Sophie Wörishöffer
Gerettet aus Sibirien
Sophie Wörishöffer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel.

Hungersnot.

Nie war die Jagd auf vierfüßige Tiere so erfolglos gewesen wie in den Tagen, welche dem Begräbnis und der Abreise des Tungusen folgten. Der Polizeimeister hatte einmal zwei kleine Ratten gefangen; das war alles, was er an Nahrungsmitteln besaß. Bären, Füchse oder Vielfraße gingen nicht in seine Fallen.

Der unglückliche Mann hungerte, aber er nahm von den Flüchtigen keine Speisen, er sonderte sich sogar täglich mehr von ihnen ab. Sonst ein kräftiger, stattlicher Mann, sah er jetzt aus wie Achtzigjähriger, erdfahl und gelb, mit entzündeten Augen und einem unsicheren, schwankenden Gange. Etwas mußte geschehen, wenn er nicht vor Mangel umkommen sollte – aber was?

Jermak wußte es nicht. Nach dem Tode seines Sohnes war er wie gebrochen, wie in sich zusammengesunken, er wanderte, auf einen langen Stock gestützt, während ganzer Tage planlos durch die schauerliche Eiswüste oder saß auf dem Grabe seines Sohnes und wünschte sehnlichst, da unten ausruhen zu dürfen gleich jenem, erlöst zu sein von den Qualen eines Lebens, das ihm unerträglich geworden war.

173 Oft dachte er, wenn irgendwo ein Grashalm, ein grünes Blatt wüchse, so würde er sich bücken, um es wie ein weidendes Tier mit den Zähnen zu packen.

Dann kam über ihn eine Art von Wahnsinn. Er sah vor sich gedeckte Tische, schäumende Krüge und gefüllte Schüsseln, dann wieder die Gastmahle der Kannibalen, wobei hingeschlachtete Feinde gebraten und verschlungen wurden.

Zuweilen glaubte er, den Hunger in körperlicher Gestalt vor sich zu sehen – das einzige lebende Wesen in der Wüste. Er lächelte ohne Furcht dem grauen, schattenhaften Gespenste entgegen – mochte es ihn doch fortschleppen, ihm galt alles gleich.

Dann kamen wieder Stunden, in denen er leben wollte, um jeden Preis. Tekel und Khort konnten zurückkehren, er fand vielleicht eine Gelegenheit zur Flucht, kam nach Nischney-Kolymsk, das heißt, unter Menschen, und dann war alles gut. Seines Sohnes edle Handlung hatte ihn den Flüchtigen gegenüber freigemacht, er brauchte also fortan keinerlei Rücksichten mehr zu nehmen.

Jetzt schwankte er nur noch und mußte sich rechts auf den Gewehrkolben, links auf den Stock stützen – das Bild des äußersten menschlichen Elendes.

So lenkte er die Schritte zum Kap Schelagsk. Der Weg führte zwischen Abgründen und eisigen Bergeshöhen dahin; Jermak kroch mehr, als daß er wirklich ging.

Vor ihm lag das gefrorene Meer, von felsigen Klippen umgeben; der ermüdete Mann lehnte sich gegen eine Steinwand und sah hinaus ins Freie. Ob ihm nie mehr ein Tier, irgend etwas Eßbares begegnen würde?

Zwei Schatten bewegten sich im ungewissen Mondlicht. Was war das?

Er sah schärfer hin und fast drängte sich auf seine bebenden Lippen ein Jubelschrei. »Renntiere! – Zwei Renntiere!«

Neues Leben schien durch alle Adern des gequälten Mannes zu rinnen. »Fleisch! – Die Aussicht auf Fleisch!«

Er legte an und schoß – das größere der Tiere stürzte. Mit einem Schlage war die frühere Kraft des unglücklichen Mannes zurückgekehrt, er trennte die Pulsader des erlegten Wildes auf und trank das warm hervorquellende Blut. Welches Labsal! Nie glaubte er eine solche Mahlzeit gehalten zu haben.

Jetzt war für mehrere Tage gesorgt. Er zog das Tier am Geweih zur Hütte und verbarg es im Schnee, um Stück nach Stück das Fleisch roh zu verzehren – Emma durfte es ihm nicht zubereiten, er wollte 174 jetzt, nun jede Verbindlichkeit aufgehört hatte, auch keinerlei Freundschaftsdienste mehr annehmen.

