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Das Modell der Schmerzen.

 

Erstes Kapitel.
Wie ich das Modell gefunden habe.

Ich möchte nicht behaupten, daß es irgend etwas mit meiner religiösen Anschauung zu tun gehabt hätte, als ich mir die Aufgabe stellte, den Mann der Schmerzen zu malen, aber ich fürchte beinahe, daß mein guter alter Papa in dem Pfarrhause diesen Entschluß für ein Zeichen des Gnadendurchbruches gehalten hat. Ich habe als Künstler immer nur ungern eine Linie zwischen dem Geistigen und dem Schönen gezogen, da ich stets der Ansicht gewesen bin, daß die Schönheit dasselbe unbegrenzte Element umfaßt, gleichwie das Wesen jeder Religion. Es wird mir übrigens nicht leicht, mich durch Worte auszudrücken, da der Pinsel bisher das einzige Ausdrucksmittel war, dessen ich mich bedient habe. Wenn ich trotzdem in diesem besonderen Falle zu der Feder greife, um durch Worte zu erläutern, was mir vielleicht nicht gelungen ist, durch meinen Pinsel auszudrücken, so geschieht es, weil die Kritik, die mein Bild » Der Mann der Schmerzen« so schwer angegriffen hat, mich dazu reizt, eine Erklärung zu versuchen. Nehmen wir an, daß mein Bild nur halb ausspricht, was ich sagen wollte; vielleicht gelingt es meiner Feder, die andere Hälfte zu sagen, besonders da diese aus Dingen besteht, die ich teils selbst gesehen, teils mir habe erzählen lassen.

Zuerst möchte ich erklären, daß das Bild, das jetzt in seinem goldenen Rahmen dahängt, weit verschieden von meiner ersten Auffassung ist, daß es sich nur langsam aus dieser entwickelt hat, denn ich beabsichtigte ursprünglich nichts anderes, als ein realistisches Christusbild zu malen, ein Bild des Heilands, wie er in der Synagoge von Jerusalem saß und an den Gestaden des Sees von Galiläa wandelte. Als Maler, der die moderne Richtung vertritt, schien es mir, daß trotz der unzähligen Darstellungen, die die Meister aller Nationen von ihm gemacht haben, nur wenige, vielleicht keiner ein realistisches Bild von ihm geschaffen hat. Jede Nation hat, sich selbst unbewußt, der Christusgestalt ihren Nationaltypus verliehen, und die Berechtigung dazu läßt sich nicht ableugnen; denn was jedes Volk verehrt hat, war doch wahrhaft der Gott, den es nach seinem eigenen höchsten Ebenbilde wiedergeschaffen hatte. Indessen war das nicht die Aufgabe, die ich zu lösen suchte.

Ich verwarf von vornherein den blonden bartlosen Typus, den Da Vinci und andere der Welt aufgedrängt haben, denn mein Christus mußte vor allen Dingen ein Jude sein. Selbst als ich, auf der Suche nach einem passenden jüdischen Modell, zu der Erkenntnis kam, daß es auch unter den Juden blonde Typen gibt, schienen mir diese doch germanischer Herkunft zu sein. Was mir als das Charakteristische eines orientalischen Gesichtes erschien, war jene düstere Majestät, wie Rembrandts Rabbis sie uns zeigen, und die in direktem Gegensatz zu den rotwangigen Göttern Walhallas steht. Das den Juden charakterisierende Gesicht muß viel eher an den Araber als an den Goten erinnern.

Ich weiß nicht, ob der nicht fachmännisch gebildete Leser es begreifen wird, wie überaus wichtig für den Künstler sein Modell ist, wie abhängig er von dem Zufall ist, in der Natur das Werk, das er schaffen will, vorgebildet oder doch in schwachen Umrissen angedeutet zu finden. Für mich als Realisten war es unumgänglich notwendig, in der Natur das Original zu finden, denn ohne das kann kein Künstler jemals die zarten Nuancen wiedergeben, die seinem Werke den Schein des Lebens verleihen. Wenn ich trotzdem behaupte, daß ich die Natur nicht kopiere, sondern sie nur benütze und zu einem Kunstwerk umgestalte, so fürchte ich, daß man mir vorwirft, ich widerspräche mir selbst. Aber das muß auf Kosten meiner mangelhaften Fähigkeit, mich auszudrücken, gesetzt werden.

Vielleicht wäre es am richtigsten gewesen, wenn ich nach Palästina gegangen wäre und mir dort ein Idealmodell gesucht hätte; aber gerade um jene Zeit war die Gesundheit meines Vaters so bedenklich, daß ich nicht wagte, eine größere Reise zu unternehmen, und mich stets dem Pfarrhause so nahe hielt, daß ich es in einer kurzen Fahrt mit der Eisenbahn erreichen konnte. Außerdem sind ja die Juden so über die ganze Erde zerstreut, daß es möglich war, überall jüdische Typen zu finden, ganz besonders aber in London, wo sämtliche Wanderströme zusammenfließen. Aber ich wanderte vergebens lange Tage und Wochen durch das Judenviertel und verzweifelte schon an dem Erfolge meiner Bemühungen. Ich fand Typen und Modelle zu den Aposteln, aber nicht zu dem Meister.

Um mich etwas zu erholen, fuhr ich zum Sonntag nach Brighton, wo ich mich der Kirchenparade auf dem freien Platze anschloß. Es war an einem schönen sonnigen Morgen eines der ersten Novembertage. Die sich weit ausdehnenden grünen Rasenflächen, der See und der darüber lachende blaue Himmel vereinigten sich zu einem freundlichen Bilde, das selbst durch die verunzierenden Logierhäuser mit ihrer geschmacklosen Stukkatur nicht verdorben werden konnte. Über den Scharen fröhlicher Spaziergänger schwebten die buntseidenen Sonnenschirmchen der Damen wie ein Schwarm bunter Schmetterlinge. Es amüsierte mich, zu beobachten, wie die Pedelle ängstlich darüber wachten, daß keine ärmlich gekleideten Leute sich zu der Kirchenparade eindrängten, und der Anblick der übertrieben elegant aufgeputzten Juden, die merkwürdigerweise an der Festlichkeit teilnahmen, erinnerte mich an das von mir so sehr gesuchte Modell zu meinem Bilde. Aber mein Auge schweifte vergebens über sie hin; allen diesen Gestalten fehlte jene Würde und Schönheit, die ich oft bei den ärmsten Israeliten gefunden hatte. Da ganz plötzlich wurde mir ein Anblick, der mein Herz vor Freude hoch klopfen ließ. Auf dem Randsteine einer dem Platze gegenüberliegenden Straße saß ein ungeschlachter, zusammengekauerter, mit einem Kaftan bekleideter Jude. Unter dem kleinen grünen Muschelhute und von einem langen ungekämmten schwarzen Barte umrahmt, entdeckte ich das Antlitz, nach dem ich mich so sehr gesehnt hatte. Er hatte den Kopf gesenkt und gönnte dem bunten fröhlichen Treiben keinen Blick, als ob auch das bloße Anschauen nicht gestattet wäre. Ich war gerade im Begriffe, dieses seltsame Wesen, das so unbeweglich und in sich versunken dasaß, anzureden, als ein Maler der königlichen Akademie, der in Hove wohnte, mir mit ausgestreckter Hand und herzlichem Gruße entgegenkam und mich in eine lebhafte und angeregte Unterhaltung zog. Ich sah sehnsüchtig zurück; es war beinahe, als wollte die Akademie mich von der wahren Kunst fortziehen.

»Bitte, entschuldigen Sie einen Augenblick. Ich möchte mir nämlich nur die Adresse jenes alten Burschen geben lassen,« sagte ich.

Er sah sich um und schüttelte mit lachendem Vorwurf den Kopf.

»Ach so! Ein passendes Modell zu einer schmutzigen und häßlichen Studie! O über euch jungen Leute!«

Mein Herz empörte sch gegen die Selbstbefriedigung, die er über seine eigenen konventionellen Platitüden und Niedlichkeiten empfand.

»Hinter dieser Häßlichkeit und dem Schmutze sehe ich das Antlitz des Heilands,« erwiderte ich. »Auf der Kirchenparade habe ich es nicht gefunden.«

»Was, machen Sie jetzt in Religion?« sagte er mit hellem Lachen.

»Nein, aber ich muß jetzt gehen,« sagte ich und wandte mich rückwärts.

Eine Weile stand ich dort, als ob ich die lustigen, bunten Sonnenschirmchen beobachten wollte, aber in Wahrheit studierte ich meinen Juden. Ja, in dieser eigentümlichen Gestalt, die so seltsam zusammengekauert auf dem Pflaster der Straße saß, entdeckte ich in dem Ausdruck des Gesichts die tiefe Traurigkeit und das Geheimnisvolle, nach dem ich so lange vergebens gesucht hatte. Ich wunderte mich über die Einfachheit, mit der er so lange in seiner demütigen Stellung verharrte. Ich sagte mir, daß er der Repräsentant des Ostens sei, der auf den Steinen wie auf einem Divan tief nachdenkend dasaß, während der Westen mit Sonnenschirmchen und dem Gebetbuch in der Hand paradierte. Mich wunderte es, daß die Pedelle ihn nicht bemerkt hatten. Genügte es ihnen, daß der Jude den heiligen Grund der Kirchenparade und die etwas weniger heiligen daranstoßenden Spazierwege nicht zu betreten wagte, oder würden sie, wenn ihr wachsames Auge die dürftige Gestalt erspähte, ihn auch von diesem Platze verweisen?

Ich näherte mich ihm endlich und sagte: »Guten Morgen!« Er erhob sich und ohne ein Klagewort schien er sich rasch entfernen zu wollen wie einer, der es gewohnt ist, überall fortgejagt zu werden.

»Guten Morgen!« sagte ich noch einmal, aber diesmal in deutscher Sprache, denn bei meinen nutzlosen Wanderungen durch London hatte ich mehrfach die Erfahrung gemacht, daß die Juden der verschiedensten Nationen sich in einem verdorbenen Deutsch, dem sogenannten Jiddisch, zu verständigen pflegen.

Er hielt inne, scheinbar beruhigt. »Gut Morgen!« sagte er leise. Ich sah nun, daß er von königlichem Wuchse war wie einer der Söhne Enaks, und daß in seinem ganzen Wesen ein seltsames Gemisch von Majestät und Demut zum Ausdruck kam.

»Verzeihen Sie,« fuhr ich in absichtlich schlecht gesprochenem Deutsch fort, »darf ich eine Frage an Sie richten?«

Er machte ein seltsam bejahendes Zeichen, indem er die Achseln zuckte, wobei auch seine Handflächen leicht in die Höhe fuhren.

»Suchen Sie vielleicht Arbeit?«

»Warum wünschen Sie das zu wissen,« erwiderte er, meine Frage, wie das die Juden sehr gern tun, mit einer anderen Frage beantwortend.

»Ich denke, daß ich Ihnen dazu verhelfen kann,« sagte ich.

»Wünschen Sie Gesetzesrollen von mir ausgeschrieben zu haben?« erwiderte er in ungläubigem Ton. »Sie sind ja gar kein Jude!«

»Dennoch habe ich vielleicht Beschäftigung für Sie,« sagte ich. »Wollen Sie mit mir kommen?«

Ich merkte, daß einer der Pedelle schließlich uns aufmerksam beobachtete und ging daher mit meinem Modell rasch in eine Seitenstraße hinein. Es fiel mir auf, daß er lahmte, als ob er wunde Füße hätte. Er verstand nicht ganz, welche Art von Arbeit ich von ihm verlangte, aber er begriff, daß er wöchentlich ein Pfund Sterling verdienen könne, und das genügte, denn er war dem Hungertode nahe. Als ich ihm dann sagte, daß er Brighton verlassen und mit mir nach London gehen müsse, sagte er wie von heiliger Scheu ergriffen: »Das ist der Finger Gottes!« Seine Frau und seine Kinder waren in London.

Sein Name war Israel Quarriar, seine Heimat Rußland.

Das Bild wurde schon am Montag morgen angefangen. Israel Quarriar beehrte das Atelier mit seiner Gegenwart. Seine edle Gestalt, das ernste, tragische Antlitz, das demütige, gesenkte Haupt, der lange Bart, der ihm das Aussehen eines Propheten verlieh, machten einen rührenden und zugleich anregenden Eindruck auf mich.

»Es ist der Finger Gottes,« murmelte auch ich und machte mich begeistert an die Arbeit.

Ich arbeitete meistens in verzücktem Schweigen – vielleicht wirkte die Schweigsamkeit meines Modells ansteckend. Aber ganz allmählich, während des tagelangen ungestörten Beisammenseins überwand seine scheue Seele die Zurückhaltung, und nach und nach erfuhr ich die Geschichte seiner Leiden. Ich gebe die Erzählung, soweit mir das möglich, mit seinen eigenen Worten wieder; habe ich doch während der Pausen seine Worte, wenn sie mir besonders charakteristisch erschienen, sorgsam niedergeschrieben.

 

Zweites Kapitel.
Die Geschichte des Modells.

