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VII.

Am anderen Tage traf das Dienstmädchen ein, und der Gasometer wurde aufgestellt. Abends waren die Zimmer hell erleuchtet, und Iduna saß Delten am zierlich gedeckten Tisch gegenüber, während das Mädchen seinen Dienst versah.

Das war ja auch alles ganz hübsch, vor allem weil es neu war, aber Iduna empfand doch etwas wie Staunen darüber, daß sich die verworrene Romantik sehnsuchtsvollen Begehrens in solch einfache Formen auflöste.

Die frohe Sinnlichkeit ihres Alters überwog jedoch in diesen ersten Tagen ihres Ehelebens die phantastischen Vorstellungen einer auf abstrakten Begriffen beruhenden Seelenharmonie.

Es war etwas Tändelndes in ihr, etwas Lockendes, unbewußt zur Verführung Neigendes, ein neugieriges Haschen nach neuen, diesmal rein sinnlichen Emotionen, ein gieriges Aufsaugen des kleinsten Tröpfleins überquellender Leidenschaft und doch ein stetes Verschmachten in brennendem, ungestilltem Durst.

Ihre plötzlich erwachte Liebe zu ihrem Mann war ein lachendes, ungebärdiges Spiel, das sich gleich kurzen Wellen an seiner ernsten, mehr verhaltenen Empfindung brach. Sie ließ ihn keinen Augenblick von sich, es machte ihr Spaß, ihn zu necken, ihn zu immer neuen Liebkosungen aufzureizen, ihm einen Kuß zu versagen, um ihm eine Minute darauf in die Arme zu fliegen, ihm in stummer Anbetung ihre Lippen auf seine Hand zu drücken und fast im selben Moment lachend die Fußspitze entgegenzustrecken und übermütig einen Kuß zu befehlen.

Manchmal zog sie ihn in ihren kleinen Salon, zog die Vorhänge am lichten Tage zu, zündete die mit farbigen Lampenschirmen versehenen Lampen an, warf ihr Kleid ab, drapierte sich mit irgendeinem bunten Seidenfetzen, einer Spitze und führte einen phantastischen Tanz auf.

»Bin ich hübsch so, gefall' ich dir?« fragte sie dazwischen und schüttelte ihr welliges braunes Haar und lachte ihn an mit den blitzenden Zähnen, den fieberhaft glänzenden Augen.

Es war ein Bedürfnis nach Bewunderung in ihr, nach heißen Liebesworten, nach betörenden, sinnverwirrenden Umarmungen ...

Die Außenwelt kümmerte sie nicht, kaum daß sie wußte, ob die Sonne schien oder der Schnee in tollem Wirbel vom bleischweren Himmel herabfiel. Es war eine instinktive Scheu in ihr vor der Berührung mit allem, was außerhalb ihres phantastischen Zauberkreises lag, wie eine grenzenlose Angst vor der kalten Leere einer plötzlichen Ernüchterung ...

Eine Woche oder mehr war vergangen seit der Hochzeit. Es war Abend, und sie hatte dem Mädchen wie immer ganz eilig ihre Anordnungen in betreff der Wirtschaft gemacht und war dann nach vorn geeilt, in Deltens Arbeitszimmer.

Sie kam gerade dazu, wie er eine Tintenflasche entkorkte, die auf seinem Schreibtisch stand. Auf dem grünen Tisch lag ein Häufchen Zettel vom Abreißkalender, der an der Wand hing.

In fliegender Eile, als fürchtete sie etwas Wichtiges – eine Minute des Glückes – zu versäumen, war sie hereingestürmt. Jetzt stand sie da, wie erstarrt über etwas Ungeheuerliches.

»Was machst du da«, stieß sie hervor, halb erschreckt, halb entrüstet.

Dabei nahm sie all die Kalenderzettel und ballte sie zu einem Knäuel zusammen.

Er sah sie an, gütig lächelnd.

»Ist es nicht Zeit, Iduna, daß wir vernünftig werden?«

Sie lachte gezwungen und warf das Papierknäuel in die Höhe, es wieder auffangend wie einen Ball.

»Morgen mag das Mädchen damit Feuer anzünden«, sagte sie.

