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Anglisierung.

»Englisch, ganz Englisch, das ist mein Traum.«

Cecil Rhodes.

 

I.

Selbst in der Zeit, da er noch in der Provinz, in Sudminster wohnte, hatte Salomon Cohn sich dadurch ausgezeichnet, daß er das Hebräische mit englischer Betonung aussprach, und daß er darauf bestand, der Rabbi müsse Englisch sprechen und wie jeder christliche Geistliche aussehen. Er hatte ferner das »e« aus seinem Familiennamen ausgestoßen. Es gibt viele Wege, dem Briten zu verheimlichen, daß man sich schämt, durch einen Stammbaum von dreitausend Jahren mit Aaron, dem Hohenpriester Israels, verwandt zu sein; sich »Cohn« anstatt »Cohen« zu nennen, ist einer der einfachsten und wirkungsvollsten. Bis ihn einmal ein Strenggläubiger darüber in das Gebet nahm, redete sich Salomon damit heraus, daß es im Hebräischen keine Selbstlaute gäbe. Aber selbst das war keine Entschuldigung dafür, daß er auch den Vornamen Salomon über Bord warf. »S. Cohn« stand auf dem Schilde seines Kleidergeschäftes. Nicht daß er sein Judentum hätte verleugnen wollen – schloß er nicht jeden Samstag das Geschäft? –, er wollte es nur in keiner Weise bemerkbar machen. »Wenn wir in England sind, sind wir in England,« pflegte er mit dem Tonfall des talmudischen Singsangs zu sagen.

S. Cohn galt in der Tat in der Hafenstadt Sudminster für eine ziemlich bedeutende Persönlichkeit. Man las seinen Namen unter Wahlaufrufen, und was mehr bedeutet, er war sogar Stadtrat geworden. Die Bürger mochten ihn gern leiden, weil er so treu an seinem alten Glauben hing, was ja deutlich daraus hervorging, daß er an den Sabbattagen seinen Laden schloß. Selbst die christlichen Tuchhändler waren ihm gewogen; sie berechneten nicht, daß der Verlust, der Cohn dadurch entstand, daß er Samstags nicht verkaufte, mehr wie aufgewogen wurde durch den guten Eindruck, den dies auf das Publikum machte, und daß jeder glaube, einen Mann, der den geschäftlichen Vorteil seinen religiösen Ansichten opfere, vor anderen berücksichtigen zu müssen. Außerdem nahm seine Gestalt allmählich jene behagliche Rundung an, die von einem Steuerzahler gefordert wird.

Ebenso groß wie auf das Ehrenamt des Stadtrates war sein Stolz darauf, Gabbai (das heißt Schatzmeister) der kleinen Synagoge zu sein, die in einer der entlegensten Straßen lag, und in der nun schon seit vier Generationen die Gebete der Gläubigen auf- und niederwogten wie Ebbe und Flut des Meeres. Es waren hauptsächlich die Seeleute, mit denen der einbringliche Handel in Sudminster getrieben wurde. Es war jedoch die Synagoge und nicht das Meer, wo der poetische Sinn dieser fleißigen Kaufleute sich offenbarte: hier trugen sie ihre Gebetschals und schwenkten die Palmzweige und vollführten andere malerische Zeremonien. In ihrer vollständigen Unkenntnis des katholischen Ritus sowie aller anderen Religionen glaubten sie sich in religiöser Beziehung völlig abgeschlossen und durch eine undurchdringliche Barriere von den Heiden und überhaupt der ganzen Menschheit getrennt. Salomon Cohn machte sehr viel aus, wenn er in seinem Sperrsitz unter dem Podium mit dem Lesepult saß, denn es gibt nichts, was die Würde und Wichtigkeit eines Mannes in der Synagoge so erhöht, als das Ansehen, in dem er bei seinen christlichen Mitbürgern steht. Es ist dies eines der ersten Stadien der Anglisierung.

 

II.

Frau Cohn war das bescheidene Abbild ihres Mannes; sie sah alles durch seine Brille und wandelte bescheiden in dem Schatten seiner Größe. Sie hatte ihm pflichtmäßig viele Kinder geboren und hatte, wenn eines davon gestorben war, die vorgeschriebene Zeit auf dem Boden gesessen, um es zu betrauern. Ihre Gestalt besaß nicht die traditionelle Fülle der Jüdin, sondern war schlank und zart. Sie war eine fleißige, unermüdliche Arbeiterin und hatte die mannigfaltigsten Pflichten zu erfüllen, stand sie doch dem Haushalte wie dem Laden vor und hatte dabei eine Menge philanthropischer Arbeit auf sich geladen. Als Frau des Gabbai lag ihr die Sorge der jüdischen, als Gemahlin des Stadtrates die der christlichen Armenpflege ob. Sie war das leibhaftige Echo ihres Mannes und sprach ihm auch sein fehlerhaftes Englisch nach, obwohl er es liebte, sie ab und zu zu korrigieren. Er war fünf Jahre länger in England gewesen wie sie; sie war durch die Vermittlung eines ihrer Freunde aus Polen gekommen, um ihren Mann zu heiraten, der ihrer bescheidenen Mitgift zur Eröffnung eines Geschäftes in der lebhaften Hafenstadt bedurfte.

Er war und blieb ihr daher stets überlegen – sie blieb immer fünf Meilensteine auf dem Wege der Anglisierung hinter ihm zurück. Das war genug, um auch eine weniger demütige Natur, wie die Hannas war, zurückhaltend zu machen. Die Gefahr, unbewußt in die geliebte, aber verpönte jüdische Redeweise zu verfallen, legte ihrer Zunge einen Zaum auf. Ihre großen dunklen Augen hatten einen einem verängsteten Hunde ähnlichen Ausdruck; sie blickten ernst aus einem schmalen, blassen Gesichte, dem man es ansah, daß ihre Gesundheit eine zarte war. Dennoch war sie von großer Ausdauer.

Daß S. Cohn ein ziemlicher Renommist war, kann nicht geleugnet werden. Es ist aber auch schwer, die Ehrenämter eines Gabbai und eines Stadtrates in sich zu vereinen, ohne dabei von sich selbst eine recht hohe und von anderen eine geringere Meinung zu bekommen. Am unduldsamsten war Cohn in seiner religiösen Strenge; er konnte es niemals begreifen, daß die pietistischen Übungen, die ihm Freude machten, seinen Sohn und Erben gerade nicht begeisterten. Als er einmal dahinter kam, daß Simon die »Piraten von Pechili« in seinem Gebetbuch in die Synagoge eingeschmuggelt hatte, um sich während des Gottesdienstes damit zu amüsieren, bekam der Junge eine Tracht Prügel, die so kräftig ausfiel, daß seine Mutter weinte. Simon durfte niemals frühstücken, ehe nicht der Vater eine lange Reihe von Gebeten hergesagt und gelesen hatte. Nachdem der Bube genau ausgerechnet, wie viel Zeit der Vater für das Herplärren dieser leeren orientalischen Formeln gebrauchte, fiel er wieder der Versuchung zum Opfer, sich unterdes mit Pfennigs-Magazinen zu amüsieren. Natürlich entdeckte Cohn auch das eines Tages, und das Konfiszieren und Verbrennen dieser Blätter war für den armen Jungen fast eine größere Strafe wie die Schläge, die es abermals absetzte. Er weinte so bitterlich, daß es verschiedener großer Stücke Kuchen bedurfte, die seine Mutter ihm zusteckte, um seinen Kummer zu stillen, als ihr Mann den Rücken drehte.

 

III.

Er hatte drei Töchter, die alle älter wie sein Sohn und Erbe waren. Mit ihnen gab es weniger religiöse Reibereien, weil die Frauen weder die kirchlichen Vorrechte noch die Pflichten des stärkeren Geschlechts teilen. Als die älteste, Deborah, heiratete, trat er ihrem Manne das Geschäft in Sudminster ab, während S. Cohn selbst in die Metropole übersiedelte; er hoffte dort »S. Cohns Hosenstoffe« allgemein einzuführen. Es gelang ihm auch in der Tat, sich eine gewisse Reputation in der Hollowaystraße zu erwerben.

Er machte sehr gute Geschäfte. Allmählich verdiente er genug, um nicht mehr in dem Laden wohnen zu müssen; er nahm eine hübsche, in der Highburgstraße gelegene Wohnung. Aber es gelang ihm doch nicht, in London eine Rolle zu spielen, wie er dies in Sudminster getan hatte. Die Londoner Gemeinde hatte ältere Einwohner; die Synagoge, zu der er gehörte, viel reichere Mitglieder. Der Wunsch, sich zu anglisieren, war dort ein ganz allgemeiner, als Pionier konnte er hier keineswegs gelten. Der Geistliche war fast zu englisch – besonders seine Frau. Aus der Art ihres Auftretens hätte man beinahe schließen können, daß sie sich für besser als ihre Gemeinde hielten, sich jedenfalls nicht als deren Sklaven betrachteten. S. Cohn war an eine Sorte von Geistlichen gewöhnt, denen er selbst mühsam beibringen mußte, daß es bei einem jüdischen Gottesdienste in England notwendig sei, für »unsere Herrscherin, die Königin Viktoria, den Prinzen und die Prinzessin von Wales und die ganze königliche Familie« zu beten; er hatte als Sachverständiger den Atem angehalten, während sie über den ihnen ungewohnten Passus stolperten, hier wurde der ehemalige Gabbai und Stadtrat beinahe als Provinzler angesehen und patronisiert von diesem gezierten, tadellos höflichen Geistlichen und seiner Frau. Er rächte sich dafür, daß er sich mißbilligend über des Predigers Freidenkertum aussprach. Mit höflicher Gelassenheit wich der Prediger etwaigen Auseinandersetzungen aus. »Wir sind jetzt eben nicht mehr in Polen,« sagte er achselzuckend.

»In Polen!« S. Cohn war empört. Daß man ihn noch als Polen behandeln wollte, nachdem er seit ein paar Dekaden anglisiert war. Er, der eine ganze Schar angelsächsischer Kommis, Ladendiener und Packer beschäftigte! »Woher stammte Ihr Vater?« frug er in scharfem Tone.