Ich bin hierher gekommen, weil das Leben in Rußland mit der Zeit unerträglich für mich geworden war. Durch ein paar Generationen hindurch sind wir Quarriars Inhaber eines Wirtshauses gewesen, auch meine Eltern und ich haben dadurch unser Brot verdient. Aber Rußland hat uns den Lebensunterhalt genommen, indem es das Branntweinmonopol einführte, und hat uns dadurch dem Elende preisgegeben. Was sollte ich mit meiner großen Familie anfangen? Ich hatte immer gehört, daß man in London wie in Amerika menschlich dächte und obdachlosen Fremden ein gewisses Mitleid entgegenbrächte. Das sind nicht Länder wie Rußland, wo es keine Wahrheit gibt. Die Sorge um meine Kinder lastete schwer auf mir. Es sind alle fünf Mädchen, und in Rußland ist ein Mädchen, wenn es auch noch so schön, gut und klug sein sollte, ohne Mitgift gezwungen, jede Gelegenheit zum Heiraten zu ergreifen, selbst wenn der betreffende Mann ihm so unsympathisch wie möglich sein sollte. All dies kam zusammen, um mir Rußland zu verleiden. Ich machte also all meine Habseligkeiten zu Geld und brachte dadurch eine Summe von dreihundertfünfzig Rubeln zusammen. Man hatte mir versichert, daß die Reise nach London für mich und meine Familie kaum mehr als zweihundert Rubel kosten würde, und ich berechnete daher, daß mir dann immer noch einhundertfünfzig Rubel bleiben würden, um das Leben in dem neuen Lande zu beginnen. Dennoch wurde es mir unendlich schwer, mein Vaterland zu verlassen, aber wie der Muschik sagt: »Wenn es sein muß, so geht es.« So trennten wir uns also unter vielen Tränen von unseren Freunden; wir hätten niemals gedacht, daß wir in unserem Alter uns noch eine neue Heimat suchen müßten. Aber was blieb uns übrig? Wie der Muschik sagt: »Wenn das Lamm nicht zur Schlachtbank gehen will, wird es dahin getrieben.« So brachen wir also auf, um nach London zu gehen, wir kamen bis nach Isota an der österreichischen Grenze. Als wir dort am Bahnhofe saßen und darüber nachsannen, wie wir es wohl anstellen sollten, uns über die Grenze zu schmuggeln, kam plötzlich ein sehr gutmütig aussehender Jude mit ehrwürdigem Barte, zwei langen Ohrlocken und einem Gürtel um die Taille aus den Perron. Er wusch sich umständlich die Hände an der Wasserleitung und betete laut mit großer Andacht das Ascher Notzer. Nachdem er sein Gebet beendet, blickte er uns alle erwartungsvoll an, und wir alle sagten: »Amen!« Dann schlug er den Rockärmel zurück, streckte die Hand aus, begrüßte mich mit den Worten Schalom Aleichem und frug mich dann, wie es mir und den Meinen erginge. Er begann bald von den Schwierigkeiten zu erzählen, die uns an der Grenze gemacht werden würden.

Dann sagte er mir: Ich als ein Isch koscher (das heißt ein streng ritueller Jude) will euch helfen, und zwar nicht des Geldes wegen, sondern nur um der Mitzwah (der guten Tat) willen.

Ich schöpfte Verdacht und dachte, woher kommt es, daß er weiß, daß wir über die Grenze wollen? Deine Freundlichkeit ist mir verdächtig. Aber wenn wir den Dieb notwendig haben, schneiden wir ihn sogar vom Galgen ab.

Elzas Kazelias hat sich wirklich als ein Schuft erwiesen, dessen Hilfe wir jedoch nicht entbehren konnten. Ich frug ihn, was er dafür verlange, wenn er uns über die Grenze helfen würde. Er antwortete mir folgendermaßen: »Ich sehe wohl, daß Sie ein kluger und anständiger Mann sind. Sehen Sie meinen Bart und meine Ohrlocken an, und Sie werden einsehen, daß ich Sie in keiner Weise zu übervorteilen beabsichtige. Ich will eine Mitzwah (eine gute Tat) vollbringen und nur so ganz nebenbei ein wenig Geld damit verdienen.«

Dann warnte er mich, auf keinen Fall den Bahnhof zu verlassen, weil es in den Straßen Juden ohne Bart gebe, die mich ohne weiteres verraten und bei der Polizei angeben würden. »Es gibt eben nicht viele Kazelias in der Welt,« sagte er. (Wollte Gott, daß selbst dieser eine nicht darin existiere!)

Dann fuhr er fort: »Schütten Sie Ihr Geld hier auf den Tisch, wir wollen zunächst 'mal feststellen, wieviel Sie haben, und dann will ich es Ihnen wechseln.«

»O,« sagte ich, »ich muß mich zuerst danach erkundigen, wie der Wechselkurs steht.«

Als Kazelias das hörte, schnellte er zurück und rief: »Hoi, hoi! Es sind die Juden eurer Art, die schuld daran sind, daß der Meschiach (Messias) nicht kommen kann, und daß die Befreiung Israels sich immer wieder verzögert! Wenn Sie in die Straße gehen, werden Sie dort bartlose Juden finden, die Ihnen viel mehr Wechselgebühren anrechnen werden als ich, ja die Ihnen sogar das ganze Geld wegnehmen möchten. Ich schwöre es Ihnen bei Meschiach Ben David, den mein Auge zu erblicken hofft, daß ich nicht daran denke, Geld verdienen zu wollen! Ich wünsche Ihnen Gutes zu tun, weil ich hoffe, daß diese kleine Mitzwah (gute Tat) mir im Himmel angerechnet wird.«

Ich ließ mich von ihm bereden, und er wechselte mein Geld. Nachher fand ich, daß er mich um volle fünfzehn Rubel beschwindelt hatte. Elzas Kazelias gleicht dem russischen Wegelagerer, der den vorüberziehenden Bauern beraubt.

Wir sprachen nun darüber, wie er uns über die Grenze helfen wolle, und er schwor hoch und teuer bei seiner koscheren Jiddischkeit, daß die Sache ihm selbst fünfundsiebzig Rubel kosten würde.

Diese Nachricht fiel mir schwer auf das Herz, weil man mir gesagt hatte, daß es höchstens zwanzig Rubel für uns alle kosten würde, und ich sagte ihm das. Darauf antwortete er: »Wenn Sie andere Juden mit kurzen Bärten suchen, so werden die Ihnen das Doppelte abfordern.« Trotzdem ging ich in die Straße, um einen anderen Helfer aufzufinden. Der wollte es auch wirklich billiger tun, sagte, daß Kazelias ein Räuber sei, und versprach mir, mich am Bahnhofe zu treffen.

Unterdessen war Elzas Kazelias, der rechtgläubige koschere Jude, sofort zur Polizei gegangen und hatte sie davon in Kenntnis gesetzt, daß ich und meine Familie aus Rußland fliehen wollten, um nach London zu gehen. Wir wurden ohne weiteres arretiert und mit unserem sämtlichen Gepäck in eine schmutzige Zelle geworfen, die nur durch das eiserne Gitter der Tür Licht erhielt. Man gab uns weder zu essen noch zu trinken und behandelte uns, als ob wir die größten Verbrecher wären.

In Rußland verbietet die Menschlichkeit es nicht, völlig unschuldige Leute beinahe verhungern zu lassen. Der kleine Speisevorrat, den wir in einer Reisetasche hatten, reichte nicht lange aus, und wir wurden fast ohnmächtig vor Hunger. Am zweiten Tage sandte Kazelias zwei Juden mit langen Bärten zu uns. Ich hörte, wie die Tür unseres Kerkers geöffnet wurde. Dann kamen sie zu uns herein und sagten mir: »Wir sind hierher gekommen, um Ihnen eine Gefälligkeit zu erweisen, aber es fällt uns gar nicht ein, dies umsonst zu tun. Wenn Ihnen Ihr Leben und das Ihrer Familie teuer ist, so raten wir Ihnen, der Polizei siebzig Rubel zu geben, wir selbst verlangen nur zehn Rubel für unsere Freundlichkeit. Sie haben ferner Kazelias achtzig Rubel dafür zu bezahlen, daß er Ihnen über die Grenze hilft; wenn Sie das nicht tun, läßt die Polizei sich nicht bestechen. Verschmähen Sie es, unseren guten Rat anzunehmen, so sind Sie verloren.«

Was sollte ich darauf antworten? Wie konnte ich die letzte Kopeke weggeben und dann mittellos in einem fremden Lande ankommen? Jeder Rubel, den er mir abzwackte, war ein Stück meines Lebens. Mein Weib und meine Töchter fingen an zu weinen, und wir baten um Erbarmen. »Habt Mitleid mit uns!« riefen wir. Sie aber antworteten: »In einer Grenzstadt wohnt das Mitleid nicht. Geben Sie uns das Geld. Nur dann wird man Mitleid mit Ihnen haben.«

Sie schlugen die Tür hinter sich zu, und sie wurde wie vorher fest verschlossen. Unsere Tränen, unser Rufen half nichts. Meine Kinder weinten laut vor Todesangst. O, Wahrheit! Wahrheit! Rußland! Rußland! Wie niederträchtig behandelst du die Schuldlosen! Wie ist es nur möglich daß in einem aufgeklärten Lande sich solche Dinge ereignen können!

»Vater, Vater,« sagten meine Kinder, »gib alles fort, nur laß uns nicht in diesem Kerker vor Hunger und Angst umkommen.«

Aber selbst wenn ich es jetzt gewollt hätte, so konnte ich doch hinter der verriegelten Tür nichts machen. All unser Rufen war nutzlos. Endlich gelang es mir doch, die Aufmerksamkeit eines Gefängniswärters, der in dem Korridor die Wache hielt, auf uns zu ziehen.

»Rufen Sie einen Juden hierher,« sagte ich ihm, »ich möchte ihm sagen, in welch übler Lage wir uns befinden.« Er antwortete: »Halten Sie das Maul, wenn Sie nicht wollen, daß man, Ihnen die Zähne einschlägt. Begreifen Sie denn nicht, daß Sie ein Gefangener sind? Sie wissen sehr gut, was von Ihnen gefordert wird.«

Ja, ich verstand es nun – mein Geld oder mein Leben!

Am dritten Tage unserer Gefangenschaft fingen unsere Leiden an beinahe unerträglich zu werden; die russische Kälte machte uns erschauern, und unsere Kräfte ließen nach, wir glaubten schon, daß dieser Kerker unser Grab würde, und wir gedachten Kazelias' als unseres Todesengels. Hier, so schien es, waren wir verdammt, des Hungertodes zu sterben. Wir verloren die Hoffnung, die Sonne wieder zu erblicken. Denn wir kannten Rußland nur zu wohl. Sagt doch schon das russische Sprichwort: »Wer die Wahrheit sucht, wird den Tod finden.«

Aber endlich schien der Gefängniswärter doch Mitleid mit unserem Jammer zu empfinden, er ging und holte die zwei Juden wieder herbei. »Wir sagen es Ihnen jetzt zum allerletzten Male. Geben Sie uns das geforderte Geld, und wir werden uns dafür erkenntlich zeigen und Ihnen helfen. Es geschieht aus Mitleid mit Ihrer Familie.«

Ich protestierte nicht länger, sondern gab ihnen alles, was sie von mir forderten; alsbald erschien dann Elzas Kazelias und sagte vorwurfsvoll zu mir: »Es ist charakteristisch für die Juden, daß sie nie eher mit dem Gelde herausrücken wollen, als bis sie gezüchtigt worden.« Ich antwortete Elzas Kazelias darauf: »Ich glaubte, Sie wären ein ehrenhafter und frommer Jude. Wie konnten Sie eine arme Familie so behandeln?«

Er erwiderte darauf trocken: »Auch ein ehrenhafter und frommer Jude muß Geld verdienen.«

Darauf führte er uns aus dem Gefängnisse und schickte nach einem Wagen. Kaum hatten wir darin Platz genommen, als er sechs Rubel dafür verlangte. Nun, was konnte ich machen? Wir waren eben in Räuberhände gefallen, und ich mußte mein Geld hergeben. Wir fuhren zu einem Hause, wo man uns ein kleines Zimmer anwies, in dem wir ein paar Stunden warten mußten, weil, wie es schien, noch nicht alle nötigen Vorbereitungen zu unserem Überschreiten der russischen Grenze getroffen waren. Wir mußten dafür drei Rubel bezahlen. Endlich führte man uns zu der Grenze, die hier durch einen schmalen, ganz seichten Fluß gebildet wird. Man ermahnte uns ernstlich, so leise und vorsichtig als möglich zu sein, da wir, wenn die Soldaten uns entdecken sollten, ohne weiteres erschossen würden. Ich mußte meine Hosen hoch streifen, um durch das Wasser zu waten, während ein paar handfeste Männer meine Familie hinübertrugen. Meine zwei großen Bündel jedoch, die all mein Hab und Gut, unsere Kleider und Haushaltschätze enthielten, blieben auf der russischen Seite, plötzlich entstand ein wildes Durcheinander. »Die Soldaten, die Soldaten! Versteckt euch, rasch, in den Wald, in den Wald!«

Als endlich alles wieder ruhig wurde – es waren übrigens gar keine Soldaten sichtbar geworden –, gingen die Männer zurück, um unser Gepäck zu holen, aber sie brachten nur eines der Bündel herüber. Das andere, das viel mehr als hundert Rubel wert war, war verschwunden. Unsere Klagen halfen nichts. Kazelias sagte: »Seid ruhig. Auch hier seid ihr noch von Gefahren umdroht.«

Ich verstand, daß er falsches Spiel mit mir getrieben, aber ich war hilflos seinen Händen überliefert. Er führte uns in sein Haus, wo das uns gebliebene Gepäck deponiert wurde. Als ich etwas später in die Stadt ging, begegnete ich dem Rabbi, bei dem ich mich beklagte. Aber er zuckte nur die Achseln und meinte: »Was könnte ich solchen Erpressern gegenüber ausrichten? Sie müssen sich in den Verlust finden.«

Ich kehrte wieder zu meiner Familie in Razelias' Haus zurück. Er warnte mich, mich nicht in der Straße sehen zu lassen. Ich war nämlich auf meiner Wanderung durch die Stadt einem Manne begegnet, der mir sagte, daß er uns für achtundzwanzig Rubel per Kopf bis nach London befördern würde. Kazelias war augenscheinlich bange, ich möchte in ehrlichere Hände wie die seinen fallen.