»Bist du der Zeit gram, daß sie vergeht, Iduna?«

»Der Mensch kann sie festhalten, wenn er will«, kam es beinahe schmollend von ihren Lippen.

»Nein, Kind, der Mensch muß mitgehen mit der Zeit, nicht schwächlich zurückbleiben, festhalten kann er sie nicht ...«

Iduna fand keine Antwort, wie einen kühlen Luftzug empfand sie diese Worte.

Sie saß noch eine Weile da und verfolgte seine Bewegungen.

Es kam ihr so sinnlos vor, was er tat; das Füllen des Tintenfasses, das Heraussuchen von Papieren, das Aufschneiden eines kürzlich erhaltenen Buches ... was hatte das alles mit ihrem Leben zu tun? ...

Nun hing sein Auge gar unverwandt auf einer Seite, er las ... Und während er las, wurde der Ausdruck seines Gesichtes immer ernster, verschlossener. So hatte sie es früher gesehen, vor der Heirat, als er noch für sich, mit sich allein lebte – –

Sie erhob sich, nicht gerade leise, sie öffnete die Tür mit heftigem Druck der Klinke – Delten rührte sich nicht. Sie wendete sich um.

»Sagtest du etwas, Julius?« Er hörte nicht einmal den Ton ihrer Stimme, da verlor sie die Geduld und ließ die Tür hart hinter sich ins Schloß fallen.

Sie ging in ihr Zimmer. Es war das einzige in der Wohnung, dem man das Hastige der Einrichtung nicht anmerkte. Stillos, aber doch einem Gesetze innerer Harmonie folgend, hatte Iduna hier alles zusammengetragen, was ihrem feinen Impressionismus zusagte.

Es war eine krankhafte Angst in ihr vor allem Kahlen, Unausgefüllten. Und dem herrschenden Geist des modernen Geschmacks entgegen, der die Schönheit mehr in vornehmer Ruhe, in der reinen Linie sieht, im ängstlichen Vermeiden alles Gedrängten, Überladenen – hatte sie nur getrachtet, alle Ecken und Eckchen auszufüllen, um bei sich nicht das Gefühl des Leeren aufkommen zu lassen. Kaum daß man einen Streifen der hellen Tapete sah – sie verschwand beinahe ganz unter herabhängenden Teppichen, tieffarbigen Schals, unter Bildern mit feinen, stumpf gehaltenen Rahmen. Es waren meist Photographien von Landschaften, künstlerisch ausgeführt, auch zwei Reproduktionen nach Bildern von Gainsborough. Nur zwei Gestalten: ein milder, stilisierter Frauenkopf von Burne Jones, und – wie ein Gegenstück dazu – das wuchtige Haupt Rubinsteins, wie ihn der geniale Pinsel des russischen Porträtisten Rjepin wiedergegeben.

Als sie dieses Bild in der Kunsthandlung gesehen, hatte sie es sofort gekauft; man sagte ihr, daß es Rubinstein vorstellte, sie lächelte bestätigend und murmelte: »Leider.« Es war das einzige, was sie eben daran störte. Das Positive der Tatsache schwächte bei ihr immer den Eindruck subtiler Stimmung. Sie empfand nie das Bedürfnis, ihrer Vorstellung über gewisse Persönlichkeiten bestimmte Gestaltung zu geben.

Photographiealbums waren ihr von jeher ein Greuel, ein Besuch im Panoptikum hatte ihr ein Gefühl physischen Widerwillens zurückgelassen. Jede Begrenzung war ihr als eine Verkleinerung erschienen.


Diese Empfindung übertrug sich bei ihr auf alles ...

Und wie sie nun in ihr Zimmer kam, sich auf dem Teppich zusammenkauerte, die Ellenbogen auf die hochgezogenen Knie gestützt, da schwoll ihr das Herz von noch unklarem, aber großem Leid ...

Sie dachte zurück an jene Zeit, da sie den ersten Brief Deltens vor dem rotglühenden Feuer des lombardischen Kamins gelesen ...

Waren die Schläge ihres Herzens später jemals so voll gewesen, hatte die wirkliche Erscheinung ihres Mannes je ihrer sehnsuchtsvollen reinen Vorstellung entsprochen?

