräftiges Volk geworden, das sich aus seiner jahrelangen Versumpfung herausgerissen, und den Mut neuer Ideen und einer geistigen Entwicklung hat. Die jüngere Generation träumt edle Träume, und was noch seltsamer ist, sie setzt ihr Leben dafür ein, sie zu verwirklichen. Unser Bund ist die Seele der russischen Revolution; unsere Verbindung zur Selbstverteidigung erinnert an die Tage des Judas Maccabäus. Wenn in alten Zeiten ein Blutbad stattfand, dann verkroch sich unser Volk in den Synagogen, um dort zu beten; nun aber zieht es in den Streit, um wie Männer zu kämpfen.«

Sie waren an ihrer Kajütentür angekommen, und sie schwieg plötzlich. Der Musiker fürchtete, daß sie in ihrer Kabine verschwinden werde.

»Aber Juden können nicht kämpfen; sie sind keine Soldaten,« rief er in halb ungläubigem Tone und in der heimlichen Hoffnung, sie durch seine Worte zurückzuhalten.

»Nicht kämpfen?« Sie hielt den hebräischen Brief in die Höhe. »Sie senden Späher aus, sie haben Ambulanzkorps, Ordonnanzen, Ärzte, alles – mein Vetter David Amram, der kaum mehr als ein Knabe ist, wurde dazu kommandiert, ein großes dreistöckiges Haus zu verteidigen, das von Fabrikarbeitern bewohnt wird, die an der Arbeit waren, als das Pogrom ausbrach. Die armen vor Angst halb wahnsinnigen Weiber und Kinder hatten sich, als die ersten Unruhen losbrachen, darin verbarrikadiert und in Keller und Speicher versteckt. Um zu ihnen zu gelangen, mußte mein Vetter über die Ziegeldächer der benachbarten Häuser klettern und durch ein Dachfenster in das Gebäude dringen. Bald war das Haus von Polizei, von Militär und von allerlei Gesindel, die alle untereinander einen teuflischen Bund geschlossen hatten, belagert. Nur mit einem Browning-Revolver bewaffnet, gelang es David, sie in Schach zu halten. Er lief nämlich unablässig von einem Fenster des Hauses zum andern und schoß daraus, um bei den Belagerern den Eindruck zu erzeugen, als ob eine ganze Reihe von Verteidigern in dem Hause wären. Endlich aber war seine Munition erschöpft – es ist immer das Schwerste, unsere Selbstverteidiger mit hinreichender Munition zu versehen, und schon begann die tobende Meute, gegen die große Eingangstür zu schlagen. Als David erkannte, daß jeder fernere Widerstand völlig nutzlos sei, zog er ruhig die Riegel vor der Eingangspforte zurück und rief dem erstaunt dreinblickenden Pöbel zu: »Zurück, zurück! Sie haben Bomben!« dann stürzte er sich in die Straße, als ob er der drohenden Explosion zu entfliehen gedächte. Man folgte ihm in wilder Flucht, und es gelang David, in der allgemeinen Panik in eine dunkle Allee zu entschlüpfen, von wo aus er einen neuen Verteidigungsposten suchte. Obgleich die Tür des Hauses weit offen stand und die zitternden Einwohner der Gnade ihrer Belagerer preisgegeben waren, so wagten diese doch nicht, einzudringen, sondern begnügten sich, über eine Stunde lang aus sicherer Entfernung darauf zu schießen, bis die Mauern von Kugeln durchlöchert waren. Man zählte am andern Tage beinahe 200 Kugeln, die teils in den Mauern steckten, teils in den Zimmern gefunden wurden. Es war jedoch nichts gestohlen worden, da die Elenden zu feige waren, in das Haus einzudringen. David aber ist nur ein Typ der neuen Generation. Es gibt jetzt hundert Davide, die alle bereit sind, gegen Goliath in das Feld zu ziehen. Soll ich mich da nicht freuen? Ist es nicht natürlich, wenn die hellen Freudentränen meinen Augen entquillen?« Ihre Augen leuchteten, und der Künstler wurde von der Begeisterung des jungen Mädchens angesteckt. Sie erschien ihm in diesem Augenblicke weniger wie ein junges Mädchen als vielmehr wie die verkörperte Wahrheit und Reinheit, wie seine eigene ihm verlorene Muse. »Das Polen, das ich verließ, war wirklich ein Gefängnis,« fuhr sie begeistert fort, »aber nun ist das anders geworden – es ist das Land, aus dem ein regeneriertes Volk hervorgehen wird. O, ich zähle die Tage, bis ich dahin zurückkehre.«

»Was, Sie wollen nach Rußland zurückkehren?«

Er hatte ein Gefühl, als ob man ihn mit einem kalten Stahl durch das Herz gestoßen habe. Die Gefahr der Pogrome, die bis jetzt dort drohte, und die ihm bisher so fern erschienen war wie die Kämpfe der Wilden in Zentralafrika, däuchte ihm plötzlich nahe und unvermeidlich zu sein. Außerdem aber glaubte er diese schöne Jüdin noch von einer anderen, größeren Gefahr bedroht: von dem heldenmütigen Vetter David!

