Sophie Wörishöffer
Gerettet aus Sibirien
Sophie Wörishöffer

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Zwanzigstes Kapitel.

Im Zelte des Kamakay.

Sehen wir uns jetzt einmal nach den Verschwundenen um. Wie Hermann und Herr Bochner gedacht hatten, so verhielt sich die Sache auch wirklich; an jenem Tage, als Emma und Otto in der Hütte allein waren, kamen plötzlich im Schlitten sieben Tschuktschen – unter ihnen der alte Bettler – und befahlen dem jungen Mädchen und ihrem Bruder, ohne weiteres einzusteigen. Das Hilferufen der beiden armen Kinder verhallte ungehört, ihr Widerstand wurde ohne Mühe gebrochen, und die Räuber eilten mit ihrer Beute davon.

Der Anführer war Tschikine, ein junger Kamakay, welcher im Augenblick an der Tschaunskaia-Bai fischte, seinen eigentlichen Wohnsitz aber an der Bai von Kaliutschin besaß und gerade jetzt dahin zurückkehren wollte. Er hatte den Befehl gegeben, seine beiden Gefangenen mit Sorgfalt zu behandeln; daher saßen Emma und Otto in einem wohlverwahrten Schlitten bei einander und erhielten an Lebensmitteln alles, was der Tschuktschenstamm bieten konnte, aber sie fühlten sich trotzdem sehr unglücklich. Zuerst hegte Otto die Absicht, baldmöglichst zu entfliehen und zur Hütte zurückzukehren, damit Hermann die Spur der Räuber 202 erhalte und verfolgen könne, aber diesen Plan mußte er bald fallen lassen. Der Weg war zu weit, er wäre nicht lebendig in das Winterquartier gelangt – auch Emma sah das ein.

Dann verschwand Treu, und die beiden armen Kinder schöpften neue Hoffnung. Hermann erhielt durch den klugen Hund ohne Zweifel eine genügende Spur zur Verfolgung.

Weiter und weiter flog der Schlitten. Zahlreiche Hunde zogen ihn, Sklaven mit Lederpeitschen liefen nebenher und spornten die Tiere; es war ein sehr großer Stamm, der sich hier um das Kap Schelagskoi herum an das Meer begab. Man sah jetzt überall Zeltdörfer der seßhaften Tschuktschen, ihre aus hohen, spitzen Zelten bestehenden Wohnungen, ihre Schutzwände von Schnee und die zahllosen Hunde und Renntiere, welche sich überall herumtrieben – endlich war die Bai von Kaliutschin erreicht.

Emma und Otto wurden in das Zelt des Kamakay gebracht, einen ziemlich großen Raum, der besser eingerichtet war als die Wohnstätten der übrigen Stammesangehörigen. Hier befanden sich die beiden Frauen des heidnischen Fürsten, Erscheinungen von kleinem, plumpem Wuchs, schwarzen, tiefliegenden Augen und schwarzen Haaren. Diese den Eskimos gleichenden Weiber machten sich sofort daran, die neue Sklavin in jeder nur möglichen Weise zu quälen, sie mit Arbeit zu überhäufen und auch dem Knaben das Leben in jeder Stunde zu vergällen.

Die Wohnung bestand aus einem inneren und einem äußeren Zelte; das erstere bewohnten die Frauen des Häuptlings, das andere war für die Sklaven, und hier mußten Emma und Otto trotz der Kälte ausharren, wenn sie nicht sogar ganz draußen die härtesten und gröbsten Arbeiten verrichteten. Was an Treibholz und Schnee gebraucht wurde, das schleppten die beiden armen Kinder in Körben herbei; während die Frauen des Häuptlings nur Fischernetze aus Lederriemen flochten oder ohne irgend eine Beschäftigung auf den Bärenpelzen kauerten, mußten die Weißen alle Haushaltungsarbeiten allein besorgen, daneben aber auch noch Wolfsfallen anfertigen.