War es nicht tödliche Enttäuschung gewesen, als sie zum erstenmal den lebendigen Klang seiner Stimme vernommen? Als zum erstenmal seine Hand die ihrige umschlossen hielt?

Sie vergaß nur die Enttäuschung bald im stündlichen Kampf mit sich, in der reizvollen Neuheit eines ungewohnt freien Verkehrs, der bewundernden Scheu, die ihr ein noch fremder, seltsamer Geist einflößte ...

Dann kam der Rausch, so sinnbetörend in seiner fessellosen Glut ... War sie nun allein es gewesen, die in dem süßen Taumel dahingelebt, blind für die Wirklichkeit? War er selbst nüchtern geblieben, hatte kalt die Stunden genossen, die Tage gezählt und gleich den abgerissenen Kalenderseiten achtlos beseitigt? ...

War der heutige Tag ein Ende, war er ein Anfang? ...

Noch kreiste ihr Blut heiß und fordernd in ihren Adern, noch lechzten die kaum geweckten Sinne nach neuem Genuß, noch jubelte und lachte in ihr der entfesselte Frohsinn der Jugend, noch ward ihr das Gestern und Heute nur ein einziges flammendes Jetzt und – schon sollte sie das Wort » morgen« lernen, sollte bedächtig Lust und Arbeit einteilen, die Schläge ihres Herzens regulieren, das stürmisch kreisende Blut zur Ruhe bringen ...

Und wenn das geschehen war – Was dann? ...

Das Mädchen rief zum Abendbrot ... es klang wie eine Antwort auf ihre Frage: essen, trinken, schlafen und dazwischen ein fremdes Leben führen: das Leben anderer. Das Leben der Menschen, von denen sie aus Büchern Kenntnis hatte, das Leben derer, die sie in Wirklichkeit umgeben würden ...

Und dieses Nachempfinden, dieses quälende Mitleben sollte ihr fortan Ersatz bieten für ihr eigenes Leben ... Ersatz? ...

Blaß und stumm saß sie Delten bei Tisch gegenüber.

»Bist du müde?« fragte er sie.

Sie nickte träge, wie erschlafft.

»Müde ... wovon, mein Kind?«

»Vom Denken.«

»Was hast du gedacht, Iduna ...«

Sie wollte es ihm sagen. Aber, was ihr so klar gewesen im farbigen Dämmerschein ihres Zimmers, hier unter dem grellen Licht der Gaskrone verwirrte es sich zu konfusen Begriffen.

Sie versuchte zu lächeln.

»Jetzt weiß ich's nicht mehr.«

»Dann war's auch nur Träumerei, Iduna ...«

Sie hörte eine leichte Geringschätzung aus dem Ton heraus, wie eine Zurechtweisung. Das Tellerklappern des Mädchens beim Abräumen irritierte sie. Sie stand hastig auf.

»Das Beste wird sein, du legst dich zur Ruhe nieder«, sagte er freundlich.

»Und du?«

»Ich will noch lesen bei mir, Notizen machen ...«

Sie faßte ihn unter den Arm und blickte zu ihm auf.

»Nie sprichst du mir von deiner Arbeit.«

»Du hast ja nie gefragt danach. Im übrigen würdest du wenig davon verstehen. Es sind philologische vergleichende Studien, die sich an Fachkreise wenden, trockene, wissenschaftliche Kritiken, archäologische Subtilitäten. Ab und zu lasse ich eine Broschüre erscheinen. Einigen Universitätsprofessoren sind sie wertvolles Material, das sie mit rhetorischen Floskeln ausgeputzt, in breiter, gefälliger Form dem Verständnis der Menge zugänglich machen.«

»Bist du berühmt?« fragte sie naiv.