Er überlegte, ob er sich nicht einer anderen Synagoge anschließen solle, aber sie waren alle sehr weit von seiner Wohnung entfernt, der Weg dahin nahm ihm zuviel Zeit weg, und das war für ihn eine wichtige Erwägung; außerdem erzählte man ihm von den anderen noch viel Schlimmeres. Man sprach sogar von einer jüngeren Generation, die ganz offen dafür eintrat, daß man in der Synagoge eine Orgel und einen Frauenchor einführen solle; ja, das Gerücht ging, daß es noch eine viel rabiatere Partei gäbe, die davon träumte, daß der Gottesdienst in englischer Sprache abgehalten werden solle, damit man ihn verstände, und daß er nicht in der Hauptsache nur abgesungen werde. In diesen wohlhabenden Teilen Londons lag ein dunkles Murren gegen die alten Rabbis förmlich in der Luft.

»O, über die schmähliche Unwissenheit der neuen Zeit!« klagte S. Cohn, »die es nicht begreift, daß selbst die Anglisierung gewisse Grenzen nicht überschreiten darf.«

 

IV.

Daß Simon in das Geschäft des Vaters eintreten würde, galt als selbstverständlich und für ebenso sicher, als daß dieses Geschäft trotz Simons Eintritt fortfahren würde, sehr gut zu gehen.

Seine Karriere war längst bestimmt, und dem Vater kam gar nicht der Gedanke, daß der Sohn möglicherweise sich entschließen könne, Jura oder Medizin zu studieren. Er hielt Simons Erziehung für durchaus genügend und abgeschlossen; freilich beschränkte sich diese Erziehung nur auf die bescheidenen Kenntnisse, die der Knabe in einer der für Söhne von Kaufleuten bestimmten Schulen der Hafenstadt erworben hatte; außerdem hatte er durch die Lektüre aller nur erreichbaren Pennyromane und Räubergeschichten einen eigentümlichen Begriff davon bekommen, wie es in der Welt zugeht. Sorgsam verborgen und in einem geheimen Fache seines Hirnes versteckt lagen seine elementaren Kenntnisse des hebräischen Glaubens. Er, der vollkommene Engländer, dachte so wenig wie möglich daran. Ach, wie er sich freute, als man aus der kleinen Hafenstadt nach London übersiedelte! Wie sich sein Gesichtskreis erweiterte in dieser herrlichen Metropole, in der es so viele Musikhallen, Billardsäle und Restaurants gab! »Wir haben uns jetzt vollständig emanzipiert,« pflegte er zu sagen, »wir sind wirklich zu gescheit, um uns immer und immer noch an diese alten Gesetze zu halten.« Er genoß die verbotene Frucht mit vollstem Behagen und ohne daß sein Gewissen dadurch beunruhigt wurde.

Wenn dann der ehrbare Sohn des Alten Testaments neben seinem Vater in der Synagoge saß, dann war der lebenslustige junge Engländer genau so in dem Gebetschal verborgen wie einst »die Piraten von Pechili« in seinem Gebetbuche.

Frau S. Cohn unterstützte jedoch keineswegs das etwas ausschweifende Leben ihres Sohnes oder doch nur insofern, als sie ihm heimlich ihr eigenes Taschengeld zusteckte, wie sie ihm in seiner Kindheit Kuchen zugesteckt hatte. Sie würde das Entsetzen ihres Mannes geteilt haben, wenn sie dahinter gekommen wäre, wo überall Simon sich herumtrieb; ich glaube, vor Schrecken hätte der Schlag sie rühren können. Denn ihr Horizont hatte sich durch den Umzug nach London nicht erweitert; er war vielmehr nur enger geworden. Während sie früher einer Stadt angehörte, zählte man sie jetzt nur noch zu einer Gemeinde oder vielmehr zu einem Ghetto in einer Gemeinde. Der weite Hintergrund Londons erschien ihr nur wie eine große Fata Morgana – die Vorstadt Londons, in der sie lebte, viel weiter von der Metropole entfernt wie die Provinzstadt, in der sie bisher gewohnt hatte. Sie hörte nichts mehr von den städtischen Angelegenheiten; ihr blieben nur die Familienangelegenheiten, selbst zu den Damen der Wohltätigkeitskomitees hatte man sie nicht aufgefordert. Auch das Leben ihres Mannes wurde bedeutungsloser, obwohl sein Geschäft sich täglich vergrößerte. Aber er nahm keinerlei Ehrenämter mehr ein, und das verletzte seine Eitelkeit; er wurde infolgedessen täglich reizbarer. Er gab sich gar zu gern ein recht wichtiges Ansehen, und dazu war jetzt nicht der kleinste Grund mehr; er hatte seinen offiziellen Nimbus eingebüßt, war zu einem Orakel ohne Heiligenschrein, einem dickbäuchigen Herrn ohne weitere Bedeutung herabgesunken.

Selbst seine beiden neuen Schwiegersöhne, die sich infolge seiner äußeren guten Verhältnisse sehr bald in London fanden, hatten wenig Geduld mit ihm, als sie erst glücklich unter dem Vermählungsbaldachin gestanden hatten und im eigenen, hübsch mit Plüschmöbeln ausgestatteten Heim waren. Er hatte nur noch in seinem eigenen Hause und in dem Laden etwas zu sagen; da herrschte er denn freilich mit autokratischer Herrlichkeit, die sich um so drastischer entwickelte, je mehr er im Außenleben gedrückt wurde. Er las »das weitest verbreitete Blatt«, und seine Frau war stets das getreue Echo dessen, was er meinte und sagte. Seine politischen Anschauungen, die nie verschwommen gewesen, wurden besonders klar, als der Burenkrieg zum Ausbruch kam.

»Diese unverschämten Schufte,« schrie S. Cohn wütend, »sie sind in unser Territorium eingebrochen.«

»Ist es möglich,« erwiderte Frau Cohn; »das kommt davon, daß wir so gut gegen sie gewesen sind nach ihrem Siege bei Majuba.«

 

V.

Eine düstere Wolke lagerte über dem Geschicke Großbritanniens. Drei Niederlagen in einer Woche! – –

»Es ist demütigend,« sagte S. Cohn, die Faust ballend.

»Das wird ein trauriges Weihnachtsfest werden,« meinte Frau Cohn melancholisch. Obgleich ihr Mann immer noch gegen den Weihnachtspudding rebellierte, der seinen Einzug in so viele englisch-jüdische Familien gehalten hatte, so machte sich doch dieses Fest besonders auch durch die glänzend beleuchteten und geschmückten Ladenfenster viel bemerkbarer, als wie die jüdischen Feste, von denen man in dem Straßenleben absolut nichts merkte.

Die Wolken des Unheils zogen sich dichter zusammen. Die jungen Leute fingen an, sich zu freiwilligem Dienste einschreiben zu lassen: die City bildete ein neues Regiment, das der Reichs-Freiwilligen ( Imperial Volunteers). S. Cohn gab den auswärtigen Häusern große Aufträge für Khaki-Uniformen. Er schickte mehrere große Kleidersendungen an das Kriegsamt und las die Anerkennung dieser Großmut, wie ihm das zukam, in der von ihm bevorzugten christlichen Zeitung, aus der sie in sein wöchentlich erscheinendes jüdisches Blatt überging, das womöglich noch chauvinistischere Ansichten vertrat und in dem eine ganze Seite nur von dem Porträt Sir Aschers von Aaronsberg, Mitgliedes des Parlaments für Middleton, ausgefüllt wurde. Dieser Patriot hatte ein ganzes Korps auf seine eigene Rechnung ausgerüstet. Allmählich bemerkte S. Cohn, daß das militärische Fieber, von dem er in seinen beiden Leiborganen las, bis in die Organe seiner Bekleidungsanstalt drang – daß sogar seine Ladendiener von nichts anderem sprachen und sich für die Idee begeisterten, an dem Burenkriege teilzunehmen. Die militärischen Ideen mußten wohl in den Khakistoffen und Kleidern gesteckt haben, mit denen sie zu tun hatten. Jedenfalls war S. Cohn auf der Höhe der Situation, er begriff gleich, worum es sich handelte und teilte seinen Angestellten mit, daß er jedem, der mit hinauszöge, um für das Vaterland zu kämpfen, eine Gratifikation gewähre, und daß er, wenn er zurückkehre, ohne weiteres in seine frühere Stellung eintreten könne. Schon am Freitag wurde dieses patriotische Anerbieten in den Zeitungen erwähnt. »Unser Vertreter hat sich persönlich an den großen Tuchlieferanten S. Cohn in der Hollowaystraße gewandt und von ihm erfahren, daß nicht weniger als fünf seiner jungen Leute Nutzen aus der Begeisterung ihres Chefs für England und das Reich gezogen haben,« hieß es. Der ohnehin vor Hochmut sich ordentlich blähende Salomon hatte daraufhin in der Synagoge die Ehre, die Gesetzesrolle vorlesen zu dürfen, wie dies ja auch einem Abkömmling Aarons zukam. Er fühlte sich mächtig und hatte beinahe seinen ganzen in der Provinz zur Schau getragenen Stolz zurückerlangt, als er den alten Segen las. »Gesegnet seist du o Herr, unser Gott, der du uns erwählet hast vor allen Völkern, und der du uns dein Gesetz gegeben hast.«

Indessen fiel ein Wermutstropfen in die Schale dieses Glückes.

»Warum war Simon nicht in der Synagoge?« frug er seine Frau, als diese die zur Galerie führende Treppe hinabstieg und in der Vorhalle, wo die Mitglieder der Gemeinde miteinander zu plaudern pflegten, mit ihrem Herrn und Gebieter zusammentraf.

»Wie sollte ich das wissen,« murmelte Frau Cohn, tief unter ihrem Schleier errötend.

»Als ich aus dem Hause ging, sagte er doch, daß er kommen würde.«

»Er wußte wohl nicht, daß du aufgerufen würdest.«

»Es ist nicht das, Hanna,« brummte er. »Denke nur an die schöne Predigt über den Krieg, die er nun nicht gehört hat! In diesen dunklen Tagen sollten wir an unser Vaterland denken und nicht an unser Vergnügen.« Er nahm ihren Arm und führte sie hinaus, wo die auf der Straße herumstehenden, mit ihren Sabbatkleidern geschmückten Gläubigen sich in Lobreden über die patriotische Predigt ergingen und die weiße winterliche Straße mit orientalischer Farbenpracht belebten.

 

VI.

Beim Frühstück erschien der verlorene Sohn; er sah ziemlich niedergeschlagen aus.

»Wo bist du gewesen,« donnerte S. Cohn ihn an, der Simon immer noch wie ein Kind ansah und als solches behandelte.