Morgens, wenn noch alle schliefen, ging er fort und kam erst spät abends wieder, einmal jedoch bemerkte Hermann, daß er fehlte, und teilte dies dem Tanzlehrer mit; beide Männer eilten nach verschiedenen Richtungen davon, um den Unglücklichen zu suchen.

Während Herr Bochner die benachbarte Tundra abstreifte, nahm Hermann den Weg zum Meere. Nur der blasse Mondschimmer erhellte die Gegend; kein Laut traf das Ohr des jungen Mannes – so oft er auch den Namen des Polizeimeisters rief, nie kam eine Antwort zu ihm zurück.

Dann plötzlich, als er um einen mächtigen Felsblock ging, sah er den Gesuchten dicht vor sich, aber in schrecklicher Lage. Jermak steckte bis zu den Armen in einer Eisspalte und nur, indem er sich mit beiden Händen an den zackigen Rändern festhielt, gelang es ihm bis jetzt, das Hinabstürzen in den Abgrund zu vermeiden.

»Mein Gott«, rief Hermann, »was machen Sie da, Jermak?«

»Ich warte ab, was zuerst kommt, die Befreiung oder der Tod!«

»Nichts vom Tode«, rief der Deutsche. »Ich ziehe Sie sogleich heraus. Das kommt von Ihrer Lebensweise, Ihrem eigensinnigen Alleingehen ohne uns!«

Der Polizeimeister antwortete nicht, aber er ließ es zu, daß sich Hermann, flach auf dem Boden liegend, in den Spalt hinabbeugte und ihn mit seinen jungen Kräften langsam hervorzog.

»So«, sagte er, »da wären Sie gerettet!«

Jermak seufzte. »Von Ihnen«, murmelte er, »abermals von Ihnen! Ich bin also wieder Ihr Schuldner!«

»Und ist das für Sie so außerordentlich drückend, mein guter Herr Jermak?«

Der Polizeimeister schwieg; ohne ein weiteres Wort gingen die beiden Seite an Seite nach Hause, wo sie den Tanzlehrer bereits antrafen.

»Herr Bochner«, rief Hermann, »was ist denn mit Ihnen geschehen?«

»Wie meinen Sie das, he?«

»Großer Gott, Ihre Nase ist ja erfroren!«

»O! – O nein, ich habe nichts bemerkt!«

»Es ist aber doch so! Wir müssen Einreibungen von Schnee machen!«

Otto lief hinaus und brachte frische Flocken, dann begann der Wiener, blaß wie ein Schatten, seine leblos gewordene Nase sanft zu reiben, dabei murmelte er ganz verzweifelt: »Wie lang ist doch der nordische Winter!«

176 »Bester Freund, er beginnt ja eben jetzt erst«, lachte Hermann. »Aber trösten Sie sich, bald kommt die Sonne wieder, das ist wenigstens etwas.«

»Aber es wird an dieser furchtbaren Kälte nichts ändern!«

»Wenn nur unsere Freundschaft nicht erkaltet, mein wackerer Bochner!«

»Das soll sie wenigstens meinerseits nie, lieber Hermann!«

Der Polizeimeister wandte sich ab. In welcher drückenden, unerträglichen Lage war er diesen ebenso ehrenhaften, wie liebenswürdigen Menschen gegenüber.

Um doch nicht ganz als ein Barbar zu erscheinen, bot er den Flüchtlingen von seinen Vorräten etwas Fleisch an, aber ohne Erfolg. Wie er selbst zurückwies, was sie ihm vorsetzten, so lehnten sie ihrerseits nun auch sein Geschenk freundlich, aber bestimmt ab, obwohl auch ihnen die Lebensmittel zu fehlen begannen.

Es war nicht mehr genug für alle vorhanden, jeder suchte unter irgend einem Vorwande dem andern den größten Teil zu überlassen, jedes stellte sich auf den ersten Bissen gesättigt, damit noch etwas übrig bleibe, insgeheim jedoch hungerten schon alle, auch den Hunden wurde das Futter gekürzt, so daß sie fast ununterbrochen Tag und Nacht erbärmlich heulten.

Wie lange blieben doch die Jakuten aus! – Der Polizeimeister begann, einen anderen Gedanken zu verfolgen. Wenn sie nicht wiederkamen, dann mußten sich die Flüchtlinge ergeben, mußten froh sein, nur nach Nischney-Kolymsk zurückkehren und sich dem Gesetze auf Gnade oder Ungnade überliefern zu können. In diesem Falle blieb er der Sieger.