Zu diesem Zweck wurde aus Fischbeinstäben eine Kugel geformt, indem man die Enden zusammenband und dann das Ganze mit Wasser begoß, so daß es zum Eisklumpen gefror. Danach nahm man sorgfältig die Bänder ab, tauchte den Ball in ein stark riechendes Fett und legte ihn an die Stelle, wo der Wolf vermutet wurde. Der weitere Vorgang ist einfach genug. Die halbverhungerte Bestie verschlingt gierig den Köder; im Magen taut das Eis, die Stäbe schnellen auseinander, und der Räuber stirbt.

204 Gegen das junge Mädchen betrug sich der Kamakay einigermaßen anständig, seine beiden Frauen aber prügelte er jeden Tag und betrank sich dabei so, daß er stundenlang wie ein Toter auf dem Fußboden lag.

Am ersten Tage des nächsten Neumondes sollte ein großes Opferfest stattfinden; dazu hatte der Kamakay ein ganz weißes Renntier erhandelt, das vorerst noch zwischen den übrigen in der Umgebung des Zeltes frei einherging und dessen besondere Pflege dem kleinen Otto anvertraut war. Er gab acht, wann der Kamakay betrunken da lag, und dann schwang er sich auf den Rücken des Tieres, um längere oder kürzere Zeit spazieren zu reiten. Er wollte für den Tag der Flucht das schöne, stattliche Tier an seine Stimme, seine Hand gewöhnen.

Eines Nachts, als die beiden Geschwister, eng aneinander geschmiegt, vor Unruhe schlaflos, auf den Bärenpelzen lagen, in einer stillen, kalten Nacht, ertönte plötzlich vor dem Zelte des Kamakay das Gebell eines Hundes, und wie vom Blitz getroffen, fuhren Emma und Otto in sich zusammen. Das war Treus Stimme!

»Hermann ist hier!« flüsterte der Knabe.

»Er will uns befreien! Gott sei gelobt!«

Sie horchten beide, aber ohne mehr zu entdecken als das bald nähere, bald fernere Gebell des Hundes; es begehrte niemand Einlaß, keine Stimme rief oder gab ein Zeichen.

»Sollte Treu allein hier sein?«

»Das ist bei der großen Entfernung bis zum Kap Baranoff unmöglich. Ach wäre es doch erst Morgen!«

»Hermann ist schlau«, meinte Otto, »er hält sich in der Nähe versteckt. Sobald der Kamakay zum Fischen gegangen ist, werde ich das Renntier besteigen und ihm entgegen reiten – er muß mir ohne Zweifel begegnen.«

Emma willigte in alles, was der Knabe vorschlug; sie war viel zu aufgeregt, um ruhig urteilen zu können.

Treu bellte die ganze Nacht, und als Otto beim ersten Morgengrauen hinausging, da feierten die beiden ein Fest des Wiedersehens, wie es nicht zärtlicher gedacht werden kann. Von Hermann oder dem Tanzlehrer war auch jetzt noch nichts zu entdecken.

Otto lockte das weiße Renntier, befühlte den Vorrat gekochten Fleisches, das er unter dem Pelze versteckt hatte, und schwang sich auf den Rücken des Opfertieres. Ein Zungenschlag, dann flog es davon – voraus in Sprüngen der bellende Hund.

Emma betete drinnen im dunklen Zelte mit gerungenen Händen, daß Gott das kecke Unternehmen gelingen lassen möchte. 205


Jene vier Tage, welche Tekel und Khort beansprucht hatten, die vier Tage des Wartens waren nun verflossen, und der Polizeimeister konnte seine Reise beginnen.

Er ließ die Narten mit Teilen der Ladung aus dem verlassenen Schiffe befrachten und bestimmte, als alles vollendet war, den Abzug aus der Hütte für die Morgenstunden des folgenden Tages.