»Ich bin spazieren gegangen, der Morgen war sehr schön.«

»Wohin bist du gegangen?«

»Ach was, quäle mich doch nicht.«

»Doch, das will ich wohl tun. Wo bist du gewesen?«

Er wurde verdrießlich. »Es macht nichts, sie wollen mich nicht haben.«

»Wer will dich nicht haben?«

»Das Kriegsministerium.«

»Gott sei Dank,« warf Frau Cohn dazwischen.

»Was?« Herr Cohn blickte verständnislos von der Einen zum Andern.

»Es ist nichts – er ist nur hingegangen, um zu sehen, wer sich einschreiben ließ. Deine Suppe wird kalt – –«

Aber S. Cohn nahm seine goldene Brille ab und polierte sie eifrig mit der Serviette, was stets das Zeichen eines herannahenden Sturmes war.

»Es scheint, daß etwas hinter meinem Rücken vorgeht,« sagte er mißtrauisch, von Mutter zu Sohn blickend.

»Nun,« murmelte Hanna, »ich wollte dich nicht mit Simons verrückten Ideen belästigen. Es ist ja außerdem jetzt, Gott sei Dank, alles vorüber.«

»O, warum sollte er nicht alles wissen,« sagte Simon verdrießlich, »besonders da es mir gar nicht einfällt, mich so rasch abschrecken zu lassen. Was der Arzt da gesagt hat, ist Unsinn. Ich bin stark wie ein Pferd. Und was fast mehr bedeutet, ich gehöre zu den wenigen, die sich freiwillig gemeldet, die auch mit einem Pferde umzugehen und es zu reiten verstehen.«

»Hanna, wirst du mir jetzt erklären, was das für eine Meschugas (Verrücktheit) ist,« rief S. Cohn, seine Anglisierung vergessend und ins Jüdische verfallend.

»Nun, ich habe mich, wie so viele andere junge Leute, gemeldet, um mit in den Krieg zu ziehen.«

»Was,« kreischte S. Cohn, »du hast dich anwerben lassen! Du, den ich wie einen Herrensohn auferzogen habe!«

»Es sind genug Herrensöhne, die das getan – es sind die Reichs-Freiwilligen der City …«

»Die Freiwilligen! Was, meine Ladendiener sind dabei!«

»Nein, es sind viele Herren dabei. Lies doch nur deine Zeitungen.«

»Aber keine reichen Juden.«

»Oh doch, ich las die Namen mehrerer junger Leute aus Bayswater.«

»Wir Juden,« sagte Hanna, »die wir in diesem bevorzugten Lande leben, sind dem edlen Volke dankbar, das uns an allen seinen Rechten und Freiheiten teilnehmen läßt – wir wissen …«

Diese halb unbewußt zitierten Worte aus der Predigt von heute morgen beunruhigten S. Cohn etwas. »Ja,« unterbrach er sie, »wir müssen uns zu Beiträgen verpflichten und zu all solchen und ähnlichen Dingen.«

»Wir müssen kämpfen,« sagte Simon.

»Du, kämpfen?« Sein Vater lachte beinahe hysterisch. »Na, weißt du, du würdest dich mit deiner eigenen Flinte tot schießen.« Seit dem Tage, wo der Geistliche seine Gelehrsamkeit mißachtet hatte, war er nicht so aufgeregt gewesen wie heute.

»O, meinst du das wirklich?« Simon lächelte verächtlich und nickte bedeutungsvoll.

»So gewiß, wie wir heute den heiligen Sabbath feiern: Du würdest wie ein eigensinniges Schwein auf dein eigenes Bajonett aufgespießt werden.«

Simon antwortete nicht mehr, er stand auf, verließ den Tisch und das Zimmer.

»Sagte ich nicht, wie ein eigensinniges Schwein? Ja, so ist er immer gewesen, von Kind an!«

Mit tief gekränkter Miene nahm er die Mahlzeit wieder auf, aber er ließ die Brille auf dem Tische liegen und fuhr fort, die Gläser nervös zu putzen.

Da öffnete sich plötzlich die Tür wieder, und auf der Schwelle, das Gewehr über der Schulter, erschien ein Soldat. Für einen Augenblick starrte S. Cohn ihn an, ohne ihn zu erkennen. Ein wildes, entsetztes Gefühl durchrieselte ihn. Wie eines Nachtgespenstes erinnerte er sich der russischen Verfolgung, der sogenannten Chappers, der jüdischen Anwerber, die den Tribut der jungen Juden für den Zar sammelten. Es flimmerte rot vor seinen Augen, aber durch diesen Schein erkannte er Simon. »Du trägst eine Flinte am heiligen Sabbath,« rief er. Es war, als ob plötzlich eine Kugel durch seine ganze bisherige Lebensauffassung und durch Simon gedrungen wäre.

Hanna suchte abzulenken. »Ich habe in Josephus gelesen – du weißt, in dem Buche, das Simon als Preis für das Hebräische erhielt –, daß die Juden an einem Sabbath gegen die Römer gefochten haben.«

»Ja, aber sie fochten für sich selbst – für unsern heiligen Tempel.«

»Aber wir kämpfen doch auch für uns selbst,« sagte Simon. »Hast du nicht immer gesagt, daß wir Engländer wären?«

S. Cohn öffnete den Mund, um eine ärgerliche Antwort zu geben, aber er entdeckte, daß er nur Ärger empfand und keine passende Antwort finden konnte. Das machte ihn noch wütender, sein Mund blieb offen stehen, so daß die arme Frau Cohn ordentlich darüber erschrak.

»Wozu nützt es, mit ihm zu rechten,« sagte sie bittend. »Du hörst ja, daß das Kriegsministerium vernünftig genug war, ihn nicht anzunehmen.«

»Das werden wir sehen,« sagte Simon, »wenn man mich nicht bei der berittenen Infanterie zuläßt, gut, so dürft ihr mich einen Holländer und sogar einen Buren schimpfen.«

Dem Auge des entsetzten Vaters schien er alles zu sein, nur kein Jude. »Hanna,« stotterte S. Cohn endlich, »du mußt doch von diesen – diesen Kleidern gewußt haben?«

»Sie kosten nichts,« murmelte sie. »Das Kind amüsiert sich damit. Er wird im Ernste nicht angenommen werden.«

»Wenn man ihn annehmen sollte, werde ich ihm jeden Zuschuß verweigern.«

»O,« sagte Simon hochmütig, »dafür wird die Regierung schon sorgen.«

»Wirklich?« S. Cohns Gesicht wurde immer finsterer. »Aber vergiß das eine nicht – gehen kannst du –, aber du darfst mir dann nie mehr unter die Augen kommen.«

»O Salomon! Wie kannst du so etwas Entsetzliches sagen?«

Simon lachte. »Quäle dich darum nicht, Mutter. Er ist verpflichtet, mich wieder aufzunehmen. Steht es nicht in allen Zeitungen, daß er es versprochen hat?«

S. Cohn wurde grün vor Ärger.

 

VII.

Simon bekam seinen Willen. Die betreffende Behörde zog die zuerst gefällte Entscheidung zurück. Aber der Vater blieb hartnäckig. Er kannte seinen Sohn absolut nicht, und bei dem ersten wirklich schönen Entschlusse, den dieser gefaßt, wandte S. Cohn sich von Simon ab. Es gehört wahrhaftig ein weiser Vater dazu, um seinen eigenen Sohn zu kennen.

Er hatte anfangs, nur um es seinen christlichen Kameraden gleichzutun, später, weil es ihn wirklich amüsierte, schon längere Zeit an freiwilligen militärischen Übungen teilgenommen. Als er aber einmal dabei war, gefiel ihm die Sache sehr, er wurde von einer großen Neigung für das Militär erfaßt. Als der Ruf nach ernsten Kämpfern erscholl, wurde er selbst von der Leidenschaft überrascht, die sich plötzlich in seiner Brust regte, der in ihm schlummernde Idealismus, der durch falschverstandenes Judentum mehr genährt wie unterdrückt worden, erwachte plötzlich in ihm. Die Anglisierung hatte ihr Werk getan. Von den Tagen seiner Schulzeit an hatte er sich nicht mehr als ein Abkömmling Judas Makkabäus', sondern vielmehr als ein solcher Nelsons und Wellingtons gefühlt; nun, da seine Brüder durch den sich hinter seine Kopjens verschanzenden Feind niedergemetzelt wurden, war seine ganze Seele erfüllt von dem Gedanken, für die Ehre seines Vaterlandes einzuspringen. War es ursprünglich auch wirklich nur die Hingabe an die große Sache seines Landes gewesen, so kam doch noch manches dazu, was ihn in seinem Entschlusse befestigte; er hatte stets eine Neigung für das Abenteuerliche und Romantische gehabt, und die Erinnerung an die einst in seinem Gebetbuch verborgenen »Piraten von Pechili« sowie an so viele andre Schmöker, die er gelesen, erweckte glänzende Visionen von militärischen Heldentaten, von Ruhm und Ehre in der Phantasie Simons.

In seiner Khakiuniform, mit dem großen Schlapphut, dem Bajonett und seinem Bandelier sah er wie ein richtiger, echter Angelsachse aus.

Am Abend, ehe er nach Südafrika abfuhr, war ein Gottesdienst in der St. Paulskirche, zu dem jedem Freiwilligen zwei Billetts zugeschickt wurden. Simon sandte sie seinem Vater. »Der Lord-Mayor wird in voller Amtstracht mit dabei sein. Ich denke, daß es dir Freude machen wird, mit dabei zu sein,« meinte er.

»Er will nächstens Christ werden«, sagte S. Cohn und zerriß die Karten.

Frau Cohn aber hob sie auf und klebte sie sorgfältig wieder zusammen. Es war die letzte Chance, ihren Jungen noch einmal zu sehen.

 

VIII.

Unglücklicherweise fiel der Gottesdienst in der Kathedrale auf einen Freitag Abend, an dem S. Cohn, nachdem er das Magazin geschlossen, gewohnt war, sich dem Frieden des Sabbaths hinzugeben. Er pflegte dann nach dem Abendessen, dessen Hauptbestandteil aus gebackenem Fisch bestand, behaglich hinter seiner wöchentlich erscheinenden »Jüdischen Zeitung« zu sitzen und dabei ein wenig einzuschlummern. Er billigte im Prinzip immer noch die kriegerische Richtung seiner Lieblingsblätter. Es war im Jänner, wo der Sabbath schon ziemlich früh beginnt; er schnarchte schon vor sieben Uhr, als Frau Cohn auf die Gefahr hin, seinen Zorn auf sich zu laden, vorsichtig aus dem Hause schlüpfte. Ihre Religion zwang sie, den langen Weg zu Fuß zu machen, aber sie beeilte sich so sehr, daß sie vor der St. Paulskirche ankam, ehe die Türen geöffnet waren, während des ganzen langen Weges mußte sie immer daran denken, wie schade es sei, daß das eine der Billetts nicht benutzt wurde. Sie hätte beinahe bei einer ihrer Freundinnen vorgesprochen, um sie mit zu dem aufregenden Schauspiele zu nehmen; aber die Furcht, diese möge darin ein religiöses Vergehen sehen, hielt sie davor zurück. Sie war mit keiner Christin so bekannt, um sie auffordern zu können, mit ihr zu kommen, würde nicht außerdem jeder sie gefragt haben, warum sie denn ohne ihren Mann ginge?

