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XVI.

Zwei Wochen nach ihrem Eintreffen in Berlin war Iduna vollständig eingerichtet. Die Werner sorgte für alles. Iduna hatte sich dagegen gesträubt, auch nur ein einziges Stück ihrer ersten Einrichtung herüber zu nehmen. Sie ließ alles unter der Hand verkaufen, ohne selbst einen Fuß in die alte Wohnung zu setzen. Manchmal sprach die Werner davon, Iduna möchte doch in dieser oder jener Angelegenheit den Herrn Doktor um Rat fragen, aber Iduna wehrte mit einer solchen Angst ab, daß die Wärterin den Namen Deltens nicht mehr nannte.

Iduna jedoch merkte sehr bald, daß sich die Werner ins Einvernehmen mit Delten gesetzt hatte. Sie fühlte es auch instinktiv heraus, wann die Werner einmal mit dem Kinde bei Delten gewesen war. Aber sie fragte nicht.

Sie wurde sehr scheu und still; blieb am liebsten allein in ihrem Zimmer und blickte zum Fenster hinaus, als wartete sie auf jemand ...

Aber es kam niemand.

Einmal im Januar läutete es, und ein eleganter Herr trat in ihr Zimmer. Es war Doktor Stahl.

Sie erkannte ihn gleich und wurde sehr rot, er aber stutzte, als stünde er einer fremden Erscheinung gegenüber. Dann küßte er ihr leicht die Hand, mit verbindlichem Geplauder die erste Befangenheit bannend.

»Ganz zufällig, im Adreßkalender, fand ich Ihren Namen. Ich hatte schon von Ihrer Scheidung gehört, wußte aber nicht, daß Sie in Berlin seien. Das war eine freudige Überraschung für mich, und es drängte mich, Ihnen aufs neue meine Verehrung zu bezeugen.«

Dann erzählte er von seinem Aufenthalt in England und daß er jetzt eine Klinik in Berlin eröffnet hätte.

»Und Sie, Frau Doktor, leben immer wie eine kleine Einsiedlerin? Sie sehen auch ganz trübsinnig aus. Das muß anders werden.«

Er erzählte von Bekannten. Der hatte geheiratet, jener Bankrott gemacht, Frau X. war gestorben und Frau Y. tröstete den Witwer.

»Haben Sie nichts mehr von Frau Reitz gehört?« fragte Iduna.

»Ja ... die soll in Paris geheiratet haben.

Jetzt lebt sie mit ihrem Mann in Düsseldorf, ist Kunstmäcenin, es soll ihr sehr gut gehen und auch den Künstlern, die sie protegiert.«

Er lächelte perfid, war aber plötzlich betroffen von Idunas Blässe.

»Sind Sie nicht wohl?«

»O doch ... doch ...«

Das Gespräch schleppte sich noch eine Weile fort, dann erhob sich der junge Arzt.

»Darf ich hoffen, Sie noch öfter besuchen zu können?«

Iduna sah ihm gerade ins Gesicht – eine Sekunde lang, dann sagte sie einfach, aber bestimmt:

»Nein, bitte nicht.«

»Darf ich fragen – warum nicht?«

»Ich will nicht da enden, wo Frau Reitz angefangen hat,« antwortete sie herb.

Er nahm eine kühle, ja frostige Haltung an.

»Ich verstehe Sie nicht, gnädige Frau. Sie scheinen meine Intentionen zu verdächtigen ...«

»Intentionen? O, Intentionen haben Sie vielleicht noch keine.«

»Nur die, Ihnen einige Zerstreuung in Ihr einsames Leben zu bringen.«

»Die Sie mir wieder nach Belieben entziehen können, wenn es Ihnen langweilig geworden ist.«

»Sie blicken weiter in die Zukunft, als ich selbst es tue. Aber ich will aufrichtig sein. Ich hege eine große Sympathie für Sie, seit Jahren ... Das wissen Sie. Ich war öfters ein paar Stunden in Sie verliebt. Aber jetzt bin ich's nicht – ich schwöre es Ihnen. Sie zwingen mich, aufrichtig zu sprechen. Sie sind nicht mehr so ... hübsch wie früher. Sie sehen abgehärmt, vergrämt aus – Sie flößen mir eher Mitleid ein. Ich möchte Sie wieder jung und froh sehen ... dann freilich ... wenn es mir gelungen wäre, Sie wieder froh und jung zu machen – wäre es so ein Verbrechen, mich in Sie zu verlieben?«

Er lächelte wieder das ihr so bekannte spöttische, feine Lächeln.

Sie aber schüttelte sich wie vor physischem Grauen.

»Verlieben ... nein, nein ... nur nicht verlieben.«

»Ja, was suchen Sie denn ... die große ewige Liebe? Wirklich? Sind Sie noch so naiv, daran zu glauben?«

Sie sah ihn an mit großen trostlosen Augen.

»Ja ... ich glaube daran. Aber ich weiß, daß sie mir nicht beschieden ist. Das weiß ich,« wiederholte sie beinahe hart. »Aber doch irren Sie sich, wenn Sie glauben, daß ich mit Minderwertigem vorlieb nehme. Nie. Hören Sie, nie. Sie hätten mich belügen können, und ich hätte Ihnen vielleicht geglaubt, aber wenn Sie mir eine Liebe bieten, von der Sie selbst sagen, daß sie eine Laune ist – dann kann ich Ihnen für Ihre Ehrlichkeit nur danken. Ihre Laune aber gibt mir nichts und ist mir nichts.«

Er ergriff ihre Hand und drückte sie warm.

»Sie sind eine tapfere, ehrliche, kleine Frau. Ich fühle etwas vor Ihnen, was ich selten vor einer Frau gefühlt habe: Respekt. Ja, ja ... einen ganz ernsthaften Respekt. Aber nun sagen Sie: daraufhin – wollen wir nicht Freunde werden, gute Kameraden?«

Er hielt ihre Hand noch immer in der seinen.

