Sophie Wörishöffer
Gerettet aus Sibirien
Sophie Wörishöffer

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Achtes Kapitel.

Im Walde.

Alles arbeitete. Hermann verfertigte die Schuhe für den Tanzlehrer, und Emma fütterte sie weich und warm mit Pelzstückchen aus, Otto drehte Schlingen und versah sie mit einigen Brocken Zwieback, um darin Vögel für die Küche zu fangen.

Außerdem wurden allerlei Pläne besprochen. Hermann hatte in der Nähe des Sumpfes, worin Herrn Bochners Schuhe stecken blieben, die Spuren wilder Ziegen entdeckt; diese beschloß er zu fangen, ohne jedoch dabei den kostbaren, unersetzlichen Schießvorrat zu verschwenden. Womöglich sollte auch ein Muttertier in die Falle gehen, um den kleinen Hausstand mit Milch für Thee und Kaffee zu versorgen.

Nach vielen Bemühungen gelang es mit Hilfe einiger biegsamer Gerten und einer Schlinge, die sorgfältig zubereitete Fußangel im tiefen Röhricht zu verstecken, so daß die Ziegen, wenn sie den Futterplatz aufsuchten, notwendig hineintreten und sich selbst der Gefangenschaft überliefern mußten. Am Abend wurde die Falle gelegt, und am anderen Morgen wollten unsere Freunde nachsehen; Otto konnte während der ganzen Nacht vor Erwartung nicht mehr schlafen, – wohl zehnmal fragte er halblaut: »Hermann, ob wir eine haben? – Ob es eine Mutterziege ist? Dann mußt Du auch die Jungen einfangen.«

71 Bei Tagesanbruch weckte ein klägliches Meckern die Schläfer; wie elektrisiert sprang der Knabe von seinem Lager auf und wäre am liebsten so, wie er ging und stand, hinausgestürmt, um sich den Fang zu besehen; sein Bruder Hermann mußte ihn zwingen, erst in den Pelz und die Stiefel zu schlüpfen; dann eilten beide hinaus zum Sumpfe.

Eine schöne, schwarzbraune Ziege zappelte in der Schlinge und gebärdete sich wie toll, als die beiden Brüder nahten. Es kostete viele Mühe, bevor Hermann dem geängstigten Tiere die Schlinge über die Hörner werfen konnte; dann folgten die Vorderfüße, und nun wurde es halb gehend, halb getragen, nach Hause geschafft, während zwei Zicklein, noch zu jung, um die List der Menschen zu durchschauen, ihrer gefangenen Mutter freiwillig folgten. Sie wurden sogleich geschlachtet und frisch in die Pfanne gethan, der Alten dagegen zwischen einigen dicken Stämmen eine Art von Stall gebaut, den sie wenigstens nicht mehr verlassen konnte, obgleich andererseits ihre Wildheit auch nicht nachließ. Hermann mußte den Kopf und Otto die Füße halten, so oft Herr Bochner die kostbare Milch in das Blechgefäß melkte.

Herr Bochner fand schwarze Schlehen an weniger gefahrvollen Stellen, und Emma bereitete daraus mit Zucker ein angenehm schmeckendes Kompott, Otto fing täglich eine Menge eßbarer Vögel, und Hermann brachte nacheinander noch zwei Ziegen nach Hause, so daß Milch, Butter und Fleisch im Überflusse vorhanden waren; aber dennoch nahm die Jagd in immer größerer Ausdehnung ihren ungestörten Fortgang. Kühn gemacht durch die bisherigen Erfolge, wollten unsere Freunde jetzt auch Bärenfleisch essen, und zu diesem Zweck baute Hermann eine neue, für die herkulischen Kräfte des braunen Pelzträgers berechnete mächtige Falle, die er im Inneren des Waldes aufstellte.

Übereinander, breit und flach ausgespannt, wurden zwei starke Bärenfelle, mit den größten Steinen beschwert, so aufgehängt, daß bei einigem Zerren an dem untersten gleich alle beide zu Boden fallen und dem, der etwa darunter stand, den Kopf zerschmettern mußten. So betreiben – allerdings mit einer schweren, hölzernen Fallthür – die Kamtschadalen den Bärenfang; das wußte Hermann und wollte sich diese Kenntnis zu nutze machen. Während nun die beiden Felle, einem wandlosen Zelte nicht unähnlich, an schwachen Seilen in der Luft hingen, trugen lose untergeschobene Stützen die Last ihres schweren Gewichtes und hielten zugleich in der Mitte zwischen sich ein Stück frisches Fleisch, das als Lockspeise für die Familie Petz diente.

