Sophie Wörishöffer
Gerettet aus Sibirien
Sophie Wörishöffer

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Elftes Kapitel.

Im Ostrog.

Am andern Morgen wurde in aller Frühe die Reise fortgesetzt, immer nach Osten, wobei sich Hermann nicht allein auf die Ortskenntnis der Führer verließ, sondern auch außerdem einen kleinen Kompaß zu Rate zog, ein Spielzeug das an seiner Uhrkette hing. Alle Karten und Instrumente hatte der Waldbrand verschlungen, alle mit so großer Sorgfalt zusammengestellten Entwürfe und Pläne – jetzt mußte man sich helfen, so gut es eben ging.

Eins war sicher: die Flüchtigen hielten, nachdem sich Tekel als treu bewiesen, ihre Sache für weit hoffnungsvoller als vordem; sie fuhren getrost in das Dämmergrau des Morgens hinein – hinter den letzten Anstrengungen winkte ja die Erlösung, die Ruhe. Einmal nach Amerika entkommen, waren die Verbannten dem Glücke, der Gleichberechtigung mit anderen freien und zufriedenen Menschen wieder zurückgegeben.

Und dennoch sollten ihnen die schwersten Prüfungen erst bevorstehen.

Die Kälte hatte jetzt bei Tage den Höhepunkt von zwanzig Graden schon erreicht, sie war kaum noch zu ertragen, wenn man nicht Gesicht und Hände immer verhüllt hielt, sie erschwerte bei der Eile der Fahrt – 111 zwölf Kilometer in der Stunde – sogar das Atmen und ließ die Augen thränen, aber den Mut in den jungen Herzen konnte sie nicht lähmen. Jetzt winkte das ersehnte Ziel aus größerer Nähe – im Lande der freien Tschuktschen war das russische Gebiet überschritten und damit einer etwaigen Verfolgung der Boden entzogen.

Eine unbegrenzte Ebene dehnte sich vor den Blicken der Flüchtigen, von dem herrschenden Dunkel halb in unbestimmte Schatten verhüllt, grau und eintönig – dicht hintereinander flogen die beiden Schlitten über festgefrorenen Boden dahin. In dem von Tekel geführten hatte die kleine Familie der Deutschen, eng gedrängt, zusammen Platz genommen, in dem anderen saßen Herr Bochner und der Polizeimeister, beide schweigsam, weil der Wind an aller Unterhaltung hinderte und auch weil sich Jermak unaufhörlich wiederholte: »Was wird aus mir? – O mein armes Weib, meine Kinder!«

Unaufhaltsam flogen die Schlitten, unaufhaltsam schlugen die Hufe der Renntiere gegen den Schnee. Hier ging es über die weiten Tundren hinweg, dort über die gefrorene Decke eines Sees, dann durch die Steppe, wo nur Raubvögel kreischten – immer weiter hinein in das öde, unermeßliche Grau, immer vorwärts, der Freiheit, dem Leben entgegen.

Der große Orinkinisee war passiert, am Wege standen jetzt krüppelhafte Lärchen, deren Wurzeln kaum einen Finger lang in den gefrorenen Boden einzudringen vermocht hatten, und die mageren, verkümmerten Sträuchern glichen. Der Frost schien beständig zuzunehmen, die Bahn war glatt und fest, dafür aber zog eine andere schwere Sorge am Horizont herauf und kostete den Flüchtlingen viel Herzklopfen. Hie und da in dieser unermeßlichen Wildnis lag ein »Ostrog«, das heißt: eine eingefriedigte Festung, in der sich ein Kosakenwachtposten befand. Würde es jedesmal gelingen, diese gefahrdrohenden Stellen zu vermeiden?

Tekel kannte sie alle und behauptete, jeden einzelnen umgehen zu können. Es wäre fast unmöglich gewesen, über den Zweck dieser zwischen der Indigirka und Kolyma bei so rauher Jahreszeit unternommenen Reise irgend welche befriedigende Erklärungen zu geben.

Hermann spähte immer hinaus in das Weite. Noch zwei oder drei Tage so ohne allen Unfall im Fluge dahin über die Tundren, dann war das Tschuktschenland erreicht. O wie sein Herz schlug, wie es zwischen Furcht und Hoffnung schwankte! – Gerade in der zwölften Stunde, im entscheidenden letzten Augenblick wird ja der volle Kelch oft dem Menschen von der dürstenden Lippe gerissen. Wir alle wissen es!