Wir fingen dann an, mit ihm über unsere Reise nach London zu sprechen, denn es ist am Ende doch besser, mit einem Teufel zu unterhandeln, den man schon kennt, als mit einem, den man noch nicht kennt. Er sagte: »Es wird fünfunddreißig Rubel für jeden von euch kosten.« Darauf sagte ich: »Man hat mir angeboten, uns für achtundzwanzig Rubel hinzubefördern, aber ich will Ihnen dreißig geben.« – »Hoi, hoi!« rief er darauf. »An einem Juden ist jede gute Lehre verloren! Es ist genau so wie an der Grenze: Sie wollten keine achtzig Rubel bezahlen, und dann hat es Ihnen das Doppelte gekostet. Es wird Ihnen jetzt ebenso gehen, Sie wollen es nicht anders. Man darf einem Juden keine Gefälligkeit erweisen.«

Ich hielt also den Mund und nahm seine Bedingungen an. Aber ich fand, daß mir fünfundzwanzig Rubel fehlten, um das Ziel unserer Reise zu erreichen. Da sagte Kazelias: »Ich will Ihnen helfen. Ich kann Ihnen die fünfundzwanzig Rubel auf Ihr Gepäck an der Eisenbahn vorschießen, wenn Sie dann in London sind, können Sie es mir später zurückzahlen.« Er nahm mein Bündel und brachte es an die Eisenbahn. Was er dort getan, weiß ich nicht. Er kam zurück und sagte mir, daß er mir einen Dienst erwiesen habe. (Dieses Mal kam es mir wirklich so vor, als ob es ein guter Dienst gewesen sei.) Dann nahm er Kuverts und legte in jedes das Fahrgeld, das wir an den verschiedenen Stationen unserer Reise zu zahlen halten. So erreichten wir endlich den Zug und fuhren fort. An jeder Hauptstation bezahlte ich das Fahrgeld aus seinem besonderen Kuvert. Unsere Mitreisenden boten den Kindern unterwegs etwas zu essen an, wir bewahrten unseren Stolz und nahmen es nur dann an, wenn es koscher war. Wir reisten mit einer sehr guten, mitleidigen Jüdin aus Lemberg, die ein Herz von Gold und die köstlichsten Würstchen bei sich hatte.

Als wir in Leipzig ankamen, sagte man uns, daß an dem Fahrgeld zwölf Mark fehlten. Man erlaubte uns nicht, in den Zug zu steigen, und wir wußten nicht, was wir anfangen sollten, da ich kein anderes Geld mehr hatte, als das für die Reise bestimmte. Die Eisenbahnbeamten befahlen uns, den Bahnhof zu verlassen. Wir wanderten also auf das Geratewohl in den Straßen Leipzigs umher; wir erregten Verdacht bei der Polizei, und man wollte uns verhaften. Aber wir beteuerten unsere Unschuld, und da ließen sie uns gehen. Wir verkrochen uns in eine düstere, enge Gasse, hockten an einer Mauer nieder und ermahnten einander, nicht zu murren. So saßen wir eng aneindergedrückt eine regnerische Nacht da, die Regentropfen vermischten sich mit unseren Tränen.

Als der Tag anbrach, war ich zu einem Entschlusse gekommen; ich nahm zwölf Mark aus dem Kuvert, das das Geld für die Seefahrt enthielt, nahm Billetts nach Rotterdam und erreichte so das Ende unserer Landreise. Als wir auf das Schiff kamen, brachte man uns dort in einer Art von Schuppen unter, als ob wir Vieh gewesen wären. Einer der mit Kazelias Verbündeten – denn sein Arm reicht über Europa – rief uns in sein Bureau und frug mich: »Wie viel Geld haben Sie?« Ich schüttete das in den Kuverts befindliche Geld vor ihm auf den Tisch. Da sagte er, zwölf Mark fehlten daran; Razelias habe ihm mitgeteilt, daß ich eine bestimmte Summe bringen würde, und die hätte ich nicht.

»Sie können diese Nacht an Bord bleiben. Aber morgen früh gehen Sie zurück.« So nützte er meine Unwissenheit aus, denn in Wahrheit habe ich an allen Stationen mehr gezahlt, als das richtige Fahrgeld betrug. Ich wußte nicht, welche Macht er hatte. Jeder Beamte erregte unsere Furcht, wir verlebten eine trostlose Nacht.

Am anderen Morgen bat ich flehentlich, doch meinen Tallis und Tephillin (meinen Gebetschal und meine Amulette) anstatt der zwölf Mark in Zahlung zu nehmen, Er aber sagte: »Für die habe ich keine Verwendung. Sie müssen zurückgehen.« Mit Mühe erhielt ich die Erlaubnis, einen Gang in die Stadt machen zu dürfen. Ich nahm Tallis und Tephillin, ging damit in die Schul (die Synagoge) und versuchte dort, irgend jemand durch meine Bitten zu be-* wegen, mir die Sachen abzukaufen. Aber es fand sich ein edler Mann, der den Handel nicht gestatten wollte. Er gab mir ohne Zögern zwölf Mark. Ich bat ihn, mir seine Adresse mitzuteilen, damit ich ihm später das Geld zurückerstatten könne, er aber sagte: »Ich begehre weder Dank noch eine Zurückerstattung dieses Geldes.« So gelang es mir, das für die Überfahrt fehlende Geld beizubringen.

Wir schifften uns also ein, und zwar ohne auch nur noch einen Heller oder einen Bissen Brot zu haben, wir kamen um neun Uhr morgens in London an, ohne Geld und ohne Gepäck, während ich darauf gerechnet hatte, wenigstens einhundertfünfzig Rubel und unsere Kleider und Haushaltungssachen mitzubringen. Ich hatte jedoch die Adresse eines guten Freundes, und wir machten uns sofort auf den Weg, ihn aufzusuchen; aber als wir die angegebene Wohnung erreichten, hieß es, daß er London verlassen und nach Amerika gegangen wäre. Wir wanderten den ganzen Tag bis um acht Uhr abends verzweifelt in den Straßen Londons umher. Die Kinder vermochten kaum, sich weiter zu schleppen, so hungrig und müde waren sie. Endlich setzten wir uns erschöpft auf die Stufen eines Hauses in Wellclose-Square. Ich blickte um mich und entdeckte ein Gebäude, das ich für eine Schul (Synagoge) hielt, weil hebräische Zeichen daran waren. Ich ging darauf zu. Ein alter Jude mit langem grauen Bart kam auf mich zu und fing eine Unterhaltung mit mir an. Aber ich verstand rasch, was für eine Art von Mensch er war, und wandte mich von ihm ab. Dieser Meschummad (bekehrte Jude) ließ jedoch nicht nach und drängte mich, seine Hilfe anzunehmen; er bot mir an, meine Familie mit Essen und Trinken zu versorgen und mir in London weiter zu helfen. Ich aber sagte: »Ich begehre nichts von Ihnen und wünsche nicht, mit Ihnen bekannt zu werden.«

Ich ging dann zu meiner Familie zurück. Die Kinder saßen und schrien nach Brot. Sie erregten die Aufmerksamkeit eines Mannes namens Baruch Zezangski (25 Ship-Allee); der ging weg und kehrte mit Brot und Fisch zurück. Als die Kinder das sahen, war ihre Freude groß, sie erfaßten die Hand des Mannes und küßten sie. Unterdessen brach die Dämmerung herein, und wir wußten nicht, wo wir eine Unterkunft für die Nacht finden sollten. Ich bat also den Mann, uns doch dazu zu verhelfen. Er führte uns zu einem Keller in Ship-Allee. Es war vollständig dunkel. Man sagt, daß es eine Hölle gibt. Ob dies so ist oder nicht, jedenfalls haben wir in der Nacht, die wir an diesem Orte verlebten, mehr als Höllenqual erlitten. Es schien, als ob die scheußlichsten Geschöpfe sich dort versammelt hätten. Wir saßen die ganze Nacht und suchten das Ungeziefer von uns wegzufangen. Nach langen qualvollen Stunden, die uns wie Jahre vorkamen, dämmerte endlich der Tag. Am Morgen erschien der Wirt und forderte einen Schilling Logisgeld. Ich hatte keinen Pfennig mehr, aber ich gab ihm eine lederne Tasche für das Nachtquartier und bat ihn dann, mir noch ein kleines Zimmer im Hause zu überlassen. Er vermietete mir darauf ein ganz kleines Hinterzimmerchen ganz oben im Hause zum Preise von dreieinhalb Schilling pro Woche. Er verließ sich darauf, daß wir die Miete von mitleidigen Glaubensgenossen zusammenbitten würden.

Wir waren froh, eine Unterkunft gefunden zu haben, und setzten uns auf den Fußboden des ganz leeren, unmöblierten Zimmers. Wir blieben den ganzen Tag ohne Brot. Die Kinder bekamen ab und zu eine trockene Kruste von den anderen Mietern, aber sie weinten doch tagsüber vor Hunger und abends wieder, weil sie nichts hatten, um darauf zu schlafen. Ich frug unseren Wirt, ob er mir nicht angeben könne, wie ich es anstellen solle, Arbeit zu finden. Er sagte, er wolle sehen, was er für mich tun könne. Am nächsten Tage ging er aus und kam mit einem großen Haufen Wäsche zurück, die gewaschen werden sollte. Die Familie machte sich sofort an die Arbeit, und ich bin sicher, meine Frau wusch die Sachen nicht nur mit Wasser, sondern auch mit Tränen. O, Kazelias! Wir wuschen die ganze Woche über, der Wirt besorgte uns jeden Tag Brot und neue Arbeit. Am Ende der Woche sagte er: »Ihr habt eure Miete abverdient und braucht mir nichts zu bezahlen.« Ich denke, daß wir das getan haben.

Meine älteste Tochter war so glücklich, bei einem Schneider eine Stellung zu finden, wo sie wöchentlich vier Schilling bekam! Die anderen suchten sich durch Waschen und Putzen etwas zu verdienen. Auf diese Weise gelang es, uns notdürftig durchzubringen und jeden Samstag unsere Miete zu bezahlen, indessen lebten wir nur von Wasser und Brot. Dann aber kamen die Ferien, meine Tochter wurde entlassen, man sprach von einer Sauregurkenzeit, ich verstand das nicht und frug meine Tochter, was damit gemeint werde. Sie erklärte, daß es schlechten, flauen Geschäftsgang bedeute. Sie konnte keine Arbeit bekommen, was sollte ich also anfangen? Ich hatte kein Geld zum Leben. Die Kinder schrien nach Brot und nach Betten und Decken. So ging es bis zum Rosch Haschonoh (dem neuen Jahre); wir hofften, daß wirklich ein neues, besseres Jahr für uns anbrechen würde.