Das Wetter war schön, der Himmel klar und die Luft nicht kälter, als daß sie wenigstens ohne gar zu große Beschwerden ertragen werden konnte.

Jermaks Gesicht glänzte vor Freude. Endlich befanden sich alle Vorteile auf seiner Seite; er hatte gesiegt, konnte die Flüchtlinge im Triumph nach Jakutsk zurückbringen und sich selbst von allem Verdachte vollständig reinwaschen.

Eine stolze Freude schwellte sein Herz, aber doch war darin ein bitterer Tropfen enthalten, die armen jungen Leute – er liebte sie, ohne es sich gestehen zu wollen.

»Ich werde mich für sie verwenden«, dachte er in solchen Augenblicken, »ich werde alles thun, was in meinen Kräften steht, um ihr Los zu erleichtern. Die beiden Kinder verbüßen für die Begünstigung von Hermanns Flucht eine kurze Strafe, dann schaffe ich sie zu den Ihrigen nach Deutschland, und das Schicksal des älteren Bruders gerät langsam in Vergessenheit. Hermann kann immer als geachteter Mann in Jakutsk sein Leben beschließen. Pah! Viele Tausende von Menschen haben es niemals so gut und so leicht wie der Sekretär des Statthalters von halb Sibirien.«

Aber alle diese Selbsttröstungen konnten ihm keine eigentliche Ruhe gewähren. Er war mit sich im Zwiespalt und wußte das. Um noch die letzten Stunden bis zur Abreise möglichst auszunutzen, ging er an das Grab seines verstorbenen Sohnes – bei der Rückkehr aber erwartete ihn eine Überraschung, die förmlich wie ein Keulenschlag wirkte. Vor der Thür der Hütte hielt auf einem weißen Renntier Otto und begrüßte ihn schon von weitem.

»Guten Morgen, Herr Jermak, da bin ich wieder – und auch Emma ist wohlauf. Ich habe die Jakuten schon gesprochen, jetzt geht es vorwärts.«

Jermak stand wie versteinert.

»Die Jakuten haben meine Befehle erhalten!« stammelte er endlich.

»Nein, Herr Polizeimeister, diejenigen meines Bruders, der sie bezahlt und der sie auffordern läßt, möglichst schnell zur Kaliutschinbai zu kommen, wo er sie erwartet. Wir können also gleich einsteigen, nicht wahr?«

206 Die beiden Eingeborenen hatten ihre Schlitten schon gewendet, sie erklärten offen, auf jeden Fall ihrem eigentlichen Herrn gehorchen zu wollen, und so sah sich der Polizeimeister zum Nachgeben gezwungen. Emmas persönliches Eigentum, Wäsche und Kleider wurden in aller Eile eingepackt, das weiße Renntier in Freiheit gesetzt, und fort ging es, dem voraus laufenden, laut bellenden Hunde nach.

Das Herz des Knaben schlug ungestüm. Wenn es Jermak geahnt hätte, daß er Hermanns und Herr Bochners Spur erst suchen mußte, daß er von beiden nichts, auch gar nichts wußte!

»Dem Mutigen gehört die Welt!« dachte er. »Ich werde sie finden.« – – –

Der armen Emma ging es nach Ottos Entfernung schlechter als vorher. Das schmutzige Essen, welches man ihr bot, konnte sie vor Widerwillen nicht genießen und litt daher ebensowohl unter der entsetzlichen Kälte als unter dem Hunger, der ihr stündlich zur Qual wurde.

Sie hoffte jetzt den Tod als den einzigen Erlöser.

Eines Vormittags war sie beschäftigt, Renntierfleisch in Robbenfett zu braten; während ihre Blicke die Pfanne überwachten, sammelten die Hände aus dem Magen und den Eingeweiden des Tieres jene zerkauten grünen Blattspitzen, die allen Eingeborenen Sibiriens als herrlichster Leckerbissen gelten.