»Tekel – Tekel, was ist das?«

»Ein Schatten, Herr, vielleicht Wölfe!«

112 Der Jakute hatte die Frage schon so oft beantwortet, daß er kaum aufsah; diesmal aber schien er doch selbst betroffen. »Wahrhaftig«, sagte er, »es ist ein Schlitten.«

»Wer mag denn darin sitzen, Tekel – wie viele Männer?«

»Nur einer, Herr, Du darfst Dich ganz beruhigen; es ist keine Streifwache.«

Während dieser leise geführten Unterhaltung war der Kosak mit seinem kleinen, von Hunden gezogenen Schlitten schon herangekommen.

Der Mann bot eine sonderbare Erscheinung: er trug die Pelzmütze so, daß nur Auge und Nase hervorsahen, die lange Lanze war am Lederriemen befestigt und der Mantel bis über die Ohren heraufgeschlagen. Die Narte glich einem eisernen, auf den Kopf gestellten Stuhl, den der Kosak rittlings bestiegen hatte, anstatt zu sitzen. Es sah aus, als zögen ihn die vielen Hunde, weit vor dem Gefährt laufend, gegen seinen Willen gewaltsam mit sich fort.

»Dieser Mann ist ein Kurier«, flüsterte Tekel. »Der Esa-ul des Ostrogs am Stananei-Chrebet schickt ihn zu dem am Omolon oder an der Indigirka, er wird uns schwerlich anreden«.

Das schien in der That so, die Narte flog vorbei, dann aber, als habe sich der Kosak eines Besseren besonnen, wandte er in voller Fahrt die Hunde und den Schlitten um und kam zurück, den Flüchtlingen nach so schnell seine Tiere laufen wollten.

»Fahr zu!« riefen Herr Bochner und Hermann wie mit einer Stimme. »Fahr zu! Die Hunde können es mit den Renntieren nicht aufnehmen.«

Der Polizeimeister lächelte; er erkannte den begangenen Fehler und sah sich in diesem Augenblick wie durch Zauberei plötzlich seinem Ziel ganz nahe. Der Verdacht des Kosaken war erregt worden, das genügte.

Er sollte recht behalten. Der Kurier hatte sich zunächst gewundert, daß die Reisenden es ganz gegen alle Gewohnheit verschmähten, den Begegnenden anzureden und bei ihm Erkundigungen einzuziehen, also fand er die Sache verdächtig und beschloß, den Leuten, die es so eilig hatten, ein wenig ins Gesicht zu sehen.

Als sie ihre Renntiere antrieben, ließ er seine Hunde ausgreifen, so schnell sie immer zu laufen vermochten.

In weniger als fünf Minuten holte er die Narten ein, Hermann und die übrigen mußten jetzt wohl oder übel Rede stehen. Der junge Deutsche hielt die Hand an dem Drücker der Kugelbüchse – ehe er sich gefangen nehmen ließ, mochte der Kosak seine Rechnung mit dieser Erde abschließen.

Jermak sprach vorläufig keine Silbe.

113 »Ich wünsche Ihnen Glück zur Reise«, sagte der Mann. »Wenn Sie den Ostrog von Werkhne-Kolysk nicht verfehlen wollen, so müssen Sie sich etwas mehr links halten.«

Der Polizeimeister winkte dem Kosaken. »Diese Leute beabsichtigen ausdrücklich, dem Ostrog fernzubleiben«, sagte er.

Der Kosak sah von einem zum andern. »Wohin wollen Sie denn überhaupt?« fragte er voll Erstaunen. »Es ist doch unbegreiflich, daß man bei der Reise durch eine Eiswüste diejenigen wenigen Orte, an denen man einen geheizten Ofen trifft, mit Absicht zu vermeiden suchen sollte!

Haben Sie denn Ihre Pässe in Ordnung?« setzte er, von plötzlicher Ahnung erfaßt, in ganz verändertem Tone hinzu.

Hermann war aus dem Schlitten gestiegen, als wolle er sich die Füße ein wenig erwärmen, in der That aber, um im geeigneten Augenblick über den unwillkommenen Störer herzufallen und ihn zu erschlagen.

»Bist du beauftragt, unsere Pässe zu prüfen, mein Freund? fragte er anscheinend sehr ruhig.

»Ja, allerdings!«

»Aber Du kannst auf keinen Fall lesen!«

»Das kann ich vollständig. Ich bin als Kurier zum nächsten Posten geschickt, um das Signalement von vier aus Jakutsk entflohenen Warnaks zu überbringen – Ihr seid allerdings Euer fünf, aber dennoch paßt die Beschreibung auffallend genau!

Es hilft nichts, meine Herren«, setzte er plötzlich hinzu, »Sie müssen dem Esa-ul Ihre Aufwartung machen.«

Die Blicke des Wieners und des jungen Deutschen begegneten einander. Herr Bochner sah so bedeutsam in die nebelverschleierte Ferne hinaus, daß unwillkürlich Hermanns Augen dieser Richtung folgten. Er erschrak heftig. Da draußen fuhren drei oder vier andere Kosaken mit ihren Hundeschlitten vorüber – ein etwaiger Kampf mit dem, der neben den Narten stand, wäre unter solchen Umständen nichts als ein Selbstmord gewesen. Der Polizeimeister brauchte nur laut zu rufen, und alles war verloren.