Es war am Erev Yontow (dem Tage vor dem Feste), wir konnten keine Wäsche zu waschen bekommen, wir kämpften verzweifelt mit Hunger und Frost. Da kam der Hauswirt zu uns herein. »Schämen Sie sich nicht,« sagte er zu mir, »sehen Sie denn nicht, daß Ihre Kinder kaum mehr Kraft zum Leben haben? Warum haben Sie kein Mitleid mit den armen Kleinen? Gehen Sie nach dem Armenkomitee, dort wird man Ihnen helfen.« Glauben Sie es mir, ich wäre lieber gestorben. Aber meine Kleinen hungerten, und ihr Weinen zerriß mir das Herz. So ging ich wirklich in ein Armenkomitee. Ich sagte weinend: »Meine Kinder sterben, weil sie kein Brot haben. Ich kann ihre Leiden nicht mehr mit ansehen.« Ein Herr des Vorstandes antwortete mir: »Wenn das Erev Yontow vorüber ist, wollen wir Sie nach Rußland zurückschicken.« »Aber,« antwortete ich, »unterdessen müssen die Kinder etwas zu essen haben.« Darauf ließ der Herr eine Glocke ertönen, worauf ein handfester Hausknecht, der mir wie der Todesengel selbst vorkam, mich so fest am Arme packte, daß er noch den ganzen Tag schmerzte, und mich ohne weiteres hinaus warf. Trostlos ging ich davon, meine Augen waren so von Tränen geblendet, daß ich meinen Weg nicht sehen konnte. Es dauerte sehr lange, bis ich mich nach Ship-Allee zurückfand. Meine Frau und meine Töchter hatten schon geglaubt, daß ich in der Verzweiflung ins Wasser gegangen wäre. So traurig erging es uns am Vorabende des großen Versöhnungstages; wir hatten keine Rinde Brot zu essen, um uns für die vorgeschriebenen religiösen Fasten zu stärken. Aber gerade als unser Elend den Höhepunkt erreicht hatte, kam eine in dem neben uns liegenden Zimmer wohnende Frau zu uns und engagierte die eine meiner Töchter dazu, während der Fasten, wenn sie selbst im Tempel sei, ihr kleines Kind zu verwahren, sie bot ihr dafür einen Schilling und erbot sich im voraus zu bezahlen. Wir waren ganz glücklich, kauften für alles Geld Brot und stillten unseren Hunger; dann beteten wir, der Versöhnungstag möge lange dauern, damit wir gezwungen wären, zu fasten und kein Essen zu kaufen brauchten. Denn, wie der Muschik sagt: »Wenn man nicht den Mund zu stopfen hätte, könnte man goldene Kleider tragen.«

Dann ging ich in die Freischule der Juden, die als Synagoge hergerichtet war und verbrachte den ganzen Tag in heißem Gebete. Als ich am Abend nach Hause zurückkehrte, saß meine Frau da und weinte. Ich frug sie, warum sie weine. Sie antwortete: »Warum hast du mich in ein Land geführt, wo selbst das Beten Geld kostet, wenigstens für Frauen. Ich bin den ganzen Tag von einer ›Schul‹ zur anderen gewandert, aber man wollte mich nirgendwo hineinlassen. Endlich ging ich zur ›Schul der Söhne der Seele‹, wo die orthodoxen Juden mit langen Bärten und Ohrlocken beten, aber selbst dort wollte man mich nicht hineinlassen. Der heidnische Polizist bat für mich und sagte ihnen: »Schämt euch, daß ihr diese arme Frau nicht hineinlassen wollt.« Der Gabbai (Schatzmeister) antwortete: »Wenn man kein Geld hat, muß man zu Hause bleiben.« Da sagte meine Frau weinend zu ihm: »Meine Tränen kommen über dein Haupt« und ging nach Hause und blieb dort und fuhr fort, bitterlich zu weinen. Für eine Frau ist Jom Kippur ein wundertätiger Tag. Meine Frau glaubt, daß ihre Gebete erhört werden, wenn sie in der Synagoge sich ausweinen und dem Allerhöchsten ihr Leid klagen darf. Aber dieses Vorhaben wurde vereitelt, und das war vielleicht einer der härtesten Schläge, die sie getroffen, um so mehr, da es ihre Glaubensgenossen waren, die ihr den Eingang in die Synagoge versagt – das war ihr das Bitterste. Wenn es durch Andersgläubige geschehen wäre, dann würde sie sich mit dem Gedanken getröstet haben: »Wir sind eben im Exil.« Als der erste Fasttag vorüber war, hatten wir nur noch ein kleines Brot, um uns damit für den folgenden Hungertag zu stärken. Dennoch und trotz aller unserer Sorgen schliefen wir die Nacht über in Frieden. Als wieder der elende Tag herankam, gingen meine älteren Töchter auf die Straße, um Parnoso (Arbeit) zu suchen; sie nahmen Scheuer- und Schrubbarbeit an, die ihnen ungefähr einen Schilling einbrachte. Wir kauften Brot dafür und fristeten damit unser armseliges Leben. Wenn wir ab und zu drei Schilling für Waschen einnahmen, dann glaubten wir, reich wie Rothschild zu sein. Als Sukkaus (das Laubhüttenfest) herankam, hatten wir jedoch weder Brot noch Arbeit, und ich irrte den ganzen Tag in den Straßen umher, um Arbeit zu suchen. Wenn man mich frug, was für ein Handwerk ich verstände, war ich natürlich gezwungen zu antworten, daß ich in keinem Bescheid wüßte, denn seltsamerweise halten es die Juden in dem Teile Rußlands, aus dem ich komme, für eine Schande, Handwerker zu werden, und wenn man seine Verachtung vor jemand ausdrücken will, so sagt man zu ihm: »Jeder kann es sehen, daß du von einem Handwerker abstammst.«

Ich konnte Gebetrollen schreiben, verstand es, ein Wirtshaus zu führen, aber wozu konnte mir das hier helfen? Als ich sah, daß ich nirgends Arbeit fand, ging ich in die »Schul der Söhne der Seele«. Ich setzte mich neben einen Glaubensgenossen, der mich freundlich anredete. Ich erzählte ihm von meiner Not. Da sagte er: »Ich will Ihnen einen Rat geben. Wenden Sie sich an unseren Rabbi. Das ist ein edeldenkender Mann.«

Ich tat es. Als ich zu ihm in das Zimmer trat, saß noch ein anderer Mann bei ihm, der seine Lulow und Esrog (Palmzweig und Paradiesapfel) in der Hand hielt. »Was wünschen Sie?« Mein Herz war so schwer, daß ich ihm nicht antworten konnte, aber die Tränen drängten sich mir plötzlich in die Augen. Mir war, als müsse nun endlich die Hilfe nahe sein. Ich glaubte, daß er Teilnahme für mich empfinden werde. Ich faßte mich und erzählte ihm, daß wir dem Verhungern nahe wären und kein Brot mehr hätten, und daß ich keine Arbeit finden könne. Ich bat ihn, mir zu raten, was ich tun solle. Er antwortete mir mit keiner Silbe. Er wandte sich an den anderen Mann und sprach mit ihm über die Laubhütte. Von mir nahm er nicht die geringste Notiz, er ließ mich einfach stehen, wo ich stand.

Da begriff ich, daß er nicht besser sei als Elzar Kazelias. Und das war ein Rabbi! Ich begriff nun, daß ich ebenso gut mit der Mauer hätte reden können, und ich verließ das Zimmer, ohne daß er ein Wort an mich gerichtet hätte, wie der Muschik sagen würde: »Traurig und bitter ist das Los der Armen. Es ist besser, im dunkeln Grabe zu liegen und die Sonne nicht mehr zu sehen, als arm und gezwungen zu sein, um Geld zu bitten.«

Ich ging nach Hause, wo meine Familie geduldig meine Heimkehr erwartete, in der Hoffnung, daß ich Brot mitbringen würde. Ich sagte: »Guten Abend!« und weinte bitterlich, denn sie sahen alle so elend aus, als ob sie sterben wollten, da sie an jenem Tage keinen Bissen zu essen bekommen hatten.

Wir versuchten zu schlafen, aber die Natur forderte ihre Rechte, der Hunger quälte uns so, daß wir keine Ruhe fanden. Hunger, du alter Narr, warum läßt du uns nicht schlafen? Aber er wollte nicht mit sich reden lassen. So verbrachten wir die Nacht. Als aber der Tag kam, fingen die kleineren Kinder an zu weinen und riefen: »Vater, laß uns gehen! Wir wollen in der Straße um Brot betteln, wir sterben vor Hunger, halte uns nicht zurück.«

Als die Mutter hörte, daß sie davon sprachen, in der Straße zu betteln, wurde sie ohnmächtig, worauf die Kinder in große Aufregung und Angst gerieten. Als es uns endlich gelang, sie wieder zu sich zu bringen, machte sie uns bitterliche Vorwürfe darüber, daß wir sie zum Leben erweckt hätten.

»Ich würde lieber gestorben sein, als davon zu hören, daß ihr in den Straßen betteln wollt; ehe das geschieht, möchte ich meine Kinder vor Hunger sterben sehen.« Über diesen Worten vergaßen die Kinder ihren Hunger, sie setzten sich zueinander hin und weinten.

In einem benachbarten Zimmer wohnte ein Mann, der Gerschon Katcol hieß; als der das Weinen meiner Kinder hörte, kam er zu uns herein, um zu hören, was denn los sei. Er sah umher, begriff unser Elend, und es ging ihm zu Herzen. Er verließ uns, aber nur um sehr rasch zurückzukehren und uns Brot, Fische, Tee und Zucker zu bringen; dann ging er wieder weg und kam mit fünf Schilling zurück. Er sagte: »Dies leihe ich euch.« Später kam er noch einmal zurück und brachte noch einen Mann mit, der Nathan Beck hieß. Der ließ sich unsere Geschichte erzählen und nahm dann die drei jüngeren Kinder mit sich, damit sie für das erste bei ihm bleiben sollten. Als ich nachher nach der St. Georgs-Straße ging, wo er wohnte, und die Kinder dort besuchen wollte, versteckten sie sich vor mir, weil sie fürchteten, daß ich sie wieder mitnehmen und den Qualen des Hungers aussetzen würde. Es war furchtbar hart für mich, meine Kinder der Sorge eines Fremden überlassen zu müssen, und noch bitterer empfand ich es, daß sie Furcht davor hatten, mit ihrem Vater gehen zu müssen.

Nach den Festtagen suchte ich Grunbach, den Schiffsagenten, auf, um zu sehen, ob mein Gepäck nun endlich angekommen sei, da mir Kazelias gesagt hatte, daß es in etwa einem Monat hier sein würde. Ich zeigte meinen Pfandschein und frug danach. Er sagte: »Ihr Gepäck wird nicht nach London kommen, sondern nur nach Rotterdam. Wenn Sie es wünschen, will ich einen Brief nach Rotterdam schreiben, um mich zu erkundigen, ob es dort ist und wieviel Geld notwendig ist, um es einzulösen.« Ich sagte ihm, daß ich fünfundzwanzig Rubel darauf geliehen hätte. Er rechnete dann aus, daß es mich mit der Schiffsfracht immerhin vier Pfund Sterling und sechs Schilling kosten würde, es einzulösen. Ich bat ihn, jedenfalls zu schreiben und nachzufragen. Einige Tage später kam ein Brief aus Rotterdam; darin stand, daß ich ohne die Schiffsfracht dreiundachtzig Rubel (acht Pfund Sterling dreizehn Schilling) bezahlen müsse. Als ich das erfuhr, erschrak ich sehr und schrieb sofort an Kazelias: »Warum behandeln Sie mich, als ob Sie ein Wegelagerer wären, und verlangen dreiundachtzig Rubel für Rückgabe meines Gepäcks, da Sie mir doch nur fünfundzwanzig Rubel darauf geliehen haben?« Er antwortete: »Schämen Sie sich, mir einen solchen Brief zu schreiben. Sind Sie nicht in meinem Hause gewesen und haben gesehen, daß ich ein rechtschaffener, ehrenhafter Jude bin? Schämen Sie sich! Solchen Leuten, wie Sie es sind, sollte man sich niemals gefällig erweisen. Denken Sie vielleicht, daß es viele so gute Menschen wie Kazelias in der Welt gibt? Ihr seid alle miteinander Dickköpfe. Ihr könnt keinen Brief lesen. Ich habe bloß vierundfünfzig Rubel auf das Gepäck genommen, und ich mußte dann noch etwas draufschlagen, weil ich Unkosten davon hatte, daß ich Ihnen nach London verhalf. Ich habe meinen Verlust berechnet und nur das genommen, was mir rechtmäßig zukommt.« Ich zeigte Grunbach den Brief, und der schrieb noch einmal nach Rotterdam; man antwortete von dort, daß sie nichts von Kazelias wüßten, daß ich aber acht Pfund Sterling dreizehn Schilling bezahlen müßte, wenn ich mein Bündel wieder haben wollte. Gut, was konnte ich machen? Das Wetter wurde kälter. Daran, immer hungrig zu sein, hatten wir uns schon gewöhnt. Aber wir konnten doch die kalten Winternächte nicht auf dem nackten Fußboden und ohne Decken und Kissen verbringen! Ich schrieb noch einmal an Kazelias und erhielt diesmal überhaupt keine Antwort. Tag und Nacht lief ich umher und frug um Rat, wie ich es anstellen solle, zu meinen Sachen zu kommen. Niemand konnte und wollte mir helfen.