Sie frug nach der Tür, die auf ihrem Billett genannt war, und fand sich bald unter einer ganzen Menge von Eltern, die wie sie selbst das Öffnen der Kirchenpforte erwarteten. Es waren alles sehr nette Leute, wie sie mit Vergnügen bemerkte. Ihr Junge würde in guter Gesellschaft sein. Sie horchte auf die um sie geführte Unterhaltung, die sich aber um ihr vollständig fremde Dinge drehte; sie empfand, daß sie trotz ihres langjährigen Aufenthaltes in England im Grunde doch nur wenig anglisiert sei. Als sie dann endlich mit den andern, in die Kathedrale eingelassen wurde, klopfte ihr Herz mächtig beim Anblick dieser ungeahnten Herrlichkeit. Daß sie nun schon so lange in London lebte und niemals hierher gekommen war! Der feierliche Anblick des Kirchenschiffes mit seinen vielen Säulen und Bogen, die weiß gekleideten Chorknaben, die sie an Engel erinnerten, das alles überragende, von einem feurigen Streifen umspannte gewaltige Gewölbe des Doms, das sich bis in den Himmel zu verlieren schien, alles dies machte einen feierlich erhebenden Eindruck auf Frau S. Cohn.

Plötzlich machte sie die Entdeckung, daß sie unter Männern sitze. Aber das schien hier ganz ohne Bedeutung zu sein. Die ganze Versammlung saß in stiller Erwartung da, während um den Dom eine erregte Volksmenge hin und her wogte, und jedesmal, wenn die Tür geöffnet wurde, um irgendeinen Würdenträger hereinzulassen, hörte man, wie er draußen mit Hochrufen begrüßt wurde. Der Lord-Mayor und die Ratsherren kamen durch das Seitenschiff der Kirche, die Zepterträger schritten ihnen voran; all diese Pracht erinnerte sie schmerzlich an jene vergangenen Lage, wo sie als Frau eines Stadtrates wenigstens den Saum dieses ihr unbekannten englischen Lebens hatte berühren dürfen. Jetzt ertönte von draußen das Kreischen des Dudelsackes – jene exotischen, halbbarbarischen Töne, die heute zum erstenmal Bedeutung für sie hatten. Ein paar Augenblicke später erhob sich wie mit Sturmesbrausen ein wildes Hochrufen um den Dom. Der taktmäßige Schritt der hereinkommenden Soldaten machte den Boden erzittern; die ganze Versammlung sprang auf, kletterte auf die Stühle und drängte sich, um die durch den linken Seitengang hereinmarschierenden, mit Khakiuniformen bekleideten Truppen zu sehen. Wie sie nach Simon ausschaute!

Die Freiwilligen zogen herein; die meisten von ihnen waren bartlose Jünglinge, wenige nur sahen gereifter aus. Die Mehrzahl dieser jungen Leute hatte das ehrliche nichtssagende Gesicht, das den Kommis und Ladendienern eigentümlich ist; einige zeigten die kräftige Muskulatur der Preiskämpfer; das Gesicht aller aber hatte einen gesammelten und ernsten Ausdruck. Ach, endlich, dort, dort war ihr Simon – und er sah männlicher und hübscher aus als all die andern! Aber er sah sie nicht: er marschierte stramm voran, er war schon ganz in dem neuen Leben aufgegangen. Ihr Herz wurde schwer; aber als die ersten Orgeltöne erklangen, faßte sie wieder Mut. Am andern Tage wurde die einfache Musik und die Monotonie der Antworten in den Zeitungen scharf kritisiert, aber ihr erschien alles wunderbar schön. Nur die Anfangszeilen der zuerst gesungenen Hymne, die sie in dem Programm des Gottesdienstes, das überall verteilt wurde, las, verstimmten sie etwas; sie lauteten:

»Kämpfe den Kampf des Glaubens, verzage du nicht,
Christus ist's, der dich stärkt, und der den Sieg dir verspricht.«

Der Wortlaut der Liturgie überraschte sie, so ähnlich war er dem der jüdischen. Der 91. Psalm! was betete man in christlichen Kirchen die Gebete der Juden?

»Denn er hat seine Engel befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen.« O, wie heiß sie das für ihren Simon erflehte!

Während dann die Stimme des Geistlichen in fast unverständlichem, ein leises Echo erweckendem Singsang durch den hohen gewölbten Raum ertönte, studierte sie die Hymnen und Gesänge, die fast alle dem Alten Testament entnommen waren und ihren Kulminationspunkt in dem Abschiedssegen fanden.

»Der Herr segne und behüte dich, der Herr lasse sein Antlitz leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Antlitz über dich und schenke dir seinen Frieden.«

Wie oft hatte sie diese Worte in hebräisch von den Priestern gehört, wenn sie die andern Stämme segneten. Ihr Mann hatte sie mit erhobenen Händen und seltsam gekrümmten Fingern gesungen. Aber sie hatte niemals die Schönheit dieses Segens verstanden, sie hatte sogar die Worte kaum eher begriffen, als bis sie sie in Englisch aus dem vergoldeten Gebetbuche gelesen, das ein Zeichen des aufblühenden Wohlstandes war. Ob es nicht im Grunde ein kolossaler Irrtum war, wenn man behauptete, daß das Christentum und der jüdische Glaube mit gezücktem Messer einander gegenüber stünden? Obwohl sie anfangs nicht niederzuknien beabsichtigte, sank sie doch unwillkürlich nieder und gab sich dem großen Leben hin, das sie umflutete.

Als die Freiwilligen nach dem Gottesdienste aus der Kirche marschierten, um draußen wieder mit Hochrufen begrüßt zu werden, kletterte sie über Stühle und Bänke weg, um sich so nahe als möglich an die Soldaten heranzudrängen. O des Glücks! Diesmal bemerkte Simon sie. Er streckte seinen kriegerischen Arm nach ihr aus und warf ihr einen Kuß zu. O der köstlichen kummer- und doch freudvollen Tränen! Das war ihr Abschied.

Sie wußte kaum, wie sie aus der Kirche gekommen; auch jetzt, da sie sich auf der Straße unter einer lärmenden und hurraschreienden Menge befand, erschien ihr der altehrwürdige steinerne Dom, die vielen Gestalten, die jeden erhöhten Standpunkt benützten, um einen letzten Blick auf die abziehenden Truppen zu werfen, unwillkürlich wie ein Traumgebilde zu sein. Sie sehnte sich aus der armen Vergangenheit weg und einer schönen glorreichen Zukunft entgegen. Sie lief mit dem Volke. O, wie sie jubelten und Hurra riefen! Das galt ihrem Sohne, ihrem Jungen! Ihr war, als trügen die christlichen Bürger ihn im Triumphe auf ihren Schultern. Ja, er war ein Held! Sie aber war die Mutter dieses Helden.

 

IX.

Der erste Brief, den sie von ihm erhielt, war von St. Vincent aus geschrieben. Er schrieb an sie allein und machte ein paar humoristische Bemerkungen darüber, daß der Vater wohl ganz zufrieden sein würde, wenn er hörte, was er bisher auf seiner Reise ausgestanden habe. Nicht nur, daß die Überfahrt eine sehr stürmische gewesen und er stark seekrank geworden, sondern er hatte auch ganz furchtbar an den Folgen der Impfung als Vorsicht gegen Darmfieber zu leiden und hatte, selbst als die Seekrankheit überwunden, in seinem Bette bleiben müssen und hatte dabei einen Durst gehabt, wie sonst nur beim Versöhnungsfeste.

»Ach,« brummte S. Cohn, »jetzt wird er wohl einsehen, was für ein Narr er gewesen; du sollst sehen, daß er mit dem nächsten Schiffe zurückkommt.«

»Würde das nicht Fahnenflucht bedeuten?«

»Nun, er hat sich doch auch nichts daraus gemacht, sich aus dem Geschäfte zu entfernen.«

Jeder neue von Simon ankommende Brief erhöhte Herrn Cohns Erstaunen. Der Junge schlief im Graben, manchmal sogar ohne Decken; anstatt aber über solche Entbehrungen zu klagen, war sein einziger Kummer immer nur, daß das Regiment noch nicht vor die Front gekommen. Hitze und Kälte, Orkane und Staubstürme, nichts schien ihm zu schaden. Er schrieb, daß er gesünder und stärker sei als je zuvor und spottete über die medizinischen Klugtuer, die es versucht hatten, ihn zurückzuweisen.

»Wenn nur sein Regiment nicht in die Front kommt,« seufzte Hanna, »so will ich zufrieden sein.« Sie verfolgte die Geschichte des Krieges mit schmerzlichem Interesse, sprach von Basuto-Ponys, von Mausergewehren und vom Brückenschlagen. Sie hatte sich eine Kriegskarte verschafft, auf der sie die Stellungen der Kämpfenden mit farbigen Stecknadeln bezeichnete.

Simon entwickelte sich unter dem Drucke eines so ganz andern neuen Lebens als ein literarisches Talent; was seine Mutter nicht in den Zeitungen las, das erfuhr sie aus seinen fröhlichen Briefen, ganz besonders als sein Regiment endlich vor die Front kam und – vor der Front blieb. Er erzählte ihr von schonungsvoll erschossenen Pferden und unbarmherzig vergifteten Schafen, von Ochsen, die vor Überanstrengung tot vor den Gepäckwagen niedergefallen waren; er sprach von allerlei dunklen und unenträtselten Zufällen; davon, daß britische Soldaten durch die eigenen Geschütze getötet wurden, während sie, hinter Thermitenhügeln versteckt, den Feind beobachteten; von britischen Offizieren, die während des Polospiels listig gefangen wurden, vom Hospital und dem Lager. Er erzählte, daß ihre Hemden schwarz geworden seien und die Uniform in Lumpen zerfalle; er sprach von all dem Elend, dem Schmutz, den ungesunden, traurigen Zuständen, die der Krieg mit sich brachte. Zeitweise hatten sie kaum die Hälfte der ihnen zustehenden Ration erhalten! Aber dies las sie ihrem Manne nicht vor, denn sie fürchtete sich, ihn daran zu erinnern, daß ihr Sohn gezwungen sei, unkoschere Kost zu genießen. Einmal war das hungrige Bataillon so glücklich gewesen, zwei fette Schweine einzufangen. Aber es kam ein Tag, an dem S. Cohn nicht mehr darauf wartete, daß seine Frau ihm die Briefe Simons vorlas, er bemächtigte sich ihrer und las sie zuerst. Er fing an, davon zu sprechen, daß sein Sohn den Krieg mitmache, ja, es kam der Tag, wo er in der Vorhalle der Synagoge den sich um ihn drängenden Glaubensgenossen diese Briefe vorlas. Sie schienen keinen Anstoß daran zu nehmen, daß Simon unkoscheres Fleisch aß, das er in seinem Speisekessel gekocht hatte.