Er schwieg indessen, jetzt, nun ein Wort, eine einzige Nennung seines Namens hinreichend gewesen wäre, um die Flüchtlinge zu verderben, jetzt gefoltert von einem Seelenkampf, den keine Feder zu schildern vermöchte. Was ihm früher so leicht, so einfach erschienen war, das würgte ihn jetzt, er konnte die wenigen Worte nicht über die Lippen bringen.

Herr Bochner rieb sich die Hände. »Guter Freund«, sagte er, »Du sprichst von einem Besuche bei dem Herrn Esa-ul? Obwohl wir große Eile haben, denke ich doch, daß diese Einladung angenommen werden muß, nicht wahr, mein lieber Tumanoff?«

114 Hermann wechselte die Farbe. Obgleich hier ein fremder Name genannt wurde, fühlte er doch, daß ihm die Anrede galt. »Ja gewiß«, versetzte er, »mein Wunsch nach einem guten Mittagsessen ist sehr groß. Wie kocht man denn im Ostrog, Unteroffizier? Ist eine Fleischsuppe und etwas wie eine Wildbretpastete zu haben?«

»Ein Kompott?« setzte der Wiener hinzu, »ein Kuchen?«

Emma und Otto weinten beide vor Furcht, und der Tanzlehrer schien sie trösten zu wollen.

»Wir kommen noch zur rechten Zeit nach Nischney-Kolymsk«, sagte er mit lauter Stimme.

»Ihr armer, lieber Papa wird genesen sein, wenn Sie anlangen, mein teures Fräulein – weinen Sie nicht so sehr!«

Hermann hatte herausgehört, was in diesen Worten für ihn enthalten war. Er befahl den Jakuten, an der Seite des Unteroffiziers zu bleiben, und wieder flogen alle drei Schlitten, jetzt in einer Linie, über den Schnee dahin, dem Ostrog zu.

Der Polizeimeister hielt den Kopf gesenkt, er war blaß wie der Tod.

In vollem Galopp der Renntiere und Hunde ging es vorwärts. Eins der fremden Gespanne nahm in einiger Entfernung denselben Weg – es wäre eine Tollkühnheit gewesen, den Unteroffizier hier anzugreifen – seine Genossen konnten es sehen und die Mörder zur Anzeige bringen.

In weniger als einer Viertelstunde hielt die ganze Gesellschaft vor den Thoren des Ostrog. Dies Bauwerk war eine kleine verfallene Festung mit Mauern aus Steinen und Balken; auf jeder der vier Ecken befand sich ein altersgrauer, niedriger Turm, und das Ganze war umgeben von jenen geteerten Palissaden, die keinem sibirischen Hause zu fehlen pflegen.

Der Ostrog war ein letztes Überbleibsel jener Kette von kleinen Festungen, die im siebzehnten Jahrhundert angelegt wurden, um die Russen vor den Überfällen der erbitterten Eingeborenen zu beschützen.

In dem einzigen hölzernen Gebäude der Festung befand sich die Wache; es wohnten hier außer dem Esa-ul und dessen Familie noch zwölf Kosaken, durch deren Beihilfe der »Jasak«, d. h. die Abgabe von Fellen, in den Hütten der umwohnenden Wandervölker beigetrieben wurde.

Auf eine Meldung des Unteroffiziers erschien der Esa-ul und begrüßte sehr höflich die kleine Schar der Reisenden, auch den Polizeimeister, dessen Mund fortwährend geschlossen blieb, während er sich zuweilen mit der Hand über die Stirn fuhr, als wolle er Gott bitten: »Erhalte mir meinen Verstand! – Das ist mehr, als ich zu ertragen vermag.«

115 Hermann nahm zuerst das Wort, indem er sich bitter darüber beklagte, gleich einem Verbrecher mit bewaffneter Hand einer Behörde vorgeführt worden zu sein. »Was will man von mir?« sagte er; »wessen beschuldigt man harmlose Reisende?«

Der Esa-ul blieb sehr ruhig. »Vor der Hand ist von einer Beschuldigung noch nicht die Rede«, versetzte er. »Ich muß nur, da in Jakutsk etliche Warnaks flüchtig geworden sind, von Amts wegen mich erkundigen, wie Sie heißen und wohin Sie gehen. War es nicht Ihre Absicht, hier die Gespanne zu wechseln und Lebensmittel einzukaufen?«