»Wie könnte ich zu einer solchen Zeit wie diese anderswo leben wollen als in Rußland?« antwortete sie ruhig. »Wer bedarf meiner in Amerika, was hätte ich dort zu tun?«

»Aber wenn sie dem Blutbad zum Opfer fielen«, rief er ungestüm.

Ein strahlendes Lächeln verklärte ihre Züge. »Ich wünsche mit meinem Volke zu leben und zu sterben.«

Ihre Worte wirkten auch auf ihn zündend, er war dem Weinen nahe. »Dein Volk soll mein Volk sein,« dachte er, aber er sagte: »Nein, nein, Sie dürfen nicht hingehen; was kann ein schwaches Mädchen, wie Sie es sind, für sein Volk tun?«

Der scharfe Klang einer aus der Kajüte ertönenden Schelle unterbrach ihr Gespräch.

»Ich muß zu meiner Herrin. Gute Nacht, mein Herr.«

Seine Begeisterung legte sich auffallend rasch. Sie war nur ein Mietling der Frau Wildhammer!

*

Gegen Mitternacht erhob sich ein sehr starker Wind, und Rozenoffski, der auf seinem Lager hin und her geworfen wurde, fluchte dem Begegnen mit der rothaarigen Romantikerin, das ihn so aufgeregt hatte, daß er unfähig war, einzuschlafen, solange das Meer noch still war. Nicht, daß er wirklich seekrank gewesen wäre, aber er fürchtete, es zu werden. Das aus allen Fugen ertönende Seufzen und Klagen des Dampfschiffes stimmte ihn gleichfalls melancholisch. Er konnte den Gedanken nicht los werden, daß es sein Schicksal sei, elend zu ertrinken. Von Zeit zu Zeit versuchte er, seine Gedanken zu sammeln und das Stöhnen des Meeres, das Heulen des Windes zu einer Komposition zu verwerten. Aber dieser Versuch mißglückte vollkommen.

»Nein,« seufzte er, sich selbst verspottend, »erst wenn ich wieder auf festem Lande bin, werde ich es versuchen, eine Meersymphonie zu komponieren.«

Endlich schlief er dennoch ein, aber nur, um sich in wilden Träumen mit einer jüdischen Jeanne d'Arc herumzuschlagen, die Admiral geworden und Zion von ihrem Kriegsschiff aus zurückerobert hatte, während sein längst gestorbener Großvater Psalmen sang. Obgleich er sie am anderen Tage nicht sah und im Grunde froh darüber war, der Kammerjungfer nicht in dem unromantischen Tageslicht begegnen zu müssen, so konnte er doch keine rechte Ruhe finden. Die Bitterkeit, die alles war, was er von Amerika mitgebracht hatte, schien freilich vergessen zu sein, aber der durch das junge Mädchen angeregte Gedankengang beschäftigte ihn unablässig. Rastlos überall umherwandernd, geriet er am Nachmittage in den nach dem Mittagessen ganz verlassenen Speisesaal, und da seine fieberhafte Erregung einen Ausweg suchte, setzte er sich an das Klavier und fing an zu spielen. Der innere Sturm wollte sich immer noch nicht legen, und neue Gedanken rankten sich um die alte Musik. Er spielte Schumanns Fantasiestück: »In der Nacht«, aber durch die stürmische Leidenschaft dieser Komposition träumte er immer nur von dem roten Haare der heroischen Jüdin. Aus den klagenden, fragenden Tönen von »Warum?« vernahm er nicht die Welt, sondern die Judenfrage, – diese alte, nie gelöste Judenfrage, die bald in diesem, bald in jenem Teile der Welt auftaucht, wie Schumanns Thema auf allen Tasten des Klaviers, wie genau mit denselben Noten, aber immer dasselbe klagende, fragende Thema, dies bedeutungsvolle »Warum?« Warum, o warum dieses ewige Leid, dies Wandern mit müden Sohlen, dies wurzellose Leben, dieser ewige Fluch?