Sie atmete schwer, und ihre Augen flirrten unruhig wie hilfesuchend umher.

»Ich bitte Sie, Herr Doktor, lassen wir das ... Kameraden ... zwei Wochen, zwei Monate ... zwei Jahre ... und dann plötzlich ... Und das will ich doch nicht ... wirklich, das will ich nicht ... Ich bitte Sie, Herr Doktor, gehen Sie, ich bitte Sie herzlich darum ...«

Sie sah ihn flehend an wie ein Kind und barg dann ihr Gesicht in den Händen.

Er stand einen Augenblick unschlüssig da, dann griff er nach seinem Hut und verbeugte sich förmlich. Sie machte eine kurze, beinahe unbewußte Bewegung, als wollte sie ihn aufhalten, aber im selben Augenblick warf sie sich auch zurück in die Tiefe des Zimmers, als risse sie sich selbst von einem Abgrund zurück.

Sie verharrte ohne Bewegung, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, und sie die Entreetür zufallen hörte.

Dann stürzte sie aus dem Zimmer.

»Lolo ... Lolo ...«

Es war wie ein Hilfeschrei.

Das Mädchen kam aus der Küche angelaufen und meldete, daß die Werner mit der Kleinen ausgegangen sei.

Ja, richtig ... ausgegangen!

Iduna setzte eine Pelzmütze auf und warf einen Mantel um.

Sie wollte dem Kinde entgegengehen, nicht allein sein, sprechen, lachen hören, um etwas zu betäuben in sich, was sie von Sinnen brachte, sie verzweifeln ließ an sich selbst.

Sie ging geradeaus, immer geradeaus durch die neuen Häuserreihen.

Überall lag Schnee. Er glitzerte in der Sonne, daß förmlich Funken aus den festgefrorenen Kristallen aufsprühten.

Es war ganz still in den Straßen und noch stiller am Ausgang der Schaperstraße, da, wo es so ländlich wird und hohe Pappeln eine breite Allee einsäumen.

Ein paar Raben spazierten gravitätisch auf der weißen Decke, andere flogen aufkrähend von Baum zu Baum, mit schwerem Flügelschlag, der den Schnee in weißem Staub von den Zweigen herabfegte.

Idunas Schritte wurden langsamer, immer langsamer.

Ihr scharfes Auge unterschied von weitem drei Gestalten: einen großen, hageren Mann, der sich zu einem kleinen Mädchen herabbeugte, und eine ältere Frau, die gesenkten Kopfes hinter den beiden einherschritt.

Iduna stellte sich hinter einen Baum. Sie wollte nicht gesehen sein, nur sie selbst wollte beobachten. Sie sah, wie das Kind eifrig sprach und lachte, sie sah, wie der Mann Schnee in die Hand nahm und große Ballen daraus formte, die er hoch in die Luft warf, sie sah, wie das Kind aufjubelte und wie dann die Frau ein Heft aus der Tasche zog und dem Mann zeigte. Wie er das aufgeschlagene Blatt ernsthaft betrachtete und dann lächelte ... ja, sie konnte sogar das Lächeln erkennen, das weise, gütige Lächeln aus der allerersten Zeit.

Und da löste sich der Bann, der auf ihr gelegen, die tolle Angst schwand, die sie hinausgetrieben. Wie ein verirrtes Kind, das das erleuchtete Fenster des Vaterhauses erblickt – so empfand sie dieses Lächeln. Noch war sie nicht zu Hause, aber bald, bald würde sie es sein ...

Die drei Gestalten kamen näher, immer näher, so daß Iduna die einzelnen Stimmen unterscheiden konnte und dann auch die Worte.

Delten sprach:

»Sie müssen, Sie müssen unbedingt die Mutter auf diese Fähigkeit des Kindes aufmerksam machen, sonst zwingen Sie mich, selbst einzugreifen. Und doch möchte ich der Frau jede Aufregung ersparen ...«

Die Werner schüttelte bekümmert den Kopf:

»Die Frau sieht nichts und hört nichts ... sie schaut nur in sich und hört nur auf sich ...«

Und jetzt sprach Delten wieder:

»So, Werner, jetzt gehen Sie nach Hause. Und dieser Tage kommen Sie wieder, da führe ich das Kind zu einem Maler ... Vielleicht ist's nur Einbildung von mir, aber mir scheint, hier ist unverkennbares Talent.«

»Ja, und wenn der Herr Doktor wüßten, was das Kind alles sieht. Als wir die Zimmer einrichteten – die Frau kümmerte sich um gar nichts, da mußten wir die Möbel dahin stellen und wieder dahin, bis das Knirpschen sich zufrieden gab. Oft war's ja verfehlt, unpraktisch, aber wenn das Kind sagte: ›So schön so ...‹ dann war wirklich was dran. So ganz besonders sah es aus ...«

»Das hat es von der Mutter ...«

Delten neigte sich zum Kind herab und faßte es unter das Kinn.

»Aufpassen, Werner, aufpassen, das ist kein gewöhnliches Menschenkind.«

Und so ein eigener Ton lag in diesen Worten, daß die Werner abergläubisch dreimal vor sich hinspuckte.

»Der Herr Doktor macht mir noch Angst ... ich hüte das Kind ja ohnehin wie meinen Augapfel ...«

Er reichte ihr die Hand.

»Ich danke Ihnen, Werner.«

Die Wärterin bog mit dem Kind um die Ecke, er aber setzte sich auf die Bank und blätterte weiter in dem Heft, das vollgekritzelt und vollgezeichnet war mit kindlicher Hand.

Iduna stand noch immer hinter ihrem Baum.

