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XI.

Iduna war nun schon seit einer Woche im Vaterhause. Der alte Flößner hatte sie im Lehnstuhl sitzend empfangen.

Der zweite Schlaganfall innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten hatte ihn arg mitgenommen. Die ganze linke Seite war gelähmt, die Sprache nicht mehr deutlich, das Auge stier und glanzlos. Iduna hätte nicht einmal zu sagen vermocht, ob er sich über ihre Ankunft freute. Es war ein ganz farbloses Lächeln gewesen, mit dem er sie begrüßt hatte. Die kleine Lolo hatte er mehr neugierig als teilnehmend betrachtet und bald darauf nach der Wirtschafterin gerufen:

»Christine, Christine ...«

Und als die Gerufene angelaufen kam, den rasselnden Schlüsselbund an der Seite, da hatte er ungeduldig nach seinem Gabelfrühstück verlangt.

»Eier mit Sardellen, sagten Sie doch, Christine, Eier mit Sardellen ... nicht wahr?«

»Jawohl, Herr Flößner, sollen Sie gleich haben.«

Der Kranke trommelte mit der Rechten ungeduldig auf das Tischchen, das an seinem Stuhl angebracht war und kümmerte sich nicht weiter um Tochter und Enkelin. Als das Frühstück kam, leuchteten seine Augen auf. Er aß gierig und langsam, wobei er ab und zu einen unruhigen Blick um sich warf. Die Wirtschafterin stand neben ihm und wischte ihm mit der Serviette öfters den Mund ab.

»Lassen Sie nur, Christine, ich will es tun,« schlug Iduna schüchtern vor.

Aber der Kranke schüttelte abwehrend den Kopf. Dann, als er gesättigt war, nahm sein Gesicht einen freundlicheren Ausdruck an.

»Es ist gut, daß du zu deinem alten Vater gekommen bist,« sagte er. »Wie lange kannst du bleiben?«

»So lange du mich behalten willst, Vater.«

»Du bist zu Hause hier.«

Iduna küßte seine Hand.

»Ich danke dir.«

»Na ... wie lebst du ... gut?«

Sie fing an von ihrem Leben zu erzählen, in großen Zügen. Sie schilderte ihre Wohnung, den Kreis, in dem sie verkehrte.

»Dein Mann ist gut zu dir?«

Die Frage verwirrte sie ein wenig, aber doch empfand sie es dankbar, daß er sich danach erkundigte. Ein warmes Mitteilungsbedürfnis stieg in ihr auf, zugleich mit dem Gefühl inniger Zusammengehörigkeit.

So nah stand ihr der Vater plötzlich, so teuer war er ihr. Alles Harte war vergessen. Auch daß er sich immer so schroff und abweisend gezeigt. Seine Hilflosigkeit schien ihn ihr gleichsam näher zu bringen, ihr Vertrauen zu wecken.

Sie ließ sich vor dem Stuhl auf die Knie nieder, umschlang mit einem Arm seinen Hals und lehnte ihre Wange an seine eingesunkene Schläfe. Wie einem Beichtvater wollte sie ihm alles sagen, die geheimsten Wunden ihrer Seele aufdecken, und sie erwartete Beistand von ihm, Rat ... die liebevolle Einsicht eines menschenkundigen, welterfahrenen älteren Freundes. Nur nachdenken wollte sie einen Augenblick, wissen, womit beginnen. Wie ein unentwirrbares Knäuel von konfusen Stimmungen, so lagen die vier Jahre ihrer Ehe hinter ihr.

»Ich will dir alles sagen, Vater,« hob sie an, wie erleichtert, diese primitivste aller Einleitungen gefunden zu haben.

Aber der Kranke befreite seinen Kopf mit einer ungeduldigen Bewegung aus ihrer Umarmung, und gellend kam es von seinen Lippen:

»Christine, Christine ...«

Iduna sprang auf, fassungslos.

»Fühlst du dich nicht wohl, soll ich dir etwas bringen?«

Er antwortete ihr gar nicht.

»Christine, Christine ...«

Und als die Wirtschafterin vor ihm stand, da fragte er, ernst und beinahe geheimnisvoll:

»Christine, ich bekomme doch immer drei Brötchen, heute haben Sie mir nur zwei gegeben, und die Sardellen auf den Eiern waren auch viel kleiner als gewöhnlich. Sie dürfen mich heute auf das Mittagessen nicht warten lassen ... geht Ihre Uhr richtig? Die Küchenuhr geht immer nach. Nach der dürfen Sie sich nicht richten. Geben Sie mir meine Taschenuhr her ... ja ... so ... da, sehen Sie, es ist bald halb eins. In zwei Minuten halb eins. Ich dachte sogar, es wäre mehr. Haben Sie die Uhr gestern aufgezogen, Christine ... nicht etwa zurückgestellt?«

Er kniff die Augen zusammen und blickte die Wirtschafterin mißtrauisch an.