Plötzlich merkte er, daß er nicht mehr allein sei; obgleich es nicht Essenszeit war, saßen überall Gestalten auf den vor den Tischen feststehenden Stühlen. Er spielte ruhig weiter und sah, einen raschen Blick um sich werfend, mit bitterer Befriedigung, wie immer mehr seiner Mitpassagiere sich leise heranschlichen, wie selbst die Treppe voller Menschen stand, die alle, ohne sich zu regen, andachtsvoll seinem Spiele lauschten.

So waren sie doch endlich zu ihm gekommen, diese arroganten Amerikaner, sie kamen wie die Ratten, die den Tönen des Fiedlers folgen. Er konnte, sobald er wollte, diese hochmütigen Heiden herbeilocken, indem er seine Finger mit magischem Drucke über die Elfenbeintasten gleiten ließ. Und siehe, es kamen ihrer immer mehr! Ein rascher, unbemerkter Blick überzeugte ihn davon, daß selbst die Korridore gedrängt voller Menschen standen, die, wie durch einen Zauber gebannt, aufmerksam durch die geöffnete Türe horchten. Seine Brust füllte sich mit bitterer Genugtuung.

Mit einer energischen Anstrengung schüttelte er die melancholische Stimmung von sich ab und begann Scarlattis große Sonate in A-dur zu spielen. Seine Finger rasten wie toll über die Tasten und führten das große Bravourstück mit vollendeter Technik aus. Als er jetzt aufhörte, erhob sich ein wahrer Beifallssturm, ein lang andauernder begeisterter Applaus. Der Künstler blickte um sich, als ob er ganz verblüfft sei, er schüttelte seine Löwenmähne in gut gespielter Überraschung. War er denn nicht allein? »Gott im Himmel!« murmelte er, und wütend den Klavierdeckel zuwerfend, verließ er rasch die Gesellschaft dieser anmaßenden Eindringlinge, die es gewagt hatten, des Künstlers Alleinsein zu stören.

Aber der darauffolgende Nachmittag fand ihn wieder vor dem Klavier, und er gab sein Bestes, um diese ihm so verächtlichen Christen zu entzücken. Er spielte Beethoven und Bach, Paradies und Tschaikowski für sich, er enthüllte ihnen die reichen Schätze seiner Kunst und seines Gedächtnisses. Und siehe! die christlichen Ratten schlichen sich wieder von allen Seiten herzu, nur leiser noch und vorsichtiger. Sie kamen von allen Teilen des Schiffes. Man flüsterte Neuangekommenen warnend zu, daß sie sich nicht hinreißen lassen sollten, zu applaudieren, vergebens! Ein entzückter Grünschnabel rief sogar: » Encore!« Da erwachte der Musiker aus seiner Ekstase und blickte träumerisch auf seine Zuhörer, und als komme es ihm erst allmählich zum Bewußtsein, daß er vor einem Publikum gespielt habe stand er rasch auf – aber diesmal mehr traurig als ärgerlich – und schritt hochmütig durch den Saal und die von Menschen erfüllte Treppe hinauf.

Man war in Zukunft vorsichtiger; man stellte Wachen an den Türen auf, um allen Passagieren mitzuteilen, daß der große Unbekannte nur dann spielen würde, wenn er sich allein und ungestört glaube. Sobald aber der Künstler sich nachmittags in den leeren Speisesaal begab, verbreitete sich die Kunde davon mit Blitzesschnelle unter der kleinen Armee der Musikfreunde. Leise, ganz leise wie Ratten, auf unhörbaren Sohlen schlichen sie heran, ließen sich lautlos auf den Stühlen nieder, standen in den offenen Türen, spitzten die Ohren in den Korridoren. Durch die andachtsvolle, lautlose Stille ertönte dann des Meisters wunderbare Musik; er spielte in seligem Selbstvergessen, bis der Tag sich neigte und die Stewards mit dem Tee erschienen.

Je größer aber Rozenoffskis Publikum wurde, um so größer wurde sein Haß gegen diese selbstsüchtigen Christen, die so viel von dem Juden empfingen und ihm nichts dafür gaben. »Shyloks,« murmelte er zwischen den aufeinandergepreßten Zähnen, während er spielte, »Shylocks seid ihr alle miteinander!«

*

Mit derselben Regelmäßigkeit schritt Rozenoffski abends über das stille Verdeck auf und nieder in der Hoffnung, der rothaarigen Jüdin noch einmal zu begegnen. Er hatte den Schrecken darüber, daß sie in dienender Stellung sei, bald genug überwunden, ja, das Paradoxe ihrer Stellung in einem antisemitischen Hause erhöhte noch das Interesse, das er für sie empfand. Er hätte gar zu gern wissen mögen, ob sie seinem Spiele zuhöre und ob sie eine Ahnung davon gehabt, daß er ein Künstler sei.