Inmitten dieser Trübsal bekam ich Nachricht von einem Landsmann, dem ich in besseren, glücklichen Tagen und als ich noch mein Wirtshaus hatte, einmal geholfen hatte, aus der russischen Armee zu entweichen. Man sagte mir, daß er ein großes Juweliergeschäft habe in der Nähe des Meers, in einer Stadt, die Brighton heiße. Ich machte mich sofort auf den Weg, um ihn aufzusuchen. Zwei Tage mußte ich wandern – aber ich war fest davon überzeugt, daß er mir helfen werde; wenn er es nicht tat, wer sollte es dann tun? Ich wollte als sein Sabbatgast zu ihm kommen; er würde mich ganz bestimmt mit offenen Armen aufnehmen. In der ersten Nacht schlief ich mit einem Landstreicher in einer Scheune; er wies mir den richtigen Weg. Da ich mich aber unterwegs aufhielt, um einen halben Schilling durch Holzhacken zu verdienen, geschah es, daß ich mich verspätete. Ich war noch zwölf Meilen von Brighton entfernt, als der Sabbat anfing; ich wagte es nicht, den Tag des Herrn dadurch zu entheiligen, daß ich meine Wanderung fortsetzte. So blieb ich an jenem Freitagabend in einem kleinen Dorfe und dankte Gott, daß ich wenigstens Geld zu einem bescheidenen Nachtlager hatte, obwohl es ja schon sündhaft ist, am Sabbat Geld zu berühren. Am nächsten Tage jedoch wurde ich, ich weiß nicht weshalb, von den Straßenbuben verfolgt. Sie nannten mich Goy (Heide) und Fuchs; Goy-Fuchs, Goy-Fuchs! Die Jungen riefen: Guy Fawkes. G. F., Hauptteilnehmer der englischen Pulververschwörung gegen den Protestantismus, wurde 1666 hingerichtet; seinem Andenken ist der 5. November gewidmet, an dem er überall als Strohpuppe verbrannt wird. Dabei schilt man alle Tippeln als »Guy Fawkes«. höhnten sie mich und warfen mir brennendes Feuerwerk in das Gesicht. Ich floh vor ihnen und verbarg mich im Walde, und erst als die drei ersten Sterne am Himmel erschienen, nahm ich meine Wanderung nach Brighton wieder auf. Aber meine Füße waren wund, und ich kam erst gegen Mitternacht dort an, so daß ich meinen Freund nicht mehr aufsuchen konnte. Ich setzte mich also auf eine Bank; es war sehr kalt, und ich war sehr müde. Aber da kam ein Polizist und trieb mich weg – er war sicher von Gott gesandt, denn wenn ich in der Kälte sitzen geblieben wäre, so wäre ich gewiß gestorben. Eine halbbetrunkene Frau mit geschminktem Gesicht bat für mich und sagte dem Konstabler, er möge mich gehen lassen; dann gab sie mir einen Schilling. Ich konnte ihn nicht zurückweisen; ich schlief in dieser Nacht in einem Bett. Am Sonntagmorgen machte ich mich dann gleich auf den Weg und ging auf die große, nahe am Meere liegende Straße. Aber mein Mut sank, als ich sah, daß alle Läden geschlossen waren. Endlich entdeckte ich einen Juwelierladen, über dem der Name meines Landsmanns stand. In der Auslage leuchtete es von Gold und Diamanten, und dazwischen lagen kleine Zettel, darauf stand: »Großer Ausverkauf! Großer Ausverkauf!« Ich ging vergnügt auf die Tür zu, aber sie war verriegelt. Ich klopfte und klopfte, bis endlich eine Frau von oben herunter kam; sie sagte mir, daß der Besitzer des Ladens nicht hier, sondern in der Hove-Straße wohne. Ich ging dahin, und dort habe ich wirklich meinen Erlöser gefunden – freilich nicht in der Person meines Landsmannes. Es war ein großes Haus mit mehreren Treppen. Ich klopfte an einer großen Tür, die von einer schönen heidnischen Frau geöffnet wurde; sie trug ein blendend weißes Mützchen auf dem Kopfe und eine ebensolche Schürze; sie jagte mich ohne weiteres fort.

»Gestern war der Goy-Fuchs!« Der Tag des »Guy Fawkes«, d. h. also der Tag, an dem solche Scherze erlaubt sind. rief sie mit einem Fluche und schlug die Tür vor mir heftig zu. Ich setzte mich verzweifelt auf die Pflastersteine vor dem Hause, selbst meine Tränen versagten, ich wurde eine Salzsäule. Aber als ich endlich aufblickte, da sah ich den Engel des Herrn.

 

Drittes Kapitel.
Das Gemälde entwickelt sich.

So lautete die einfache Erzählung meines Modells. Ihr schlichter Realismus machte einen tiefen Eindruck auf mich, da sich mir in all diesen traurigen Details die alte Tragödie des ewig wandernden Juden enthüllte. War es Heine oder ein anderer Schriftsteller, der gesagt hat: »Das Volk Christi ist der Christus der Völker!« Auf jeden Fall war es diese Idee, die mich allmählich gefangen nahm, während ich das kummervolle Antlitz meines vielgeprüften Modells malte. Ich ging ganz von meinem ersten Plane ab und suchte einen durch sein Volk verkörperten Christus darzustellen, einen leidtragenden Christus – und wer weiß, ob er nicht durch die Leiden seines Volkes die Marter wiederum empfindet? Ja, Israel Quarriar konnte mir als Modell dienen, aber nur nachdem ich mich zu einer ganz anderen Auffassung entschlossen hatte.

Ich konnte übrigens die bereits vollendeten vorbereitenden Arbeiten zu meinem Bilde sehr gut benützen. Die Hauptsache sollte der Kopf sein, und da ich nun beschlossen, die Gestalt in der den Juden eigentümlichen Tracht des Kaftans darzustellen, hatte ich nur wenig an der Zeichnung zu ändern. Ich ging also mit erneutem Eifer an meine Arbeit, und nun, da ich zu malen angefangen und ein so brauchbares Modell gefunden hatte, fühlte ich mich viel sicherer, als da ich nur aus der Phantasie die geheiligte Gestalt, die in Galiläa wandelte, zu rekonstruieren versucht hatte.

Aber ich hatte kaum damit angefangen, mein Bild in meiner neuen Auffassung darzustellen, als ich dahinter kam, daß diese im Grunde eine sehr alte war. Sie schien sogar in der heiligen Schrift begründet zu sein, denn aus einem kurzen Berichte über die historisch-theologische Vorlesung eines protestantischen deutschen Professors erfuhr ich, daß viele der Stellen in den Propheten, die man fälschlich als Prophezeiungen auf das Erscheinen des Messias gedeutet hat, sich in Wirklichkeit auf das Volk Israels beziehen. Es ist das Volk Israel, von dem Jesaias in seinem berühmten dreiundfünfzigsten Kapitel spricht, und das er beschreibt als »verachtet und verworfen von den Menschen: »ein Mann der Schmerzen«. Israel ist es, der die Sünden der Welt trägt. »Er war beladen und betrübt, und doch öffnete er seinen Mund nicht, er ist wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt worden.« Ja, Israel war »der Mann der Schmerzen«. Ich entdeckte, daß diese Ansicht des deutschen Professors nur ein Echo des Glaubens der Rabbiner war. Mein Modell erwies sich mir als eine wahre Fundgrube dieser Wissenschaft wie vieler anderer Dinge. Er hatte sogar den Glauben des von den Juden allgemein erwarteten Erscheinens des Messias niemals geteilt – er lehrt, daß der Meschiach auf einem weißen Esel reitend kommen würde. Israel würde sich selbst erlösen, obwohl viele seiner Glaubensgenossen dies für eine epikuräische Irrlehre hielten.

»Wer immer mich erlöst, der ist mein Meschiach,« erklärte er plötzlich und ergriff meine Hand, um sie zu küssen.

»Nun erregen Sie mein Mißfallen,« sagte ich, ihn wegstoßend.

»Nein, nein,« sagte er. »Ich stimme mit dem Worte der Muschik überein: »Der gute Mensch, das ist Gott.«

»Mir scheint beinahe, daß Sie ein sogenannter Zionist sind?« sagte ich.

»Ja,« antwortete er, »und nun, da Sie mich gerettet haben, erkenne ich, daß Gott sich nur durch die Menschen offenbart. Was den Meschiach auf dem weißen Esel betrifft, so glauben sie in Wirklichkeit nicht daran, sie wollen aber trotzdem von keinem anderen Glauben wissen. Was mich betrifft, so denke ich, wenn ich jetzt bete: ›Gesegnet seist du, der du den Toten zum Leben erweckst,‹ immer nur an Sie dabei.«

Diese übertreibende orientalische Dankbarkeit hätte auch den lobgierigsten Wohltäter befriedigen müssen, sie stand in keinem Verhältnisse zu dem, was ich für ihn getan hatte. Er schien gar nicht zu begreifen, daß er mir schließlich doch eine Gegenleistung für das vereinbarte Geld bot, wenn er unermüdlich und in jedem Wetter einen meilenweiten Weg machte, um rechtzeitig in meinem Atelier zu sein. Es ist ja wahr, daß ich ihm so schnell als möglich dazu verhalf, seine Penaten einzulösen, aber konnte ich weniger für einen Mann tun, der immer noch kein Bett zum Schlafen hatte?

Ich gab ihm das nötige Geld, um das Gepäckbündel in Rotterdam einzulösen. Die Agenten in East-End forderten drei Schilling für jeden Brief, den sie in dieser Angelegenheit schrieben, und zogen die Sache so viel wie möglich in die Länge. Aber erst als einer dieser Herren erklärte, daß Kazelias ein sehr ehrenhafter Mann sei, befestigte sich in mir und meinem Modell der Verdacht, daß die lange Kette der Betrügereien bis nach London reicht, daß man absichtlich die Sache hinziehe, damit der Pfandschein Quarriars verfalle und die Eisenbahn das Recht hätte, das nicht eingelöste Gepäck zu verkaufen, wobei sie sicher Nutzen gehabt hätte.

Quarriar sagte mir dann eines Tages, daß seine zweite Tochter, die Älteste war auf einem Auge blind, sich entschlossen habe, allein nach Rotterdam zu fahren, da dies der sicherste, kürzeste Weg sei, das Eigentum der Familie zurückzuerhalten. Ich bewunderte den Mut des Mädchens und gab Quarriar das Reisegeld für sie.

Eines schönen Morgens erschien dann mein Israelit freudestrahlend in meinem Atelier.

»Wann freut sich der Mensch am meisten?« rief er. »Wenn er etwas Verlorenes wiederfindet!«

»Ach, dann haben Sie wohl endlich Ihr Bettzeug bekommen; ich hoffe, Sie haben gut darauf geschlafen,« sagte ich. An seine wunderliche Ausdrucksweise hatte ich mich schon ganz gewöhnt.

»Nein, wir konnten nicht schlafen, weil wir die ganze Nacht Segen auf Sie herabflehten. Wie sagt der Psalmist? Alles, was in mir ist, lobe den Herrn,« war die unerwartete Antwort.

Doch war die Sache bis zuletzt noch keineswegs glatt abgegangen. Die Bande des Kazelias in Rotterdam tat, als ob sie überhaupt gar nichts von dem Gepäck wisse, und schickte das Mädchen zum Bahnhofe, wo man ihr sagte, daß die Unkosten durch das Lagern des Gepäcks jetzt auf zehn Pfund Sterling gestiegen seien. Wieder wurde ihr der Becher vor dem Munde weggezogen, denn ich hatte ihr nur neun Pfund Sterling gegeben. Aber sie ging zu dem Rabbi in Rotterdam, bat ihn, ihr zu helfen und sich dafür durch die zwei silbernen Sabbatleuchter, die einzigen wertvollen ererbten Familienstücke, die in dem Bündel waren, bezahlt zu machen. Während sie noch ihn anflehte, kam ein edeldenkender Jude dazu; er bezahlte das fehlende Geld, brachte sie in ein Logis, ließ ihr zu essen geben und sorgte dann selbst dafür, daß sie sicher mit den lange verlorenen Schätzen an Bord kam.

 

Viertes Kapitel.
Ich werde Lumpensortierer.

Wochen gingen vorüber und meine Befriedigung über die Fortschritte meiner Arbeit wurde sehr gedämpft dadurch, daß ich mir sagen mußte, daß nach Vollendung meines Bildes mein Modell wieder brotlos sein würde. Es kam mir manchmal so vor, als weile sein Auge mit einer Art von hoffnungsloser Angst auf meiner Leinwand. Meine Besorgnis, was aus ihm und seiner Familie werden solle, wuchs von Tag zu Tag, aber es gelang mir nicht, ein Mittel ausfindig zu machen, Quarriar endgültig zu helfen.

Er war rührend gewissenhaft, bot alles auf, um mich zu befriedigen, und klagte niemals über Kälte und Hunger. Einmal gab ich ihm ein paar Schilling, um ein Paar alte hohe Stiefel zu kaufen, die ich für irgendein Bild gebrauchte. Es gelang ihm, diese auf dem Ghetto-Trödelmarkte lächerlich billig zu erstehen, und er brachte mir gewissenhaft das übriggebliebene Geld zurück; es war über zwei Drittel der ihm anvertrauten kleinen Summe.

Ich verkaufte um diese Zeit zufällig eine englische Landschaft an Sir Ascher Aaronsberg, den berühmten Philanthropen und Kunstmäcen von Middleton, der sich zurzeit seiner parlamentarischen Pflichten halber in London aufhielt. Da ich wußte, wie unermüdlich er ist, und daß er in steter Fühlung mit den Wohltätigkeitsangelegenheiten der Londoner Juden steht, wandte ich mich an ihn mit der Bitte, mir ein Komitee anzugeben, wohin ich mich um dauernde Hilfe für Quarriar wenden könne. Sir Ascher nahm meine Bitte in nicht sehr ermutigender Weise auf. Der Mann verstünde kein Handwerk. Indessen solle Quarriar alle auf einem mir übergebenen Papier gestellten Fragen auf das gewissenhafteste beantworten; er wolle dann sehen, was sich machen ließe. Ich sorgte dafür, daß Quarriar den Fragebogen, wie es sich gehörte, ausfüllte: Namen, Alter und Geschlecht seiner fünf Kinder usw.