»Nein, man hat uns beides erst kürzlich von Zaschinersk entgegengeschickt!«

»Sie werden also dort erwartet?«

»In Nischney-Kolymsk. Dies junge Mädchen und der Knabe sind die Kinder des Esa-ul dieser Stadt, Herr Tumanoff läßt sie in Jakutsk erziehen, jetzt liegt er todkrank und wünscht Tochter und Sohn wiederzusehen.«

Der alte Offizier erschrak. »Tumanoff ist krank?« rief er. »Ich habe davon kein Wort gehört.«

»Es ist aber leider trotzdem, wie ich eben sagte.«

Die Verwirrung, in welche seine dreiste Lüge den jungen Mann versetzte, das Erröten, dem er nicht gebieten konnte, machten ihn dem Esa-ul verdächtig. »Sie haben doch Pässe?« fragte er.

»Natürlich.«

Hermann zog das selbstangefertigte, aber mit dem Siegel des Statthalters von Jakutsk versehene Schriftstück hervor, und der Esa-ul prüfte es höchst bedächtig. »Dieser Paß ist in Ordnung«, sagte er dann – »ich bitte um die der beiden anderen Herren.«

Der Wiener schüttelte anscheinend ärgerlich den Kopf. »Noch nie hat man mir einen Paß abgefordert«, rief er, »noch nie, und doch durchreise ich jahraus, jahrein Sibirien vom Ural bis Kamtschatka, vom Altai bis an das Eismeer. Den Rest meiner Zeit verbringe ich in enger Freundschaft mit dem Gouverneur von Jakutsk und seiner lieben Familie. Ich genieße die Achtung des Herrn Generals und der Frau Generalin, die Freundschaft ihrer Fräulein Töchter! – Sind sie jetzt zufrieden, mein Herr Esa-ul? Ich finde Ihr Benehmen für einen Vorspannmeister recht anmaßend, wissen Sie das wohl? – Sehen Sie mich einmal an, Herr, ich bin ein Österreicher, ein geborener Wiener, und mein Rücken ist ganz gerade, nicht wahr? Er hat mit der Knute niemals Bekanntschaft gemacht. – So, ich denke, jetzt werden Sie einen Freund Ihres Vorgesetzten mit ferneren Fragen verschonen.«

116 Indem er aber mit großer Geläufigkeit diesen Protest entwickelte, hatte Herr Bochner gleichwohl seinen Paß hervorgezogen und ihn dem Platzkommandanten in die Hände gelegt. »Lesen Sie!« fügte er hinzu.

Der Esa-ul verbeugte sich. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er, »aber meine Sorgfalt war trotzdem eine gerechtfertigte. Der Polizeimeister von Jakutsk hat mir durch einen seiner Kosaken die Flucht von drei Sträflingen anzeigen lassen, Leuten, deren Beschreibung so vollständig auf diesen Herrn hier, das Fräulein und den Knaben paßt, daß ich, wenn es nur irgend möglich wäre, selbst in diesem Augenblick noch zweifeln möchte!«

Als Jermak so unerwartet von sich sprechen hörte, hob er plötzlich den Kopf. Die Worte des Esa-uls klangen seinen erregten Nerven wie ein Mahnruf, er taumelte fast, aber er wollte trotzdem den Mund öffnen und alles bekennen – Hermann sah es – schnell wie der Gedanke trat er dazwischen.

»Sie fragen nicht, wer dieser Herr ist, mein werter Esa-ul? – Ich habe also die Ehre, Ihnen einen der vier Geistlichen vorzustellen –«

Jermak richtete sich auf, wieder schien er sprechen zu wollen und durch eine unsichtbare Macht daran verhindert zu werden.

»Vier Geistlichen vorzustellen«, fuhr Hermann mit festem Tone fort, »die von der russischen Regierung alljährlich ausgeschickt werden, um Sibirien zu bereisen und den Verbannten in ihren abgeschiedenen Niederlassungen den Trost der Religion zu bringen. Er geht tapfer durch die sibirische Kälte von Tobolsk bis an die Kolonien am Amur, von den Minen in Nerschinsk bis an die Schiffswerften in Ochotsk, immer getragen und aufrecht gehalten durch die Worte der heiligen Schrift: ›Selig sind die Barmherzigen, denn sie sollen Barmherzigkeit erlangen.‹«

Jermak schloß die Augen, erschüttert wie nie im Leben. Er dachte an seinen unglücklichen, verlorenen Sohn, er hörte aus Hermanns Stimme die flehentliche Bitte und fühlte seine Kraft schwanken. War er nicht ein Mensch mit einem menschlich empfindenden Herzen, bevor er Polizeimeister wurde?

Er blieb stumm.

»Der fromme Herr hat ohne Zweifel einen Paß?« fragte der Esa-ul.