Iduna stand daneben, ganz blaß, kalt bis in die äußersten Fingerspitzen.

Wäre ihr Vater jetzt eben vor ihren Augen gestorben, sie hätte kaum eine andere Empfindung gehabt.

»Ich will nun nach oben gehen,« sagte sie tonlos und verließ das Zimmer.

Oben spielte Lolo vor dem lombardischen Kamin, und die Werner, praktisch und rührig wie immer, packte die letzten Kleinigkeiten aus und ordnete sie.

»Sie tun ja gerade, als ob wir eine Ewigkeit hier blieben.«

»Na, ein paar Wochen, meinten doch Frau Doktor ...«

Iduna fröstelte.

Ein paar Wochen! Der Wind fuhr heulend durch den Schornstein, und der Regen klatschte an die Scheiben.

»Man wird wohl heizen müssen, es ist so kalt hier,« sagte die Werner.

Und dann kam der alte Klaas herein – – Iduna wäre ihm beinahe um den Hals gefallen.

»Klaas, Alter, erkennst du mich?«

Er ließ die dicken Holzscheite von den Armen herabgleiten und blinzelte Iduna mit seinen ausgebleichten, schon ein wenig blöden Augen an.

»Unser Fräulein, jawoll ... werde ich doch kennen.«

»Und siehst du, Klaas, das da ist meine kleine Tochter ...«

Iduna hob Lolo empor und setzte sie sich auf die Schulter.

»Klein Ding,« sagte Klaas bedächtig. »Klein Ding!«

»Klein Ding!« wiederholte Iduna. Der Name gefiel ihr.


Still war es in dem alten Haus! Manchen Tag hörte man stundenlang keinen Laut, wenn die Werner mit Lolo spazieren ging. Iduna saß beim Vater und hielt eine Arbeit in der Hand. Der Kranke öffnete die Lippen nur, um zu fragen, wieviel Uhr es sei, und was man ihm zu essen bringen würde. Iduna sprach gar nicht, aber sie dachte viel nach. Sie zergliederte ihre Eindrücke und Empfindungen und wunderte sich, wie unberührt sie blieb von allem, was sie umgab. Sie hatte auch kein Mitgefühl mit dem Vater. Nicht einmal ein kindliches Empfinden. Wenn sie ihn vor sich sah, so grau und verfallen in seinem Lehnstuhl, schien er ihr ein ganz Fremder, sie hatte ihn ja nie gekannt, den Vater. – – –

Als Kind war er ihr mehr ein Begriff, eine Respektsperson, ein Wau-Wau gewesen, mit dem man sie schreckte, wenn sie Maß und Ziel vergaß in kindlichem Übermut; dann später ward er ihr der oberste Befehlshaber im Hause, etwas wie ein Vorgesetzter, dem man wohl mit einem Anliegen, nicht aber mit traulichem Geplauder nahen durfte. Und ganz fremd wurde er ihr, als sie draußen ihr eigenes, seltsames Leben lebte. Da sie aber zurückkehrte zu ihm, fand sie eine tote Seele in einem verfallenen Körper, und nur einen Augenblick, einen einzigen kurzen Augenblick, hatte sie kindliches Vertrauen gefühlt, Zusammengehörigkeit des Blutes und Geistes zu empfinden vermeint ... Es war eine Täuschung gewesen.

Fremd hatte sie als Kind an seiner Seite gelebt, fremd ging er von ihr ... Ihr Vater, und er war ihr doch nichts. Nichts als ein Begriff ...

Und hatte er nicht auch sein Sehnen und Hoffen gehabt, hatte er nicht auch gestrebt, geliebt, gelebt? War ihm das Rätsel dieses Daseins nicht auch nahegetreten mit seinen widerspruchsvollen Fragen ... Und nun ging er dem Tod entgegen in unschönem, tierischem Absterben, ohne Klärung, unbewußt, wie ein abgearbeiteter Gaul.

Würde das auch ihr Ende sein? Würde Lolo, das »klein Ding«, dann auch so mit einer Handarbeit an ihrem Lager sitzen und innerlich unberührt sich fragen, was wohl für eine Seele in dem der Verwesung entgegengehenden Körper eingeschlossen gewesen war?