Sie fand den Mut nicht, hervorzutreten, so plötzlich dazustehen und zu sagen: ich habe dich belauscht und dich beobachtet ganz heimlich und hinterlistig.

Aber dann dachte sie an das Lächeln von vorhin, und sie gewann neuen Mut ...

Sie stand an der Bank.

»Julius,« hauchte sie leise, daß man es kaum an ihrer Lippenbewegung erraten konnte.

Aber Delten klappte das Heft zusammen, wandte den Kopf zu ihr und blickte sie mit seinen dunklen Augen ernst und forschend an.

»Nun, Kind? Du stehst schon so lange hinter diesem Baum, und ich habe es dir doch so leicht gemacht ... Hab mich an dem kalten Wintertag auf die Bank gesetzt, gerade vor dich hin!«

Sie starrte ihn sprachlos an.

»Nun, was ist's? Du hast mit mir zu sprechen? Komm.«

Aber sie fand nichts anderes als:

»Mir ist so kalt, mir ist so furchtbar kalt.«

Sie klapperte mit den Zähnen und streckte ihm beide Hände entgegen.

»Zehn Schritte von hier ist ein Gasthaus; dort ist nie ein Mensch, willst du dorthin mit mir gehen?«

Sie nickte stumm, und dann schritt sie an seiner Seite bis zu dem ländlichen kleinen Restaurant. Er bestellte zwei Glas Grog und ließ sich Iduna gegenüber an einem kleinen Tisch neben der Glaswand nieder.

»Nun, Kind, beruhige dich.«

Er legte seinen Schlapphut auf einen leeren Stuhl neben sich, und Iduna sah, wie viel weiße Fäden sein Haar durchzogen. Es war streifenweise grau, sein Bart hatte sich gelichtet und ließ den feingezeichneten, fest zusammengepreßten Mund und das harte, energische Kinn erkennen.

Ein Schluchzen stieg ihr in die Kehle, das sie mühsam unterdrückte. Schüchtern, bittend, fast verzagt schob sie ihm die Hand über den Tisch zu.

Er tippte ihr mit den Fingern beruhigend auf den Handrücken.

»Ja, Kind, du denkst dir, daß ich alt geworden bin ... freilich. Aber das muß dich nicht traurig machen. Alt sein ist sehr schön, sehr schön, mein Kind – nur verstehen muß man es. Man muß so leben, daß man mit Freuden alt wird ... aber das begreifst du noch nicht, dazu bist du noch zu jung.«

War dieser Mann jemals ihr Mann – der Mann, an dessen Brust sie gelegen, der sie heiß in seine Arme genommen und hart zurechtgewiesen hatte?

Der Kellner brachte den Grog, und Iduna nahm einige Löffel des heißen Getränkes zu sich.

»So, jetzt ist mir wohler ... jetzt ist mir überhaupt wohl ...«

Sie lächelte.

»Ich habe mich immer gefürchtet vor dir, aber jetzt fürchte ich mich gar nicht. Nein ... Ich glaube, daß du besser bist als alle anderen Menschen und daß du alles verstehst ...«

»Du hast mir viel zu sagen, Iduna?«

»Ja, mein Leben habe ich dir zu sagen.«

»Das brauchst du nicht. Ich weiß es genau. So mußte es kommen – Erwartung und Enttäuschung, Erwartung und Enttäuschung in allem – nicht wahr? Du suchtest Erfüllung deiner Forderungen. Das ist das ganze.«

»Aber das ist furchtbar, das ist furchtbar ...«

Sie schwieg eine Weile, dann fragte sie leise, ohne ihn anzusehen:

»Hat dir die Werner geschrieben ... von dort ...«

»Ja. Das mußte sie. Ich wollte Nachricht haben über das Kind. Das mußt du begreifen. Ich wollte auch dich nicht aus den Augen verlieren ... Du bist das Kind meiner Schwester.«

»Du weißt also alles?«

»Das Wesentliche.«

»Oh, das ist nicht das Wesentliche,« fuhr Iduna leidenschaftlich auf, »was die Werner weiß ... was man in drei Worten erzählen kann, aber das andere ... das tiefe, geheime ... die Sehnsucht ...«

»Die Sehnsucht, die einem Begriff nachjagt und für diesen Begriff Menschen unterschiebt.«

»Nein, nein ... nicht Menschen ... den Mann einfach, den Mann ... Und das ... das ist wie ein feuriges Mal ... das brennt, das brennt ... Ich weiß das ... seit heute weiß ich es ...«

Und sie erzählte heftig, ungeordnet die eben erst erlebte Szene mit dem jungen Arzt.

»Siehst du ... ich stand da ... das Gesicht verdeckt und bettelte und befahl: gehen Sie weg, und dabei wünschte ich, sehnte ich mich danach ... er möchte nicht fortgehen, sondern bleiben, mich in die Arme nehmen ... mich küssen ... was weiß ich! Denn dann, dachte ich, wird alles gut, wird alles gut ... Aber er ging, gottlob er ging ... Wenn er nicht gegangen wäre ... denke ... er wäre nicht gegangen? Habe ich dir nicht einst gesagt, daß ich dich liebte ... und habe ich es ... jenem dort nicht auch gesagt ... und denke heute! Wenn er nicht gegangen wäre ... ich hätte heute noch von Liebe sprechen können und morgen daran geglaubt, und dann all das noch einmal ... Und jetzt weiß ich, daß ich dastehe und Angst habe ... Angst habe vor jedem, der gut zu mir ist, weil ich mich vor mir selber fürchte ... und ich sehne mich so ... ich sehne mich so ... nach etwas, was mich über mich selbst erhebt, nach etwas Großem ...«

»Ist dir das Kind so wenig, Iduna?«

»Nein ... ich rufe nach dem Kind ... ich sehne mich nach ihm ... manchmal ... aber nur auf Minuten, Stunden ... Das Kind ist nicht ich ... das Kind füllt die Leere nicht aus ... Und wenn ich das Kind lesen lehre, wird sein Stimmchen die Leere nicht ausfüllen, und wenn es dann von meinem Schoß gleitet, dann bin ich wieder allein ... Und das Kind lebt sein Leben, sein eigenstes Leben, und ich gehe nebenher ...«

Delten entgegnete nichts darauf.