Sein Herz schlug höher. Vielleicht nahm die Sache diesen Ausgang.

Immer stärker wurde die Kälte, den Flüchtigen drohten mehr als einmal die Füße zu erfrieren, sie mußten das Fleisch mittels der Axt zerschlagen, und wenn sie unglücklicherweise einen metallenen Gegenstand berührten, so empfanden die Hände jenen stechenden Schmerz, der auch durch eine Brandwunde erzeugt wird. Die Augenlider bedeckten sich mit einer Eiskruste, die Uhren hörten auf zu gehen, selbst unter dreifachem Pelzwerk gelang es den Bedauernswerten nicht, sich zu erwärmen, wodurch denn, als letztes Übel, auch der wohlthätige Schlaf zu schwinden begann.

Trotz aller dieser Qualen hielten die Unglücklichen den Mut immer noch aufrecht. Hermann hatte in den Minen von Nertschinsk Schlimmeres erlebt als selbst dieses, das sagte er sich und den Seinigen.

Jetzt war der größte Teil der langen und schrecklichen Polarnacht durchlitten; die Sonne mußte von ihrer weiten Reise bald zurückkehren, 177 obwohl im Augenblick noch alles rings umher von dichter Finsternis bedeckt, tot und öde dalag. Auch die Tierwelt schien durch den Hunger weiter nach Süden vertrieben zu sein, es ließ sich nichts mehr blicken als nur hie und da einige Robben, von denen auch zwei glücklich erlegt wurden. Das Fett, so schrecklich es schmeckte, aßen die Flüchtlinge, als sei es ein langentbehrter Leckerbissen.

Als auch das verzehrt war, beschloß Hermann, auf das Meer hinauszugehen und dort Eisbären zu jagen. Es schien ein letztes, verzweiflungsvolles Mittel, doch blieb nichts anders mehr übrig, und so kletterten denn die beiden Freunde eines Morgens auf das Eis hinab, um nicht in der Hütte Hungers zu sterben.

Die kleine gelbe Wolke, welche an jedem Tage das Näherrücken des Sonnenaufganges verkündete, stand auch heute wieder am Himmel, den während dieser Zeit zuweilen die leuchtenden Sternschnuppen von allen Seiten durchzogen, um gleich den Leuchtkugeln eines Feuerwerkes bald wieder zu verschwinden. Ein bleicher Lichtschein zeigte notdürftig den Weg.

Stundenlang bemühten sich die beiden Männer, zwischen Eisbergen und großen Blöcken auf das freie Meer zu gelangen. Hie und da hatte eine stärkere Strömung dem Froste widerstanden, schwarze Fluten rauschten auf und erstarrten, indem sie sich über das zerklüftete Eisfeld ergossen. Rings umher glich der gefrorene Ozean einem eben gepflügten Acker.

Überall zeigten sich Bärenspuren im Schnee, später eine leere Höhle und viele Fährten von Polarfüchsen.

Im Weiterwandern sahen die beiden Jäger eine eisfreie Spalte, in der das Wasser verhältnismäßig ruhig dahinfloß, und hinter derselben einen ziemlich hohen Schneeberg mit einem runden Loche, weit genug, um eine Bärentatze hineinzulassen. Rings umher war alles still.

»Wenn wir Glück haben sollen, so begegnet uns schon jetzt ein Bär – oder gar zwei«, flüsterte der Wiener. »Dieser Schneeberg ist ihr Jagdrevier.«

»Wie meinen Sie das?« fragte neugierig der andere.

»Pst! – Aus der Rinne stecken die Seekälber den Kopf hervor, um Luft zu schöpfen; das wissen die Bären und häufen einen Schneeberg, hinter dem sie auf der Lauer liegen. Im gegebenen Augenblick packt die Tatze das Opfer.«

»Sehen Sie! Sehen Sie!« fügte er eifrig hinzu – »zwei Bären!«

Die beiden Männer standen unbeweglich, die Kugelbüchsen schußbereit in den Händen und die Blicke fest auf den Spalt gerichtet. Ob sich das Wild zeigen würde?

178 Im Wasser rauschte es, ein plumper Kopf kam zum Vorschein, dann ein Teil des Oberkörpers. Ein Seekalb war unvorsichtig genug, dem lauernden Feinde so geradeswegs in den Rachen zu laufen.

