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XII.

»– – – Das Haus ist so alt, man hört den Wind durch den Kamin fegen und durch die Ritzen blasen.«

»Ja ... ich möchte mich fürchten, wenn du nicht da wärst.«

»Bald ist mein Urlaub zu Ende.«

»Urlaub, wie das komisch klingt aus deinem Munde. So schrecklich bürgerlich und solid.«

Er sieht sie an und lächelt.

Sie sitzen beide auf dem Teppich vor dem großen lombardischen Kamin.«

»Es ist so heiß hier, findest du nicht?« sagte er.

»Heiß? Früher saßen wir noch näher dem Feuer; aber gut, wenn du willst ... wir können weiter abrücken.«

»So finster und kahl ist es in dem Zimmer.«

»Wenn das Feuer brennt, nicht.«

»Es ist eben alles künstliches Feuer, künstliche Helle, künstliche Wärme, und wenn man eben von da unten kommt, so will es einem kaum mehr gefallen in der Heimat.«

»Aber hergezogen hat es dich doch ...«

»O ja ... ich wollte das Städtchen wieder einmal sehen ...«

»Hast du gar nicht an mich gedacht dabei?«

»Ja ... auch an dich. Aber ich sah dich immer nur als kleines Mädchen vor mir.«

»Ich habe mich sehr verändert, nicht wahr?«

Er sieht sie an, ernsthaft prüfend, mit Maleraugen.

»Nein, du bist genau so geblieben, wie du warst – ich kann all deine Züge wiedererkennen. Du hast noch immer dieselben Augen – so erstaunt und hungrig.«

»Was fragst du mich nicht nach meinem Leben, Georgy?«

»Dann müßte ich dir auch das meine sagen – und das würde dir vielleicht wenig Freude machen.«

Iduna muß in diesem Augenblick an Dr. Stahl denken. Sie fährt sich mit der Hand über die Augen.

»Du bist ein Künstler ... du hast gelebt.«

»Ja, was man so leben nennt. Ich habe gelernt, gearbeitet, meine Freude am Schönen gehabt ...«

»Geliebt ...«

»Oder zu lieben geglaubt.«

»Und an mich hast du gar nicht gedacht?«

»Doch ... auch an dich! Und du?«

Sie murmelt zwischen den Zähnen, daß er's kaum verstehen kann:

»Gesehnt habe ich mich ... immer nur gesehnt.«

Er beugt sich vor und sieht ihr tief in die Augen.

»Nach mir hast du dich gesehnt?«

Krampfhaftes Schluchzen erschüttert ihre Gestalt. Sie versteht es nicht, daß er sie nicht in die Arme nimmt, sie nur freundlich und teilnahmsvoll ausfragt, wie ein guter Bekannter.

»Arme, kleine Dudi!«

Er fährt ihr mit der Hand über das Haar, erhebt sich dann und geht leise pfeifend im Zimmer auf und ab.

Aus dem Zimmer nebenan dringt Kinderweinen.

»Dein Kind?« fragt er und bleibt vor Iduna stehen.

»Ja!«

Sie haucht es hin, wie das Bekenntnis einer Schuld.

»Ähnelt es dir?«

»Nein.«

Er macht wieder ein paar Schritte und fragt dann:

»Warum hast du geheiratet, Dudi?«

»Weil ich mich sehnte, Georgy ... nach dem Leben, nach ... Ich glaube, es war ja doch nur Sehnsucht nach dir. Denn ich hab' immer an dich gedacht ... immer ...«

»Lebst du noch mit ihm?«

Iduna sieht ihn verwirrt an und wickelt sich ein Strähnchen losgelösten Schläfenhaares um den Finger.