Wollte der Bär hinzugelangen, so mußte er sich unter die Stämme drängen, riß alles auseinander und wurde von den Steinen erschlagen.

72 Das Aufstellen der Falle kostete große Mühe, endlich aber war es doch vollbracht, und während zweier Nächte fingen die kühnen Jäger ein paar gewaltige Pelzträger, so daß sie nun mehr Fleisch besaßen, als sich bis zu Tekels Zurückkunft möglicherweise verzehren ließ. Die Felle bearbeitete Herr Bochner, nachdem sie gründlich gereinigt worden waren, mit Salzeinreibungen, dann spannte er sie aus und erklärte, daß es Prachtstücke werden würden. »Wenn erst die Polarnacht kommt«, meinte er, »sollen sie uns gute Dienste leisten.«

Emma schauderte. Die Polarnacht – welch ein schrecklicher Gedanke!

Aber sie sagte nichts, sondern briet Bärensteaks, und alle fanden die neue Speise außerordentlich wohlschmeckend.

Hermann schoß außerdem einen Schafbock, und Otto fing Vögel und Fische; es gab auch verschiedene, in der öden Gegend einheimische Wurzeln, die Herr Bochner kannte und zu finden wußte. Emma bereitete aus ihnen, indem sie dieselben zerrieb und zerstampfte, ein Gemüse, oder kochte sie als Suppe mit irgend einem Stück Fleisch; das alles wurde nicht nach den Regeln der Kunst angerichtet, es hatte diese oder jene kleine Eigentümlichkeit, aber es schmeckte doch prächtig, und das ist ja bei jeder Mahlzeit die Hauptsache.

In ihrer freien Zeit saß Emma am Feuer und nähte fleißig aus Zobel- und Marderfellen für die ganze kleine Reisegesellschaft Winterkleider; das Leben unter dem umflochtenen, von den sibirischen Stürmen umwogten Zelte hätte ein ganz angenehmes, befriedigendes sein können, wenn nicht die Furcht vor Entdeckung zum Schreckgespenst geworden wäre. Jeder Laut ließ die Flüchtlinge zittern, jeder neue Gedankengang führte ihnen außerdem das Bild des ermordeten Polizeimeisters immer wieder vor die Augen.

Als der erste Bär zerschmettert unter der Steinmasse lag, da wandte Herr Bochner voll Grauen den Blick. So hatte er selbst ja wahrscheinlich den unglücklichen Beamten getroffen, ganz so – es wurde ihm heiß ums Herz, als er die formlose Masse sah.

»Gott möge mir vergeben!« dachte er. »Ich glaube, ich war damals wahnsinnig.«

Er ging nicht mehr mit zur Bärenjagd, sondern verfertigte unterdessen aus dem Zweige einer Weide eine Flöte, die er dem Knaben schenkte und worauf er ihn einige leichtere Weisen zu spielen lehrte. Abends gaben dann der Meister und sein Schüler häufig Konzerte, bei denen Hermann und Otto sangen, während der Tanzlehrer die Violine handhabte.

Nur eins fehlte den beiden Männern, je länger, desto schmerzlicher – das war der Tabak. Herrn Bochners Nase hing ganz trübselig herab, 73 sie schien förmlich einzuschrumpfen, zu trauern, weil ihr das gewohnte braune Pulver entzogen war. Wohl zehnmal an jedem Tage zog der Wiener die silberne Dose hervor, öffnete sie und steckte sie dann seufzend wieder in die Tasche, aber nicht ohne unter seiner Nase hinzufahren, ganz als habe er die gewohnte, geliebte Prise wirklich erhalten. Hermann lachte ihn zuerst aus, dann aber dachte er, selbst ein leidenschaftlicher Raucher, über die Angelegenheit länger nach und kam zu dem Schluß, daß sich jedenfalls ein Ersatzmittel für den eigentlichen Tabak auffinden lassen müsse.

Nachdem er es mit diesem und jenem Kraute versucht hatte, entdeckte er zuletzt den wilden Thymian, und nun war ihm und seinem Leidensgenossen geholfen; die Umgebung der Hütte sah während mehrerer Tage aus wie die Werkstatt eines Tabakfabrikanten. Emma und Otto lasen die Blätter aus und wuschen sie, Hermann trocknete das Beste davon auf heißen Steinen, und Herr Bochner zerrieb die leichte Ware zu Pulver, indem er erst seine Nase, dann die Dose und schließlich einen großen, leinenen Beutel füllte.

»Endlich! Endlich! – Hepsi! Zihhh! – Hepsi!«

»Harusch!« klang es von Hermanns Platz her.