»Nein, nicht einmal bekannt. Auf dem Titelblatte meiner Broschüren steht nicht einmal mein Name, nur J.D. Einzelne Gelehrte wissen, wer sich unter diesen Buchstaben verbirgt. Im übrigen ist es gleichgültig. Ich will ja nicht meinen Namen verbreiten, sondern wahre Tatsachen. Tatsachen, die nicht ich geschaffen, und an denen ich kein Teil habe.«

Iduna entsann sich plötzlich, daß sie nach dem Tode ihrer Mutter in deren kleinem Bücherschrank zwischen einem Gedichtband von Nikolaus Lenau und einem Novellenband von Gottfried Keller zwei, drei solcher Broschüren gefunden. Sie hatte sie aufgeschlagen, viele lateinische und griechische Zitate in ihnen gefunden, römische Zahlen und trockene, kurze Quellenhinweise. Damals hatte sie sich gewundert, wieso ihre Mutter zu diesen Broschüren gekommen war. Es mochte ja auch für diese ganz unverständliches Zeug gewesen sein. Sie hatte nicht einmal dem Vater von diesem Fund etwas gesagt, sondern aus einer Art Pietät die Broschüren nebst einigen Papieren und Briefen der Verstorbenen in eine Kiste eingepackt.

Also das war die Quintessenz vom geistigen Leben ihres Mannes! Sie hätte es lieber gesehen, wenn er ein verkannter Poet gewesen wäre oder ein revolutionärer, ungestümer Geist, der Prophet einer neuen Glaubenslehre ... Dafür hatte sie ihn auch bisher gehalten ... Die nüchterne, reale Lösung verkleinerte ihn in ihren Augen ...

»Also das machst du, das ist dein Leben?«

»Dünkt dich das Streben nach Wahrheit so gering, Iduna?«

Sie zuckte beinahe unwillig die Achseln.

»Was ist Wahrheit?!«

Für sie war das Wort ein leerer Schall.

»Geh' schlafen, Kind«, sagte Delten und küßte sie leicht auf die Stirn.

Im Schlafzimmer brannte die Lampe wie sonst. Qualvolle Unruhe erfüllte sie, eine Art Erwartung ...

Wahrheit ...! Sie wiederholte das Wort ein paarmal leise vor sich hin, zornig und verächtlich. Wahrheit war der Schmerz, den sie empfand, Wahrheit war ihr inneres aufgewühltes Leben, aber an dieser Wahrheit ging er vorbei ... Er suchte die Wahrheit im Toten, längst vergangenen, in starren Formeln ... Sie wartete auf ihn ... Sie wollte ihre Arme um seinen Hals werfen, ihn an sich ziehen, im Kuß ihn nochmals fragen: »Was ist Wahrheit? ...

Eine Stunde verrann ... Nun saß sie aufrecht im Bett, die Augen, brennend heiß, auf die Tür gerichtet ... Dann rollten ihr die Tränen in schweren Tropfen über die Wangen, und sie warf sich zurück in die Kissen.

Es war lange nach Mitternacht, als Delten ins Zimmer trat.

»Du schläfst noch nicht«, fragte er erstaunt. »So arge Kopfschmerzen?«

Er legte ihr seine kühle, hagere Hand auf die Stirne.

»Laß mich«, kam es schroff von ihren Lippen.

Mehr als alles empörte sie der heitere, zufriedene Ausdruck seines Gesichtes. Sie schloß die Augen, um ihn nicht zu sehen. Abgewendet, ohne freundlichen Gutenachtgruß schlief sie ein.

Als sie aufwachte, war sie allein im Zimmer. Sie klingelte nach dem Mädchen.

»Der Herr ist schon in aller Frühe fortgegangen«, antwortete dieses auf Befragen.

Iduna enthielt sich jeder Bemerkung. Sie fühlte sich wie zerschlagen nach dem gestrigen Abend, empfand es fast als eine Erleichterung, allein zu sein, sich ihren Gedanken hingeben zu können.

Sorgfältig kleidete sie sich an, wie sie es immer tat aus einem ästhetischen Bedürfnis heraus, dann ging sie einmal durch die Wohnung. Deltens Zimmer sah kahl und unwohnlich aus. Er hatte sich jede Ausschmückung verbeten: sie störe ihn bei seiner Arbeit. Auf dem Schreibtisch lagen nur wenige Bücher ordentlich aufgeschichtet, in der Mitte war eine Broschüre hingeworfen über Archäologie. Iduna klappte sie auf und fand eine Tafel mit krausen Schriftzeichen; einige derselben waren blau unterstrichen. Sie klappte das Heft wieder zu. Dann blickte sie auf den Wandkalender – richtig, nun war auch der gestrige Tag abgerissen.