Bei dieser Arbeit half ihr eine alte, an Gichtschmerzen leidende und aus diesem Grunde überall mit Thran beschmierte Sklavin. Das arme Weib ächzte und heulte fortwährend; abwechselnd mußte Emma ihre schmutzstarrende, braune Haut reiben und nach dem bratenden Fleische sehen; sie war fast der Verzweiflung nahe und dachte, daß es unmöglich sei, diese Qualen noch länger zu ertragen.

Im inneren Zelte faß der Kamakay mit seinen beiden Frauen; sechs Augen beobachteten daher unausgesetzt das Treiben des jungen Mädchens, eigentlich acht, denn Frau Kokerjabin, die ältere der beiden jakutischen Damen, hielt auf ihren Knieen einen vierjährigen Knaben, dessen eigensinniges Geschrei sie durch ein beständig wiederholtes »Ah – Bah – Thah!« zu beruhigen suchte. Endlich wusch sie den kleinen Schreihals, indem sie ihn ableckte, gerade so, wie es Katzen und Hündinnen bei gleicher Veranlassung machen.

Die zweite Frau, Nuketu, sah immer stumpfsinnig vor sich hin.

Außer diesen Bewohnern des Zeltes waren noch als Gäste drei Männer anwesend, Krieger mit großen Holzpiken, an denen mächtige Walfischzähne glänzten. Alle diese Leute lachten und schwatzten durcheinander, wobei sie fortwährend tranken und mehr und mehr in ihren gewohnten Zustand, den tierischen Rausch, hineingerieten.

207 Eine dritte Sklavin, blutgerötet im Gesicht und an den Armen, schnitt Renntierfleisch in kleine Stücke. Bis auf Emma riefen, schrien, sprachen und sangen alle diese Menschen zugleich; eine Frau kaute zwischen ihren Zähnen eine Renntierhaut, um sie geschmeidig zu machen, zwei größere Kinder spielten mit langen Stöcken Krieg; in einer Ecke der von der schrecklichsten Luft erfüllten Hütte lag eine Hündin mit acht winselnden Jungen – so sah es aus unter dem Dache, welches der beklagenswerten Emma für den Augenblick als Aufenthalt diente.

Durch den Rauchfang oben in der Zeltspitze fielen einzelne Schneeflocken, dann zischte das Feuer hoch auf, und eine graue Wolke überzog die zahllosen Gegenstände, welche den großen Raum zu einer Art Rumpelkammer oder Trödelbude machten. Auf dem Fußboden und an den Wänden hingen und lagen große Ledernetze für den Fischfang, Holzteller, Eimer, Tröge, Pfeifen, Messer, Äxte, steinerne Werkzeuge, Hirnschädel von Wölfen, Säcke aus Kalbfell, welche die volle Gestalt des Tieres behalten hatten und, mit Robbenöl gefüllt, als Lampen dienten; ferner Sommerkleider aus den Eingeweiden des Wallrosses, getrocknete Fische, geräucherter Robbenspeck, Biberfelle, Pelze aller Art, ein Kajak, das Fischerboot des Kamakay, Renntiergeweihe und Treibholz.

Es war ein in jeder Beziehung unerträglicher Aufenthalt, dieses Wohnzelt des Tschuktschenfürsten.

Während einer Pause des Gespräches fiel plötzlich ein kleiner Stein in das Feuer, und alle Anwesenden sahen empor, selbst Emma, die schon anfing, mit den Sitten und Gewohnheiten des wilden Volkes einigermaßen vertraut zu werden.

»Komm herein!« rief mit lauter Stimme der Kamakay.

Das Hinabwerfen eines Steines auf den Herd bedeutet nämlich unter den Tschuktschen so viel wie bei uns das Anklopfen.

Dieser Einladung gemäß begann ein Eingeborener oben durch das Rauchloch zu kriechen und an den Zeltstangen hinabzurutschen, bis er schwer zu Boden fiel, gerade vor Emmas Füßen – es war Tekel.