Aber das Komitee kam zu dem Schlusse, das einzige, was es tun könne und wolle, sei, den Mann in sein Vaterland zurückzuschicken. »Nach Rußland zurück! Niemals!« rief Israel entsetzt.

Gelegentlich fragte ich ihn wohl, ob er selbst sich irgendeinen Zukunftsplan gemacht habe. Aus eigenem Antriebe sprach er niemals von seiner bedrängten Lage, und das ernste Schweigen, die gelassene Würde dieses armen Mannes, erschien mir unendlich rührend und pathetisch. Hin und wieder kamen etwas hellere Aussichten. Seine zweite Tochter wurde, wenn die Arbeit gut ging, für einige Schilling von dem Hauswirte, der ein Schneidermeister war, zum Helfen engagiert. Die Familie war dadurch instand gesetzt, zwei kleine Speicherzimmer zu mieten. Die halbblinde Tochter suchte durch Waschen etwas zu verdienen. Der Hauswirt gestattete ihr den Gebrauch der Waschküche.

Eines Tages aber entdeckte ich, daß er einen Zukunftsplan gemacht habe, – es war schon mehr, er hatte ihn bis in alle Details ausgearbeitet. Für mich war der Plan, den er entwickelte, ganz neu und überraschend; er bewies mir, wie sehr die Kunst, unter den schwierigsten Verhältnissen einen Lebensunterhalt zu suchen, sich in einem Volke entwickelt hat, das seit Jahrhunderten gezwungen ist, unter fast unmöglichen Bedingungen zu leben.

Sein Plan war kurz folgender: In den unzähligen Schneiderwerkstätten dieses Distrikts sammelten sich große Haufen von kleinen Stückchen Tuches jeglicher Art und Qualität und eine gewisse Klasse von Leuten, die sogenannten Sortierer waren immer bereit, diese Tuchabschnitte zu kaufen. Der Verkauf solcher Abfälle nach Gewicht und gegen Barzahlung brachte den Schneidermeistern eine ganz annehmbare kleine Rente ein, die um so willkommener war, da sie eine Art von Nebenverdienst war. Die Schneidermeister durften sogar Vorherbezahlung für diese Abfälle fordern, und die Sortierer kamen dann am Schlusse jeder Woche, um das abzuholen, was sich angesammelt hatte, bis die Vorschußzahlung, die sie geleistet hatten, beglichen war. Quarriar wollte ein Sortierer werden und hoffte, dann auch seine Töchter in gleicher Weise beschäftigen zu können. Die ganze Familie konnte ihm beim Sortieren seiner Einkäufe helfen. Die Tuchabschnitte mußten nach Qualität und Größe geordnet werden, wurden dann als Rohmaterial verkauft, um von neuem zu billigeren wollenen Stoffen verwebt zu werden. Einige seiner Landsleute hatten sich warm für ihn verwandt, und infolgedessen hatten sich mehrere Schneider bereit erklärt, ihm den Vorzug zu geben. Besonders sein Hauswirt hatte ihm fest versprochen, ihm freundschaftlich entgegenzukommen und sammelte jetzt schon alle Abfälle, um sie ihm zu überlassen, sobald er über bares Geld verfügen würde. Überdies hatten seine Freunde ihn mit einem sehr achtungswerten und ehrlichen Sortierer bekannt gemacht, der sich mit ihm assoziieren, ihn das Geschäft lehren und ihm gestatten wollte, daß seine Töchter sortieren hülfen, wenn er nur zwanzig Pfund Sterling deponieren wolle. Seine Freunde hatten sich bereit erklärt, ihm acht Pfund Sterling auf die silbernen Armleuchter vorzustrecken, wenn es ihm gelingen sollte, irgendwo die anderen zwölf Pfund Sterling aufzutreiben.

Dieser verlockende Plan nahm wirklich einen Alp von meinem Herzen. Ich beeilte mich, dem Philanthropen von Profession, der gar keinen Ausweg hatte finden können, die Mitteilung zu machen, daß ich die Absicht hätte, Quarriar dazu zu verhelfen, Sortierer zu werden.

»Ach,« antwortete Herr Ascher sehr gleichmütig, »dann sollten Sie sich an einen gewissen Conn wenden, er tut viel derartige Arbeit für mich. Er wird schon einen passenden Partner für Quarriar finden, der ihn auch in dies Gewerbe einführt.«

»Aber Quarriar hat schon einen Partner gefunden,« erklärte ich ihm.

»Das ist einer, der ihn unfehlbar betrügen wird. Zwanzig Pfund Sterling zu fordern, ist einfach lächerlich. Fünf Pfund Sterling ist ganz genug. Nehmen Sie meinen Rat an und lassen Sie alles durch Conn besorgen. Wenn ich mein Porträt gemalt haben wollte, würden Sie mir nicht raten, daß ich mich an einen Dilettanten wenden sollte. Übrigens, hier sind fünf Pfund Sterling für Ihren Schützling, aber bitte, sagen Sie Conn nicht, daß ich sie gegeben habe. Ich glaube nämlich kaum, daß mit dem Gelde irgend etwas Gutes ausgerichtet wird, und Conn möchte dann die Achtung vor mir verlieren.«

Mein Interesse für Sortieren – eine Beschäftigung, von der ich bisher noch niemals etwas vernommen hatte – war abnorm gewachsen; ich interessierte mich für die Details, hatte ausgerechnet, welcher Vorteil bei hundert Pfund Abfällen, die zu fünfzehn Schilling eingekauft worden, zu erzielen wäre, nachdem sie sortiert, geordnet und zu verschiedenem Preise verkauft wurden. Ich machte diese Berechnungen mit einem Eifer, als solle ich mir selbst den Lebensunterhalt durch Sortieren verdienen.

Ich gestehe, daß es mich einigermaßen befremdete, daß Sir Ascher der Ansicht war, die Kosten einer Partnerschaft seien so sehr viel geringer, wie Quarriar mir gesagt hatte, aber ich war dazu geneigt, den Skeptizismus dieses Herrn auf Kosten des Pessimismus zu setzen, der die Plage professioneller Philanthropen ist.

Auf der anderen Seite mußte ich jedoch zugeben, daß, gleichviel ob die Partnerschaft fünf Pfund Sterling oder zwanzig Pfund Sterling koste, Quarriars Zukunft sicherer unter dem Schutze von Sir Ascher und seines Conn sein würde. So übergab ich also diesem die fünf Pfund Sterling und bat ihn, für Quarriar einen passenden Partner, Führer und Freund zu suchen.

Mit dem Tage, an dem ich mit Conn gesprochen hatte, fingen meine Sorgen an, der dritte und letzte Akt der Tragikomödie begann.

Ich fand sehr bald heraus, daß es Quarriar und seinen Freunden durchaus nicht paßte, daß Conn sich in die Sache mischen solle. Sie behaupteten, er begünstige einige Leute auf Kosten anderer und sei gar nicht populär unter den Angestellten, mit denen er arbeite. Es wurde mir vollständig klar, daß Quarriar viel lieber seinen eigenen Weg gegangen wäre, und daß eine offizielle Einmischung ihm nicht paßte.

Etwas später erhielt ich einen Brief von Sir Ascher, in dem er mir mitteilte, daß der Partner, den Quarriars Partei in Vorschlag gebracht habe, ein fauler Kunde sei. Conn hatte einen ordentlichen Mann gefunden, aber wie die Sachen stünden, sei wenig Aussicht dafür, daß Quarriars Zukunft sich besser gestalten würde.

Es schien mir, als mißtraue Sir Ascher auch Quarriar, aber ich tröstete mich damit, daß er ja in meinem Modell nur einen ganz gewöhnlichen, seine Hilfe in Anspruch nehmenden Bittsteller sähe, während ich, der ich monatelang in täglicher Berührung mit ihm gestanden, ihn ja ganz anders und von einem menschlicheren Standpunkte aus beurteilte.

Der Frühling war nun nahe. Ich vollendete mein Bild in den ersten Märztagen – nachdem ich vier Monate lang angestrengt daran gearbeitet hatte; ich nahm Abschied von meinem Modell, schüttelte ihm die Hand und empfing seinen Segen. Es verdroß mich etwas, als ich erfuhr, daß Conn ihm noch nicht die fünf Pfund Sterling gegeben, deren er bedurfte, um sein neues Gewerbe zu beginnen; ich hatte gehofft, daß er, sobald unsere Sitzungen vorüber wären, den Anfang damit machen würde. Ich gab ihm ein kleines Geschenk, um ihn während der Wartezeit über Wasser zu halten.

Aber es war, als ob das tragische Antlitz auf meiner Leinwand mich verfolge, mich früge, was aus seiner Zukunft werden sollte, und es waren kaum ein paar Tage verflossen, als ich mich aufmachte, um Quarriar in seiner Wohnung aufzusuchen. Er wohnte in der Nähe der Ratcliffe-Straße, ein Distrikt, der nichts von dem unruhigen romantischen Treiben der Matrosen hatte, das ich in meinen Gedanken immer damit verbunden hatte.

Das Haus war ein niedriges Gebäude, das sicher noch aus dem sechzehnten Jahrhundert stammte; die Hausnummer war mit Kreide auf die mit Schmutz bedeckte Tür geschrieben. Der Zufall wollte es, daß ich gerade am Tage des jüdischen Passahfestes kam. Quarriar wurde heruntergerufen: er war offenbart erstaunt und nicht darauf vorbereitet, daß ich ihn in seiner bescheidenen Wohnung aufsuchte, aber er schien sich sehr zu freuen und führte mich die steile, enge Treppe hinauf, mein Kopf stieß dabei beinahe an die Decke, während ich hinter ihm hinaufkletterte. Auf der ersten Etage kam uns der Hauswirt in festlicher Kleidung entgegen, stellte sich mir in englischer Sprache vor (die er höchst unkorrekt sprach), protestierte dagegen, daß ich noch höher steigen solle und vollständig Besitz von mir ergreifend, führte er mich in seine gute Stube, als ob es ganz unpassend sei, daß sein Mieter einen wirklichen Herrn in seinem Dachzimmer empfinge.

Er war ein stämmiger junger Bursche, der gescheit und kräftig aussah – ein direkter Gegensatz zu Quarriars gebeugter würdevoller Gestalt, deren Armut und leidendes Aussehen doppelt bemerkbar wurde, wie er in dem kleinen getäfelten Zimmer mit dem eleganten, aus Nutzholz geschnitzten Kabinett, den bunten Farbendrucken und den ausgestopften Vögeln, gebeugt und demütig dastand. Der Schneidermeister hielt sich offenbar dazu berufen, die Sache des armen Burschen zu verfechten und protestierte heftig gegen die Partnerschaft, die Quarriar durch den berüchtigten Conn aufgedrungen werden sollte. Obwohl er sich das kaum leisten könne, hielt er doch schon die ganze Zeit über alle Abfälle fest, trotz der verlockenden Anerbietungen, die ihm von anderer Seite gemacht worden; man hatte ihm schon einen Schilling für den Sack geboten. Aber das sähe er nun doch nicht ein, daß ein ihm ganz Fernstehender, der durch das philanthropische Faktotum aufgedrängt werde, den Nutzen von seiner Güte haben solle. Er erzählte mir mit beredten Worten von den Sorgen und Entbehrungen seiner Mieter in zwei engen Speicherstübchen. Während dieser ganzen Zeit bewahrte Quarriar seine stille würdige Haltung und sprach nur dann ein Wort, wenn ich ihn direkt anredete.

Der Hauswirt holte zu Ehren des vornehmen Gastes eine Flasche mit Fruchtlimonade und Rum, und wir alle stießen miteinander an; der junge Schneidermeister strahlte vor Vergnügen, als er sein Glas wieder hinsetzte.

»Ich habe gute Gesellschaft gern,« rief er, ohne sich bewußt zu sein, daß seine Familiarität mir gegenüber ziemlich unverschämt sei.

Ich brachte das Gespräch wieder auf das Thema, das augenblicklich für mich von so großem Interesse war, nämlich auf das Sortieren. Es fiel mir erst nachher ein, daß ich an einem so hohen jüdischen Feiertage vielleicht besser nicht von weltlichen Dingen hätte sprechen sollen, aber der Hauswirt hatte ja zuerst davon angefangen, und er wie Quarriar ließen sich sofort auf eine Diskussion dieses Gegenstandes ein. Der Hauswirt fing wieder an, darüber zu klagen, wie traurig es für Quarriar wäre, wenn er wirklich gezwungen würde, den von Conn vorgeschlagenen Partner anzunehmen, als Quarriar schüchtern damit herauskam, daß er schon den Kontrakt mit dem künftigen Teilnehmer des Geschäfts unterschrieben habe, obgleich er das versprochene Kapital von Conn noch nicht erhalten habe, noch näheres von ihm über den betreffenden Mann erfahren habe. Der Hauswirt schien sehr überrascht und ärgerlich zu sein, als er dies erfuhr, er spitzte förmlich die Ohren, als Quarriar das Wort »unterschrieben« aussprach und warf ihm einen entsetzten Blick zu.