Wenn dann die Werner mit Lolo vom Spaziergang heimkam und Iduna das piepsige Stimmchen hörte, so lief sie in stürmisch erwachender, heißer Zärtlichkeit hinaus und schloß das Kind in die Arme.

»Lolo, mein klein Ding, du!«

Aber Lolo wehrte sich und schrie. Sie liebte diese leidenschaftlichen Ausbrüche nicht, mehr an die ruhige Freundlichkeit der Werner gewöhnt. Und Iduna ließ dann ab von dem Kinde, beschämt und enttäuscht, mit einem starren Kältegefühl im Herzen, im Bewußtsein einer großen, öden Einsamkeit.

Tage vergingen, Wochen und Monate. An Delten hatte sie nur Karten geschrieben, Mitteilungen von körperlichem Befinden, ganz äußerlichen Vorkommnissen, und am Schlusse immer nur: »Herzlichen Gruß, Iduna.« Das Wörtchen »Deine« glitt ihr nicht aus der Feder. Mit dem ihr, wie den meisten Frauen, eigenen Hang zur Symbolik wähnte sie durch Auslassung des Wörtchens – »Dein« – sich selbst in Wirklichkeit zurückzunehmen. Ihre Mitteilungen wurden – ihr selbst unbewußt – immer lakonischer, immer unpersönlicher ...

Eines Morgens wachte sie auf, wie geweckt von einer linden, körperlichen Berührung. Eine süße Mattigkeit lag ihr in den Gliedern, und doch war ihr die Seele so frei wie lange nicht.

Das Licht, das durch einen Spalt zwischen den Vorhängen hereindrang, war anders als sonst: so milchig-weiß und doch flimmernd von sprühenden Sonnenfunken.

Die Werner trat auf ihr Läuten ein.

»Schnee,« sagte sie und schob die Vorhänge auseinander.

»Schnee, Schnee!«

Ein Jubelruf war es, der von Idunas Lippen brach. Barfuß eilte sie ans Fenster, ohne achtzugeben auf das sorgende, mahnende Gebrumm der Kinderfrau.

»Schnee ... Werner, wissen Sie auch, wie schön das ist? Sehen Sie, so rein und glitzernd liegt alles vor uns da ... so rein! Die greulichen Schieferdächer sind ganz verborgen – wie unter weißen Kuppeln liegen die Häuser ... Und die Straße drüben jenseits des Hofes ... sehen Sie nur! Wie ein weißes Band ... ein so schönes, weißes Band, auf dem man sich kaum zu gehen getraut ...«

Iduna versteckte den Kopf in die Falten des Vorhanges und fing an zu weinen. Es war ihr, als hätte sie fliegen wollen und dabei die Kraftlosigkeit ihrer Flügel gefühlt ...

Sie kleidete sich hastig an, frühstückte am Fenster sitzend, und blickte immer sehnsüchtig hinaus in die weiße Ferne.

»Sie sollten ausgehen, Frau Doktor,« meinte die Werner.

Iduna schüttelte eigensinnig den Kopf.

»All das Schöne, Zarte, Weiße mit meinen eigenen Füßen niederdrücken und beschmutzen ... nein.«

Die Werner war zu sehr an das Symbolische in Idunas Art zu sprechen gewöhnt, um sich über die Worte den Kopf zu zerbrechen.

Aber gegen Mittag hielt es Iduna nicht länger im Zimmer. Sie ging zum Vater hinunter und drückte ihm einen flüchtigen Kuß auf die Stirn.

»Wohin?« fragte der Kranke und hielt sie am Ärmel fest.

»Hinaus, in den ersten Schnee.«

Sie lachte, wie sie das sagte. Über ihr Gesicht huschte sonnige Freudigkeit. Sie sah über den ergrauten Kopf des alten Mannes hinweg durch das Fenster.

»Also, leb wohl, Vater, in einer Stunde bin ich wieder da.«

Der Alte gab sie nicht frei. Wie ein eigensinniges Kind zerrte er an ihrer Jacke.

»Du kannst gehen ... du! ... Du hast's gut. Ich muß dableiben. Kümmert dich nicht, was? Hast du schon zusehen müssen, wenn andere kamen und gingen ... alle an dir vorübergingen – und du konntest nicht mit?«

Es war, als wollte er weinen. Aber sie hatte keine Empfindung mehr für ihren Vater. Was er ihr auch jetzt bieten mochte – es war zu spät. Es zog sie hinaus ... hinaus in die schneeige Reinheit der Natur. Sie riß sich förmlich los von ihm und lief aus dem Zimmer über die Treppe, den Hof. Wenn nur die Wärterin nicht nachkam oder gar Lolo sie noch aufhielt, mitgenommen sein wollte!