Hermanns Geistesgegenwart wuchs im Angesichte der Gefahr. »Mein Freund, der ehrwürdige Pater Quirin, hatte alle seine Legitimationspapiere bei sich«, fuhr er fort, »aber ein seltsamer, ja schrecklicher Zufall beraubte ihn derselben. Wir fanden den älteren, wehrlosen Mann in den Werchojanskischen Bergen im Kampf mit einem Bären und retteten ihn nur noch mit knapper Not aus den Krallen desselben. Dabei ging die Brieftasche im aufgewühlten Schnee verloren – wir haben es erst bemerkt, 117 als die Nacht bereits hereingebrochen war; am andern Morgen lag der Schnee ellenhoch. Ist es nicht, wie ich sage, ehrwürdiger Herr?«

Jermak hörte nur die Mahnung an jene Stunde, in welcher er ohne Hermanns Dazwischenkunft dem Tode unrettbar verfallen gewesen wäre, er wagte nicht, jetzt den Angeber zu machen.

»Es ist so«, bestätigte er, »diese Herren retteten mich aus dem offenen Rachen eines braunen Bären.«

»Pater Quirin ist seitdem krank«, beeilte sich Hermann, »er hat auch eine böse Wunde davongetragen.«

»So! so! – Offen gestanden, diese Erzählung gefällt mir so wenig, klingt mir so vollkommen unwahr, daß ich ihr vorläufig keinen Glauben schenken möchte. Es wird notwendig sein, Sie alle einstweilen hier zu behalten und sofort zwei Kuriere auszuschicken, den einen an den Polizeimeister von Jakutsk, den anderen an den Esa-ul von Nischney-Kolymsk. Bestätigen diese Herren das, was Sie soeben sagten, dann steht Ihrer Weiterreise durchaus nichts im Wege.«

Hermann war wie vom Blitz getroffen; er sah, daß Emma mit einer Ohnmacht kämpfte, und bemühte sich, äußerlich ruhig zu bleiben.

»Wie Sie wollen!« versetzte er. »Sollte indessen Herr Tumanoff, mein Onkel, sterben, ohne seine Kinder wiedergesehen zu haben, so –«

»Sind Sie außer aller Verantwortung, ja.«

»Nun wohl«, fuhr Hermann fort, »wir reisen unter gänzlicher Hintansetzung aller Bequemlichkeitsrücksichten, nur um etwas schneller nach Nischney-Kolymsk zu gelangen, jetzt halten Sie uns auf, weil wir zufällig einigen entflohenen Sträflingen ähnlich sehen, aber ich hoffe doch, daß die gerühmte sibirische Gastfreundschaft wenigstens gegen den geistlichen Herrn, die junge Dame und den Knaben geübt werden möge. Haben Sie daran gedacht, Herr Esa-ul?«

Der Platzkommandant schien ziemlich verwirrt. Er ließ für Emma einen Sessel bringen und versprach dem Knaben, daß ihn der Unteroffizier mit auf die Jagd nehmen werde, dann wandte er sich wieder zu dem jungen Deutschen.

»Mein Haus ist das Ihrige«, sagte er höflich. »Bitte, verfügen Sie über alles, was sich in demselben befindet. Während der Zeit, welche meine Kuriere brauchen, um von Jakutsk und Nischney-Kolymsk zurückzukehren, werde ich bemüht sein, Ihnen die Langeweile der unfreiwilligen Gefangenschaft so viel als nur möglich zu erleichtern.«

Emma seufzte. »Aber die vielen verlorenen Tage, Herr Esa-ul!« flüsterte sie.

»Die werde ich Ihnen durch meine vorzüglichsten Hundegespanne zu ersetzen suchen, verehrtes Fräulein!«

118 »Was mich betrifft«, fügte Jermak hinzu, »so kann ich Ihnen nur Glück wünschen, Herr Lawrenti Kantier, der Art und Weise wegen, in welcher Sie Ihre Pflichten als Beamter des Kaiserreiches auszuführen verstehen.«

Der Esa-ul sah auf. »Woher kennen Sie mich denn, ehrwürdiger Vater?« sagte er, sehr erstaunt, sich von dem polnischen Priester bei seinem Namen angeredet zu sehen.

»Zufällig!« versetzte der Polizeimeister. »Es genügt, daß mein Lob aufrichtig gemeint ist.«

Der Esa-ul sah den ruhigen Ernst in den Zügen seines Gefangenen und fand sich sehr angenehm geschmeichelt, namentlich da er selbst am besten wußte, daß es mehrfache Bestechungen im Dienst waren, die, später entdeckt, ihm den Strafposten des fernen sibirischen Wachtdienstes zugezogen hatten. »Ich thue, was in meinen Kräften steht, um nach allen Seiten hin gerecht zu bleiben«, antwortete er.