Es war beinahe so, als wäre er wieder Gabbai geworden!

Simons Ansicht über die Buren war so streng orthodox, daß sie seinem stolzen Vater beinahe eine religiöse Befriedigung gewährte. »Der Bur ist ein heuchlerischer, Psalmen singender Kerl, der den Teufel im Leibe hat. Seine Kultur steht auf niedrigster Stufe, und seine Gewohnheiten und Gebräuche sind einfach schmutzig. Seit der großen Auswanderung nach Afrika hat er durch das lange Zusammenleben mit den Kaffern sehr viel von dem Charakter dieser Eingeborenen des Landes angenommen. Er ist mit einem Worte ein geborener Lügner, leichtgläubig und barbarisch, kraß unwissend, hartnäckig und eigensinnig.«

»Kraß unwissend, hartnäckig und eigensinnig,« wiederholte S. Cohn, eine Weile innehaltend. »Habe ich das nicht immer gesagt? Der Junge erfährt das, was ich längst wußte, ohne darum nach Afrika zu gehen. Aber hört weiter: ›Kann man sich darüber wundern, daß der Bure, der in der endlos weiten Fläche sich mit Frau und Kindern hinter seine Kopjens versteckt, alle Fühlung mit der Außenwelt verliert, mit der er nur durch fahrende Händler in oberflächlicher Berührung bleibt?‹«

Als Herr S. Cohn abermals eine längere dramatische Pause machte, wurde es seiner Frau plötzlich klar, daß er da eine Beschreibung von sich, von ihr, von ihrer ganzen Rasse las, die sich in der großen Welt versteckt hält in der Hoffnung zukünftigen Ruhmes und großer Ehren, die niemals kamen.

Die wichtigtuende Stimme ihres Mannes erweckte sie aus ihrem Nachdenken.

»Der Bur bittet seinen Fetisch um Hilfe und ist noch immer nicht davon überzeugt, daß sein Gott der Schlachten schläft.« Der Leser kicherte, und ein breites Lächeln überflog die Gesichter seiner Zuhörer. »Sie sind tapfer – o ja, aber es ist nicht das, was wir darunter verstehen – sie sind gute Soldaten, weil holländisches Blut in ihren Adern fließt, und weil sie uns tief verachten. Ihr ganzes Leben ist auf ihrem eigenen Territorium verflossen, wo jeder Zoll des Landes ihnen genau bekannt ist. Sie kämpfen immer nur aus dem Hinterhalte, wagen sich nicht hinter ihren Kopjens hervor, sind aber Meister darin, uns in Fallen zu locken, und verstehen es glänzend, sich selbst zu decken. Die tapfere Art des Angriffes unserer braven Tommies »Tommy« ist der Scherzausdruck für Soldat, der in England allgemein üblich ist. ist ihnen vollständig unbekannt, ihre Natur hält die Kühnheit, mit der wir so ruhig und kaltblütig, als gelte es einem Spiele, in den Kampf ziehen, für Wahnsinn. Hat es jemals zwei Rassen gegeben, die einander so unähnlich waren? Ich begreife nicht, wie es möglich sein sollte, daß sie nach beendetem Kriege je friedlich miteinander leben könnten,« philosophierte der junge Held in seinem Zelte.

»Das ist leicht genug.« S. Cohn hatte seiner Frau die Antwort auf diese Frage in einem orakelähnlichen Tone gegeben – als ob sie nicht dieselbe Morgenzeitung läse wie er selbst! »Sie müssen sich untereinander verheiraten. In erster, höchstens zweiter Generation werden wir eine feine anglo-afrikanische Rasse haben. Das ist die einzige Lösung. Merke auf meine Worte, du könntest es dem Jungen auch mitteilen – – nur sag ihm nicht, daß ich wünschte, daß du ihm schriebest.«

»Vater sagt, ich solle Dir mitteilen, daß die einzige Lösung darin bestehe, daß Engländer und Buren sich verheiraten,« schrieb Frau Cohn gehorsam. »Er fängt jetzt wirklich an, ganz anders und viel sanfter wie früher an Dich zu denken.«

»Sage dem Vater, daß das Unsinn sei,« schrieb Simon zurück. »Die allerunangenehmsten Menschen, mit denen wir zu tun haben, stammen von einer Burenmutter und einem englischen Vater ab, die sich infolge des ersten Krieges hier in Transvaal niedergelassen haben.«

S. Cohn nahm diese Botschaft höchst ungnädig auf. »Das war, weil es damals zwei Regierungen gab – er vergißt, daß es nach Beendigung dieses Krieges nur ein vereinigtes Reich geben wird.«

Er ließ sich nicht eher beruhigen, als bis die Nachricht kam, daß Simon befördert worden sei, und daß er ein aufregendes Abenteuer bestanden habe. S. Cohn war so stolz darauf, daß er sich von seinen Zuhörern in der Vorhalle der Synagoge bereden ließ, den Brief in der Zeitung der Gemeinde zu veröffentlichen. Diese Zeitung bat dann um eine Photographie des jungen Helden, um sein Bild zu der interessanten Epistel zu bringen. Da fühlte S. Cohn sich so stolz und glücklich, als ob er nicht nur Gabbai, sondern auch wieder Stadtrat gewesen wäre.

Dieser wunderbare Brief, dessen gedruckte Kopien S. Cohn, als ob es einen Schmaus gäbe, an sämtliche Angestellte seines Geschäftes verteilte, lautete folgendermaßen:

»Wir machen täglich Streifzüge – ich spreche von meiner Schwadron –, jeder Offizier versucht sein Heil; er zieht mit zwanzig bis fünfzig Mann aus und streift mit ihnen ein paar Meilen weit in der Umgegend um die dort zerstreut liegenden Farmen herum. Wir kehren selten zurück, ohne Buren gesehen zu haben, sie sind stets auf der Lauer und bereit, uns Fallen zu stellen, wenn wir uns zu weit hinaus wagen sollten. An einem der letzten Tage wurden die unser Vieh bewachenden Leute von den Buren angegriffen; es waren ihrer 150 gegen 25 von uns, und wir sind natürlich unterlegen; es war ein böses Stück Land. Einer von ihnen, ein junger Bursche namens Winstay – ein Kamerad von mir – ist nur eben dem Tode entronnen; er hatte einen Schuß in die Brust bekommen und fiel nieder. Es ist mir dann gelungen, ihn in Sicherheit und in unser Lager zurückzubringen – der Himmel weiß, woher ich die Kraft dazu nahm! Sie haben mich darauf zum Korporal ernannt, und mein Kamerad behauptet, daß ich sein Leben gerettet hätte; das ist aber wirklich nicht der Fall; er verdankt seine Rettung nur dem Umstande, daß er einen dicken Brief in der Brusttasche trug, – notabene, dieser Brief war von seiner Schwester, nicht mal von seiner Liebsten! Wir neckten ihn, daß er eine so romantische Chance verfehlt habe. Er ist mit einer Fleischwunde davongekommen, aber auf dem Briefe ist ein großer roter Fleck. Ihr könnt Euch wohl denken, daß wir unsre Kameraden nicht ungerächt lassen würden. Da meine Vorgesetzten krank oder sonstwie beschäftigt waren, gestattete man mir, einen nächtlichen Zug mit fünfunddreißig Mann zu machen; es galt einer etwa neun Meilen von uns gelegenen Farm, die wir einzunehmen hofften. Es war ein böses Stück Arbeit, da wir nur ein paar Meilen von dem Burenlager entfernt waren, das, wie wir wußten, dreihundert Mann stark war. Der Mond schien hell – es war wie ein Traum, dieser seltsame, stille Ritt! Das regelmäßige leise Geräusch der Huftritte unsrer Pferde war das einzige, was wir vernahmen. Wir umzingelten die Farm in tiefstem Schweigen; etwa tausend Schritte davor stiegen wir von unsern Pferden und setzten die Bajonette auf. Ich schärfte meinen Leuten ein, daß absolut nicht geschossen werden dürfe, weil man dann im Feindeslager aufmerksam werden und wir verloren sein würden – nur kaltes Eisen und tiefes Schweigen. So schlichen wir uns langsam näher und drangen dann plötzlich von allen Seiten in die Farm – ach! sie war leer und wie ausgestorben! Die Bewohner hatten sie verlassen. Wir alle waren wütend, aber wir hoffen auf die Zukunft.«

Das Ende dieses Briefes war eine kleine Enttäuschung, aber S. Cohn hoffte auch auf die Zukunft – auf eine große und denkwürdige Niedermetzelung des Feindes. Selbst seine Frau hatte sich jetzt schon daran gewöhnt, daß ihr Sohn vor der Front stand – schien es ihr doch, als ob ihr Junge hieb- und kugelfest sei. »Denn er hat seine Engel befohlen über dir.« Sie betete täglich mehrere Male den 91. Psalm, und ihr war, als ob dieses Gebet der Talisman sei, der ihren Sohn behüte und beschirme.

Als Simon die Schachtel, in der die zu Weihnachten jedem Soldaten von der Königin geschenkte Schokolade enthalten gewesen, eine Kugel der Buren und einige andre Kuriosa nach Hause sandte, stellte S. Cohn alles in dem Fenster des Magazins aus und der Zulauf der Kunden und das gute Geschäft, das er dadurch machte, trugen viel dazu bei, ihn mehr mit Simon und dem Reiche zu versöhnen. In der Unterhaltung ließ er jetzt nichts mehr von dem angeborenen Widerwillen des Juden gegen den Militarismus merken.