Aufjubeln hätte sie mögen, als sie draußen stand, ganz allein, auf der stillen, weißen Straße ... Und dann wanderte sie planlos umher.

Der neue fürstliche Ökonom fuhr in einem kleinen leichten Schlitten an ihr vorüber. Er hob seine Pelzkappe, Iduna zu begrüßen.

»Darf ich Sie ein bißchen spazieren fahren, Frau Doktor?«

Er hatte Iduna zweimal bei gelegentlichen Besuchen gesehen, die er beim alten Flößner gemacht hatte.

»Ach ja!«

Iduna klatschte in die Hände wie ein Kind.

»Nur bis zu den Orangerien, von da gehe ich wieder zu Fuß nach Hause.«

Sie schwang sich in den Schlitten. Der Ökonom, ein behäbiger, älterer Mann, legte den Arm schützend um ihre Taille.

»Müssen schon erlauben, Frau Doktor, sonst fallen Sie mir noch heraus. Schmal ist so ein Schlitten – so ein richtiges Gefährt für Verliebte ...«

Iduna war zumute, als sei sie wieder ein ganz junges Mädchen und als sei der fremde Herr neben ihr ein guter, alter Onkel, dem man mit einem bescheidenen Knix für eine kleine Galanterie dankt.

»Also wirklich bei den Orangerien wollen Sie aussteigen, kleine Frau? Schön ist's dort freilich, die Bäume bereift, wie mit Zuckerstaub überschüttet – das glitzert und funkelt. Als ich vor einer halben Stunde dort vorbeikam, stand ein Maler da mitten im Schnee und pinselte was auf die Leinwand ... schöner Kerl. Er sah das alles an, als wollte er es auffressen. So ein Heißhunger lag in seinem Blick. War ganz patent angezogen. Einen Pelz wie aus einer Operette hatte er an.«

Iduna hörte kaum, was ihr Begleiter sagte. Freudetrunken überließ sie sich dem Wohlgefühl der pfeilschnellen Fahrt.

»So, da wären die Orangerien, kleine Frau ... Also wirklich aussteigen? Oder soll ich Sie nach Hause bringen?«

»Nein, nein, danke tausendmal. Es ist ja nicht weit und ich will hier noch ein bißchen herumstreifen zwischen den Zuckerbäumen. So rein und schön wie hier ist der Schnee nirgends, und morgen ist er vielleicht auch hier geschmolzen ...«

Sie schüttelten einander die Hände, der Schlitten sauste weiter, und Iduna stand allein auf der weißglitzernden Bahn.

Die Orangerien hoben sich von einer Gruppe bereifter Bäume ab, die den Mittelpunkt einer Anlage bildeten, und durch die hohen Fenster sah man blühende Blumenpracht, an die sich von außen, nur durch Glasscheiben getrennt, schneebedeckte Zweige schmiegten.

Der Maler, von dem der Ökonom gesprochen hatte, war gerade im Begriff, Palette und Pinsel in einen Kasten zu schließen. Als er sich aufrichtete, sah Iduna, daß es ein großer, stattlicher Mann war. Sie hätte gerne sein Gesicht erblickt, aber er stand mit dem Rücken gegen sie und blickte regungslos nach den blühenden Blumen hinüber, die den Winter zu grüßen schienen.

Dann wendete er sich um, ganz langsam und nahm den Malkasten mit einer trägen Bewegung, den Blick verträumt in die Ferne gerichtet.

Ein leiser Laut entfuhr Iduna, ein Laut des Schreckens, des Jubels ...

»Georgy ...«

Und dann biß sie sich auf die Unterlippe und fuhr sich in der Verwirrung mit der Hand über die Stirne, so daß ihr Pelzkäppchen sich verschob und der Ansatz ihres Haares über den seltsam gewölbten Stirne sichtbar wurde.

Er sah sie an, mit Augen, die groß und starr auf sie gerichtet waren. Dann sagte er langsam:

»Dudi!«

Und nochmals: »Dudi!«

Ihre Hände lagen ineinander – sie wußten selbst nicht wie. Sie standen lange einander gegenüber, ohne mehr ein Wort zu sprechen.

Es war etwas Schmerzlich-Süßes in dieser Begegnung, eine ganz traumhafte Glückseligkeit.

Sie fragten nicht, sie sprachen nicht. Ganz stumm standen sie da und sahen einander an.

»Gehen wir,« sagte er.

Sie fragte nicht, wohin. Schweigend ging sie an seiner Seite über den weißglitzernden Weg.


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