»Unterschrieben!« rief er in jüdischer Sprache. » Was hast du unterschrieben?

In diesem Augenblick kam die junge Frau des Hauswirtes zu uns in das »gute Zimmer«. Sie trug ein hübsches Kind am Arme, während ein anderes sich verlegen an die Mutter drängte. Sie sah zufrieden und heiter aus, und die ganze Häuslichkeit machte den Eindruck des Glückes und des Gedeihens; sie bildete einen schneidenden Kontrast zu dem anderen Heim, zu dem ich dann kurz darauf die steile, dumpfe Treppe hinaufkletterte. Ich war kaum auf den traurigen Anblick vorbereitet, der mich oben erwartete. Es waren weniger die ärmlichen, schmutzigen Zimmer, in denen sich nur ein paar Matratzen, ein wackliger Holztisch, ein paar Stühle und ein Haufen von Passahkuchen befanden, als vielmehr die abstoßende Häßlichkeit der drei Frauen, die verlegen und vor dem wichtigen Besuche errötend dastanden. Die Frau und Mutter war sehr klein und sah beinahe wie eine Zwergin aus; sie trug eine schwarze Perücke. Die Töchter waren vierschrötig, mit talgfarbenen runden Gesichtern, die an die Abstammung von russischen Bauern erinnerten, das älteste der Mädchen mit dem blinden Auge war abschreckend häßlich.

Wie wenig kennen meine akademischen Freunde mich, wenn sie glauben, daß das Häßliche mich anzöge! Die Wahrheit ist, daß ich manchmal durch die Häßlichkeit eine Schönheit schimmern sehe, für die sie blind sind. Ich gestehe aber, daß ich hier nur das krasseste Elend und eine abschreckende Häßlichkeit fand. Dieser trostlose Anblick, verbunden mit der verdorbenen drückenden Luft, wirkte so auf mich, daß mir ganz übel würde.

»Darf ich das Fenster aufmachen?« fragte ich unwillkürlich.

Der liebenswürdige Hauswirt, der mir auf dem Fuße gefolgt war, beeilte sich, meinen Wunsch zu erfüllen, und nachdem ich wieder freier atmen konnte, fand ich, daß die ganze Szene trotz ihrer Gemeinheit etwas unendlich Tragisches hatte. Mein Auge fiel wieder auf die Gestalt Quarriars, der immer noch in gebeugter, aber königlicher Haltung dastand; es war allerdings hier sehr notwendig, daß er sich nicht hoch aufrichtete, denn dann würde er sein stolzes Haupt an der niedrigen Decke zerstoßen haben.

Gewiß, wenn ich eine hübsche Frau mit reizend graziösen Töchtern gefunden hätte, so würde das Bild ein ganz anderes und nicht so tragisches gewesen sein. Da stand Israel, von Häßlichkeit und Gemeinheit umgeben, ohne dabei seiner königlichen Würde etwas zu vergeben – wahrlich, dies war »der Mann der Schmerzen«.

Ehe ich fortging, fiel mir plötzlich ein, nach den drei jüngeren Kindern zu fragen. Der Vater sagte mir, daß sie immer noch bei dem freundlichen Wohltäter seien.

»Ich denke, wenn es mit dem Sortieren gut geht und Sie Glück haben, werden Sie die Kinder wieder zu sich nehmen?«

»Gott gebe es,« antwortete er. »Meine Seele schmachtet nach diesem Tage.«

Gegen meine ursprüngliche Absicht ließ ich die sieben Pfund Sterling, die ich für ihn bestimmt hatte, in seine Hand gleiten. »Wenn es mit dem Geschäftsteilnehmer auf die Dauer nichts sein sollte, so versuchen Sie es allein,« sagte ich.

Er begleitete mich mit Segens- und Dankesworten die steile Treppe hinab. Seine Frauen verharrten in verlegener, scheuer Haltung, und ohne daß eine von ihnen auch nur ein Wort gesagt hätte.

Als ich nach Hause kam, fand ich ein Telegramm aus dem Pfarrhause vor. Mein Vater war gefährlich krank. Ich ließ alles im Stiche und eilte, ihn pflegen zu helfen. Mein Bild wurde deshalb nicht auf die Ausstellung gesandt – ich konnte es nicht dahin abgehen lassen, ohne einen letzten prüfenden Blick darauf zu werfen und vielleicht hie und da ein wenig nachzuhelfen. Als ich nach ein paar Monaten in die Stadt zurückkehrte, war das erste, wozu der Anblick meines Bildes mich anregte, der Gedanke, wie es wohl mit Quarriar gehen möge? Ich verließ mein Atelier und telephonierte an Sir Ascher Aaronsberg in dem Londoner Bureau seines großen Middletoner Geschäftes.

»Der« – ich vernahm den verächtlichen Ton deutlich durch das Sprachhorn – »hat längst umgeschmissen. Es ist gerade so gekommen, wie ich erwartet habe.« Mir schien, als vernähme ich, wie der Philanthrop von Profession triumphierend lachte. Ich war sehr erregt darüber, und ehe ich meine Fassung wieder gefunden hatte, war der Anschluß mit Sir Ascher abgeschnitten. Am Abend erhielt ich ein Briefchen von ihm, in dem er mir mitteilte, daß Quarriar ein Schuft sei, der aus Rußland habe fliehen müssen, weil er, ohne die Berechtigung zu haben, Spirituosen verkauft hätte. Er hätte nur zwei, höchstens drei ältere Töchter: die drei jüngeren Kinder seien ein Märchen. Für den Augenblick war ich sehr betroffen, dann aber kehrte mein voller Glaube an Israel zurück. Diese drei Kinder sollten eine Erfindung seiner Phantasie sein? Unmöglich! Ich erinnerte mich zahlloser kleiner Anekdoten über diese Kinder, von denen er offenbar mit großem väterlichen Stolze sprach. Er hatte mir sogar die drolligen Bemerkungen wiederholt, die die Jüngste gemacht, nachdem sie zum erstenmale in einer englischen Schule gewesen war. Es war doch ganz unmöglich, solche Dinge zu erfinden. Nein, ich konnte unmöglich an der Wahrheit der Erzählungen meines Modells zweifeln, besonders da er in jenen Tagen, als er bei mir verkehrte, keinen Grund hatte, das Geringste von mir zu erwarten und mich jedenfalls niemals um irgend etwas gebeten hatte. Ich erinnerte mich deutlich jener tragischen Episode, wie er beschrieb, daß diese drei Kleinen, nachdem sich eine mitleidige Seele ihrer erbarmt hätte, sich ängstlich versteckt hatten, als der eigene Vater sie besuchte, weil sie fürchteten, er könne sie wieder mitnehmen, um Hunger und Kälte zu erdulden. Wenn Quarriar solche Dinge erfinden konnte, so war er ein Dichter, denn in der ganzen, das Elend hungernder Armut schildernden Literatur erinnerte ich mich keiner so packenden Stelle.

Ich ging zu Sir Ascher. Er sagte, Quarriar habe, als Conn von ihm gefordert habe, daß er die Kinder vorführe, das verweigert. Ebenso habe er abgeschlagen, darauf bezügliche Fragen zu beantworten. Ich fand, daß er da ganz im Rechte sei. »Man sollte den Mann nicht durch so lächerliche Beschuldigungen beleidigen,« sagte ich. Sir Ascher lächelte fein und verbarrikadierte sich wie gewöhnlich hinter einer undurchdringlichen Mauer von offiziellem Mißtrauen und Pessimismus.

Ich schrieb Quarriar, daß er sofort auf mein Atelier kommen möge. Er kam auch gleich mit gesenktem Haupte zu mir. Seine Züge waren noch bleicher und kummervoller geworden; man sah ihm an, daß er schwer gelitten. Ja, es war die Wahrheit, mit dem Sortieren war es vorbei. In den ersten Wochen war alles sehr gut gegangen. Er hatte selbst die Lumpen aufgekauft und hatte dem ihm von Conn aufgezwungenen Geschäftsteilnehmer verschiedene Male Geld gegeben, um dasselbe zu tun. Sie hatten zusammen gearbeitet und zu diesem Zwecke einen Keller gemietet, zu dem sein Associé den Schlüssel hatte. Es war im Anfange alles so glatt und gut gegangen, daß er sogar den Reservefonds von sieben Pfund Sterling, den ich ihm gegeben hatte, in das Geschäft gesteckt hatte. Er hatte nicht den kleinsten Verdacht mehr gehegt, da man den Gewinn wöchentlich teilte. – Jeder bekam gewöhnlich siebzehn Schilling –, der ganze Keller war voller Vorrat, den sie gemeinschaftlich eingekauft hatten. Aber als er dann eines Morgens an die Arbeit gehen wollte, fand er den Arbeitsraum abgeschlossen, und als er nach der Wohnung des Geschäftsteilnehmers ging, um eine Erklärung dafür zu fordern, lachte ihn der Mann aus. Er behauptete, daß der ganze Vorrat im Keller jetzt ihm gehöre, denn Quarriar habe nicht nur das Anlagekapital für sich verbraucht, sondern außerdem auch den ihm zukommenden Anteil des aus dem Verkaufe der Lumpen gezogenen Profits.

»Außerdem war dieses Geld nicht Ihr Geld,« war das fernere Argument dieses Schurken, »und warum sollte ich nicht ebensogut wie Sie aus der christlichen Einfalt Nutzen ziehen?«

Conn glaubte unbedingt nur seinem Manne, denn man hatte die Bedingungen nicht schriftlich vereinbart, sondern nur mündlich, und die Aussage Quarriars war in direktem Widerspruche mit der von Conns Vertrauensmann. Dieser war es auch, der die elende Beschuldigung aufgebracht, daß die drei jüngeren Kinder nicht existierten, und der Conn diese Verleumdung in die Ohren gehängt hatte. Aber Gott sei Dank, die lieben Kleinen waren wohlauf, er hatte sie, sobald es ihm besser ging, natürlich nach Hause geholt. Nun aber, da er wieder aussichtslos in die Zukunft sah und nichts zum Leben hatte, war er froh gewesen, sie wieder seinem gastfreiem Landsmanne Nathan Beck anvertrauen zu können.

»Sie können mir die Kleinen ganz entschieden vorführen?« fragte ich.

Er sah mich traurig an, mein Mißtrauen kränkte ihn. Mein Glaube an seine Rechtschaffenheit. sagte er, sei das einzige in dieser Welt, worauf er Wert legte. Ich entließ ihn mit einer Kleinigkeit, nur gerade genug, ihn für die nächste Woche über Wasser zu halten; ich war fest entschlossen, daß der ehrliche Name dieses armen Mannes gerettet werden sollte. Der niederträchtige Geschäftsteilnehmer mußte entlarvt und die Augen meines wohltätigen Freundes und Conns endgültig geöffnet werden; sie mußten davon überzeugt werden, daß man sie getäuscht und sie sich daher einer Ungerechtigkeit schuldig gemacht hatten. Wieder schrieb ich meinem Freunde. Wie gewöhnlich antwortete Sir Ascher freundlich und ohne das geringste Zeichen von Ungeduld. Ob es mir nicht möglich sei, Quarriar zu veranlassen, so deutlich und klar wie möglich schriftlich mitzuteilen, wie denn eigentlich die ganze Sache sich zugetragen habe?

Ich forderte Quarriar also auf, einen solchen Bericht herzustellen, und er sandte mir dann eine in verquicktem Englisch – wahrscheinlich das des Hauswirts – geschriebene Erklärung.

Dieser Erklärung stellte mein philanthropischer Freund die Aussage des Geschäftsteilnehmers, gegenüber. Er wäre bereit, in Quarriars Gegenwart die Wahrheit seiner Aussagen zu beweisen und Quarriar der Lüge und des groben Betruges zu überführen, was die Angelegenheit mit den Kindern beträfe, so fordere er Quarriar auf, diese vorzuführen.

Vergebens versuchte ich, Licht in diese verworrene Angelegenheit zu bringen. Meine Gedanken schwirrten durcheinander. Mir schien, als ob kein Gerichtshof, und wenn er noch so scharfsinnig sei, bis auf den Grund dieser Sache dringen könne. Die Namen der aufgeführten Zeugen waren ein Beweis dafür, daß zwei feindliche Parteien einander gegenüberständen, und daß Quarriar ganz gewiß nichts ohne seine Ratgeber unternahm.

Diese ganze Affäre fing an, sehr unangenehm für mich zu werden, ich wurde von einander widersprechenden Gefühlen bewegt und schwankte zwischen der Furcht, betrogen zu werden, und der Überzeugung, daß ich Quarriar durchaus vertrauen müsse.