»Wenn ich jetzt nur ein jüngerer Mann wäre, Herr – –«

An dem Abende, wo die Nachricht von der Entsetzung Mafekings ankam, ließ er das ganze Magazin vom Dache bis zum Keller mit Flaggen schmücken, und in den großen illuminierten Fenstern sah man nichts anderes als große aufgestapelte Vorräte von Khakistoffen.

Obwohl S. Cohn seiner Frau gegenüber noch ab und zu über den Sohn brummte, wurde seine Stimmung gegen ihn doch immer milder, und als die Zeit von Simons Heimkehr herannahte, war seine Mutter zu dem Glauben berechtigt, daß der Vater sich ebenso freue wie sie selbst, und daß die Wiedervereinigung der kleinen Familie der Anfang einer glücklichen Zeit sein würde.

Niemals war ihr der Gedanke gekommen, daß ihr Mann möglicherweise vorher sterben könne. Aber ein ironisches Schicksal wollte es so. In dem nie endenden Kampfe, den der Tod mit dem Leben führt, unterlag S. Cohn, während sein Sohn gesund und unverletzt aus dem Kriege heimkehrte, um zu seinem Gedächtnis den Kaddisch zu sprechen.

 

X.

Simon kehrte mit bronzefarbenen Wangen zurück; er war zu einem stattlichen Manne herangereift. Die Erschütterung, seinen Vater nicht mehr zu finden, trug dazu bei, ihn ernst zu machen. Seine Mutter war wirklich einigermaßen davon überrascht, wie gesetzt er geworden, und daß er ohne weiteres ruhig die Führung des ererbten Geschäftes übernahm. Jetzt, da er wirklich über viel Geld verfügen konnte, schien er keinen Wert mehr darauf zu legen, es unnütz auszugeben, und er kam abends viel früher nach Hause als zu der Zeit, da das Auge des Vaters noch über ihm wachte. Wenn er ab und zu einmal einen ganzen Tag von Hause wegblieb, so geschah dies nur, um Winstay, seinen Kriegskameraden und Freund, zu besuchen, mit dem er seit jenem Abenteuer immer intimer geworden war. Er sagte, daß Winstay einer sehr guten englischen Familie angehöre, die ein altes Haus in Harrow besäße; es wäre glücklicherweise direkt an der London-Nordwestbahn gelegen, so daß er jetzt an Samstag- und Sonntagnachmittagen Gelegenheit habe, etwas Landluft einzuatmen. Obwohl das Geschäft nach wie vor an Samstagen geschlossen blieb, schien Simon es ganz vergessen zu haben, daß Fahren verboten war, und seine Mutter erinnerte ihn nicht daran. Sie hatte ein Gefühl, als ob dieses Leben, das er so tapfer für eine große Sache eingesetzt, nicht durch kleinliche religiöse Rücksichten behelligt werden dürfe.

Es war ungefähr zwei Monate nach Simons Rückkehr, als in der großen Synagoge, am Tage des Festes Chanukah (die Erinnerungsfeier an die Heldentaten des Judas Makkabäus) ein besonderer Militärgottesdienst abgehalten wurde, und die jüdischen Freiwilligen zählten zu den eingeladenen Gästen. Frau Cohn hatte ebenfalls ein Billett zu der großen Zeremonie erhalten, die an einem Sonntagnachmittag stattfinden sollte.

Sie saßen an dem denkwürdigen Tage beim Mittagessen, als Frau Cohn plötzlich sagte: »Rate einmal, wer mich gestern besucht hat?«

»Das mag der Himmel wissen,« sagte Simon.

»Herr Sugarman.« Sie lächelte nervös.

»Sugarman?« wiederholte Simon verständnislos.

»Der, der – nun der Heiratsvermittler.«

»Welche Frechheit! Noch ehe dein Trauerjahr vorüber ist!«

Frau Cohns blasses, schmales Gesicht wurde glühend rot. »Doch nicht meinetwegen! Er kam deinetwegen.«

»Wegen meiner Person? Das ist stark!« Die Reihe des Errötens war nun an Simon.

»O, es ist nicht so unverständlich,« murmelte sie unsicher. »Ich glaube, er dachte, daß du dich nun doch nächstens nach einer Frau umsehen würdest, und natürlich« – ihre Stimme gewann mehr Festigkeit – »ich möchte es doch sehr gern erleben, dich versorgt zu sehen, ehe ich deinem Vater folge. Du bist doch wirklich das, was man eine gute Partie nennt. Sugarman meint sogar, daß es in ganz Bayswater kaum ein Mädchen gäbe, das dich ausschlagen würde.«

»Das ist gerade der Grund, weshalb ich sie ausschlagen möchte,« rief Sinton erregt, »was ist das für ein widerliches Gefühl, denken zu müssen, daß man nur des guten Einkommens wegen geheiratet worden sei.«

Frau Cohn bebte vor seinem Zorne; dennoch empfand sie gleichzeitig ein gehobenes stolzes Gefühl, ungefähr so wie damals, als sie zuerst die Orgel in St. Paul vernommen hatte. Dabei füllten Tränen der Scham ihr Auge. Sie erinnerte sich daran, wie sie selbst von Polen nach London geführt worden, um S. Cohn, den sie niemals vorher gesehen, zu heiraten; sie war gar nicht gefragt worden, ob sie wollte oder nicht. Ach, wie diese junge Generation die alten Fesseln sprengte! Welch neue, göttliche Lebenskraft ihre Adern durchflutete!

»Ich werde nur ein Mädchen heiraten, das ich wirklich liebe, Mutter. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, daß dies eine dieser Jüdinnen sein sollte; ich sage dir das ganz offen.«

Sie zitterte. »Welches dieser jüdischen Mädchen?« stotterte sie.

»O, gleichviel welches. Sie gefallen mir nun mal alle nicht.«

Ihr Gesicht wurde noch bleicher. »Ich freue mich, daß dein Vater diese Worte nicht vernehmen konnte,« hauchte sie.

»Aber der Vater hat es doch gerade immer gesagt, daß die Völker untereinander heiraten müßten, und daß dies die einzig richtige Lösung der Konflikte sei.«

Frau Cohn wußte keine Antwort darauf zu geben. »Er dachte dabei nur daran, die Buren zu Engländern zu machen,« meinte sie endlich.

»Sagte er nicht auch immer, daß die Juden auch englisch werden müßten?«

»Aber,« sagte sie leise, »gibt es denn nicht viele jüdische junge Mädchen, die ganz englisch sind.«

»Du meinst, die sich nicht mehr um unsre altehrwürdigen Sitten und Gebräuche kümmern? Wo wäre also der Unterschied?«

Das Mahl wurde in unbehaglicher, schweigender Stimmung vollendet. Simon ging dann, um sich umzukleiden und sich in seiner Khakiuniform zur Synagoge zu begeben.

Frau Cohns Herz war sehr schwer, als sie sich zu diesem Feste umkleidete. Ihr Gehirn hatte genug damit zu tun, sich alles zurechtzulegen. Ja, jetzt erst begriff sie den Grund seiner unermüdlichen Ausflüge, die er Samstag und Sonntag nachmittags nach Harrow unternahm. Sie wohnte in Harrow, diese junge Christin, die dankbare Schwester Winstays, dessen Lebensretter Simon gewesen. Sie war es, die ihn dazu veranlaßt hatte, ein so solides Leben zu führen, von ihr kamen diese regelmäßigen dicken Briefe, die einen so feinen, leisen Wohlgeruch ausströmten. Es mußte doch etwas wunderbares sein um diese von ihr nie gekannte Liebe, die ihren Sohn von seinem Volke fort und in das Lager der Christen lockte! Aber was man wohl in Highbury sagen würde, daß ein so begehrenswerter Freier sich von seinen Glaubensgenossen abgewandt habe? Ihre Schwiegersöhne, die durch die Heirat mit ihren Töchtern in gute Verhältnisse gekommen waren, würden ihr Vorwürfe machen der Schande wegen, die der Sohn über die Familie brachte – sie, die immer so treu an ihrem Glauben gehalten hatte. Was ihr aber schrecklicher als alles andre war, das war das Gerede ihrer Bekannten und Freunde in der längst von ihnen verlassenen Hafenstadt, das ihr immer noch so wichtig erschien, daß sie bei allem, was ihr in Gutem und Bösem begegnete, immer zuerst daran dachte.

Auf der andern Seite verstand sie auch wieder, daß ihr Heldensohn sich gegen die seit Generationen hergebrachte Art der jüdischen Verheiratungen auflehnte. Es mußte sich da doch ein Kompromiß finden lassen. Er konnte ja lieben – dieses seltsame englische Gefühl –, aber konnte er nicht eine Jüdin finden? Ach, des glücklichen Einfalls! Er konnte ja, wenn er wollte, eine ganz arme Jüdin heiraten, hatte er selbst doch, Gott sei Dank, Geld genug. Das würde ihm beweisen, daß er nicht daran dächte, eine Partie zu machen, sondern daß er wirklich verliebt sei!

Aber dieses fremde, seltsame Mädchen in Harrow, mit ihr könnte er doch unmöglich glücklich werden! Nein, nein, die Anglisierung hatte ihre Grenzen.

 

XI.

Sie war so in Gedanken versunken, daß sie erst daraus erwachte, als sie in der alten Synagoge saß, die Soldaten hereinkommen sah und von irgendwoher die Klänge von Händels »Seht, der Sieger kommt gezogen« an ihr Ohr drangen. Nun erst bemerkte sie, daß sie sich, ohne sich dessen bewußt zu sein, zu den Männern gesetzt hatte, gerade wie in St. Paul. Und was für Männer! Überall leuchtete das Scharlachrot und Grau der Uniformen, das Geflimmer der Goldlitzen; anstatt der gewohnten ernsten Zylinderhüte sah man schimmernde Helme, Bärenfelle, weiße nickende Federbüsche, schottische Mützen, Husaren-Pelzmützen, rote Kappen, fast alle Uniformen der britischen Armee waren vertreten; dazwischen sah man die federtragenden Soldaten der Kolonien und die Khakiuniformen der Freiwilligen. Coldstream-Garde, schottische Garde und Dragoner-Garde, Lanciers, Husaren, Artillerie, Ingenieure – alle waren heute hier vertreten, und es schien, als ob bei allen auch Juden wären. Dabei war in England kein Militärzwang. Alle hatten sich freiwillig gemeldet. – Was wohl der arme Salomon gedacht hätte, wenn er das gesehen?