Die rechte Vordertatze des Eisbären fuhr blitzschnell durch das Loch und fiel mit solcher Wucht auf den Kopf des Seekalbes, daß dieses taumelte und vielleicht im selben Augenblick sein Leben aushauchte. Der zweite Bär stürmte hinter der Schneewand hervor und packte das Opfer, über welches dann beide Sohlengänger mit vereinten Kräften herfielen und es zerrissen.

Dieser Augenblick schien günstig zum Angriff. Hermann ließ die Hunde los, während der Tanzlehrer beide Läufe seiner Kugelbüchse abfeuerte – wie auf Befehl ergriffen die Bären die Flucht, indem sie, selbst weiß, zwischen den weißen Eisblöcken dahinstürmten und durch ihre Schnelligkeit eine Verfolgung fast unmöglich machten.

Die beiden sibirischen Jagdhunde eilten ihnen kläffend und winselnd nach; so schnell es möglich war, folgten auch die Männer. Da sprang plötzlich von einem hohen Felsblock herab ein Bär den Tieren in den Weg, er schien den Kampf, dem die beiden ersten auswichen, seinerseits mutig aufnehmen zu wollen.

Hermanns Kugel empfing ihn, sobald er näher kam. Das gewaltige Tier taumelte, als es die Verwundung fühlte, drehte kurz um und lief davon, hinter sich den Schnee mit seinem Blute färbend. Im nächsten Augenblick war es verschwunden.

»Alle Wetter«, rief Hermann, »auch der entkommt!«

»Wir haben ja die Spur, mein Bester! Das Blut dient uns als unbestechlicher Führer.«

»Ja ja – nur vorwärts. Der Bursche ist tödlich verwundet, wir wollen uns sein Fleisch sichern.«

Und die Männer eilten, so schnell sie konnten, den roten Tropfen nach, die wie Rubinen auf dem Schnee glänzten.

Unterdessen fingen Emma und Otto an, sich über das lange Ausbleiben der Jäger zu ängstigen. Jermak saß stumm gegenüber, es war alles so todstill, der Hunger quälte die armen Kinder so sehr, daß sie nicht mehr ruhig in der engen Hütte auszuhalten vermochten.

Beide warfen ihre Pelze über und gingen hinaus, um zu sehen, ob Hermann und Herr Bochner noch nicht kämen. Das Wetter begann unruhig zu werden, die Wellen spritzten haushoch an den Eisbergen hinauf, schwarze Wolken umzogen den Himmel, ein Sausen und Singen in der Luft verkündete Sturm.

Krachend und polternd stürzten losgerissene Eisblöcke übereinander, mehr und mehr erhob sich in der sonst so stillen Atmosphäre ein 179 Höllenlärm, den Worte auch nicht einmal annähernd zu beschreiben vermögen. Es erklang unter dem schwankenden, zitternden Eise wie das Pfeifen von tausend abgeschossenen Kugeln; kreischende und gellende Stimmen mischten sich hinein, ein Brüllen wie das des nahen, schmetternden und rollenden Donners. Das Eis brach in Stücke, und die Trümmer stürzten übereinander; dann begann ein wilder, titanischer Kampf, ein blindes Wüten wie in jenen ersten Schöpfungstagen, als sich Erde und Wasser auf das Gebot des Weltbeherrschers trennten.

Die Massen rückten vorwärts, trafen sich und stießen, von verborgener Kraft getrieben, wie in wilder Leidenschaft gegeneinander. Die beiden jungen Geschwister konnten, indem sie durch das schreckliche Toben gingen, ihre eigenen Worte nicht verstehen; was Treu betraf, so heulte er ganz erbärmlich.

Weiter, immer weiter. Vielleicht hörte doch Hermann die Stimme seines kleinen Hundes.

Der Knabe bat seine Schwester, umzukehren, aber Emma schüttelte den Kopf – gewiß war ein Unglück geschehen.

Plötzlich schien es beiden, als schwanke unter ihren Füßen der Boden. Es krachte, dunkle Schlangen krochen durch den Schnee, Spalten, die sich rings umher bildeten. –

Mit einem Schrei wollte Emma zurückspringen, aber Otto verhinderte durch schnellen Griff dies Vorhaben. Auch hinter den beiden hatte sich ein breiter Kanal gebildet, sie konnten weder hierhin noch dorthin.