»Glücklich bist du nicht mit ihm, das habe ich gleich herausgefühlt. Was ist er ... dein Mann? Kaufmann, Beamter?«

»Gelehrter. Mein Onkel ist es eigentlich – aber er ist ganz anders als alle Menschen; und das eben hat mich zu ihm hingezogen. So ein großes, gläubiges Vertrauen habe ich zu ihm gehabt. Ich dachte, er würde mir alles geben können, wonach ich mich sehnte, weil er so sehr klug war und vom Leben alles zu wissen schien ... Aber er wußte doch nur wenig. Er kennt nur die großen Striche des Lebens und die grellen Farben, und seine Worte sind auch nur so große Striche ... harte, große Striche ... Wie wenn es nur eine Wahrheit gäbe im Leben. Das ist doch nicht so. Für jeden gibt es eine andere Wahrheit; und nur wenn zwei Menschen zusammenkommen, die an dieselbe Wahrheit glauben – dann werden sie glücklich zusammen sein.«

»Du sprichst wie ein Buch, Dudi. Wie ein Buch, das du selbst geschrieben hättest. Du hast viel nachgedacht ...«

»O ja ... viel.«

»Du warst viel allein?«

»Sehr viel allein ... Auch wenn ich mit ihm war und unter Fremden – allein war ich doch immer. Aber jetzt ... jetzt bin ich nicht mehr allein.«

Sie streckt ihm schüchtern die Hand entgegen.

Er läßt sie vorsichtig spielend durch seine Finger gleiten.

»Du hast schöne Hände, Dudi ... wunderschöne Hände – aber sie sind kraftlos und müde. Wie kann man so alte Hände haben, wenn man so jung ist?«

Sie springt erregt auf und kreuzt die Arme über der noch immer kindlich zarten Brust.

»Ach, was weißt du von mir! Nichts weißt du ... gar nichts. Mein Alter nach dem Taufschein. Das ist alles. Aber ich bin älter, Georgy, um viele, viele Jahre älter ... Denn ich habe meine Jahre doppelt gelebt und dreifach; aber meine Jugend habe ich darüber versäumt, meine ganze Jugend ... Und du hast sie mir auf einmal wiedergebracht. Wie wenn's gestern gewesen wäre, daß wir voneinander Abschied genommen – so ist mir zumut ... wie gestern. Nur müßte kein Winter draußen sein, sondern blühender Frühling wie damals ... Und ich meine, wir müßten einander bei der Hand nehmen und hinauslaufen in die warme, helle Sonne und die blaue Luft trinken und alles vergessen, was zwischen diesem Gestern lag und dem Heute ...«

Er starrt sie an, hingerissen von ihrer quellfrohen Leidenschaft.

»Das bist du ... du? die stille, kleine Dudi?«

Sie liegt in seinem Arm und lacht und weint:

»Du glaubst doch an Schicksal und Glück, Georgy, nicht wahr, du glaubst daran?«

»Ich glaube, daß du einen Mann wahnsinnig machen kannst, ich glaube, daß du eine süße, entzückende Frau geworden bist ... ich glaube, daß du selbst dein Schicksal bist und das meinige ...«

Sie halten einander fest umschlungen, ohne sich zu küssen und starren in die Glut des verglimmenden Kaminfeuers.

»Oh, wie ich dich liebe!« flüstert Iduna.

Er drückt sie noch enger an sich. Dann fährt er leicht zusammen.

»Man hat geklopft, Dudi ...«

»Das wird die Werner mit dem Kinde sein. Du mußt sie sehen, die schwarze, kleine Lolo ... Herein!«

Er will zurücktreten von ihr, aber sie hält seine Hand fest.

»Bleib doch, Georgy ...«

Sie geht ganz unbefangen Hand in Hand mit ihm der Werner entgegen.

»Ich bin so glücklich, Werner, so glücklich!«

Sie hebt Lolo auf den Arm.

»Gib dem Onkel einen Kuß. Na, wirst du wohl ... gleich gibst du ihm einen Kuß.«

Sie drückt lachend Lolos weinerlich verzogenes Gesicht an Georges Wange.