Wie sollte man in einer so verwirrten Angelegenheit das Falsche von dem Wahren erkennen? Doch war mein Interesse für Quarriar so groß, daß ich mich nicht zufrieden geben konnte, bis ich zu erforschen gesucht, ob er ein Apostel oder ein Ananias sei. Ich war also nun selbst ein Lumpensortierer geworden, der in schmutzigen Dingen wühlte! War hier ein schwarzer, dort ein weißer Lumpen, oder waren beide Lumpen gleich unsauber? Was die Kinder betraf, so müßte es doch eigentlich ganz leicht sein, festzustellen, ob ein Mann fünf oder zwei Töchter hatte; aber je mehr ich über diese Sache nachdachte, um so verwickelter erschien sie mir. Selbst wenn er mir drei kleine Mädchen vorführte, würde es für mich doch ganz unmöglich sein, darüber zu entscheiden, ob sie wirklich die Kinder meines Modells wären. Das Urteil des Salomo, der das Kind in zwei Stücke wollte hauen lassen, um zu sehen, wessen Herz dadurch gerührt wurde, konnte ich nicht wohl in Anwendung bringen.

Sogar angenommen, daß Israels Geschichte in diesem Punkte nicht auf Wahrheit beruhe, was sollte man von den anderen Dingen denken? War denn Kazelias auch bloß ein Mythos? War die zweite Tochter überhaupt nach Rotterdam gereist? War es nur ein schlauer Kniff seitens des Hauswirtes, mich in seine gute Stube zu bugsieren, um die nötige Zeit zu gewinnen, aus den Dachstuben alle Spuren von Behäbigkeit wegzuräumen? Wo blieben denn die silbernen Leuchter? Diese und ähnliche Fragen umwogten und quälten mich. Dann tauchte aber vor mir die wundfüßige Gestalt auf dem Pflaster von Brighton auf. Mir kamen die Monate in Erinnerung, die er fast ganz mit mir verlebte, wie auch unsere zahllosen Unterhaltungen. Und als »der Mann der Schmerzen« sich von meiner eigenen grundierten Leinwand vorwurfsvoll vor meinen Blicken erhob, sein edles Haupt niedersenkend, da kehrte mein unerschütterter Glaube an seine Würde und Redlichkeit zurück.

Ich besuchte Sir Ascher – ich mußte nach dem Unterhause gehen, um ihn zu treffen. Praktisch, wie er ist, wußte er sofort, was unter diesen Umständen geschehen müsse. Er bestimmte einen Termin, an dem alle Beteiligten sich in seinem Bureau zu versammeln hätten; er selbst, ich, Conn, Quarriar und sein Partner sowie alle Zeugen, die beide Parteien aufbringen wollten. Vor allem aber mußte Quarriar die drei Kinder mitbringen.

Als ich in mein Atelier zurückkam, fand ich dort Quarriar, der auf mich gewartet hatte. Er war gekommen, um mir sein Herz auszuschütten und sich bitterlich darüber zu beklagen, daß gegen ihn intriguiert würde. Die Luft erschiene ihm so erfüllt von Verräterei, daß er kaum zu atmen wage. Er fürchtete, daß sogar seine Freunde, aus Furcht, Sir Ascher und Conn zu beleidigen, sich gegen ihn wenden würden. Selbst sein Hauswirt hätte gedroht, ihn hinauszuwerfen, weil er in den letzten zwei Wochen außerstande gewesen wäre, die Miete zu bezahlen.

Ich sagte ihm, daß er einen Brief erwarten könne, in dem er auf Sir Aschers Bureau bestellt würde, daß er mich da auch finden würde und daß ihm da Gelegenheit werden sollte, sich zu rechtfertigen und Auge in Auge mit seinem betrügerischen Partner sein gutes Recht festzustellen. Er ging freudig auf diesen Vorschlag ein, versprach zu kommen und die drei Kinder mitzubringen. Ich leerte meine Börse in seine Hand, es waren drei bis vier Pfund darin, und er versprach mir, daß er nun, wenn er ganz aus all diesen Unannehmlichkeiten heraus sei, frisch anfangen wolle. Er verstände ja jetzt das Geschäft und würde als Lumpensortierer vorwärts kommen. So schied diese königliche Gestalt von mir.

Das nächste Dokument, das ich in dieser cause célèbre erhielt, war ein Brief von Conn, der mir mitteilte, daß er alle Vorbereitungen zu der großen Zusammenkunft getroffen habe.

»Sir Aschers Privatzimmer wird Ihnen zu dieser Untersuchung zur Verfügung stehen. Der Fragebogen, den Quarriar deutlich ausgefüllt hat, läßt kaum Zweifel an seiner Schuld. Der Geschäftsteilnehmer wird dort sein, und ich werde Quarriars Hauswirt auffordern, sich ebenfalls einzustellen, wenn Sie dies für notwendig halten. Ich füge hinzu, daß ich Grund habe, ganz gewiß zu sein, daß Quarriar gar nicht vorhat, zu erscheinen. Er wird es versuchen, auf irgendeine Weise die Verabredung nicht einzuhalten.«

Ich schrieb sofort ein paar Worte an Quarriar und erinnerte ihn daran, daß es absolut notwendig sei, mit den Kindern zu kommen, selbst wenn sie deshalb die Schule versäumen müßten.

Ich gebe seine Antwort wörtlich wieder:

Lieber Herr!

Bezugnehmend auf Ihren werten Brief, so danke ich Ihnen vielmals für die Mühe, die Sie sich meinetwegen gegeben haben. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß ich mich weigere, vor dem Komitee zu erscheinen, das Sie zusammengerufen haben, da ich einen anonymen Brief erhalten habe, der mich davor warnt, die Wahrheit zu sagen, und der mich mit Unglück und Leid bedroht, wenn ich es dennoch wagen wollte. Es steht auch ganz fest, daß dieser Herr der Wahrheit nicht bedarf. Er hilft nur, wem er helfen will. Deshalb werde ich nicht kommen und wünsche, daß Sie, mein lieber Herr, sich auch nicht bemühen, hinzugehen. Deshalb, wenn Sie mir zu helfen wünschen, ist es sehr gut, und werde ich Ihnen sehr dankbar sein, und wenn nicht, werde ich ohne Ihre Hilfe fertig werden und nur auf des Allmächtigen Beistand vertrauen. Bitte also sich nicht weiter meinetwegen zu bemühen, da ich nichts riskieren will. Ich bin Ihr gehorsamer und dankbarer Diener

Israel Quarriar.

P. S. Am letzten Mittwoch war ein Mann bei meinem Hauswirt, der ihn nach mir ausfragte, und ihm zuletzt sagte, daß ich so aussagen müsse, wie man es mir befehlen würde, und nicht wie ich es möchte. Ich füge den Brief bei, den ich erhalten habe, er ist in jüdischer Sprache geschrieben. Bitte, zeigen Sie ihn keinem Menschen, sondern zerreißen Sie ihn, sobald Sie ihn gelesen haben, da ich ihn keinem anderen anvertrauen möchte. Ich möchte gern auf das Bureau kommen und Ihren Rat befolgen. Aber mein Leben ist mir lieber. Deshalb sollten Sie sich auch nicht bemühen hinzugehen. Ich fürchte, Ihnen für Ihre freundliche Hilfe undankbar zu erscheinen; handeln Sie in Zukunft, wie Sie wünschen.

 

Fünftes Kapitel.
Das letzte Stadium.

Dieser Brief erschien mir entscheidend. Ich bemühte Herrn Conn nicht, den in Jüdisch geschriebenen Brief für mich zu übersetzen. Ich war überzeugt, daß Quarriar selbst die düster-romantischen Phrasen diktiert hatte. So viel Intriguen, Verwicklungen, Verrätereien und Kriegslisten in einer so einfachen Sache! Wie es nur möglich war, daß Quarriar im Ernste dachte, ich würde seinen Worten glauben! Mit meinem Verdruß über diese Affäre mischte sich ein gewisser Ärger darüber, daß Quarriar mich für so dumm gehalten hatte.

Bei ruhigerem Nachdenken sagte ich mir, daß er wie ein richtiger Russe geschrieben, der noch ganz mittelalterliche Begriffe hatte. In dem ersten Augenblicke hatte ich nur die Empfindung, daß ich hintergangen und meine Güte mißbraucht worden sei. Monate hindurch hatte dieser Mensch mir etwas vorgelogen. Tag für Tag hatte er mich mit Unwahrheiten umsponnen. Ich hatte geglaubt, soviel Menschenkenntnis zu besitzen, daß ich gar nicht daran zweifelte, er würde mit seinen drei jüngeren Kindern erscheinen, jeden geforderten Beweis darbringen und vollständig rein und triumphierend aus dieser Affäre hervorgehen. Mein verletzter Stolz, mein Zorn, so niederträchtig betrogen zu sein, regten mich derartig auf, daß ich nahe daran war, das von meiner Leinwand herabblickende königliche Dulderantlitz endgültig zu zerstören. Aber es sah mich so traurig und mit solcher süßen Würde an, daß ich die schon aufgehobene Hand zurückzog und beinahe geneigt war, trotz alledem den Glauben an Quarriars Rechtschaffenheit nicht sinken zu lassen. Ich fing an, Entschuldigungen für ihn zu suchen, stellte mir vor, wie seine Nachbarn, die besser wie er menschenfreundliche Herzen auszunützen verstanden, auf ihn eingedrängt haben mochten. Man hatte ihm zweifellos gesagt, daß nur zwei Töchter keinen Eindruck auf die kieselharten Herzen der Vertreter bureaukratischer Wohltätigkeit machen würden, daß, um sie zu erweichen, er die Zahl seiner Kinder vermehren müsse. So war er allmählich in ein Netz von Unwahrheiten verstrickt worden, aus dem, obwohl seine bessere Natur davor zurückbebte, es doch kein Entweichen gab. Dann fiel mir ein, daß er auch in Rußland einen ungesetzlichen Beruf verfolgt hatte, daß er ferner einem Freunde geholfen hatte, vom Militär freizukommen. Mein Mißtrauen erwachte aufs neue. Aber es war, als sähe das ernste Antlitz mich vorwurfsvoll an, es schien, als wolle es dem, der es geschlagen, auch die andere Wange darreichen. Ungesetzlicher Beruf! Nein; es ist das Gesetz selbst, das grausame, unmögliche Gesetz, das, indem es den Juden alle Erwerbsquellen abschneidet, sie dazu zwingt, es zu übertreten! Es war das Land, in dem es illegal zuging – dieses grausame Land, dessen Grenzen man nur durch Beamtenbestechung und Betrug überschreiten konnte, das auch aus Quarriar einen Betrüger gemacht, wie aus allen schwachen Menschen, wenn sie um das nackte Leben kämpfen müssen. Allmählich lernte ich milder denken. Ich zweifelte nicht daran, daß das, was er mir über seine traurigen Fahrten von Rußland nach Amsterdam und London und dann von dort nach Brighton erzählte, im allgemeinen wahr war. Aber selbst wenn er schuldlos wie eine Taube sein sollte, so erschien die Schlechtigkeit Kazelias, die seines Geschäftspartners, seiner Brüder in Israel und im Exil darum nur um so dunkler und verwerflicher.

So geschah es, daß die Vision des »Mannes der Schmerzen«, die mir beim Schaffen meines Bildes vorschwebte, allmählich eine andere Gestalt annahm. Ich ergriff meinen Pinsel, nahm hier und da eine kleine Änderung vor, bis plötzlich das Antlitz des »Mannes der Schmerzen« einen verschlagenen und schuldbewußten Ausdruck annahm. Als ich dann zurücktrat, um mein Werk anzusehen, war ich überrascht von der fast photographischen Ähnlichkeit, die es jetzt mit meinem Modell hatte. Denn dieser Ausdruck der Schuld war stets darin gewesen, obwohl ich ihn nicht zu deuten gewußt und daher unbewußt ausgemerzt hatte. Nun, da ich ihn vielleicht etwas übertrieben, hatte ich, wenn ich mich so ausdrücken darf, vielleicht nach der entgegengesetzten Richtung idealisiert. Je länger ich aber grübelnd vor diesem neuen Antlitze stand, um so mehr erkannte ich, daß diese Rückkehr zu größerer Einfachheit und wahrem Realismus mir dazu verhalf, ein vollkommenes Kunstwerk zu schaffen. Denn wahrlich, das ist das Hochtragische des Schicksals der Kinder Israel, daß ein Volk, das in erhabener Weise allen Stürmen getrotzt, dabei gleichzeitig in den Kot gezerrt und tief verdorben worden ist. Es ist König und – Sklave in einer Person. Zweitausend Jahre hat Israel den Verlust des Vaterlandes, den Druck der Verfolgung erlitten, dabei sind seine Kleider zerrissen und seiner Seele ist ein Brandmal aufgedrückt worden.

Volle zweitausend Jahre nur für eine Idee zu leiden, ist ein Privilegium, das der Herr nur den Kindern Israel, dem Volke Gottes, verliehen hat. Das wäre an sich keine Tragödie, sondern ein [heroisches] Epos, wie der Prophet Jesaias es verkündete. Die wahre Tragödie, der schwerste Kummer liegt in dem Martyrium, daß Israel seiner Leiden unwürdig geworden ist. Ein Sinnbild des Volkes Israel – dieses Tragöden auf dem Kothurn des Komödienspielers – ist es, das ich in meinem »Manne der Schmerzen« darzustellen versucht habe.


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