Ein Freudenschrei brach über die Lippen des jungen Mädchens.

»Meine Brüder?« stammelte sie; »meine Brüder?«

»Sind beide hier, auch Herr Bochner und der Polizeimeister.«

»O großer Gott, wie danke ich Dir!«

Der Kamakay hatte mit wachsendem Ärger bemerkt, daß die beiden einander kannten.

»Halloh!« rief er, den so plötzlich ins Zelt Gefallenen anredend; »halloh, Bursche, was willst Du hier?«

»Das sollst Du gleich erfahren«, antwortete Tekel in der Sprache der Tschuktschen. »Aber vorerst – wo ist die Thür?«

208 Emma riß das Fell, welches den Zugang versperrte, mit schnellem Griff beiseite, während von draußen der Schnee entfernt wurde – Otto sprang in die Hütte und lag in den Armen seiner Schwester.

»Emma, Emma, wir sind alle hier, wir wollen Dich befreien!«

Das war in deutscher Sprache gerufen, der Kamakay verstand es daher nicht wörtlich, aber er begriff den Zusammenhang der Dinge und trat, eine Pike schwingend, in die äußere Hütte hinaus. Ihm nach polterten die drei fremden Krieger.

Währenddessen waren Hermann, der Wiener und der Polizeimeister dem kleinen Otto nachgekrochen und begrüßten jetzt das vor Freude weinende junge Mädchen, dann näherten sie sich dem Tschuktschenhäuptling und befahlen dem Jakuten, hier den Dolmetscher zu spielen.

Alle drei Männer hatten ihre Waffen im Anschlag, die Frauen kreischten, die Kinder zeterten, die Hündin bellte aus Leibeskräften, Treu ließ ihr eine Herausforderung zugehen, und wenige Sekunden später wälzten sich beide Tiere im erbitterten Kampfe auf dem Fußboden. Es war ein Lärm, in welchem keiner der Anwesenden sein eigenes oder ein fremdes Wort verstanden haben würde.

Tekel riß zuerst die Hunde auseinander, dann trat er zu dem Häuptling und sagte ihm, daß die weißen Männer Emmas Verwandte seien, gekommen, um das junge Mädchen abzuholen; er möge es ohne weiteres herausgeben.

Der Kamakay sah von einem zum andern. »Das will ich nicht«, antwortete er endlich. »Die Sklavin ist mein Eigentum.«

»Du hast sie am Kap Baranoff gestohlen!«

»Das geht Euch nichts an. Genug, sie bleibt hier.«

»Dann mußt Du mit uns kämpfen!« rief Tekel. »Wir werden niemals gutwillig das Feld räumen.«

Der Kamakay trat einige Schritte zurück, blitzschnell hob er die schwere Pike und würde im nächsten Augenblick Hermanns Brust durchbohrt haben, wenn nicht Emma schnell wie der Gedanke die Waffe beiseite geschlagen hätte; ebenso rasch stand die hohe, vornehme Erscheinung des Polizeimeisters zwischen den beiden Kämpfern.

»Ruhig!« gebot er; »ich habe Dir etwas zu sagen, Häuptling.«

Der Kamakay schäumte. »Du willst Deinen Freunden Gelegenheit zur Flucht geben!« schrie er voll Wut.

»Nein. Sie werden vor mir Dein Zelt nicht verlassen, Häuptling. Nun höre mich an!« – Darauf setzte er ihm auseinander, daß der Kaiser den Menschenraub unnachsichtlich bestrafe und daß daher Emmas 209 Entführung ein Verbrechen sei. »Gieb das junge Mädchen heraus«, sagte er, »ich werde Dir dann weitere Vorschläge machen.«

Der Kamakay zuckte die Achseln. »Welche?« fragte er mißtrauisch.