Jermak fühlte das verlorene seelische Gleichgewicht von Augenblick zu Augenblick immer mehr zurückkehren. Jetzt stand alles gut. Ohne daß er selbst zur Undankbarkeit, zum gemeinen Verrat gezwungen wurde, gelangte er doch ans Ziel – sobald die ausgesandten Kuriere zurückkehrten, wurde die Wahrheit entdeckt, und er konnte offen, ohne alle Umschweife sprechen.

»Nehmen Sie Platz, meine Herren«, fuhr der Esa-ul fort, »erzählen Sie mir von dem Brande des Burukanwaldes. Gewiß haben Sie selbst das Feuer gesehen?«

»Das will ich meinen!« rief Herr Bochner. »Wir steckten ja mitten im Walde, als das Brennen und Prasseln begann!«

Dann machte er eine ausführliche und mit vielen lateinischen Worten durchspickte Schilderung des düsteren Schauspieles, während welcher die dienstthuenden Kosaken des Esa-uls den Tisch deckten und auftrugen, was Küche und Keller vermochten. Es gab einen »Tschi«, ein sehr wohlschmeckendes Fleischgericht, frisch aus dem Ofen gekommenes Schwarzbrot und ein Kompott aus Johannisbeeren, die im vorigen Sommer ausnahmsweise reif geworden waren.

Hermann bat seine Schwester, doch ihren Thränen zu gebieten und ein wenig Speise zu sich zu nehmen. Die Pelze wurden abgelegt, und dann setzten sich alle zu Tisch. Emmas und Ottos Traurigkeit wurde durch Hermanns Angaben hinlänglich erklärt – die armen Kinder weinten des sterbenden Vaters wegen.

Der Esa-ul sah sehr unbehaglich von einem zum anderen. Dieser Priester, der kein Tischgebet sprach, der die jungen Leute mit keinem Worte zu trösten versuchte, dieser militärisch aussehende Priester erweckte 119 je länger desto mehr seinen dringenden Verdacht, obwohl doch die persönliche Erscheinung desselben auf das aus Jakutsk erhaltene Signalement nirgends paßte. Vielleicht war es ein anderer flüchtiger Warnak, der sich den drei ersten angeschlossen hatte.

Der Esa-ul erhob sich, indem er seine Gäste bat, ihn zu entschuldigen. »Ich will nur meine beiden Berichte ausfertigen und die Kuriere abschicken«, sagte er.

»Warten Sie, bitte, fünf Minuten«, rief Hermann, »ich möchte einige Zeilen an meinen Onkel, Herrn Tumanoff, beilegen.«

»Und ich einige an die Frau Gemahlin«, setzte Herr Bochner hinzu. »Ich werde nicht verhehlen, wie Sie mir mitgespielt haben, Herr Esa-ul!«

Der Beamte schien sehr verwirrt. Vielleicht zog er sich von oben herab eine empfindliche Rüge zu, vielleicht beleidigte er hochstehende Personen ohne allen Grund.

Bei dieser letzteren Wahrnehmung hörte der Polizeimeister plötzlich auf zu essen. Die alte Unruhe überfiel ihn mit aller Macht, er legte Messer und Gabel aus der Hand.

Der Esa-ul verbeugte sich gegen seine Gäste. »Ihnen zu dienen«, sagte er, »ich werde sogleich Schreibgerät bringen.«

»Thun Sie das, mein Herr, aber vergessen Sie trotz der unnötigen Absendung der Kuriere nicht, die Vorbereitungen für unsere Weiterreise sofort zu treffen. An einer guten Belohnung meinerseits soll es nicht fehlen.«

Der Esa-ul schien einen plötzlichen Entschluß zu fassen. Bei dem Worte Belohnung hatte er die Farbe gewechselt, seine Augen leuchteten auf, er lächelte unwillkürlich. »Bitte sehr«, stammelte er, »o bittesehr!«

Und dann putzte er das Licht so ungeschickt, daß es erlosch. Ein paar Sekunden waren ihm notwendig, um seine Züge zu beherrschen.

»Ein unerwarteter Besuch!« sagte Herr Bochner. »Wenn der Aberglaube recht hat, so muß derselbe noch heute abend kommen.«

Der Polizeimeister seufzte. »Bestechung!« dachte er, »Bestechung! – Wehe Dir, Laurenti Kantier, wenn ich Dich ertappe!«

Noch brannte das Licht nicht völlig, als sich die Thür öffnete und ein mageres, scheues Gesicht ins Zimmer sah. Die Pelzkappe war tief herabgezogen, listige Augen blinzelten nach allen Seiten, und ein kleines, ältliches Männchen schob sich langsam herein.

»Ein jüdischer Hausierer«, dachte Hermann.