»Laß, die Kleine fürchtet sich ...«

»Oh, ihr müßt gut Freund werden. Und siehst du, Georgy, das ist meine Werner – Lolos Ziehmama, die viel, viel klüger ist als ich und viel mehr versteht von Kindertränen und Kinderlachen als ich ...«

»Da ist ein Brief, Frau Doktor ...«

Die Werner streckte Iduna ein großes Kuvert entgegen.

»Georgy, nimm den Brief, bitte, nimm du den Brief.«

Sie ist ganz bleich geworden. Die Werner blickt erstaunt fragend von Iduna auf den ihr fremden Herrn.

»Es ist ein Brief vom Herrn Doktor«, sagt sie gewichtig.

»Ja, ja ... Und das hier ist Georgy ... ich habe keine Geheimnisse vor ihm ... Sie sollen später erfahren.«

Kein Muskel rührt sich im Gesicht der Kinderfrau; sie nimmt nur das Kind von Idunas Arm.

»Komm Lottchen, es ist Zeit schlafen zu gehen.«

Die Tür schließt sich leise hinter dem Kind.

Iduna und Georgy stehen schweigend einander gegenüber. Georgy hat noch immer den Brief in der Hand; dann hält er ihn ihr fragend entgegen. Sie schüttelt den Kopf.

»Lies ihn oder wirf ihn ungelesen ins Feuer ... Es ist ein Brief von meinem Manne. Jetzt fühle ich mich frei vor ihm, ganz, ganz frei. Wirf ihn doch fort, den dummen Brief! Fühlst du denn nicht, daß er sich zwischen dich und mich drängt, als wollte er uns trennen. Oh, du hast keinen Mut, Georgy!« ...

Im selben Augenblick reißt sie ihm den Brief aus der Hand und wirft ihn in weitem Bogen in die Glut des Kamins. Dann lacht sie, ein glückliches, befreites Lachen und wirft sich ihm wieder in die Arme.

»Nun, Georgy, siehst du, wie ich dir gehöre? Ohne etwas von dir zu wissen, nur, weil mir ist, als hättest du immer einzig und allein ein Recht auf mich gehabt und das andere alles nicht zählt in meinem Leben.«

Er macht eine Bewegung, als hätte er eine schwere Bürde im Arm und wüßte nicht, wo er sie hinstellen sollte.

»Du kennst mich ja wirklich nicht«, sagt er langsam. »Was soll denn jetzt werden?«

»Etwas anderes soll werden, etwas anderes als bisher war.«

Er kämpft eine Weile mit sich, dann stockend: »Ich ... ich heirate nicht, ich kann nicht heiraten, ich darf noch nicht ...«

Sie sieht ihn an und lacht. Lacht wie ein Kind, das froh ist, einem anderen Kinde einen großen Schrecken wegzulachen.

»Ja, will ich dich denn heiraten? Sollen wir Verlobungsvisiten machen, eine Wohnung mieten, ein Dienstmädchen aufnehmen und am Sonntag die Familie zu einem Kalbsbraten einladen? Georgy, Georgy ... so nicht ...«

Er zieht sie wieder an sich in plötzlich erwachendem Begehren und doch ängstlich, als fürchte er eine Falle in ihren Worten.

»Wie meinst du denn?«

Sie schlingt den Arm um ihn und sieht ihm tief in die Augen.

»Die Welt soll uns gehören, Georgy ... die ganze Welt! Du bist Künstler, ich habe mein kleines selbständiges Vermögen – ich kann reisen, mit dir reisen, da sein, wo du bist, in deiner Welt leben, in deiner Welt der Schönheit.«

»Und dein Kind?«

Sie legt ihm die Hand auf den Mund.

»Jetzt nicht, bitte nicht. Das wird sich finden. Ich werde dir sagen – später, was mir das Kind ist. Aber jetzt noch nicht ... du würdest mich nicht verstehen. Wir haben ja Zeit so viel zu sprechen ... so viel!« ...

Plötzlich horchen beide auf. Im Hause werden Schritte laut, man hört einzelne Rufe, dann überstürzte Schritte auf der Treppe.

»Es ist etwas geschehen, Dudi ...«

»Der Vater ...«

Sie erbleicht.