Die alte große Synagoge hatte einen andern, ganz modernen Charakter angenommen, sie war frisch gestrichen und neu vergoldet worden wie ein Speisesaal in einem englischen Hotel. Die altehrwürdigen Kerzen waren durch elektrisches Licht verdrängt, das den ganzen Raum durchflutete, mit blendend weißem Lichte erleuchtete und den düsteren Winternachmittag vergessen machte.

Die Kanzel – ja, die Kanzel – war ganz von der Unionsflagge umhüllt, und als sie nach der für den Parnaß und den Gabbai reservierten Loge hinsah, fand sie, daß sie von Offizieren mit goldenen Schärpen eingenommen war. Sie hörte, daß man sich untereinander zuflüsterte, der Herr mit den vielen Orden sei ein hoher Offizier, der Kommandeur des Bath-Ordens, und es sei eine hohe Ehre, daß er in der Synagoge erschienen sei. Was? Kamen die Christen jetzt zu dem jüdischen Gottesdienst, wie sie dereinst zu dem der Christen gegangen war? Der eine der Offiziere trug ein weißes Kreuz am Ärmel!

Vor diesem so seltsam zusammengesetzten Auditorium stimmte jetzt der auf den Stufen der zur Bundeslade führenden Estrade stehende Kantor seinen hebräischen Singsang an und steckte den großen vielarmigen Chanukah-Armleuchter an. Wahrlich die Welt veränderte sich unter ihren Augen.

Als dann der Oberrabbi zur Bundeslade hinschritt, bemerkte sie, daß er ein seltsames rot und weiß aussehendes Gewand trug (das ihr in ihrer Unwissenheit militärisch vorkam), und – o des noch wunderbareren Anblicks! – ein behelmter Soldat folgte ihm und zog den Vorhang vor den geschmückten Gesetzesrollen zurück.

Dann plötzlich drang ein wunderbarer Ton an ihr Ohr, dessen Schönheit sie vor Freude erbeben machte. Eine Orgel! Eine Orgel in der Synagoge! Ach, das war wirklich die ersehnte Anglisierung!

Mit dem in der St. Paulskirche gehörten Orgelspiel verglichen, erschienen diese Töne ja selbst ihrem Ohre ziemlich dünn – sie las nachher, daß es nur ein Harmonium gewesen sei –; dennoch versetzten sie sie in seltsame Erregung. Die schimmernden Uniformen und nickenden Federbüsche erhöhten ihre freudige Rührung, die ihr Auge mit Tränen füllte. Simons Blick begegnete dem seiner Mutter, und die alte kindliche Liebe leuchtete plötzlich darin auf.

Dann kam die Predigt, deren Text dem Buche der Makkabäer entnommen war. Ein volles Zehntel der Freiwilligen, die hinausgezogen seien, um den frechen Eindringling von dem Eigentum der Königin zu verdrängen, sei jüdischer Herkunft, sagte der Prediger. Ihr geliebtes Vaterland hätte keine treueren Bürger als die Kinder Israels, die sich unter seiner Flagge niedergelassen hätten. Man habe sich allgemein gefreut, obwohl man nicht davon überrascht gewesen, in der jüdischen Presse die Namen von mehr als 700 Juden zu finden, die sich in den Dienst ihrer Königin und ihres Landes gestellt hatten. Viele andere hatten sich noch nachträglich der Regierung zur Verfügung gestellt, so daß verhältnismäßig ein viel größerer Prozentsatz sich freiwillig gestellt hatte, als man erwarten durfte. Der Engländer und der Jude waren so eins im Geiste und in dem von ihnen erstrebten Ideale, daß es wirklich kein Zufall war, daß die Anglophoben Europas auch Antisemiten waren.

Die ganze Versammlung erhob sich von ihren Sitzen, während der Prediger hinter den Falten des Union Jack verborgen die Namen der Juden verlas, die in dem fernen Afrika zum Ruhme Englands gestorben waren. Jedes Haupt beugte sich vor, als die Namen unter lautlosem Schweigen verlesen wurden. Sie war nur zu lang, die Liste dieser Tapferen, und fast jedes Regiment, die britischen wie die der Kolonien, hatte seine Opfer liefern müssen. Es war, als läge eine tiefe Trauer über der andächtig horchenden Versammlung. Hanna hatte keine Ahnung davon gehabt, daß so viele ihrer Glaubensbrüder den Heldentod gestorben waren. Ach, jetzt waren sie aber sicher unlöslich miteinander verbunden, diese beide Rassen! Ihre Freundschaft war mit Blut besiegelt worden.

Als die Soldaten die Synagoge verließen, drängte sie sich an Simon heran, ergriff für einen kurzen Augenblick seine Hand und flüsterte ihm zärtlich zu: »Mein Lamm, heirate sie, wir alle sind Engländer.«

Sie war sich dessen nicht bewußt, daß sie diese Worte in jüdischer Mundart sprach.

 

XII.

Nun kam eine entzückende Zeit gegenseitigen Vertrauens. Die Mutter, die nun ganz mit der seltsamen Liebe ihres Sohnes einverstanden war, und die völlig bereit war, das Mädchen mit den Augen ihres Sohnes anzusehen, brannte darauf, die Geliebte ihres Sohnes kennen zu lernen, und war entzückt von der Photographie der rundlichen, kleinen Blondine mit den entzückenden Grübchen, die Simon ihr zeigte. Es wäre noch nicht an der Zeit, sie mit Lucie zusammen zu bringen,« erklärte er ihr. In Wirklichkeit hatte er ihr noch keinen Antrag gemacht. Seine Mutter glaubte, daß er warten wolle, bis das Trauerjahr vorüber sei.

»Aber wie werdet ihr verheiratet werden?« frug sie ihn einmal.

»Nun, wir werden eben auf das Standesamt gehen,« sagte er unbekümmert.

»Könntest du sie nicht dazu bestimmen, ihrer Religion zu entsagen?« fragte sie schüchtern.

Er errötete. »Es würde abgeschmackt sein, mit ihr Religionsgespräche führen zu wollen.«

»Aber sie weiß doch, daß du ein Jude bist?«

»O, das denke ich doch. Ich habe es nie vor ihrem Bruder verheimlicht, weshalb also sollte sie es nicht wissen? Aber ihr Vater ist ein bißchen verdreht, deshalb vermeide ich dies Gesprächsthema.«

»Verdreht? Hat er ein Vorurteil gegen Juden?«

»Nun, der alte Winstay hat es sich in den Kopf gesetzt, daß die Juden Schuld an dem Kriege trügen, und daß sie dann das Kämpfen den Engländern überlassen hätten. Es ist wirklich zu toll, selbst in Afrika behandelt man uns nicht so, wie es uns zukommt, und wenn man bedenkt – –«

Ihr dunkles Auge verlor seinen demütig pathetischen Ausdruck und blitzte zornig auf. »Aber wie kann er so etwas sagen, nachdem du, du selbst seinen Sohn gerettet hast?«

»Nun, ich glaube beinahe, daß er gerade, weil er es weiß, daß ich gefochten habe, mich nicht für einen Juden hält. Ich weiß, es ist ziemlich unlogisch gedacht.«

Er lächelte bitter. »Aber die Logik ist nicht die starke Seite dieses alten Herrn.«

»Er schien ein so netter Mann zu sein,« sagte Frau Cohn, sich der Photographie des weißhaarigen alten Herrn erinnernd, die ihn mit einem Federkiel schreibend vor seinem Schreibpult dar stellte.

»O, abgesehen von seinem Steckenpferde, ist er auch ein lieber alter Herr, darum eben will ich ihm nicht in den Sattel helfen.«

»Ist es möglich, daß er es nicht wissen sollte, daß wir wenigstens 700 Freiwillige gestellt haben, die alle in den Krieg gezogen sind?« fuhr sie fort. »Die Zeitung hat doch die Porträts all dieser Tapfern gebracht.«

»Welche Zeitung,« sagte Simon lachend. »Meinst du vielleicht, daß er dieses jüdische Blatt, wie heißt es nur gleich, studiert, wie du dies tust? Was denkst du wohl? Von dem hat er niemals etwas gehört.«

»Dann solltest du ihm das betreffende Blatt bringen.«

»O Mutter,« er lachte wieder, »das würde ihm nur als Beweis dafür gelten, daß es überall viel zu viel Juden gibt.«

Über Frau Cohns so schwer errungene Heiterkeit stieg eine Wolke auf. Aber sie umdüsterte nur ihren Horizont. Simon schien so glücklich und so erfüllt von dem Gedanken an seine Lucie zu sein wie vorher.

Dennoch geschah es, daß Simon an einem Sonntagabend viel früher von Harrow nach Hause kam, wie er dies sonst zu tun pflegte, und Hannas wachsames Auge entdeckte sofort, daß nun auch seine Stirn von einer Wolke umdüstert war.

»Habt ihr Streit miteinander gehabt?« rief sie.

»Nur mit dem alten Herrn.«

»Weshalb?«

»Der alte Narr ist eben einer Liga der Londoner beigetreten, deren Zweck ist, die Einwanderung der Fremden zu unterdrücken.«

»Da hättest du ihm doch sagen sollen, daß wir alle für eine Dezentralisation stimmen,« sagte Frau Cohn, ihre jüdische Zeitung zitierend.

»Das ist es nicht; es ist die Eitelkeit des alten Burschen, die verletzt ist. Siehst du, er ist es, der den Aufruf an die Briten verfaßt hat, und er bildet sich so viel darauf ein, daß ich es nicht unterlassen konnte, ihn darauf aufmerksam zu machen, wie sehr er sich darin selbst widerspricht?«

»Aber Lucie?« – sagte seine Mutter ängstlich.

»Lucie ist ein reizendes Goldkind. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich meinen kleinen Liebling nicht gehabt hätte. Aber höre, Mutter.« Er zog einen umfangreichen Prospektus hervor. »Sie wollen, daß keine Fremden mehr in das Land gelassen werden sollen, wenn sie nicht Zeugnisse über ihre industrielle Fähigkeit aufweisen können, und gleichzeitig klagen sie die Ausländer an, weil sie dem britischen Arbeiter die Arbeit wegnehmen. Dies ist also keine rein jüdische Frage – ich habe sie auch nicht als solche behandelt; als Engländer kann ich es nicht einsehen, wie wir Ausländer ausschließen können, nachdem sie für unser Land gefochten.«

»Aber Lucie?« unterbrach seine Mutter ihn wieder.

Ein zärtliches Lächeln glitt über sein erregtes Gesicht.