»Haben Sie irgend etwas zu verkaufen?« fragte er, in der Hoffnung, dem Esa-ul als Entgelt für die erzwungene Gastfreundschaft ein Geschenk machen zu können. »Ich gebrauche so manches, das auf der Reise fehlt.«

120 Der Jude verbeugte sich fast bis auf den Boden. »Wenn der gnädige Herr draußen eines armen Mannes geringe Habe ansehen möchte!« bat er.

Hermann nickte und folgte dem Sohne Israels auf den Vorraum, ein kleines, luftloses Loch mit einem einzigen Fenster, das statt der Glasscheibe nur eine dünne Eisplatte besaß, weil bei der herrschenden Kälte das Glas sogleich zerspringen würde. Hier im Halbdunkel faßte ihn der Hausierer geheimnisvoll am Ärmel.

»Esa-ul«, flüsterte er, »ich habe noch davon, eine große Menge und vom reinsten.«

»Ich bin nicht der Esa-ul«, antwortete Hermann. »Was verkaufst Du, Jude?«

»Sind Sie nicht der Esa-ul? Gott gerechter – ich weiß nicht – ich –«

»Was giebt es da zu erschrecken?« fragte kopfschüttelnd unser Freund. »Ich bin als Gast im Hause des Esa-uls und möchte ihm gern etwas schenken, das ist alles. Womit handelst Du?«

Der Jude trat von einem Fuße auf den anderen, er wackelte mit dem Kopfe wie eine chinesische Pagode, blieb aber vollständig stumm.

»Nun«, sagte Hermann, »willst Du nicht antworten?«

Der Händler trat noch näher zu ihm, sein Ziegenbart berührte beinahe Hermanns Brust. »Das, womit ich handle, kann man nicht allen Leuten schenken«, raunte er. »Woher kommen Sie denn eigentlich?«

»Ich bin – – von Barnaul.«

»Und wohin reisen Sie?«

Hermann fing an, den Juden sehr neugierig zu finden. »Ich gehe nach Nischney-Kolymsk«, versetzte er.

»Von dort komme ich her!«

Der Deutsche erschrak. »Du kommst von Nischney-Kolymsk? – Wenn Du diese Thatsache hier im Hause verschweigen, überhaupt von der Stadt und ihren Bewohnern nicht sprechen, über sie nicht das mindeste berichten willst, so gebe ich Dir auf der Stelle zwanzig Rubel. Ist Dir der Handel so recht?«

Der Jude kicherte, er rieb sich plötzlich die Hände, wie im größten Vergnügen. »Der Herr hat Geheimnisse«, zischte er, »Geheimnisse!«

»Nun – und?«

»Ich habe auch welche!«

»Das mußt Du mir wahrhaftig deutlicher erklären!«

»Will ich auch! Will ich auch! – Es ist Goldstaub, was ich zu verkaufen habe. Billig und fein, schönes, rotes Gold!«

»Gestohlen natürlich!«

»Keines Mannes Eigentum! Der Gott Abrahams und Jakobs soll 121 mich behüten, es ist keinem Menschen gestohlen. Aber einen giebt es, der legt die Hand darauf und sagt: ›Es ist mein!‹ Das Sammeln müssen andere thun, der Ertrag soll ihm gehören. Ist das recht? Der große, gewaltige Zar will leben, der arme Jude aber auch. Er arbeitet und wäscht das Gold aus dem Sande des Amu-Darja – da ist es!«

Und der Händler zog aus den innersten Falten des schmutzigen Kaftans einen Beutel von Eichhornfell. »Hier«, flüsterte er, »wiegen Sie es, Herr! Achtundzwanzig Unzen, fast gar nicht mit Silber gemischt und noch weniger mit Kupfer.«

Hermann nahm den Beutel. »Und dies Gold willst Du verkaufen, Jude? Aber teuer natürlich!«

»Billig! Sehr billig! – Goldkörner gegen gemünztes Gold, gegen Rubelscheine meinetwegen. Es ist ein bloßer Tausch.«

Hermann lächelte. Seine deutsche Redlichkeit empörte sich gegen den Handel, in welchem er mit vollem Bewußtsein gestohlenes Gut an sich brachte, aber er überwand im Hinblick auf seine eigene Lage und die der jüngern Geschwister diese natürlichen Bedenken sehr schnell. »Sprich, Jude«, flüsterte er, »wie viel ist Deiner Ansicht nach der Goldstaub wert?«

»Mehr als sechshundert Rubel. Wenn Sie mir einhundertundfünfzig dafür geben, so soll es Ihnen gehören.«

Hermann reichte dem Juden sogleich den Beutel. »Ich bin nicht reich genug, um Dein Gold zu kaufen«, sagte er, »obwohl ich es dem Esa-ul gern geschenkt hätte. Adieu also!«