»Ihr werdet uns noch – Kisch! Kisch! – noch die Verfolger herbeirufen! – Kisch! – Kisch!«

»Harusch!« –

»Das ist gesund«, nickte mit wahrhaft seligem Lächeln der Wiener. »Hepsi! – O ich bin so glücklich! – Hepsi!« – –

»Ihre Nase ist eine Mitrailleuse geworden, Herr Bochner!« rief Otto.

»Sie wütet und donnert förmlich! – Harusch! Harusch!«

»Ganz wie die Ihrige, mein werter Freund. Ah – das thut die Freude!«

Sie lachten sämtlich; in dieser Stunde wurde gescherzt und sogar getanzt, wobei Hermann schreckliche Ungeheuer von Thymiancigarren rauchte, die wie kleine Besenstiele aussahen und jeden Augenblick auseinanderplatzten.

So verging die erste Woche. Nun noch weitere acht Tage, dann mußte der Jakute mit dem Renntiergespann erscheinen. Das Eis des Flusses begann schon sich tiefer und tiefer zu senken, es wurde sehr kalt, und nicht selten umheulten nächtlicher Weile die Wölfe das Haus. Ein paar Schüsse, auf das Geratewohl abgefeuert, verscheuchten zwar die nimmersatten Bestien, aber in der folgenden Nacht kehrten sie wieder und raubten sogar einen großen Teil des vorrätigen Fleisches. Je näher gegen das Ende der Wartezeit hin, desto ungeduldiger wurden, wie das meistens zu geschehen pflegt, die Flüchtlinge.

74 Mehreremal täglich stiegen sie auf die höchsten Bäume der Umgebung und hielten Rundschau. Nichts war zu entdecken als das ungeheure Meer grüner Tannennadeln oder steifer, lederartiger Blätter, außerdem in der Ferne die Gipfel des Werchojanskischen Gebirges, über dessen Kuppen große Raubvögel gegen den Sturm kämpften und endlich im grauen Himmel wie hinter einer undurchdringlichen Decke verschwanden.

Eines Morgens fiel der erste, mit lebhafter Freude begrüßte Schnee. Allmählich erhielten die Bäume und das Zelt, der Erdboden und der gefrorene Fluß eine Decke von weißem Puder; man konnte auch in der Pelzkleidung draußen nicht mehr sitzen, und so wurde denn die große kupferne, zu diesem Zweck mitgebrachte Lampe im Zelt angezündet, zugleich Licht und einen angenehmen Wärmegrad verbreitend.

Unsere Freunde, alle vermummt wie die Eskimos, saßen um den Tisch, und jedes beschäftigte sich in seiner gewohnten Weise. Hermann drehte Cigarren, Herr Bochner machte eine neue Vogelfalle und Otto eine Angel, während Emma das Abendbrot bereitete. Sie erzählte dabei von den Qualen, welche der verstorbene Vater, Otto und sie selbst auf der Reise von Rußland nach Sibirien zu erdulden gehabt hatten. »Es war damals ein besonders strenger Winter, furchtbare Orkane durchpeitschten die Luft, daß es schien, als müsse in jedem Augenblick die Kibitka umgestürzt werden, Herden von Wölfen trabten mit lechzenden Zungen hinter dem Wagen her und zerrissen binnen Sekunden die Pferde, welche zuweilen vor Ermattung hinfielen.«

Hermann hatte den Kopf in die Hand gestützt und die Faust geballt. »Armer, unglücklicher Vater! Er war buchstäblich in den Tod gehetzt worden.«

Sie saßen stumm, nur mit ihren Gedanken beschäftigt, es war später Abend und alles rings umher von undurchdringlicher Finsternis bedeckt; da glaubte plötzlich Herr Bochner ein sonderbares Knistern und Krachen zu hören; er hob die Hand und horchte.

Hermann griff nach dem Gewehr. »Es werden wieder die Wölfe sein«, sagte er.

»Das glaube ich nicht, diese Bestien –«

Ein Brüllen und Kreischen, ein angstvolles Geschrei verschiedener Tierstimmen unterbrach seine Rede. Größere Geschöpfe drängten sich durch die Büsche, hastend, flüchtend, ein allgemeines Entsetzen schien die Bewohner des Waldes gepackt zu haben.