Sie stellte sich an das Fenster. Dieser ewiggraue Berliner Himmel! Es schien ihr, als wenn die Menschen auf der Straße niedergedrückt würden von ihm, so mißmutig, gebeugt und langsam schlorrten sie vorüber.

Kurz vor dem Mittagessen kam Delten, mit einem Paket Bücher unter dem Arm. Bei Tisch fragte er, was Iduna getrieben. »Nichts? Nicht einmal gelesen? Auch nicht spazierengegangen?« Er schüttelte unzufrieden den Kopf.

»Das muß anders werden, Iduna.«

Aber da er sah, wie sie verstimmt wurde, brach er ab.

»Mit der Zeit werden wir schon wieder hübsch vernünftig werden, nicht wahr?«

»Ja ... aber nicht zu vernünftig.«

Sie kam von rückwärts an ihn heran, legte die Arme um seinen Hals und lehnte die Wange an seinen Kopf.

»Willst du nicht ein bißchen zu mir kommen?«

»Gewiß, gerne.«

Er legte den Arm um sie und führte sie in ihr verhängtes, dämmriges Zimmer.

»Ich will dir den schwarzen Kaffee bereiten hier ... ist's dir recht?«

Sie ließ ihm gar nicht Zeit zur Antwort, sie klingelte nach dem Mädchen und hieß sie, die Wiener Kaffeemaschine hereinbringen, gleichzeitig zündete sie die Lampe an.

»Das gibt mehr Behagen, nicht wahr, Julius?«

Er hob warnend den Finger.

»Künstliches Behagen, Iduna ... ist's auch das richtige?«

Aber sie lachte nur darauf. Jetzt war ihr wieder wohl und warm. Sie freute sich ihrer anmutigen Bewegungen und fühlte Deltens wohlgefällige Blicke. Es lag ein Hang zu Koketterie in ihr, zum steten Anreiz des Begehrens ...

Sie plauderte, lachte und scherzte, hielt ihm ihre Lippen zum Kuß hin, ihre Wangen röteten sich, ihre Augen belebten sich in feurigem Glanz.

»Schon ausgetrunken?« fragte sie, als er die geleerte Tasse auf das Tischchen stellte.

»Ja, Kind, und nun muß ich arbeiten ...«

»Arbeiten ...«

Sie sah ihn vorwurfsvoll, schmerzlich enttäuscht an.

»Ist's nicht hübsch hier?«

Und da er sich lächelnd erhob, fügte sie leicht gereizt hinzu:

»Du tust, als ob du nur zu Besuch hier wärst ...«

Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände.

»Es hat einen Philosophen gegeben, Epiktet heißt er ... hast du jemals von ihm gehört?«

»Ein Stoiker war es, der in Lumpen lebte, in Lumpen starb, Verzicht predigte und für alle Freuden, die er nahm, nichts gab, als ...«

»Als Erkenntnis«, ergänzte Delten. »Und weißt du auch, was dieser Epiktet in einer seiner berühmten Sentenzen sagt?: ›Du mußt dich im Leben wie bei einem Gastmahl verhalten. Wird etwas herumgeboten und kommt es zu dir, strecke die Hand aus und nimm ein bescheidenes Teil davon.‹ Hörst du, Iduna, ein bescheidenes Teil ...«

Sie wurde rot und wich ungeduldig seinem Blick aus.

Es folgten nun farblose Tage und Wochen. Ab und zu besuchte Iduna mit ihrem Mann ein Theater. Aber in den Randbemerkungen, die Delten machte, lag so viel Schärfe, daß sie selbst zu keinem vollen Genuß kam. Nach dem Theater stellte ihr Delten manchmal ein paar Bekannte vor, und man ging zusammen in ein Restaurant. Dann unterhielt sich Iduna ganz gut. Das Bewußtsein, daß sie den anderen gefiel, steigerte ihre heitere Laune, machte sie liebenswürdig und entgegenkommend. Sie lernte ein paar Künstler und Schriftsteller mit ihren Frauen kennen. Einige dieser Frauen waren hübsch und jung, sie zeigten ziemlich freie Ansichten, warfen mit Fachausdrücken herum und schwärmten von ihren Männern. Iduna war entzückt von ihnen, entschlossen, sich ihnen anzuschließen, aber wenn sie auf dem Heimwege ihrem Manne davon sprach, dann lächelte er geringschätzig und zuckte die Achseln.