Es mochte wahr sein, was sie sagte. Er wollte ihr nichts einreden, woran er selbst nicht mehr glaubte. Er sah auf die Uhr.

»Es ist spät, Kind, geh nach Hause ... wir sprechen morgen darüber oder übermorgen.«

Sie stand gehorsam auf.

»Ich darf kommen? Zu dir kommen?«

Er lächelte leise.

»Zu mir? Gut. Ich wohne, wo ich immer wohnte.«

»Verlaß mich jetzt nicht,« bat sie.

»Nein. Ich bin dein Freund, Iduna, das merke dir.« – –

Am anderen Tag stand sie in seinem Zimmer.

»Warte noch eine halbe Stunde, bis ich mit der Arbeit fertig werde.«

Sie setzte sich in den alten Sessel und sah ihm zu, wie er in Büchern nachschlug und Notizen machte. Die Welt schien versunken für ihn, und seine Augen glitten oftmals über sie hinweg, ohne sie zu sehen. Sie war glücklich darüber, daß sie ihn nicht störte. Es war ihr so wunderbar, ihn bei der Arbeit zu sehen.

Es lag etwas so Weihevolles für sie über dem Raum.

Nie hatte sie ähnliches empfunden. Sie traute sich kaum zu atmen.

Endlich hörte er auf.

»Verzeih! Du hast dich gelangweilt ...«

»O nein ... gar nicht. Es war sehr schön.«

Er legte ihr plötzlich die Hände auf die Schultern.

»Hast du es nie versucht, zu arbeiten? Hast du nie an einen Beruf gedacht?«

Sie ergriff seine Hand, heftig, in jäh erwachender Hoffnung.

»Einen Beruf, wie meinst du das?«

»An einen ernsten Beruf, der all deine Kräfte in Anspruch nimmt, der dir nicht Zeit läßt zum Träumen und zu dieser ziellosen Sehnsucht ...«

»Nie ... nie ... habe ich daran gedacht. Aber glaubst du denn –? Ich kann doch nichts ... ich kann nichts ...«

»Kannst du lernen?«

»Lernen ... ich? O ja ... ich möchte lernen!«

Ihre Augen weiteten sich, und langsam sprach sie:

»Ich habe gelernt als Mädchen ... so gut gelernt ... so leicht gelernt ... mit Heißhunger alles verschlungen. Dann nahm man mir die Schüssel fort und sagte: genug. Ich hatte nicht genug. Nein, ich hatte nicht genug. Man gab meinem Geist keine Nahrung weiter, und ich verlernte es, danach zu fragen. Und dann kam ich zu dir – und dann war es zu spät ...«

Delten schüttelte den Kopf.

»Es wäre nicht zu spät gewesen. Es war meine Schuld. Ich dachte, du würdest glücklich sein als Mutter ... Ich alter Junggeselle, was wußte ich! Und dann ... ich hatte dich lieb ... anders als ich sollte, ich wollte dich nicht verlieren, und da ... Na, na, Kind ... laß das, laß das ... Ich habe mich vergangen an dir, schwer vergangen ... ich, der reife, ältere Mann ...«

Er trat von ihr fort ans Fenster und drückte seine Stirn gegen die Scheiben. So blieb er eine Weile, und Iduna sah, wie er sich mit dem Finger rasch und heimlich über die Augen fuhr.

»Julius,« sie stürzte auf ihn zu.

Er wendete sich um und lächelte ihr zu. »Nicht, Kind, nicht ... ja nicht! Aber das sind so die Widersprüche: in die Wohnung zu mir ließ ich keine Dienstboten herein, um mich nicht zu gewöhnen, und dich ... Als ich dir schrieb nach dem Tode deiner Mutter – so tat ich es in ihrem Auftrag. Sie bat mich, ich möchte mich deiner annehmen. Und ich tat es ihr zuliebe. Nur ihr zuliebe. Um ihren Wunsch zu erfüllen, machte ich dir den Vorschlag, meine Frau zu werden. Und ich wollte dich halten wie mein Kind, dir nur das Leben öffnen, dich sicher leiten ... Aber da kamst du mit deinen zwanzig Jahren, und da wurde ich begehrlich und wurde dein Feind – statt dein Freund zu bleiben. Denn es ist ewige Feindschaft zwischen Mann und Weib, Iduna, ewige Feindschaft – wenn es nicht gegenseitige Liebe ist ... Aber laß das alles ... Vielleicht hat's doch sein Gutes gehabt. Du hast wenigstens nachdenken gelernt bei mir, über dich und alle Fragen des Lebens, hast doch gelernt, deine Instinkte zügeln, und so bist du freier, als du es je warst. Der Schmerz, Kind, der Schmerz, das ist es, was uns unfrei macht. Und denken, zergliedern, übersehen – das heißt uns vom Schmerz befreien, wissen wollen, was man fürchtet, heißt die Furcht schon halb überwunden haben. Siehst du, Kind, als mir zuerst der Gedanke kam, daß du von mir gehen würdest, da hing ich dem Gedanken nach, statt ihn zu verscheuchen. Ich entwöhnte mich dir langsam ... kapselte mich wieder ein in meine Arbeit ... und als du gegangen warst, da wußte ich, es war für immer, aber ich litt nicht so sehr darunter, wie du glaubst. Ich wußte, es mußte so kommen ... es mußte, und weil ich die Notwendigkeit erkannt hatte, bereitete ich mich darauf vor ...«

Delten schöpfte tief Atem und legte dann seine kühle, hagere Hand auf Idunas Haupt.