Aber drei Abende gingen vorüber, ohne daß es ihm gelang, sie zu sehen. Ihre Herrin ward ebenso wenig sichtbar. Die Wildhammers hielten sich mit vornehmer Zurückhaltung in der für sie mit fürstlicher Pracht hergerichteten Zimmerreihe zurück, und nur der Mann ließ sich zuweilen herab, in dem Rauchzimmer zu erscheinen, wo er mit dem den Reichen eigentümlichen Glück in allen Glücksspielen gewann. Erst am vorletzten Abend der Reise gelang es Rozenoffski, seine rothaarige Muse wiederzuerblicken. Er hatte heute viel früher wie sonst seine Abendpromenade begonnen, denn an diesem Abende wurde das unvermeidliche »Konzert zum Besten armer Marineangehöriger« gegeben, und das Deck hatte sich daher heute viel früher als sonst geleert. Natürlich hatte die Dame, die das Arrangement des Konzertes übernommen, eine stramme Schauspielerin aus »Frisco« nicht unterlassen, ihn mit unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit zu bitten, ebenfalls etwas zur Verherrlichung des Abends beizutragen, aber er hatte sie mit den ihr unverständlichen spöttischen Worten: »Um andere große Künstler kennen zu lernen« schnöde und unerbittlich abgewiesen. Sein Lohn dafür war, daß er nun das Deck und den Sternenhimmel darüber fast für sich ganz allein hatte, und jetzt entdeckte er plötzlich, daß selbst die Sterne durch eines Mädchens Goldhaar verdunkelt wurden. Ja, dort war sie, sie blickte nachdenklich durch das Fenster ihrer Kajüte. Er erriet, daß ihre Herrin nicht da war – wahrscheinlich war sie in dem Konzerte. Sein Herz schlug stürmisch, als er vor ihr stehen blieb, aber in Erinnerung daran, daß sie nur ein Kammermädchen sei, nahm seine Stimme einen gewissen herablassenden Klang an.

»Ich hoffe, daß Frau Wildhammer Sie in nicht zu strenger Klausur gehalten hat«, sagte er.

Sie lächelte matt. »Nicht so streng, wie Neptun sie gehalten.«

»War sie seekrank?« fragte er mit einer fast boshaften Befriedigung.

»Es ist höchst merkwürdig und gewissermaßen tröstlich zu beobachten, wie selbst die Macht der Krösusse nur eine sehr beschränkte ist«, antwortete sie. »Aber sie ist glücklich – sie ist gerade zur rechten Zeit wieder gesund geworden.«

»Zu rechter Zeit für was?«

»Nun, hören sie denn nicht?«

In der Tat tönten die schrillen Töne einer dilettantenhaften Sopranistin schon seit einer Weile durch die Luft, ohne daß er es in seiner Erregung bemerkt hatte. Jetzt schauderte er.

»Ist sie es, die da singt?«

Das Mädchen lachte fröhlich. »Sie und singen! Nein, nein, sie ist nur eine sensitive Empfängerin. Sie empfängt immer –, sie gibt niemals etwas. Sie beutet ihre Seele in derselben Weise aus, wie ihr Mann alle Welt ausbeutet. Es gibt keine Sensation, keine Emotion, die sie sich verjagt, es müßte denn eine schmerzliche sein. Gerade, um diesem Konzerte zu entrinnen, verließ sie ihr Ruhebett und suchte Zuflucht in einer von dem Speisesaale mehr abliegenden Kajüte einer Freundin. Sie bemerken, daß der Schall aus dem Speisezimmer gerade hierher kommt, und sie sagt, daß eine falsche Note genüge, ihr Nervenschmerzen zu verursachen.«

»Dann kann sie nicht eher zurückkommen, bis das Konzert vorüber ist«, sagte er eifrig, »wollen Sie nicht ein wenig herauskommen und im Mondschein mit spazieren gehen?«

Ohne ein Wort zu sprechen, kam sie mit der Einfachheit eines guten Kameraden zu ihm.

»Ja, es ist eine sehr schöne Nacht«, sagte sie. »Nun dauert es nicht mehr lange, bis ich in Rußland sein werde.«

»Geht denn Frau Wildhammer auch nach Rußland?« fragte er, sich selbst darüber wundernd, daß ihm dieser Gedanke nicht schon früher gekommen war.