Mit einem Sprung stand Hermann draußen. »Allmächtiger Gott!« hörten ihn die übrigen ausrufen. »Das ist Feuer! – Der Wald brennt!«

»Jesus, Jesus, erbarme dich unser!«

»O vielleicht ist es ja nur ein Nordlicht!«

75 »Nein, nein, der Rauch überflutet schon alles!«

»Wir müssen flüchten!« rief Hermann. »O das ist ein furchtbarer Schlag – unser ganzes Besitztum geht verloren!«

Herr Bochner trieb zur Eile. »Nur schnell, Kinder, nur schnell, sonst ist es auch um unser Leben geschehen. Gott sei gepriesen, daß wir nicht schon schliefen!«

Emma faltete die Hände. »Wenn wirklich der Wald brennt, so giebt es keine Hoffnung mehr«, sagte sie weinend. »Wir müssen sterben!«

»Aber vorher wollen wir alles aufbieten, um diesem schrecklichen Schicksal womöglich zu entgehen! Komm, komm, es muß sein!«

»Da sind die Flammen!« rief Otto.

»Aber das Holz ist grün, und der schmelzende Schnee löscht von allen Seiten. Das Feuer kann nur langsam vordringen!«

»Dann retten wir auch vielleicht von unseren Sachen noch einiges!«

»Und die arme, angebundene Ziege!«

»Ach Gott, ja, die Ziege!«

Otto stürzte hinaus. Mit einem schnellen Schnitt setzte er das geängstigte Tier in Freiheit – es floh davon, ohne eine Sekunde zu zögern.

Und nun rafften die Flüchtlinge zusammen, was sich in der Eile erfassen ließ, Decken, Kleidungsstücke, Vorräte, dann eilten sie, verfolgt von Rauch und Flammen, hinaus in die unwirtliche, eiskalte Nacht, so schnell ihre Füße sie trugen.

Auch der Schießvorrat und die Waffen wurden gerettet, selbst Treu hatte zwischen den Zähnen ein Bündel. Es war die höchste Zeit, schon verhinderte der beißende Rauch des grünen Holzes in empfindlicher Weise das Atmen.

Wie die Lärchen und Tannen aufloderten, knisternden, ungeheuren Fackeln gleich, wie der Harzgeruch weithin die Luft erfüllte! Jetzt glich schon der Wald einem einzigen, riesigen, von roter Lohe überfluteten Scheiterhaufen.

Zuweilen stürzten mehrere der großen Stämme gegeneinander und vereinigten ihre Flammengarben. Millionen von Funken wirbelten in die heiße Luft empor, der junge Nachwuchs unter den Bäumen fing Feuer – auf viele Schritte hinaus tropfte der Schnee geschmolzen von den Zweigen herab auf die Erde.

Der Sturm fuhr mit lautem Orgelklang, mit Brausen und Donnern hinein in das Leben des roten Elements. Wolken von Asche und Funken, von brennenden Nadeln und ganzen Ästen wurden weithin durch die Luft davongetragen und verbreiteten so das Feuer über bisher verschonte Gebiete: es ließ sich annehmen, daß ganze Meilen Waldes lichterloh brannten.

76 Immer unerträglicher wurde die Hitze. In der Nachbarschaft des Nordpols gelegen, schien der Burukanwald in die tropische Zone versetzt – Lungen und Gehirn sträubten sich gleicherweise gegen die von Glut und Staub erfüllte, tödliche Luft. Überall fielen auf ihrer wilden Flucht die armen Vögel in das Flammengrab, überall hörte man Schreie der Angst und Todesnot, während rings herum die Erde erdröhnte von den Tritten aller fliehenden, im Hasten und Jagen einander überstürzenden Geschöpfe. Wölfe, Füchse, Argalis, Hasen und braune Bären rannten einträchtig, ohne ihrer sonstigen Feindschaft zu gedenken, dahin über den dampfenden Boden, Heidehühner in Unzahl schossen neben ihnen vorwärts.

»Alles rennet, rettet, flüchtet,
Taghell ist die Nacht gelichtet.«

Von dem Hunde geführt, eins hinter dem anderen, liefen die Flüchtlinge, so schnell es ihnen möglich war und zwar quer nach rechts, vor der brennenden Linie her, in der Hoffnung, dieselbe hinter sich zu lassen. Wären sie mit dem Zuge des Windes gegangen, so hätten sie bis an das Ende des Waldes fast vier Meilen ohne Rast oder Ruhe marschieren müssen – das konnte man aber den Kräften des jungen Mädchens und des Knaben auf keinen Fall zumuten. Überhaupt hieß es fast ein Wunder erwarten, wenn man annehmen wollte, daß die Rettung vollständig gelingen werde.

Die Gepäckstücke begannen empfindlich zu drücken, das schnelle Vordringen auf jede Weise zu verhindern. O, was waren alle bereits ausgestandenen Leiden, was war alle Not und Angst vergangener Tage gegen die Empfindungen dieser Nacht? Lebendig verbrannt – kann es auch Schrecklicheres geben?