»Ich hatte wohl geglaubt, daß mir menschliches Leid nie widerfahren würde. Mein ganzes Leben hatte ich auf Einsamkeit und Freiheit aufgebaut, aber doch hat das Leid auch mich gestreift ... aber nur gestreift, Iduna, nur gestreift! Es ist Mangel an Willen, Mangel an Intelligenz, wenn man das Leid Herr werden läßt über sich. Also Kopf hoch, Iduna, es gibt eine andere Welt als die Welt deiner Sehnsucht. Eine Welt des Wollens, des Erkennens. Suche du deinen Weg ... Und wenn ich dir auf diesem Wege helfen kann – es soll geschehen.«

Iduna hob einen heißen, dankbaren Blick zu Delten empor. Er aber runzelte die Stirn.

»Nein, Iduna, nicht in mir dein Heil suchen. Kein einzelner Mensch gibt dir das Heil ... Suche es aus dir heraus im wirklichen, im tätigen Leben ...«

Iduna ging nach Hause wie im Taumel.

Ihr war wie einem Kinde, das man in ein Spielwarengeschäft geführt hatte, damit es sich ein Spielzeug aussuche.

Taumelnd vor Freude und doch verschüchtert.

Sie sollte einen Beruf wählen ... sie, die nie daran gedacht hatte, einen Beruf zu ergreifen.

Sie wollte einen ernsten Beruf, der sie ganz in Anspruch nahm ... nichts, was nur naive Liebhaberei war, von ihrer Laune abhing. Sie wollte lernen, lernen ...

Delten hatte ihr verboten, ihn aufzusuchen, bevor sie ihm nicht positive Vorschläge machen konnte. Er wollte ihr nichts erleichtern.

Sie verbrachte zwei qualvolle Wochen. Sie kannte niemand. Dann endlich entschloß sie sich, an Dr. Stahl zu schreiben, ihn um seinen Besuch zu bitten.

Er kam am nächsten Tag um die Nachmittagsteestunde, sehr korrekt im schwarzen Gehrock, in der Hand zwei vollerblühte rote Rosen.

»Es ist eine unerwartete Freude für mich,« sagte er.

Der Ton seiner Stimme machte immer Eindruck auf sie. Es lag in ihr wie eine zarte Liebkosung und doch auch etwas Aufreizendes von der Beimischung leichten Spotts. Der Anblick der roten Rosen gab ihr die Selbstbeherrschung wieder. Ihr fielen gerade die Worte ein: »Rosen, dunkelrote, wie die erste Blume, die du mir brachtest, als du von deiner Reise zurückkamst.«

Sie brachte es kaum über sich, die Rosen zu berühren, und hastig, als fürchte sie, Dr. Stahl könnte ihre Bitte, sie zu besuchen, mißverstanden haben, begann sie:

»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ich bedarf eines Rates, und ich kenne keinen Menschen, an den ich mich wenden kann.«

Er verbeugte sich stumm, ohne das leise Lächeln zu unterdrücken, das zu sagen schien: »Diesen Vorwand kenne ich.«

Eilig fuhr sie fort:

»Sie sagten mir, ich könne nicht so weiter leben. Sie haben recht. Ich kann es wirklich nicht. Ich brauche Arbeit, Tätigkeit, ich muß mir einen Wirkungskreis schaffen. Und ich weiß nicht, was ich anfangen soll. Ich habe all die Jahre so einsam gelebt, so fernab von jeder Bewegung.«

Jetzt sah er sie doch ein wenig erstaunt an.

»Sie sind eine vermögende Frau. Sie haben Ihr Kind – ich verstehe nicht ...«

Sie unterbrach ihn ungeduldig.

»Aber Sie brauchen ja gar nicht zu verstehen. Sie sollen mir nur ein bißchen helfen. Sie hatten ja so viel Teilnahme für mich, Sie wollten Zerstreuung in mein Leben bringen, mich froh und jung machen ... also bitte ... bitte ...«

»Ja ... auf die Art?!«

Iduna sprang von ihrem Sitz auf und ging aufgeregt durchs Zimmer.

»Ach so ... auf die Art nicht! ... Wie meinen Sie denn?«

»Eine junge, hübsche Frau wie Sie ...«

»Die ist auf die Liebe angewiesen, nicht wahr?« fiel sie ihm hart in die Rede. »Nun, Herr Doktor, ich habe geliebt ... ja ... ich habe geliebt ... ich war verheiratet, ich habe ein Kind ... ich bin geliebt worden ... ja, auch das, und ich könnte jetzt vielleicht wieder verheiratet sein und übers Jahr noch ein Kind haben, wenn ich mit der Liebe vorlieb genommen hätte – was Sie Liebe nennen! Ja, die Liebe kann einer Frau alles sein, aber es muß eben Liebe sein, wie ich sie verstehe, und das Kind kann einem die ganze Welt ersetzen und das eigne Leben verdoppelt wiedergeben ... aber es muß eben die Krönung dieser Liebe sein. Die Liebe, in der ich restlos aufgehen könnte, habe ich nicht gefunden, und mein Kind – so lieb ich es habe, läßt viele Kräfte frei in mir. Und jetzt sehne ich mich nach Entfaltung dieser Kräfte, damit ich ein reiches und volles Leben lebe, nicht so vergehe wie tausende und tausende von Frauen – nutzlos und freudlos.«