Sie hatte gar nicht mehr an ihn gedacht, seitdem sie sich freigemacht von ihm, weil das Weiße und Glitzernde sie so lockte, daß sie keinen kurzen Augenblick mehr bei dem alten Mann bleiben konnte.

Da steht auch schon die Wirtschafterin Christine im Zimmer. Sie ist sehr blaß und atmet schwer vom eiligen Lauf.

»Ich glaub, dem alten Herren geht's nicht gut, ich habe eben zum Doktor geschickt, kommen Sie gleich herunter, Frau Doktor.«

»Ja ... ja ... ich komme ...«

Die Worte lösen sich ihr mechanisch von den Lippen.

Sie hat noch nie einen Menschen sterben sehen. Sie fürchtet sich. Sie weiß, sie müßte als Tochter hinabeilen an das Sterbebett des Vaters. Aber sie hat Angst – es ist eine dumpfe, lähmende Angst, die ihr den kalten Schweiß auf die Stirne treibt. Damals bei der Mutter war es anders gewesen.

Sie hatte sie gepflegt, sich ihr nah' gefühlt in jedem Augenblick, und in der großen Nacht des Sterbens war sie doch nicht bei ihr gewesen. Der Vater hatte nicht gewollt, daß man sie wecke, er wollte ihr diesen schauerlichen Anblick ersparen – es lag Vorsorge und zarte Rücksicht darin, und jetzt rufen fremde Leute die Tochter an sein Sterbebett, und es ist niemand da, der ihr verbieten könnte, hinzugehen.

Georg sieht ihr die Angst an.

»Soll ich mit dir gehen?«

»Ja, komm, laß mich nicht allein jetzt ...«

Sie zittert am ganzen Körper. Ein namenloses Grauen packt sie, wie sie der voranschreitenden Christine in das Zimmer des Vaters folgt.

Der alte Flößner sitzt aufrecht im Bett, von Kissen gestützt. Seine Augen blicken blöde aus dem wachsgelben Gesicht mit den ganz erschlafften Zügen herab auf eine große, goldene Taschenuhr, die er in der Hand hält und deren Uhrwerk er mit einem kleinen Schlüssel aufzuziehen sucht.

»Ich hab' ihm all die Uhren geben müssen, er hat sie alle selbst aufziehen wollen«, erklärt die Wirtschafterin.

Iduna nähert sich dem Bett.

»Vater.«

Der Alte hebt die Augen, sieht aber an Iduna vorbei und lächelt blöde ins Leere hinein.

»Ja, ja, es ist spät ... die Uhr geht nach ... ja ... ja, es bleibt alles zurück ... keine Ordnung ...«

Und er müht sich den kleinen Schlüssel einzuführen ins altmodische Uhrwerk, aber er gleitet immer wieder ab. Doch das macht ihn nicht ungeduldig. Er murmelt nur immer unverständliches Zeug und lächelt manchmal vor sich hin.

Iduna tritt vom Bett zurück und setzt sich in den dunklen Hintergrund des Zimmers neben Georg auf ein kleines hartes Sofa.

»Wie er sich abmüht«, flüstert sie.

»Fürchtest du dich noch immer?« fragt er sie.

Sie schüttelt den Kopf.

»Nein, es ist nur so seltsam alles...«

Dann sitzen sie schweigend da, ganz gerade ohne sich anzulehnen, ohne einander zu berühren, wie ganz artige Kinder, die etwas sehr Großes und wundersames erwarten.

Aber ihre Gedanken sind weitab von diesem Zimmer. Georg rechnet, wie lange er noch Urlaub hat. Acht Tage, nicht mehr. Dann muß er nach Düsseldorf zurück, an die Akademie, wo er Lehrer ist. Was soll dann mit Dudi geschehen? Sie wird auch nach Düsseldorf kommen wollen ... wie wird sich das einrichten lassen? Er lebt dort in sehr bürgerlichen Verhältnissen. Er hat Familienverkehr; er ist jeden Abend beinahe geladen und am Sonntag Tischgast beim Direktor – seit Jahren. Er kann sich doch nicht plötzlich von allem Verkehr zurückziehen, das würde ihm schaden und dann – es geht überhaupt nicht, auch für Iduna geht es nicht ...