Jermak drehte sich so, daß ihm weder Hermann noch Emma ins Gesicht sehen konnten, dann setzte er dem Tschuktschen auseinander, daß die Deutschen entflohene Sträflinge seien und daß ihm, dem Häuptling, eine Belohnung zu teil werden würde, wenn er sie alle nach Jakutsk zurückbrächte – jedoch der Versuch mißglückte vollständig.

»Ich habe von einem großen Kamakay gehört«, erklärte der Wilde, »er ist der Beherrscher des Landes weit draußen hinter dem Meere, aber hier bin ich Herr, und Dein Sohn der Sonne hat mir nichts zu befehlen. Die Sklavin ist mein.«

Jermak erkannte, daß es für seine Zwecke keinerlei Hoffnung gab, aber er war eine viel zu edle, echt ritterliche Natur, um deswegen das junge Mädchen ihrem Schicksal zu überlassen oder einfach der Hütte den Rücken zu kehren. »Sie ist weder Sklavin, noch Dein Eigentum, Häuptling«, sagte er mit festem Tone, »und Du wirst sie wohl oder übel herausgeben müssen.«

»Das werde ich nicht!«

»Gewiß, denn wir bezahlen sie Dir, Freund Kamakay!«

»Ich bin reich, ich kann Euer Geld entbehren. Meinen Frauen macht es Spaß, eine weiße Sklavin zu besitzen.«

»Gut. Aber noch mehr Spaß werden ihnen andere Dinge verursachen. Sieh her, was sagst Du zu dieser Kette, diesem Ringe?«

Er zeigte dem Häuptlinge die wenigen Schmucksachen, welche er besaß, Hermann und Herr Bochner fügten sogleich die ihrigen hinzu, aus den Schlitten wurden Näschereien und bunte Stoffe herbeigeholt, aber umsonst, der Häuptling wies alle diese Geschenke gleichgültig zurück. »Ich will das Mädchen behalten«, sagte er.

Emma erschrak. »Ehe Ihr mich hier laßt«, rief sie voll Verzweiflung, »tötet mich lieber.«

»Den Unhold werden wir töten!« rief Hermann, und schon lag die Pistole im Anschlag gegen den Kopf des Häuptlings, als plötzlich Herr Bochner seinem Genossen winkte. Wie sah der friedliche Tanzkünstler aus! – Zu jeder anderen Stunde würde Hermann hellauf gelacht haben.

Die Haare zu Berge getrieben, die Augen rollend, mit jeder Muskel seines ehrlichen Gesichtes zuckend, so schritt der Wiener zu 210 einem Brett, das über dem Eingang des inneren Zeltes angebracht war und auf dem nur ein einziger Gegenstand lag, die Zaubertrommel aus Tannenstäben und Seehundsfell, ein Gerät, das jeder Eingeborene Sibiriens für den etwaigen Besuch eines Schamanen in Bereitschaft hält.

Sobald der Tanzlehrer nach diesem vornehmsten Einrichtungsstück der Hütte die Hand ausstreckte, verstand ihn der Jakute im selben Augenblick. »Ein Schamane!« rief er, mit allen Zeichen des Erschreckens zurücktretend.

Die beiden Frauen des Häuptlings kreischten auf. »Ein Schamane!« wiederholten sie.

Auch die drei fremden Krieger wichen zurück, die Sklavinnen flüchteten in das innere Zelt. »Ein Schamane!« schrie jede Stimme.

Herr Bochner trommelte wie etwa ein Irrsinniger, der auf den Gegenstand seines Zornes loszuschlagen meint; er bearbeitete das Leder, als müsse es heute noch zerspringen.

Der Kamakay erschrak so, daß er taumelte. Also die Götter waren gegen ihn! – Sie mußten außerordentlich erbittert sein, denn solches Trommeln hatte er nie gesehen. Bald schlug Herr Bochner mit den Fäusten, bald mit den Ellenbogen und dann wieder mit der Stirn oder gar den Knieen; das Gewirbel betäubte förmlich – beide Hunde begleiteten es mit einem rasenden Bellen, die Kinder mit lautem Gezeter.