»Lucie lächelte und hatte Grübchen in ihrem reizenden Gesichte. Sie kennt die Eitelkeit ihres alten Herrn nur zu wohl. Natürlich durfte sie sich nicht offen zu meiner Partei bekennen.«

»Aber was wird geschehen? Wirst du wieder hingehen?«

Abermals umwölkte sich seine Stirn. »O gewiß, wir werden sehen.«

Ein Brief Lucies enthob ihn der Mühe, sogleich eine Entscheidung zu treffen.

Dieser Brief lautete folgendermaßen:

»Lieber törichter alter Sim!

Vater hat ganz fürchterlich gewettert und getobt, und es ist daher wirklich besser, daß Du ein paar Sonntage nicht herauskommst, bis er sich wieder etwas beruhigt hat. Außerdem gibst Du es doch selbst zu, daß die Überfüllung des Ostends wirklich ein Übelstand ist, und daß die Mieten dort unverhältnismäßig in die Höhe gegangen sind. Nicht wahr, es ist doch auch nur ganz natürlich, daß, nachdem wir unser Blut für das Reich vergossen und unsre Schätze dafür geopfert haben, es uns unmöglich recht sein kann, daß nun unser Vaterland von schmutzigen Ausländern überlaufen wird?«

»Schmutzig,« murmelte Simon; »ob sie wohl je die von Christen bewohnten verrufenen Gegenden der Flower- und Dean-Straße gesehen hat?«

Sein hübsches orientalisches Gesicht wurde immer düsterer, je weiter er las.

»Wollen wir uns nächsten Samstag im Krystallpalast treffen, Du lieber streitsüchtiger Junge? Ich werde um drei Uhr im Pompejanischen Zimmer sein. Ich habe eine Tante in Sydenham, und die kann ich nach dem Konzert besuchen, um Tee bei ihr zu trinken und mir erzählen zu lassen, wie es mit ihren Missionsarbeiten in den Südseeinseln geht.«

 

XIII.

Von dieser Zeit an nahm das Verhältnis zwischen Simon und Lucie einen andern Charakter an.

Nachdem sie sich einmal allein und in voller Freiheit getroffen hatten, empfanden beide keine große Neigung, sich in dem Salon und unter den beobachtenden Augen der Eltern wiederzusehen. Obgleich sie sich wirklich nur in durchaus harmloser Weise über Bücher, Musik und Bilder unterhielten, so war es doch köstlich, sich frei gehen zu lassen, ohne die Neckereien des Bruders und das mißtrauische Gesicht des alten Herrn fürchten zu müssen. Lucie hatte ein warmes Interesse und auch Verständnis für die Kunst; sie verstand es, anmutig über Sinfonien und moderne Vervielfältigungsarten von Kunstwerken zu reden, alles Dinge, von deren Existenz Simon kaum eine Ahnung hatte. Sie imponierte ihm ungeheuer damit, und er hörte ihrem Geplauder andächtig zu, ohne je selbst eine Meinung auszusprechen. Die Bewunderung, die er vor ihr empfand, wurde durch das Romantische ihrer heimlichen Rendezvous noch erhöht.

Ein- oder zweimal sprach er davon, ob er seine Besuche in Harrow nicht wieder aufnehmen solle; je länger er aber zögerte, um so größer erschienen die Schwierigkeiten, die sich seiner Versöhnung mit Luciens Vater entgegensetzten.

»Vater geht jetzt ganz auf in seiner Liga,« erzählte sie ihm. »Er ist dem Komitee beigetreten, und der Prospektus mit all seinen Widersprüchen gegen sich selbst ist herausgekommen.«

»Aber wenn ich auch der Sohn eines Ausländers bin, so muß er doch berücksichtigen, daß ich für England gekämpft, und daß – –«

»Still, still, du streitsüchtiger Mensch,« unterbrach sie ihn lachend. »Nein, nein, nein, es ist besser, du kommst nicht eher, bis du deine Genealogie zu vergessen gelernt hast. Siehst du, der Vater weiß immer noch nicht, daß du wirklich ein Jude bist. Er denkt, daß etwas jüdisches Blut in deinen Adern fließt, aber daß du sonst in jeder Beziehung ein anständiger Christ bist.«

»Ein Christ!« rief Simon ganz entsetzt.

»Warum denn nicht? Du hast Seite an Seite mit meinem Bruder gekämpft; du hast Schweinefleisch mit uns gegessen.«

Simon wurde glühend rot. »Aber Lucie, du denkst doch nicht, daß Essen etwas mit der Religion zu tun habe?«

»Was denn sonst?« Sie lachte lustig.

Simon lachte ebenfalls. Wie klug sie war.

»Aber du weißt doch, daß ich niemals an die Dreieinigkeit und an alles andere glauben könnte, und was noch mehr ist, ich glaube nicht, daß du es tust!«

»Es kommt nicht so genau auf das an, was man glaubt. Ich wurde in der anglikanischen Kirche getauft und fühle mich als eines ihrer Mitglieder, wirklich, Sim, du bist furchtbar streitsüchtig und ein ganz zänkischer Mensch.«

»Ich will nicht mit dir streiten, Lucie,« sagte er mit fast bittendem Tone. Bei dem Worte »getauft« war es ihm kalt über den Rücken gerieselt, als habe man ihn selbst in das Taufbecken getaucht.

In dieser Weise ging es weiter zwischen den beiden, und der Sommer neigte seinem Ende zu, ohne daß sie zu einem entscheidenden Schritte gekommen wären. Frau Cohn, die das Verhältnis ihres Sohnes mit ängstlicher Sorge beobachtete, hoffte vergebens darauf, daß Simon ihr das Mädchen zuführen werde. Sie wartete mit Ungeduld auf dieses große Ereignis. Man ist nicht immer heroisch gewappnet gegen die Kritik unsrer Glaubensgenossen. Zu langes warten macht uns schlapp. Aber sie verbarg solche Anwandlungen vor ihrem Sohne.

»Du sagtest doch, du wolltest sie mir bringen, sobald sie aus dem Seebade zurückkommen würde,« wagte sie endlich ihn zu erinnern.

»Ja, das wollte ich auch; aber nun hat ihr Vater sie mit nach Schottland genommen.«

»Du solltest heiraten, sobald sie zurückkommt.«

»Ich kann es nicht von ihr erwarten, daß sie sich so rasch dazu entschließt. – Du weißt nicht, was ihr Vater für ein Mann ist. Indessen hast du nicht unrecht, Mutter. Es, ist die höchste Zeit, daß wir zu einem definitiven Entschlusse kommen, und daß wenigstens sie und ich uns verständigen.«

»Was!« stöhnte Frau Cohn. »Seid ihr denn nicht verlobt?«

»O, in gewisser Beziehung doch, natürlich. Aber wir haben niemals ernstlich darüber gesprochen.«

Frau Cohn begriff, daß dies wohl die englische Sitte so verlange, und sie unterdrückte die Bemerkung, daß die einfache, alles klar machende Methode Sugarmans doch auch ihr Gutes habe. Aber die Zeit des Wartens und Bangens war noch nicht vorüber. Täglich sah Frau Cohn, wie ihr Sohn die dicken Briefe mit dem schottischen Poststempel erhielt, diese Briefe, deren leiser Duft in ihr stets ein so romantisches Gefühl erweckte, wie die Erinnerung an etwas Weitabliegendes und Köstliches, wie ein Traum von Rosen und längstgeweinten Tränen. Aber immer noch erfuhr sie nichts Definitives von dem in glücklichem Wahn befangenen Liebenden.

Eines Abends jedoch war er gedrückter und unruhiger, wie dies sonst der Fall war. Sie wußte weshalb. War es doch nun schon zwei Tage her, ohne daß er einen Brief erhalten, und sie sah, wie er bei jedem Geräusch der Gartentür aufschreckte und mit fiebernder Hand die letzte Postsendung erwartete. Als endlich ein Schritt auf dem Kies des Gärtchens hörbar wurde, stürzte er aus dem Zimmer, und Frau Cohn hörte, wie er die Haustür aufriß.

Ihr wachsames Ohr verfolgte jedes Geräusch; es erschien ihr sehr lange, bis sie die Fußtritte des zu ihr zurückkehrenden Sohnes vernahm. Die seltsame schleppende Art seines Ganges fiel ihr auf die Nerven, und eine bange Ahnung erfüllte ihr Herz.

Er hielt ihr einen Brief entgegen. Sein Gesicht war leichenblaß. »Sie kann mich nicht heiraten, weil ich ein Jude bin,« sagte er tonlos.

»Kann dich nicht heiraten,« flüsterte sie heiser. »O, das kann nicht ihr Ernst sein! Ich werde zu ihrem Vater gehen und mit ihm sprechen. Du hast ihm den Sohn gerettet, er ist es dir schuldig, dir seine Tochter zu geben.«

Er bedeutete sie, ihren Platz wieder einzunehmen, denn sie war aufgesprungen. »Es ist nicht der Vater, sie ist es selbst. Nun da ich auf eine Entscheidung dringe, kann sie es nicht über sich bringen. Sie ist wenigstens ehrlich, meine kleine Lucie. Sie will sich nicht hinter ihren Vater verstecken.«

»Aber wie, wie kann sie es wagen zu denken, daß sie über dir stände?« Ihre treuen Hundeaugen leuchteten förmlich.

»Warum wundert ihr Juden euch über so etwas?« sagte er in bitterem Tone. »Gott weiß, daß ihr euch lange genug erhaben über alle andern Völker gefühlt habt. Dennoch wunderst du dich jetzt, daß auch sie ihre Vorurteile haben.«

Dann legte er plötzlich den Kopf auf den Tisch und brach in ein heftiges Weinen aus, in ein Weinen, das so schmerzlich war, daß es das Herz seiner Mutter zerriß, dieses treue Herz, in dem die Erinnerung aller je von ihrem Kinde geweinten Tränen erwachte, bis zu jener Zeit, wo sein Vater einst in gerechtem Zorn die »Piraten von Pechili« aus seinem Gebetbuche nahm und sie dem Feuer überantwortete, wie in jener Zeit, mit einem unwillkürlichen Blick, ob S. Cohn es auch nicht bemerke, stahl sie sich leise zu ihrem Sohn heran und legte ihre Hände leise auf seine zuckenden Schultern. Er aber schüttelte sie ab! »O, warum hat mich nicht eine Kugel der Buren durchbohrt?« Dann aber sich der rauhen Abwehr schämend, erhob er sein schmerzentstelltes Antlitz und zog das seiner Mutter fest, fest an sich heran, – ihre Liebe zueinander war das einzige, was unberührt von der Anglisierung geblieben war.


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