»Sieh dir doch all diese leeren Vogelköpfe erst genauer an, bevor du dich so für sie erwärmst. Was besticht dich so sehr an ihnen? Das Nachplappern von Phrasen, die sie von ihren Männern gehört, aus der Zeitung gelesen haben? Oder ihre unfeine laute Art, die erträglich ist, solange sie noch jung sind, mit den Jahren aber immer vulgärer wird ... Oder gar das bißchen Interesse, das sie dir zeigen? Du bist ihnen eine neue Erscheinung, und sie spielen mit dir – weiter nichts. Einige erwarten, du wirst ein Haus machen und spekulieren auf Einladungen, andere hoffen auf noch größere Vorteile von uns, indem sie – unser Vermögen überschätzend – auf ein Absatzgebiet bei uns rechnen für Konzertbillette, Bilder, Bücher und so weiter. Wenn du willst, Iduna, kannst du dir in vierzehn Tagen einen ›Salon‹ schaffen. Ich verspreche dir: während eines halben Jahres wenigstens, wird ›ganz Berlin‹ – die wahre vornehme Gesellschaft ausgenommen – an deiner Klingel hängen, und du wirst das erhebende Bewußtsein in dir tragen, daß der und der oder die und die bei dir verkehren. Da dein Vermögen für große Gastereien, feine Soupers nicht ausreichend ist, wirst du es dir ›billig‹ einrichten. Man wird deine heißen Würstchen und deinen Tee mit belegten Butterbrötchen vorzüglich finden, solange du auch neue interessante Menschen mitservierst. Hat man bei dir aber nach Ablauf einiger Monate so ziemlich alles kennen gelernt, was der Mühe wert erscheint, so wird man anfangen, sich – im besten Falle – zurückzuziehen, im anderen aber sich noch über deine belegten Brötchen lustig zu machen. Dein Haus wird ein Durchgangshaus gewesen sein, wie es deren unzählige in Berlin gibt, wenn dir nach solcher Ehre – der Sinn steht – bitte!« ...

Iduna wußte ihrem Manne auf solche Worte nichts zu erwidern, aber es regte sich in ihr eine immer grollendere Opposition gegen ihn. Die Erfahrung fehlte ihr, um ihn zu widerlegen, der Mut, eine selbständige Handlung zu wagen. Aber wenn sie sich unter Fremden befand, die scheinbar harmlose Art des Verkehrs beobachtete, dann fühlte sie sich selbst wie in Fesseln geschlagen. Sie fühlte die beständige Kritik ihres Mannes, es war ihr unmöglich, sich einem unmittelbaren Eindruck hinzugeben. Die kalte ruhige Objektivität Deltens setzte sich bei ihr in Mißtrauen um.

Sie verlor bald die naive Freude am Verkehr und nur, wenn sie die beobachtenden Blicke ihres Mannes nicht auf sich fühlte, dann brach manchmal die impulsive Jugend ihres Wesens durch.

Auf die Dauer ließ sich aber der Verkehr nicht ausschließlich auf gelegentliche Zusammenkünfte in den Restaurationen beschränken. Iduna wurde aufgefordert, Besuche zu machen und mußte einige Besuche bei sich empfangen.

So hatte sich einmal die Frau des Klavierspielers Reitz bei ihr zum Kaffee angesagt.

»Ich bringe Ihnen auch Dr. Stahl mit, dem Sie den Kopf verdreht haben.«

Frau Reitz war eine kleine lebhafte, graziöse Person, die mit der äußeren Naivität eines ganz jungen Mädchens die schlaueste Berechnung vereinigte. Aber sie war so liebenswürdig, ihre Teilnahme an allem, was andere betraf, schien so echt! Iduna freute sich über diese zwanglose Liebenswürdigkeit, sie hatte die Empfindung, als ob sie mit Frau Reitz ganz unbefangen über alles reden konnte. Und daß sie ihr nun gar Dr. Stahl mitbringen wollte ... Iduna empfand darüber ein Vergnügen, dessen Intensität sie sich nicht einmal ganz zugestehen wollte.

Es war ein reizender Nachmittag. Iduna empfing ihre Gäste in ihrem kleinen Salon.