Er wollte fortgehen, aber der Händler hielt ihn am Arme fest. »Nicht so eilig«, raunte er, »was gedachten Sie mir denn zu bieten, Herr?«

»Hundert Rubel!«

»Nein, dann wende ich mich lieber an den Esa-ul, dem ich übrigens vom Herrn Tumanoff noch eine Bestellung auszurichten habe.«

»Von Tumanoff!«

Und nun war Hermann an der Reihe, den Hausierer festzuhalten. »Woran denkst Du?« rief er. »Wir verabredeten ja soeben noch ein vollkommenes Schweigen Deinerseits, Du nahmst zwanzig Rubel als Entgelt für dasselbe.«

»Das ist richtig. Ja, gewiß. Aber für mein Gold muß ich einhundertundfünfzig Rubel auf alle Fälle haben.«

»Sagen wir einhundertundzwanzig!«

»Nein, nein, es geht nicht!«

Hermann sah wohl, daß ihn der Sohn des schlauesten Volkes, das über die Erde geht, vollständig durchschaute, er konnte also auf keine Herabminderung des Preises hoffen und zahlte das Geld, worauf ihm 122 der Jude den Beutel wieder einhändigte. Dann trennten sich die beiden in sehr zufriedener Stimmung.

Hermann traf den Esa-ul noch in lebhafter Unterhaltung mit Herrn Bochner, er legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte höflich: »Der Hausierer besaß nicht, was ich zu kaufen wünschte, aber er bat mich, Ihnen dies Beutelchen zu überliefern; es sei Ihr Eigentum, sagte er, Sie wüßten Bescheid.«

Der Esa-ul befühlte das Dargebotene, und heißer Purpur stieg in sein Gesicht. »Danke schön«, sagte er ruhig, »ich erinnere mich jetzt. Es ist Pfeffer für die Küche.«

Und sich erhebend schloß er das Säckchen in einen Schrank.

»Bestochen!« dachte Jermak. »Bestochen! – Jetzt ist es geschehen.«

Er ballte die Faust, sein Auge schoß Blitze, in diesem Augenblick war es ihm unmöglich, länger zu schweigen. »Herr Esa-ul!« rief er.

Hermann und Emma erkannten instinktmäßig den vollen Umfang der Gefahr. Jermak wollte losbrechen, das mußten sie zu verhindern suchen.

»Pater Quirin«, begann Hermann, »ich glaube, Sie –«

Der Esa-ul unterbrach ihn. Auch dieser sah, daß irgend etwas im Werke war, und begann für seinen Beutel mit Goldstaub zu fürchten. »Mir ist soeben etwas eingefallen!« rief er.

»Was?« fragte Jermak, auf dessen Stirn große Tropfen standen.

»Sie alle können morgen abreisen, wohin Sie wollen – ich gebe Ihnen zwei Kosaken mit, die mir später die Bestätigung aller Ihrer Angaben zurückbringen können. Während dieser Nacht bleiben Sie meine Gäste!«

»Das nehme ich an«, entgegnete Hermann, obgleich ihm die Aussicht auf eine Kosakenwache keineswegs behagte. »Das nehme ich an, Herr Vorspannmeister. Es ist ein sehr vernünftiger Vorschlag.«

Auch Jermak mochte dasselbe denken. Er behielt die Flüchtlinge, wenn ihm zwei bewaffnete Kosaken zur Seite standen, immer in seiner Gewalt und konnte dann bei irgend einer Gelegenheit ihre Festnahme veranlassen, ohne selbst zum Angeber zu werden; denn dagegen sträubte sich doch in ihm eine Stimme, der er durch kein Mittel Schweigen zu gebieten vermochte.

Hermann beobachtete ihn und sah den vorgegangenen Umschwung, er atmete erleichtert. Was weiter geschah, das würde sich seiner Zeit finden – für den Augenblick war die Gefahr abgewandt.

»Nun wohl, mein werter Herr Esa-ul«, wandte er sich an den Offizier, »jetzt bleibt Ihnen also nur noch übrig, sich unserer Gespanne anzunehmen.«

124 »Seien Sie unbesorgt«, versetzte der würdige Beamte, »Sie erhalten für jede Ihrer Narten achtzehn Hunde und zwar die besten, welche das Land besitzt.«

»Ah – das ist mir sehr angenehm!« –

Der Esa-ul ließ für die junge Dame ein zweites Zimmer herrichten, und ein paar Stunden später schliefen alle oder schienen doch zu schlafen. Jermak wechselte an diesem Abend mit seinen Genossen kein einziges Wort mehr, und was die Deutschen betraf, so hüteten sie sich weislich, ihn anzureden. – – 125

 


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