Jetzt schleuderte der Wiener plötzlich die Trommel von sich und zog dafür seine geliebte kleine Geige unter dem Pelz hervor. Ein schriller, überlauter Ton gellte durch die Hütte, dann folgte ein wildes, rauschendes Tremolo eigener Komposition, bei dem der Musiker zum Überfluß selbst tanzte und die entsetzlichsten Gesichter schnitt.

Die Hunde gingen vom Bellen über zum Heulen, Frau Kokerjabin versteckte ihr Kind, dann warf sie sich im Verein mit der stumpfsinnigen Nuketu vor dem Tanzlehrer auf die Kniee und schien bitten zu wollen: »Verschone mich!«

Diese beiden Heidinnen glaubten den mächtigen Gott Tornasul gegen sich erzürnt und zitterten in dem Gedanken, daß er sie bestrafen werde, weil das weiße Mädchen in der Hütte als Sklavin behandelt worden war.

»Was wollen die Weiber?« fragte der Tanzlehrer den Jakuten.

»Wir bitten um Gnade!«

»So sollen sie den Häuptling zur Nachgiebigkeit zwingen.«

211 Tekel übersetzte, und sofort hängten sich die beiden Frauen an den Kamakay, um stürmisch zu verlangen, daß er das weiße Mädchen herausgebe. Sie zeterten und schrieen, Herr Bochner spielte wie toll – es war ein Schauspiel aus dem Irrenhause.

Vielleicht begann der Häuptling die Macht des Zaubers jetzt selbst zu spüren, vielleicht fürchtete er, sich den Weibern gegenüber schwach zu zeigen – genug, er verließ schleunigst das Zelt und zog die drei anderen Krieger mit sich.

Eine plötzliche Stille folgte dem Toben – Bochner atmete auf.

Diese von den Tschuktschen so sehr gefürchteten Schamanen sind die Schwachsinnigen des Stammes, denen man so lange von den bösen, dämonischen Gewalten erzählt, bis sie dieselben körperlich zu sehen glauben und durch die Zaubertrommel herbeilocken zu können überzeugt sind. Bochner spielte also bei Gelegenheit seiner jetzigen Vorstellung keine sehr beneidenswerte Rolle – er galt für blödsinnig.

»Sollten wir den Sieg errungen haben?« flüsterte Hermann.

Ehe ihm einer der Anwesenden eine Antwort geben konnte, trat plötzlich ein Eingeborener in das Zelt. Er wollte den Schamanen sehen, wollte als Botschafter des Häuptlings Erkundigungen einziehen, welches Verlangen die Weißen stellten. »Annava ist ein Christ«, setzte er hinzu – »ebenso wie die Weißen.«

Hermann nickte ruhig. »Dann mag Annava dem Häuptling sagen, daß wir eine Zeit lang gegen Bezahlung in seinem Zelte leben wollen«, versetzte er. »Natürlich bleibt das Eigentum Tschikines unbestritten – aber wir mieten einstweilen die Wohnung, um hier zu bleiben, bis es etwas wärmer geworden ist – dann geht die Reise weiter.«

Annava übersetzte den horchenden Frauen diese Worte, und dann entstand in dem Zelte eine wilde, eilige Flucht, so daß Weiber und Kinder schon nach wenigen Minuten verschwunden waren. Nur ihre Kleider hatten sie mitgenommen, sonst nichts.