Es muß eine feste, bürgerliche Form für ihre Beziehung gefunden werden. Sie muß sich scheiden lassen – dann wird er sie heiraten. Er wird sie gerne zu seiner Frau machen – sie hat so etwas Apartes, Nervöses, Interessantes ...

Er denkt an die Düsseldorfer Künstlerfrauen – die sind alle so behäbig und spießerhaft. Iduna hat etwas Aristokratisches und dabei die hinreißende Leidenschaft. Er wäre kein Mann, wenn ihm das nicht das Blut in den Adern herumjagte. Dabei hat sie auch noch Vermögen, und er – die schöne Stellung. In ein paar Jahren wird er Professor sein. Sie werden ein hübsches Haus machen ...

Iduna denkt nicht. Sie fühlt nur, daß es warm und hell ist in ihr wie noch nie. Es ist, als hätte ihre Seele wie ein scheuer Vogel lange einen Ruheplatz gesucht und ihn endlich gefunden. Sie weiß nicht, was weiter werden wird, sie hat gar keine bestimmten Vorstellungen von ihrem künftigen Leben. Nur daß es etwas ganz Besonderes sein wird – das weiß sie. Daß das Glück endlich gekommen ist, nachdem sie so lange gehungert hat, das große, unfaßbar große Glück! Jahre und Jahre hindurch ist sie im Dunkeln gehalten worden, eingeschlossen hinter dicken Mauern, und nun stehen Tür und Fenster offen – sie sieht Täler und Höhen, Wälder und Wiesen, und jubelt: »Da kann ich hingehen, wenn ich will – und dort ... und von den hundert Wegen, die dorthin führen, kann ich den wählen, der mir gerade gefällt, und so gehört die Welt mir, die ganze Welt ...«

Es ist wieder Sehnsucht in ihr, aber eine helle, freudige Sehnsucht, mehr Ungeduld beinahe, der heiße, brennende Wunsch, das Leben einzusaugen, wie sie es vor sich sieht, das Leben mit Händen zu greifen, damit es nur ja nicht wieder entflattert wie ein Schmetterling, der vor einem offenen Fenster hin und her gaukelt, um sich dann in der Ferne zu verlieren...

Der Kranke läßt ermattet die Uhr fallen und lehnt sich mit einem leisen, röchelnden Laut in die Kissen zurück.

Georg wirft einen raschen Blick auf die junge Frau an seiner Seite.

»Fürchtest du dich, Dudi?«

Sie blickte ihn an mit hellen, leuchtenden Augen.

»Nein, gar nicht.«

Sie erhebt sich und geht wieder zum Bett des Kranken.

»Vater...«

»Ja, mein Kind ...«

Sie zuckt zusammen. Lebte er denn wirklich noch ein bewußtes, eigenes Leben? Wieder packt sie die Angst, und zitternd legt sie ihre Fingerspitzen in die geöffnete alte Hand, die nach ihr zu verlangen scheint.

»Ja, Vater, ich bin da ...«

Aber der Ton ihrer Stimme ist so ängstlich, daß Georg nun auch langsam näher kommt, wie um ihr Mut zu machen durch seine Nähe.

Der Kranke bewegt die Lippen, dann sagt er:

»Es ist alles in Ordnung... die Papiere... alles... Gut, daß du da bist... und dein Mann auch... gut...«

Er hebt die verglasten Augen und blinzelt hinüber zu Georgs dunkler Silhouette.

»Ich danke dir ... du bist ein guter Mann! Ich hab's nicht gewußt ... Bleib so ... das ist gut ... das ist sehr gut ... Schicksal ... Schicksal ...«

Iduna rührt sich nicht, Georg zieht sich wieder in die Tiefe des Zimmers zurück, und Christine fährt sich mit der großen Schürze über die Augen.