»Natürlich nicht! Ich bin nur für die Reise von ihr engagiert. Ich war gezwungen, mir das Geld für meine Überfahrt durch Arbeit zu verdienen, und ich pries daher die gütige Vorsehung dafür, daß Frau Wildhammer am Abend der Abfahrt durch einen Zufall ihres Mädchens beraubt wurde.«

»O«, murmelte er befriedigt. Seine rothaarige Muse hatte also nur vorübergehend ihre soziale Stellung verlassen. »Aber,« sagte er, »ist das nicht demütigend für Sie gewesen?«

»Demütigend?« Sie lachte lustig, »warum sollte es demütigender sein als Manikure zu betreiben?«

»Manikure«, wiederholte er entsetzt.

»Gewiß«, lachte sie. »Ich habe an der Universität in Bern Medizin studiert und außerdem dort einen sehr gründlichen Hungerkursus absolviert, ich fand aber, daß ich mit meinem Schweizer Diplom in Amerika nicht durchkäme, und sah mich daher gezwungen, noch einmal zu studieren.«

»Sie sind Ärztin?« unterbrach er sie.

»Freilich und deshalb besonders verwendbar als Schiffskammermädchen.«

Die junge Dame erzählte ihm dann offenherzig, wie hart sie mit dem Leben gekämpft hatte. Bei Tage hatte sie für den Broterwerb arbeiten müssen, und den größten Teil der Nächte hatte sie dem Studium geopfert. »Natürlich konnte ich nur die abends stattfindenden medizinischen Vorlesungen besuchen. Ich habe eine ganze Zeit lang meinen bescheidenen Unterhalt damit verdient, daß ich Mäntel mit Pelz garnierte; mein Bett stand in der Ecke eines von der ganzen Familie bewohnten Zimmers. Eine Studentin der Medizin durfte selbstredend keine Pakete herumtragen. Dafür, daß sie die Arbeit holte und wegbrachte, zog meine Wirtin mir über ein Viertel des Verdienstes ab. Als die Pelzsaison vorüber war, habe ich in einem Restaurant gekocht; ich habe mit als Maschinenschreiberin und als »Hallo-Mädchen« am Telephon gearbeitet, kurz, ich habe alles und jedes getan, um mich durchzuschlagen.«

»Dann lernten Sie die Manikure?« sagte er beinahe zärtlich.

»Ja, die Manikure«! wiederholte sie lächelnd. »Da fragen Sie noch, ob ich es nicht für demütigend hielte, eine kunstliebende seekranke Dame zu bedienen?«

»Kunstliebend!« zischte er. Sein Herz war von tiefem Mitleid für das Mädchen und von bitterem Groll gegen ihre Herrin erfüllt.

»Gewiß, kunstliebend,« lachte sie. »Über weshalb haben Sie ein solches Vorurteil gegen die Dame?«

Er errötete. »Ein Vorurteil«? stotterte er. »Weshalb sollte ich gegen sie eingenommen sein? Nach allem, was ich von ihr gehört habe, ist sie es, die unter der Herrschaft von Vorurteilen steht. Mich wundert nur, daß sie eine Jüdin in ihre Dienste nahm.«

»Was ist daran Wunderbares? Haben nicht die Südländer schwarze Diener?«

Er errötete noch tiefer. »Was,« sagte er, »wollen Sie die Juden mit den Negern vergleichen?«

»O, ich bitte die Schwarzen um Entschuldigung. Die Neger haben doch wenigstens ihr Liberia. Dort ist ein schwarzer Präsident, ein schwarzes Parlament, wir aber haben nichts.«

Wir? sie sprach immer noch im Plural. Aber er suchte es trotzdem zu umgehen, sich offen als Stammesgenossen zu bekennen.

»Nichts?« erwiderte er. »Ich denke, Sie sollten sagen: alles? Jede Gabe des Genies, die die Natur aus ihrem Füllhorn schenken kann!«

»Die jüdischen Genies« – ihre Stimme hatte einen schmerzlichen Klang. »Sprechen Sie mir nicht von unseren Genies! Sie sind es, die uns jederzeit betrogen haben. Jedes andere Volk hat seine großen Männer; aber unsere großen Männer? Sie gehören jedem anderen Volke an, nur nicht Israel. Die Welt zieht unsere Elitegeister an sich und verdammt uns um des minderwertigen Restes willen. Unsere Besten tanzen nach der Pfeife der Heiden! Sie bauen und malen, sie schreiben oder sind Rechtsgelehrte. Aber singen niemals das Lied Israels; sie malen kein Bild, sie bilden keine Statue zu Ehren ihrer Volkes, sie kümmern sich nicht um seine Gesetze, sie bauen Israel keinen Tempel. Bah! Was sind sie anders als Mietlinge?«