»Viktoria!« rief Hermann, »die Festung ist gefallen.«

»Und soll zunächst gereinigt werden!« fügte Herr Bochner hinzu. »O lieb's Herrgottle – welch ein Duft!«

Tekel ging hinaus und brachte mit Khorts Hilfe die Gespanne und die Schlitten in das geräumige Zelt, dann wurde für die Hunde ein Verschlag eingerichtet und nun das innere Zimmer – Augiasstall, wie Herr Bochner sagte – gründlich gesäubert, indem man die Wand durchschlug und ganze Fuder voll unaussprechlicher, chaotisch vermischter Dinge hinausbeförderte. Eine tüchtige Kälte kam bei dieser Gelegenheit leider mit herein, aber das durfte nichts ausmachen, die Luft 212 wurde doch vollständig rein, und darauf kam es an. Ein paar Bretter, hie und da eingefügt und zum Herausnehmen bestimmt, ersetzten die Fenster, so daß für kommende Tage die nötige Lüftung möglich war.

Eine Notthür nach der Hinterseite bildete den Beschluß in der Reihe neuer Anlagen, dann erst konnten sich die Flüchtlinge der Freude des Wiedersehens einigermaßen ruhig hingeben und vor allen Dingen ihre Vorräte überschlagen; denn daß sie nun Hausarrest hatten, mußten sie sich ja eingestehen.

Da war Fleisch, Pemmikan, Zucker, Schokolade, Mehl und Speck auf viele Wochen hinaus, ebenso hundert andere Dinge, aber das Wasser konnte möglicherweise sehr bald fehlen. Nur der wenige Schnee, welcher sich erreichen ließ, diente als Ersatz desselben.

Khort und Tekel hielten abwechselnd Wache; wenn sich zuweilen einer der Männer, bis an die Zähne bewaffnet, hinauswagte, so sah er die düsteren Mienen der Eingeborenen und mußte erleben, daß sie sich abwandten, ohne zu grüßen oder eine Antwort zu geben.

Annava ging ab und zu, er war sehr geschwätzig und geistlos, man konnte ihn leicht ausfragen und für ein paar Stücke Zucker oder einen Bissen Schokolade jedwede Auskunft erlangen. Eines Tages, als Hermann den Plänen des Häuptlings nachforschte, sagte Annava listig lächelnd: »Er will die Weißen aushungern!«

Hermann verbarg, so gut es ging, sein lebhaftes Erschrecken. »Was ist da zu machen?« fragte er den Tanzlehrer.

»Eine politische Verschwörung!« antwortete dieser mit sehr wichtiger Miene. »Die Fäden des Komplottes liegen bereits in meinen Händen.«

»Sie wollen dem Kamakay die Treue seiner Unterthanen rauben?«

»Ich will den Kamakay absetzen.«

Hermann lachte, aber er begann doch bald, die Sache für möglich zu halten. Herr Bochner ließ dem Volke sagen, daß ein Opferfest gefeiert werden müsse; darauf brachten die Tschuktschen drei weiße Renntiere, und alsbald stieg unter dem Gerassel der Zaubertrommel das Feuer lustig zum Himmel empor. Der Tanzlehrer rollte die Augen, er schüttelte den Kopf, er zitterte heftig. »Die Götter sind erzürnt«, behauptete er, »Tschikine hat sich ihren Haß zugezogen – wenn er der Häuptling des Stammes bleibt, so gehen alle zu Grunde, alle bis auf das kleinste Kind in den Armen der Mutter.«

Ein Angstgeschrei folgte dieser fürchterlichen Prophezeiung; die älteren Krieger erklärten den Häuptling seiner Würde für entsetzt, Annava wurde 213 zum Kamakay erwählt, und der entthronte Tschikine durfte froh sein, daß man ihn unter den Zelten überhaupt noch duldete.

»Das geschieht ihm recht!« sagte der Polizeimeister. »Dieser Schattenkönig verweigert es, die Oberhoheit des Zaren anzuerkennen – dafür ist nun seine eigene in nichts zerfallen.«

Und dann begann er, dem Häuptling Annava mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, aber Herr Bochner stand immer, sobald sich der Tschuktsche im Zelte befand, auf Wache – Jermak konnte den Augenblick des ungestörten Alleinseins nicht finden. 214

 


 


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