»Er erkennt keinen mehr.«

Dann geht die Tür leise auf, und die Werner tritt ein, gefolgt von dem Arzt. Iduna weint leise und geht ans Fenster. Der Wind fegt zackige Wolkenfetzen über den Mond, der aussieht, als wäre er an einen schwarzen Karton angeklebt. Von den Dächern tropft das Wasser und bohrt tiefe Löcher in die graue Masse des zergehenden Schnees.

Im Zimmer wird es unruhig. Iduna hört das Klirren von Gläsern, das Rollen eines Sessels, beschleunigte Schritte und leises hastiges Geflüster.

»Jetzt geht es zu Ende«, denkt sie, aber sie wendet sich nicht um.

Es ist ihr, als müßte gleich etwas Schreckliches geschehen, als müßte ein gellender Ruf, ein schauerliches Gestöhn die Luft zerreißen. Sie hält sich die Ohren zu und schließt die Augen. Dann hebt sie die Handflächen ein wenig von den Ohren ab und lauscht wieder.

Es ist alles still. Nur die Uhr tickt, und von draußen hört man das Sausen des Windes, der am Fensterkreuz rüttelt.

Diese Stille ist furchtbar. Lieber alles wissen, sehen...

Sie dreht sich um.

Der Arzt steht über das Bett gebeugt und fährt mit den beiden Daumen langsam über die geschlossenen Lider des alten Mannes. Dann erhebt er sich und sagt sehr leise.

»Es ist alles vorbei.«

Iduna wiederholt:

»Vorbei!«

Sie ist jetzt nicht mehr traurig, auch nicht ängstlich mehr. Es ist ja alles vorbei.

»Hat er gelitten?« fragt sie.

»Kaum. Er ist eingeschlafen.«

»Gott sei Dank ... Gott sei Dank.«

Die Werner nimmt sie bei der Hand.

»Sie sollten jetzt schlafen gehen, Frau Doktor, ich bringe Sie zu Bett...«

»O nein, Werner ... jetzt kann ich nicht schlafen, jetzt habe ich zu tun. Bei mir muß auch erst etwas tot sein ... vorbei sein ... sonst ist's auch so ein Sterben, verstehen Sie das, Werner?«

Georg kommt näher.

»Du kannst ganz über mich verfügen, Dudi, alle Wege...«

Iduna sieht ihn an, ganz fremd.

»Ja... das besprich nur alles mit Christine und der Werner ... Ich versteh' nichts davon ... ich habe anderes zu tun. Bis jetzt war ich feige, und da stirbt man und stirbt ... und findet den Tod nicht. Aber vorbei muß es sein ... vorbei ... dann ist alles gut.«

Georg sieht sie besorgt an.

»Sie ist krank, Frau Werner, bringen Sie sie hinauf...«

»Kommen Sie, Frau Doktor, kommen Sie. Ich bleib' heute nacht bei Ihnen im Zimmer, und morgen ist alles besser ...«

Iduna läßt sich widerstandslos in ihr Zimmer bringen und sich auskleiden, aber statt sich ins Bett zu legen – geht sie an ihren Schreibtisch.

»Ich habe viel zu schreiben, Werner...«

»Morgen, Frau Doktor, morgen.«

»O nein, Werner, jetzt muß ich's sagen, sonst finde ich den Mut nicht wieder. Heute muß es sein, jetzt gleich...«

Die Werner stellt die Lampe auf den Schreibtisch.

Ihr Antlitz ist alt und bekümmert.

»Haben Sie auch an den armen Herrn gedacht, was das ist für ihn?«

Iduna nickt ernsthaft.

»Ja ... Aber nachher wird's gut sein ... Vorbei, wie für meinen Vater unten. Der leidet nicht und hört das Lachen und Weinen nicht mehr...«

Und sie setzt sich hin, ganz automatenhaft und schreibt ihren Scheidebrief an ihren Mann – – –


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