Ein Angstschrei gellte durch die Dämmerung. »Hermann, Hermann, wo bist Du? – Großer Gott, wir ertrinken.«

Die Eisscholle schwankte und krachte, das Wasser spritzte von allen Seiten darüber hinweg. Dem angstvoll flüchtenden Hunde folgend eilten Emma und Otto über den schmäleren Spalt hinweg auf eine größere, feste Scholle, die ganze Eisberge mit sich führte und daher gewiß nicht so leicht in Bewegung gesetzt werden konnte. Der Sturm warf sie mehr als einmal zu Boden, aber dennoch gelang die Flucht, wenigstens vorläufig. Auch hier trennte ein breiter Kanal das Land von dem Fleck, auf welchem sie standen.

Es blieb nur übrig, so laut als möglich zu rufen. Vielleicht drang der Schall bis zur Hütte und lockte den Polizeimeister herbei. Wenn das nicht geschah, so mußte man eben warten, bis sich der Sturm legte und auf dem Spalt neues Eis erschien; das konnte immerhin in vier bis sechs Stunden der Fall sein.

180 Aber bei der herrschenden unerträglichen Kälte hieß warten und stillstehen so viel wie sterben.

Von der Hütte her näherte sich schnellen Schrittes ein Mann. Es war der Polizeimeister, den das Toben des Wetters unruhig gemacht hatte und der sich in Hermanns Abwesenheit verpflichtet fühlte, den beiden Geschwistern nachzugehen. Sie empfingen ihn mit erhobenen Armen wie einen Engel des Trostes und des Erbarmens.

Jermak legte beide Hände an den Mund. »Ich rette Sie!« rief er zuversichtlich.

Und dann begann für den entkräfteten, alten Herrn eine mühevolle Arbeit. Er wälzte große Eisblöcke heran, um die Spalte auszufüllen. Mehr als einer derselben trieb ab, dann aber blieb endlich der erste hängen, und ihm folgten mit leichterer Mühe die übrigen. Eine schwebende Brücke war hergestellt, Jermak winkte den beiden Geschwistern, den gefahrvollen Weg zu betreten.

»Du gehst zuerst«, sagte Emma.

»Nein, nein, Du! – Ich will Dich an einer Hand halten.«

Er schob seine Schwester gegen die Brücke vor und ließ sie, Jermaks Anweisungen gehorchend, seitwärts gehen, indem er ihre rechte Hand mit seinem ausgestreckten Arm hielt, während der Polizeimeister sich auf der andern Seite so weit als nur möglich vorbeugte und ihre Linke ergriff. Als er das junge Mädchen erreichen konnte, hob er mit beiden Armen die leichte Last ans Ufer; ebenso schnell und glücklich folgte Otto, der dem edelmütigen Retter um den Hals fiel und ihn wohl zehnmal küßte – auch Emma dankte ihm schluchzend, und indem er sie beide zugleich umarmte, flüsterte Jermak mit erstickter Stimme, daß sie ja auch seinen armen, verirrten Sohn gepflegt hätten, als er sterbend in ihrer Hütte lag.

Hermann und Herr Bochner kamen gerade jetzt, mühsam gegen den Sturm kämpfend, über das Eis gegangen und erstaunten nicht wenig, als sie die Gruppe der drei einander die Hände drückenden Menschen erblickten. »Was machen die Leutchen hier am Strande?« rief Hermann. »Sehen Sie doch, Herr Bochner, Otto küßt den Polizeimeister!«

»Und die ganze Gesellschaft hat sich im Schnee gewälzt, alle sind wie mit Glatteis bedeckt – da bin ich wahrhaftig neugierig!«

Sie kamen näher und hörten, was geschehen war. Auch Hermann dankte dem alten Herrn in warmen Worten, legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn lächelnd an. »Das thaten Sie nur, um dem Zaren die beiden entflohenen Sträflinge zu erhalten, nicht wahr, Herr Polizeimeister? – Oder war es, um sich bei mir ganz und gar auszulösen?«

181 Jermak sah zur Seite, seine Lippen bebten. Diese armen, verfolgten Kinder, warum mußte ihn das Schicksal zwingen, ihnen feindlich gegenüber zu stehen?

»Ich that, was ich für meine Pflicht hielt«, murmelte er.

Und auch Hermann küßte ihn zärtlich. »Ich danke Ihnen tausendmal, Jermak – Gott segne Sie!«

Herr Bochner hielt eine junge Robbe empor. »Da ist unser Abendessen«, rief er, »schnell nach Hause, an das Feuer! Man erstarrt hier.« 182

 


 


 << zurück weiter >>