»Ja, aber die Erziehung ...«

»Meines Kindes wollen Sie sagen. Sie glauben daran ... Sie? Ich wünschte mir einen Sohn – es ward ein Mädchen. Ich träumte von einem weichen goldblonden Seraph, es ist ein schwarzer kleiner Teufel – eigenwillig und selbständig. Es hat eine seltene Begabung fürs Zeichnen – vielleicht wird's ein Talent, vielleicht ist's ein Genie, ein Genie, das seine Wege geht. Fremde Lehrer müssen es unterrichten, ich werde danebenstehen, zusehen und dann zurückbleiben und höchstens stolz sein dürfen auf ein Talent, das nicht mein Talent ist, auf Leistungen, die nicht meine Leistungen sind, auf ein Leben, das sich entwickelt haben wird, ganz, ganz unabhängig von mir ... Es ist so verlogen, so furchtbar verlogen, von uns Müttern zu verlangen, daß wir nur für unsere Kinder leben sollen! In dem Falle wäre es Naturgesetz, daß wir stürben, wenn wir unsere Kinder erzogen haben ... Aber wir sterben doch nicht, wir leben weiter ... leben lange, lange Jahre weiter, mit der ungestillten Sehnsucht nach einem eigenen Leben ... Und wissen Sie, was das schrecklichste ist? Nicht wissen, wonach man sich sehnt ... Oh, es ist furchtbar ... furchtbar ... da fliegt man wie eine Fliege um jedes kleine Flämmchen, weil man meint, es sei die Sonne, und es ist doch nur Kerzenschein, und wenn es hoch kommt – das Licht einer Lampe ...«

Iduna ließ sich wieder erschöpft in ihren Sessel fallen. Sie hatte einem fremden Menschen alles offenbart, was auf dem Grunde ihrer Seele lag. Sich mutig zu dem bekannt, was sie bisher nur sich im vollen Umfange gestanden hatte. Jetzt empfand sie beinahe Reue darüber. Sie hatte sich so hinreißen lassen, daß er ihre Worte vielleicht für Übertreibung halten konnte. Aber ein scheuer Blick auf sein Gesicht beruhigte sie. Er schien ernst und nachdenklich.

Endlich sagte er leise:

»Ich erinnere mich, einmal vor meiner Abreise nach England nannte ich Sie eine ›Sucherin‹. Sie haben redlich in sich geforscht und gesucht ... und ich glaube, Sie haben gefunden. Ich weiß nicht, ob Sie recht haben für alle Frauen ... aber bei vielen mag es zutreffen. Ich als Arzt – ein Arzt ist ja so oft Beichtvater – kann es bestätigen. Nur suchen die Frauen nicht immer, wie Sie es getan haben. Sie nehmen es wie ihr Schicksal und gehen zu Grunde. So oder so. Die einen in Auflehnung gegen die äußeren Sittengesetze, die anderen in stumpfer Resignation – vielleicht empfinden beide denselben Schmerz, aber sie können sich nicht helfen, denn sie tappen im Dunkel.«

Er machte eine Pause, dann strich er sich mit der Hand durch das Haar, erhob sich und schritt nachdenklich im Zimmer auf und ab. Endlich blieb er vor Iduna stehen, die Hände hinter dem Rücken gekreuzt.

»Es ist hübsch von Ihnen, daß Sie mir soviel Vertrauen zeigen. Ich will auch tun für Sie, was ich kann. Also hören Sie: Sie müssen vor allem ein paar gescheite Frauen kennen lernen, ein paar ernste Frauen, die selbst einen Beruf haben. Ich werde Ihnen eine Empfehlung geben an eine Kollegin, eine sehr tüchtige Person. Sie ist Mitglied von einem Klub, dem Studentinnen, Schriftstellerinnen usw. angehören. Sie wird Sie in diesen Klub einführen. Dort lernen Sie die Damen kennen und werden mit den verschiedenen Berufsarten vertraut. Fühlen Sie irgendeine besondere Begabung in sich? für Musik, Malerei ...«

»O nein ... ich bin so ganz talentlos ...«

»Na also, dann Hand weg von der Kunst. Das macht Sie nicht glücklich, wenn Sie nach jahrelanger Arbeit ein Blumenstück zusammenbringen oder ein Nokturno von Chopin spielen – oder gar ein paar feinsinnige Skizzen schreiben für die Unterhaltungsblätter. Dann befreunden Sie sich lieber mit den Studentinnen, werden Sie Hebamme meinetwegen oder Ärztin, wenn Sie Ausdauer und Nerven dafür haben. Künstlerinnen gibt es wie Sand am Meere, aber tüchtige Ärztinnen kann man mit der Laterne suchen.«

Iduna sah ihn mit glänzenden Augen an.

»Sie glauben?«

»Vorläufig glaube ich gar nichts,« antwortete er brüsk – »Sie müssen eben selbst sehen, probieren. Ich nehme Sie mal in den Seziersaal mit. Wollen sehen, ob Sie's aushalten. Zimperlich dürfen Sie dabei nicht sein, und Gefühlsduselei muß man sich auch abgewöhnen. Na, wir werden ja sehen. Das eilt nicht so. Erst Umschau halten und dann vorarbeiten.«

Er hatte gar nicht mehr den feinspöttischen Salonton. So mußte er mit Kollegen reden, oder in der Klinik mit dem Personal. Iduna streckte ihm beide Hände entgegen.

»Wie kann ich Ihnen danken?«

Er wehrte ab.