Wieder riß die Leidenschaft ihres Patriotismus auch ihn fort. Ja, sie sprach die Wahrheit. Er selbst war nur ein Mietling. Über er wollte ein Herr werden, er wollte zurück – zurück zu dem Ghetto, und diese edle Jüdin sollte seine Genossin werden. Gott sei Dank, daß er noch frei war! Über ehe er noch Zeit gefunden, ihr seinen Entschluß mitzuteilen, erschien plötzlich die stattliche Schauspielerin aus San Franzisco an seiner Seite, um einen letzten verzweifelten Sturm auf seine Gutmütigkeit zu machen und ihn zu bewegen, für einen der Mitwirkenden, der plötzlich erkrankt war, einzuspringen. Rozenoffski schlug den Angriff kurz ab, aber ehe noch die Dame ihre ganze Beredsamkeit erschöpft hatte, nickte seine rothaarige Begleiterin ihm freundlich lächelnd zu und zog sich dann rasch in die Kajüte zurück.

Er verbrachte eine schlaflose, aber glückliche Nacht, in der er schöne Zukunftspläne aussann. Zunächst wollte er sie aus ihrer dienenden Stellung befreien, dann würden sie vereint für ihr Volk arbeiten. Er fürchtete sich nicht mehr vor dem Meere. Er fürchtete sich vor nichts, selbst nicht vor den Pogromen, die seiner in Rußland harrten. Selbst Rußland erschien ihm plötzlich wieder unendlich teuer – es war das schöne Land der Kindheit; sein Vogelgesang, seine, flüsternden Blätter und murmelnden Bäche waren die erste Musik gewesen, die sein Ohr vernommen.

Aber teurer als alles dies erschienen ihm die jüdischen Erinnerungen, die in ihm auftauchten. Als er am letzten Nachmittage der Reise fast mechanisch zum Klavier schritt, war er so erfüllt von diesen Reminiszenzen, daß er ihnen in einer Rhapsodie, der er eine Synagogenmelodie zugrunde legte, Ausdruck zu verleihen suchte. Sein Spiel war von hinreißender Schönheit, und heute – zum erstenmal – vergaß er wirklich sein Auditorium. Er wurde sich allmählich bewußt, daß diese Musik kaum für sie verständlich sein würde, doch das erhöhte nur seine Begeisterung. Mochten die heidnischen Ratten in hebräischer Musik schwelgen. Aber bald verlor sich sein stolzes Selbstgefühl, und er vertiefte sich ganz in seine Improvisation.

Es war eine seltsame Phantasie, die seine gehorsamen Finger den Tasten entlockte! Sie enthielt die sehnsüchtigen Lieder des alten Rituals, die festlichen Läufe und Tiraden der Vorsänger, den eigentümlichen Singsang, den die Talmudschüler in ihren dumpfen Studierhallen erschallen lassen, das langandauernde melancholische Gesumme der Psalmsinger in der Dämmerstunde des Sabbats, das Wehen der Palmenzweige, die Seufzer der Büßenden, die langgezogenen Töne des Widderhornes bei dem Versöhnungsfeste und die leidenschaftliche Verkündigung des einigen Gottes, mit der die Pforten des Himmels bestürmt werden. Und vermischt mit diesen greifbaren Erinnerungen plauderten seine Töne in rührender Weise von dem Frieden des Sabbatabends und seiner festlich brennenden Kerzen, von der Liebe und den Wundern seines Kinderglaubens, von der Phantasie rabbinistischer Legenden, dem spukhaften Bußgebet in der kalten Wintermorgendämmerung, der heiligen Freude, die allen Gläubigen in dem ihnen verheißenen Zion beschert wird, wo der Herr die Tränen von den Wangen seines Volkes trocknen wird.

Als er geendet, trocknete er die Tränen von seinem eigenen Gesichte, und er tat es offen, und ohne sich dessen zu schämen und ohne Notiz von dem rauschenden Beifall zu nehmen, mit dem seine Zuhörer ihn überschütteten, die nun ihrer lange aufgesparten Dankbarkeit freien Lauf ließen, da dies ja doch das letzte Mal war, daß man das Spiel des Künstlers bewundern konnte. Seine ganze Eitelkeit, die künstlerische Pose, die er sonst nie versäumte, alles verschwand in der Tiefe und Aufrichtigkeit seines Gefühls. Er schlug nicht, wie er sonst zu tun pflegte, das Klavier hastig zu, sondern blieb traumversunken ein paar Augenblicke ruhig davor sitzen, plötzlich bemerkte er, daß seine rothaarige Muse neben ihm stand. Ach, so hatte sie ihn doch endlich entdeckt, sie hatte das Genie und den Patrioten gleichzeitig in ihm erkannt und war nun gekommen, ihm ihre Seele zu Füßen zu legen! Aber warum sprach sie kein Wort? Warum hielt sie ihm schweigend einen duftenden Brief hin? Geschah es, weil sie nicht den Mut hatte, vor all diesen Menschen zu sprechen? Er riß das elegante Kuvert entzwei. Himmel, was war das? »Würde der Maestro Frau Wildhammer die Ehre erzeigen, den Tee bei ihr in der Kajüte einzunehmen?«

Er starrte erstaunt auf das junge Mädchen, das in respektvollem Schweigen verharrte.