»Mein Mann läßt sich entschuldigen,« sagte sie, »er hat jetzt eine wichtige Arbeit vor.«

»Verlangen Sie nicht, daß ich darüber weine, kleine Frau. Allen Respekt vor Ihrem Mann, aber ohne ihn sind Sie mir lieber.«

Iduna war niemals ungeschickt, jetzt aber fiel ihr die Zuckerzange aus der Hand. Sie sah dabei nicht, wie Dr. Stahl Frau Reitz einen mißbilligenden Blick zuwarf. Aber Frau Reitz lachte:

»Ach, lassen Sie nur, Hermann, uns Frauen ist immer wohl, wenn wir dem Zwang der Gattenautorität ein wenig entrückt sind.«

»Auch in den Flitterwochen?«

Frau Reitz gab dem jungen Arzt einen Klaps auf die Hand.

»Halten Sie Ihren losen Mund. Und im übrigen, kleine Frau, wie lange sind Sie denn verheiratet?«

»Drei Monate.«

»So ... so ... Da wären dann eigentlich die Flitterwochen vorüber. Aber Ihr Mann scheint höllisch eifersüchtig zu sein – ist er nicht?«

»Auf wen?«

Iduna machte ein so maßlos erstauntes Gesicht, ihr »auf wen« klang so kindlich verwundert, daß Frau Reitz und Dr. Stahl in lautes Lachen ausbrachen.

Iduna wurde nun wirklich verlegen. Seit jener Szene auf dem Friedhof, da Delten ihr in so schroffen Worten verwiesen, ihn einer Eifersucht für fähig zu halten, hatte sie nie mehr an die Möglichkeit einer Eifersucht gedacht. Aber Frau Reitz lachte noch immer.

»Sie sind doch köstlich naiv, meine Liebe. Auf jemand Bestimmten eifersüchtig sind nur die Frauen, die Männer leisten sich den Sport der Eifersucht mehr im allgemeinen, und dann gehen sie folgendermaßen vor: ›Mein Kind, du dekolletierst dich zu stark, mein Kind, du lachst zu viel, mein Kind, du darfst dich nicht nach dem Abendessen auch noch mit deinem Tischherrn unterhalten ... Das schickt sich nicht. Es schickt sich nicht, daß du einem Herrn, den ich dir vorstelle, gleich die Hand reichst, es schickt sich nicht, daß du ohne meine Erlaubnis Herrn Ypsilon aufforderst, dich zu besuchen, es schickt sich nicht, daß du dreimal mit demselben Herrn tanzest ...‹«

Iduna mußte nun auch lachen.

»Aber das alles hat ja mein Mann gar nicht gesagt ...«

»Nein, er macht's vielleicht noch mehr engros ab: Mein Kind, es schickt sich nicht, daß du mit Menschen verkehrst! ...«

Iduna wurde plötzlich ernst, und es trat eine kleine Pause ein.

Frau Reitz verließ ihren Platz, setzte sich auf das kleine Sofa neben Iduna und nahm ihre Hand. »Nichts für ungut, kleine Frau, nicht wahr?«

»O nein, gewiß nicht ...«

Aber Iduna konnte jetzt nicht mehr über eine gewisse Befangenheit hinwegkommen. Frau Reitz scherzte nun mit dem jungen Arzt, es flogen Witzworte, Anspielungen, die Iduna nicht recht verstand, Namen wurden genannt, die Iduna nicht kannte, Abmachungen wurden getroffen, an denen Iduna nicht teilnahm. Und über diesem ganzen leeren Geschwätz, diesem Geplänkel, lag es wie der tödliche Druck einer gespannten Situation. Blicke flogen zwischen den beiden, die sich Iduna nicht zu deuten wußte: war es heimliches Einverständnis? War es eine stumme gegenseitige Herausforderung?

Manchmal huschte es wie Langeweile über das Gesicht des Arztes. Iduna glaubte dann ihren Pflichten als Wirtin nicht genügt zu haben. Sie mühte sich krampfhaft, einzufallen in das Gespräch, aber es wollte ihr nicht gelingen ...

»Ich glaube, wir dürfen Frau Dr. Delten nicht länger aufhalten«, sagte endlich Stahl.

Frau Reitz erhob sich.