»Aber gar nicht, gar nicht, Frau Iduna. Wenn Sie wirklich was Vernünftiges wollen im Leben ... na, mein Gott, da ist es ja nur Menschenpflicht, Ihnen zu helfen.«

Er überflog ihre Gestalt mit einem kurzen Blick und sagte dann mit einem Anflug des alten Lächelns:

»Ich will Ihnen was sagen, Frau Iduna, und merken Sie sich das: Wenn wir eine hübsche Frau sehen und annehmen, daß diese Frau nicht abgeneigt wäre, einen Mann mit ihrer Gunst zu beglücken, dann ist es uns natürlich lieber, wir sind der Erwählte, und wir setzen einiges daran, diese Gunst zu erlangen; haben wir aber eine ernste Frau vor uns, die nur arbeiten will, dann fällt es den wenigsten von uns ein, sie von ihrem Wege abbringen zu wollen. Zum Zeitvertreib sind uns solche Frauen doch zu gut ... also ruhig sein, Frau Iduna.«

»Sie können die Rosen, wenn Sie wollen, zum Fenster hinauswerfen. Ich verspreche Ihnen – ich werde nie mehr galant sein. Also auf Wiedersehen. Dieser Tage erhalten Sie Nachricht.«

Iduna glaubte zu träumen.

Noch war nichts Positives geschehen, und doch schien ihr, als hätte ihr ganzes Leben eine Umwälzung erfahren ...

Zwei Monate später suchte sie Delten wieder in seiner Wohnung auf.

Es war Ende März, und das Gesträuch zeigte schon vereinzelt zarte grüne Sprossen. Iduna atmete gierig die weiche, sonnendurchtränkte Luft ein. Nie hatte sie den Weg zur Villa so froh und leicht zurückgelegt.

Auf ihr Läuten öffnete ihr ein großer, kräftig gewachsener junger Mensch von sechzehn oder siebzehn Jahren.

Sie hatte noch niemals jemand bei Delten angetroffen und war nun so überrascht, daß sie fragte:

»Ist der Doktor krank?«

Nur so konnte sie sich die Anwesenheit eines Fremden hier erklären.

Aber der junge Mann schüttelte den Kopf.

»O nein, bitte, nur herein.«

Iduna traf Delten an seinem Schreibtisch.

Bei ihrem Eintreten hob er den Kopf von einem Buch und nickte ihr ruhig zu.

»Du, Iduna? Endlich! Ich dachte, du hättest dich schon wieder deinen Träumereien hingegeben.«

»O nein! Ich habe mich nur umgesehen. Ich war ja wie blind bis jetzt.«

»Und du weißt nun, was du willst?«

»Ja.«

Das war ein helles, bestimmtes Ja.

»Und ist es nichts Eingeredetes, Iduna? Willst du einen fremden Willen oder deinen eigenen?«

Iduna wies mit dem Kopf auf den jungen Mann und sah Delten fragend an.

»Er hört uns nicht. Er nimmt den Katalog meiner Bücher auf, du kannst ruhig reden.«

Iduna saß Delten gegenüber am Schreibtisch, beide Arme aufstützend, den Blick an Delten vorbei durch das Fenster gerichtet.

»Ich habe so oft in der letzten Zeit an die zwei Leute denken müssen, unsere seltsamen Trauzeugen ... weißt du noch?«

Delten lächelte kaum merklich.

»Siehst du sie noch?« fragte Iduna plötzlich, ihn anblickend.

»O ja ... sie haben den Weg zu mir nicht vergessen, obwohl sie meiner schon längst nicht mehr bedürfen.«

»Weißt du noch, wie der eine, es war der Geigenbauer, sagte: ›Die Erkenntnis stutzt der Sehnsucht die Flügel?‹ Das ist mir so im Gedächtnis geblieben, aber verstanden habe ich es erst jetzt.«

»Und weiter sagte er: ›Wir lernen gehen statt fliegen, wir lernen leben ...‹«

»Ja ... ja ... das ist es ... leben lernen, sein eigenes Leben leben lernen ... Daß ich das verstehe, danke ich dir ... dir, denn du hast mich die Erkenntnis gelehrt, wie du es jene gelehrt hattest.«

Dankbar blickte sie zu ihm auf.

»Ich habe in diesen letzten zwei Monaten alles noch einmal durchlebt, und gerade die Zeit, wie ich herkam als junges Mädchen. All deine Worte kamen mir zurück, denn früher fürchtete ich mich, daran zurückzudenken. Aber ich habe nichts vergessen – – gar nichts.«

Sie schob ihren Stuhl noch näher an den Tisch heran und fuhr erregt fort:

»Weißt du noch ... jenen trüben Herbsttag ... als ich das erstemal hier bei dir war und unten die Kinder vom Bildhauer ...«

»Leiser,« gebot Delten mit einem Blick auf den jungen Menschen.

»Also, weißt du noch ... wie schrecklich das klang ... wie er selbst sein Werk zerstörte und dann ... sich selbst umbrachte. Als ich dir Vorwürfe machte, da sagtest du: ›Was sollte er tun im Leben? Er war überflüssig ...‹ Siehst du, Julius, das ist schrecklich: überflüssig sein im Leben ... Und die Kinder haben ihm nicht genügt, wie mir das Kind nicht genügt. Sollte ich mich da auch umbringen? Nein ... dir danke ich, daß ich etwas anderes gefunden habe. Du hast von einem Beruf gesprochen. Ich habe einen Beruf für mich gefunden. Ich will Ärztin werden.«

»Ärztin ... du?«

»Ja ... ich. Gerade das Positive daran, das ist es, was mich dazu hinzieht. Diese Begrenzung, von der du früher immer sprachst. Und dann ... der beständige Kampf, die Anspannung aller Kräfte. ... Aufgehen können in etwas, ganz aufgehen und wirklich helfen ... Das ist ja keine abstrakte Schreibtischarbeit ... Für die wäre ich nicht geschaffen ... für die nicht.«

Sie sprach nun von dem, was sie alles lernen müßte, sie hatte Prüfungen zu bestehen, bevor sie daran denken konnte, die Universität zu besuchen. Sie brauchte einen Lehrer. Fragend, beinahe bittend, sah sie Delten an.

Er schüttelte ernst den Kopf.

»Nein, Kind, jetzt kann ich dir nichts nützen. Aber hier dieser junge Mann – Primaner – komm her, Otto.«

Delten stand auf und legte seinen Arm um den jungen Menschen und führte ihn zu Iduna.