»Haben Sie gehört, was ich spielte?« murmelte er.

»O gewiß – ein Synagogen-Potpouri,« antwortete sie ruhig. »Es ist auf der Ostseite Gemeint ist die Ostseite von Neuyork, das jüdische Viertel. verlegt worden, nicht wahr?«

»Auf der Ostseite?« – Er fühlte sich in seinen heiligsten Gefühlen gekränkt. »Ich weiß nichts von der Ostseite.« Ihre absolute Verständnislosigkeit seiner geistigen Erregung und des Triumphes seines musikalischen Genies, die einfache Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn als einen Stammes- und Glaubensgenossen erkannte und ihn als solchen behandelte, ihre Gleichgültigkeit bei der Großartigkeit eines hebräischen Pianofortesolos, kurz alles, was sie sagte und nicht sagte, fiel ihm plötzlich auf die überreizten Nerven und wirkte wie ein kalter Wasserstrahl auf ihn. »Wollen Sie sagen, daß ich die freundliche Einladung mit Vergnügen annehme«, sagte er kalt. Das rothaarige Mädchen nickte und verschwand. Rozenoffski ging mechanisch zu seiner Kabine, ohne Notiz von seinen sich um ihn drängenden Bewunderern zu nehmen. Mechanisch kleidete er sich um, und erst als er seinen Gehrock abbürstete, wich seine Verstimmung, und er sah erwartungsvoll der nächsten Stunde entgegen.

Jetzt klopfte er an die ihm wohlbekannte Tür. Eine süße, aber ihm unbekannte Stimme rief: »Herein!« und im nächsten Augenblick stand er vor einer großen schönen Amerikanerin, die, von einem seidenaussehenden, knisternden Teekleide umhüllt, mit köstlichen Ringen geschmückt und von einem leisen Patchouliduft umgeben, ihn mit einer Flut von Komplimenten überschüttete.

»Es ist so entzückend von Ihnen, daß Sie gekommen sind – ich weiß ja, daß Ihr genialen Männer sehr farouche seid – es war auch wirklich furchtbar dreist von mir, eine Einladung zu wagen; ich weiß das alles, aber Sie haben es mir vergeben, nicht wahr?«

»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, gnädige Frau«, sagte er auf deutsch.

»Ach so, Sie sind ein Deutscher,« antwortete sie in derselben Sprache. »Ich dachte es mir. Engländer oder Amerikaner sind einer so göttlichen Begeisterung nicht fähig. Sie sehen, mein Herr, ich kenne nicht einmal Ihren Namen, nur Ihr Genie. Jeden Nachmittag habe ich hier gelegen und in Ihrer Musik geschwelgt, aber ich würde niemals den Mut gefunden haben, Ihnen zu danken, wenn Sie nicht heute diese wunderbare Komposition gespielt hätten; es klang darin wie die Klage eines gebrochenen Herzens, dann wieder strömte eine köstliche Heiterkeit aus Ihren Akkorden, und endlich dröhnte der Donner der Götter daraus. Ich fürchte, Sie werden mich für sehr unwissend halten – aber ich kannte die Komposition nicht – sie war wohl von Grieg, nicht wahr?«

Er sah verstimmt aus. »Ich fürchte, daß sie nicht an die Kompositionen Griegs heranreicht – es war nur eine Improvisation von mir.«

»Von Ihnen!« Sie klatschte mit mädchenhaftem Entzücken in die von Brillanten schimmernden Hände. »O, wo kann ich sie bekommen?«

Ein spottender Dämon versuchte ihn: »Auf der Ostseite,« zu sagen, aber er wies die Versuchung von sich und antwortete ablehnend: »Sie können Sie nicht haben. Es ist eine Improvisation, die mir diesen Nachmittag durch den Sinn ging – sie kam – und ist verschwunden und verklungen.«

»Wie schade!« Die Fruchtbarkeit seines Talentes, der Reichtum seiner Phantasie hatten einen tiefen Eindruck auf sie gemacht.