»Nun müssen Sie mich aber auch besuchen, kleine Frau. Wir wollen gleich einen Tag festsetzen, an dem auch Dr. Stahl frei ist ... Donnerstag, Freitag ...«

»Bedaure, ich bin die ganze Woche über nicht frei ...«

»So?«

Es klang durch wie Gereiztheit.

»Also nächste Woche, Montag, Dienstag ...«

»Unmöglich für mich. Aber warum wollen Sie den Besuch von Frau Delten durchaus von meinem Kommen abhängig machen?«

Frau Reitz riß nervös an ihren Handschuhen ...

»Nun, ich wollte nicht, daß die kleine Frau bloß auf mich angewiesen ist ...«

»Sie haben ja so viele Bekannte ...«

»Allerdings, Sie erinnern mich beizeiten daran.«

Frau Reitz umarmte Iduna, ihre Hände zitterten leicht, und wie um dieses Zittern zu maskieren, sagte sie mit einem Versuch zu scherzen:

»Höflich sind unsere Herren heutzutage gerade nicht.«

Stahl führte Idunas Hand an seine Lippen:

»Seien Sie gnädiger in Ihrer Beurteilung und gestatten Sie mir von Zeit zu Zeit eine Erneuerung meines Besuches.«

»Bitte ...«, sagte Iduna mechanisch.

Sie war froh, als die beiden endlich fortgingen. Rechenschaft konnte sie sich von ihrer Empfindung nicht geben, aber etwas wie Widerwillen und Angst waren in ihr aufgestiegen vor einer neuen Seite des Lebens, die sie noch nicht kannte.

Als sie allein war, zog sie die Vorhänge zurück und öffnete weit das Fenster; es war ein milder, weicher Wintertag. Sie blieb einige Augenblicke am offenen Fenster stehen. Sie sah, wie die beiden aus der Haustür traten. Frau Reitz sprach lebhaft und eindringlich, Dr. Stahl zuckte ein paarmal die Achseln. Plötzlich blieb er stehen, lüftete mit scharfem Ruck seinen Hut und bog kurz entschlossen in eine Seitenstraße ein. Frau Reitz stand da, wie vom Schlag gerührt. Iduna konnte ihr Gesicht erkennen. Es lag so etwas Hilfloses darin, wie bei einem Kind. Das war nicht dieselbe Frau, die noch vor kaum einer halben Stunde gespöttelt, gescherzt und ironisiert hatte.

Eine leere Droschke fuhr vorbei. Frau Reitz gab ihr ein Zeichen zu halten. Sie schien sich nur mühsam bis zu ihr hinzuschleppen, und als sie eingestiegen war und die Tür zuschlug, da sah Iduna in ein totenblasses Gesicht ...

Iduna schloß das Fenster, zog die Vorhänge wieder zu.

War es nicht schöner bei ihr in dem stillen, dämmrigen Raum, als draußen in der Welt des Schmerzes und Elends?

Es überkam sie ein Gefühl des Friedens, das bewußte Empfinden einer stillen Ruhe. An den jungen Arzt dachte sie nicht mehr, aber die arme kleine Frau tat ihr leid ... sie hätte es nicht sagen können warum.

Nun trat Delten ins Zimmer.

»Du hast Besuch gehabt?«

»Ja ... Frau Reitz und Dr. Stahl.«

»Hast dich gut unterhalten?«

Iduna hätte gern ihre Eindrücke mitgeteilt, aber sie fürchtete Deltens Schroffheit, fürchtete ihre leise Sympathie für die blasse Frau zu verraten.

Mein Gott, sie konnte die Frau ja nicht entschuldigen, aber das Leiden verklärte sie, umgab sie mit einem poetischen Zauber. Delten würde diesen Zauber zerstören.

Einmal, im Laufe des Gespräches, hatte er geäußert:

»Es gibt zwei Arten von Frauen: anständige Frauen und Dirnen. Ein Mittelding kenne ich nicht.«

Und das war es, worüber sie nicht hinwegkam: er kannte kein Mittelding, keinen mildernden Umstand.

»Ja, es war sehr nett«, sagte sie laut.

Wie weit entfernt war sie schon von jener Zeit, da sie Delten rückhaltslos jeden ihrer Gedanken offenbarte ...


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