»Erkennst du ihn nicht mehr? Das ist der Otto Grahlmann, den du als zehnjährigen Knaben hier gesehen hast.«

Iduna blickte verwirrt auf und streckte dem jungen Mann die Hand entgegen.

»Ich wußte gar nicht, daß Sie in Verbindung geblieben sind.«

»Der Doktor hat mich und meine Schwester erzogen, gnädige Frau.«

Iduna sah Delten verblüfft an.

»Du hast mir nie etwas davon gesagt ...«

»Das war nicht, um im Geheimen eine gute Tat zu üben, wie du vielleicht glaubst. Die Kinder sollten einfach in gesunde Verhältnisse kommen, um gesunde Menschen zu werden. Hättest du gewußt, daß ich für ihre Erziehung sorge, du hättest verlangt, daß ich sie dir bringe, hättest sie oft zu dir genommen ... Sie sollten keine Träumer und Phantasten werden. Die Kleine ist noch im Pensionat, und dieser junge Mann darf sich schon ein paar Groschen selbst verdienen. Wenn du ihm also jetzt Gelegenheit dazu gibst, so ist das vernünftiger, als wenn du ihn als kleinen Jungen auf dem Schoß gehalten hättest, um ihm Märchen zu erzählen.«

Um das Herbe seiner Worte zu mildern, fügte er hinzu:

»Dann hätte ich vielleicht jetzt meine liebe Not mit ihm, während er jetzt oft seine liebe Not mit mir hat.«

Er klopfte dem jungen Mann auf die Schulter und schickte ihn wieder zu den Büchern.

»Geh, mein Junge. Ich mache mit der Dame alles für dich ab.«

»Und nun, Iduna, merke dir – in schwierigen Fällen stehe ich dir natürlich immer mit Rat und Tat bei. Aber nur in schwierigen Fällen. Mach' es dir nicht leicht. Beiß' dich selbst durch, beiß' dich durchs Leben, und vielleicht ist so ein gutes Beispiel wertvoller für dein Kind, als wenn du dich zu seiner Gouvernante machtest.«

Er geleitete Iduna bis ins Vorzimmer.

»Das Programm deiner Studien will ich dir aufstellen und dich alle paar Monate prüfen – wenn du willst. Es wird mir eine Freude sein, dich stark und tüchtig werden zu sehen ... eine Freude, denn siehst du, Kind« – seine Stimme wurde leise und dumpf – »deine Mutter die wollte werden, was du nun werden willst ... aber sie hat die Kraft nicht gehabt dazu. Über die Sehnsucht ist sie nicht hinausgekommen, und mit der Sehnsucht ist sie gestorben ...«

Er fuhr Iduna mit der Hand über das Haar.

»Sei stark, Iduna, stark und klug.«

»Ja ... jetzt will ich es sein ... ich will es.«

Sie drückte seine Hand. Es war wie ein Gelöbnis. Dann reichte sie ihm unbefangen, herzlich die Stirn zum Kuß. Er berührte sie leicht mit seinen schmalen, kühlen Lippen.

»Leb wohl, Iduna. Wenn du mich brauchst, so weißt du, wo ich zu finden bin. Die Kleine schicke mir recht oft. Es macht mir Freude.«

Die Tür hinter Iduna schloß sich, und er blieb noch einen Augenblick, tief in Gedanken versunken, stehen. Dann warf er seine langen, schwarzen Haare zurück und trat in sein kahles, helles Zimmer.

Otto hielt in der einen Hand, eng an sich gepreßt, einen dicken Folianten, in der anderen einen kleinen Damenhandschuh.

Er wollte fragen, was er mit dem Handschuh machen sollte, aber Deltens Antlitz war so seltsam bleich und bewegt, daß er es nicht wagte, das Wort an ihn zu richten. Er sann eine Weile nach, dann legte er den Handschuh wieder andächtig zwischen die Seiten des Buches – –

»Komm, Otto, wir wollen spazieren gehen ... es ist so schön draußen,« sagte Delten. »Ich möchte heute nicht allein sein – –«

Zu Hause fand Iduna Lolo auf dem Schoß der Werner, in einer Fiebel buchstabierend.

»Tanne ... Tan–te, Tonne.«

»Komm, klein Ding, komm, klein Glück!«

Sie hob das Kind empor, aber es war ihr zu schwer, und sie stellte es lachend auf den Boden. Die Werner blickte überrascht auf. So lachen hatte sie Iduna nie gehört. Das Kind kreischte.

»Lolo will lernen, Lolo will lernen ...«

»Mama will auch lernen, Mama will auch lernen«, antwortete Iduna lachend und drehte sich mit dem kreischenden, lachenden, sich sträubenden Kinde wie ein Wirbel herum. Sie war selbst zum Kind geworden in diesem Augenblick.

Endlich blieb sie erschöpft stehen.

»Machen Sie doch das Fenster auf, Werner, lassen Sie den Frühling herein, den wundervollen Frühling.«

Die Werner stieß die Fensterflügel auf und Iduna lehnte sich weit hinaus und blickte mit klaren, leuchtenden Augen über die Straße hinweg in das junge, aufquellende Leben. Mochte es ihr fortab geben was es wollte. Sie fühlte sich stark genug, sich ihr Glück daraus zu zimmern, und wenn es auch nur ein bescheidenes »kleines Glück« sein sollte. Aber ein Glück, das sie sich selbst verdankte – das würde es sein – und das konnte sie nicht enttäuschen – nie mehr!

»Das ist diesmal ein gutes Jahr, Frau Doktor«, sagte die Werner, »so schön haben wir's noch nie gehabt im März.«

Iduna streckte sich und breitete die Arme aus.

»Nein, noch niemals so schön, so wunderschön!«


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