»Ich hoffe, Sie werden versuchen, die Komposition nachträglich niederzuschreiben?«

»Unmöglich – es war ja doch nur eine Stimmung.«

»Ach, wie traurig zu denken, daß Sie vielleicht viele solcher Stimmungen gehabt, denen ich nicht lauschen durfte. Warum habe ich in Amerika nie etwas von Ihnen gehört?«

Er errötete. »Ich – ich habe dort überhaupt nicht gespielt,« fuhr er verlegen fort. »Sehen Sie, ich bin außerhalb der europäischen Musikkreise noch nicht bekannt.« Dann seinen ganzen Mut zusammenraffend, sagte er seinen Namen: »Rozenoffski«. Er warf das Wort hin wie eine Bombe und wurde bleich in der Erwartung, wie sie es aufnehmen würde. Aber die Bombe verursachte keine Explosion. Die Dame fuhr fort, in enthusiastischen Ausdrücken des Künstlers Lob zu preisen. Offenbar war die kleine Episode, die auf ihn so herabstimmend gewirkt, eindruckslos von ihr abgeglitten.

»O, aber Amerika muß Sie kennen lernen, Herr Rozenoffski. Sie müssen es mir versprechen, dahin zurückzukehren, und Sie müssen mir den Ruhm gönnen, Sie in die erste Gesellschaft lancieren zu dürfen.« Da sie bemerkte, daß seine Stirn sich umwölkte, rief sie eifrig: »Sie müssen, Sie müssen, Sie müssen!« und bei jedem »müssen« klatschte sie in ihre Hände.

Er zögerte immer noch, ihr eine Antwort zu geben.

»Sehen Sie,« fuhr sie bescheiden fort, »Sie haben ja natürlich nie etwas von mir gehört, aber es ist Tatsache, daß jeder bedeutendere Künstler, der sich durchsetzen wollte, zuerst in meinem Hause in Chicago gespielt hat.«

»Ach so,« murmelte er. Waltete vielleicht dennoch ein unglückliches Mißverhältnis vor? War es möglich, daß Frau Wildhammer wirklich zu krank gewesen, um ihn empfangen zu können? Trotz ihrer bestechenden Schönheit sah sie zart und hektisch aus, eine fieberhafte Röte färbte ihre Wange. Hatte sie vielleicht seinen Brief überhaupt nicht erhalten? Hatte ihr Sekretär es für richtig gefunden, sie vor semitischen Eindringlingen zu schützen? Oder hatte sie, nachdem sie ihn spielen gehört, den Entschluß gefaßt, ihm sein Judentum zu vergeben und es zu vergessen? Auf jeden Fall war es das gescheiteste, die Sache ruhen zu lassen. Jetzt suchte sie mit ihm anzuknüpfen, und es würde jedenfalls ein gesellschaftlicher Mißgriff sein, sie daran zu erinnern, daß sie ihn schon einmal verworfen habe.

»Es ist schon Jahre her, daß in Chicago eine musikalische Kraft allerersten Ranges aufgetreten ist,« drängte sie ihn.

»Ich fürchte, meine Engagements werden es mir kaum gestatten, noch in diesem Herbste nach Amerika zurückzukehren,« antwortete er taktvoll.

»Nehmen Sie Zucker?« war ihre unerwartete Antwort; dann, als sie ihm die Tasse reichte, sagte sie mit listigem Lächeln und ihn freundlich mit ihren schönen Augen anschauend: »Sie können mich nicht mehr abschütteln! Wissen Sie, ich werde Ihnen durch ganz Europa folgen – in alle Ihre Konzerte.«

Als er sie endlich verließ, schien sein ganzes Wesen verändert zu sein, und er hob stolz das Haupt.

Er hatte ihr sein Autogramm und seine permanente Adresse in München hinterlassen, hatte mit ihr den möglichst frühesten Termin für sein Konzert in Chicago festgesetzt und in ihr zierliches Notizbuch geschrieben, das das rothaarige Mädchen ihr brachte. Er hatte die Schlingen niedriger Stammesangehörigkeit, die ihn plötzlich wieder zu umgarnen gesucht, endgültig von sich abgeschüttelt; nie wieder würde er in die dumpfen Betsäle, in das düstere, freudlose Ghetto zurückkehren – er gehörte in die glänzenden Säle der Reichen und Vornehmen, wo die schönen Frauen ihm freundlich zulächelten, und wo seine Kunst sich frei entwickeln konnte. In langen Zügen trank er die köstlich reine Seeluft, als er auf dem von so lieben Mitreisenden erfüllten Verdecke auf und nieder ging – er sah sie alle plötzlich mit ganz anderen Augen an, er fühlte sich ihrer ebenbürtig und warf die trüben Gedanken weit hinter sich. » Risches! wahrhaftig!« –


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