Hermann beobachtete die Feuergrenze, vor welcher die Seinigen und er selbst dahinliefen. Früher glatt wie abgeschnitten, schien sie jetzt die äußerste Spitze mit jeder Minute weiter vorzuschieben, schien sie einen Halbkreis zu bilden, der sich möglicherweise mit dem der linken Seite verband und so zum Ring wurde, aus dem es keinen Fluchtweg mehr gab. Wie ein kalter Strom rann die Entdeckung durch Hermanns Adern, aber dennoch beherrschte er sich vollständig. Weshalb auch die armen Kinder und den harmlosen Herrn Bochner erschrecken? – Sie mußten ohnehin das Unglück früh genug erfahren.

Emma taumelte; das, was sie trug, glitt aus ihren zitternden Händen auf den Boden. »Hermann«, flüsterte sie, »ich kann nicht mehr gehen.«

»Fühlst Du Schmerzen?« fragte unruhig ihr Bruder.

78 »Überall – ich weiß nicht, was es ist – aber meine Füße versagen den Dienst – ich kann nicht weiterkommen!«

Hermann warf von sich, was er aus der Hütte mitgenommen hatte. »Ich werde Dich tragen, armes Kind«, sagte er kurz entschlossen.

Sie schüttelte den Kopf. »Du kannst es nicht, Hermann! Wir sterben beide, und Otto hat keinen Beschützer mehr! – Das darf nicht sein, Du mußt Dich für ihn erhalten. Geh, geh – und Gott behüte Euch!«

»Hermann«, rief schluchzend der Knabe, »Hermann, das wirst Du nicht thun? Die arme Emma sollte verbrennen?«

Ein trübes Lächeln erschien in den Zügen des älteren Bruders. »Gewiß nicht, mein Junge«, versetzte er. »Ich müßte mich ja selbst verachten.«

Und ohne weiteres das halbohnmächtige Mädchen ergreifend, hob er die leichte Last auf seine Schulter, legte ihre Arme um seinen Hals und eilte vorwärts.

Heldenmütig nahm der Knabe die Gepäckstücke, welche bisher sein Bruder trug, und fügte sie den eigenen hinzu – Herr Bochner faßte Emmas Sachen, und fort ging es aufs neue, der rettenden Felsgrenze zu.

Emma erholte sich von Augenblick zu Augenblick, jetzt sah auch sie das Vordringen des Feuers und erschrak heftig. »Verlasse mich Hermann, verlasse mich, oder wir sterben alle.«

Er nickte kurz. »Sei es denn – alle! Aber nimmermehr Du allein.«

»Nimmermehr!« rief auch der Tanzlehrer »Hermann, soll ich Ihnen helfen?«

»Nein, nein, noch lange nicht. Wer Wochen lang unbeschadet in den Minen von Ukbul arbeiten konnte, der hat zuverlässige Kräfte.«

»Sieh die Flammen!« schluchzte Emma. »O Gott, sie kommen näher!«

Der Rauch schlug in Wogen über die unglücklichen Menschen herein, er erstickte sie fast. Je schneller sich das Flammenmeer heran wälzte, desto hurtiger liefen die beiden Männer und der Knabe. Inmitten der größten, furchtbarsten Gefahr schienen ihre Kräfte zu wachsen.

Emma schloß die Augen. Weshalb das Näherrücken des Feuers von einer Sekunde zur andern beobachten? Sie gab längst alles verloren.

Weiter, rastlos weiter durch Dampf und Rauch, Glut und Funken! Herr Bochner hielt einen Arm des taumelnden Knaben, er selbst sah aus wie ein Gestorbener. »Ob wir noch weit haben bis zum Gebirge, Hermann?«

79 Statt aller Antwort hob dieser plötzlich den Kopf. »Was rauscht da, mein guter Herr Bochner? O Gott, wenn es eine Biegung des Stroms wäre?«

Der Tanzlehrer spitzte die Ohren. »Wasser«, rief er, »Wasser! – Ich höre es deutlich – wir sind gerettet!«

»Emma«, sagte erschrocken der junge Mann, »Emma, hörst Du nicht?«

Aber sie war ohnmächtig. Das einst so kräftige, blühende Mädchen hatte zu Schreckliches ertragen müssen, jetzt brach sie zusammen.

»Mein Gott, Herr Bochner«, rief Hermann, »wenn sie gestorben wäre!«

»Nicht doch, nicht doch, Freund – spannen Sie jetzt nur alle Ihre Kräfte nochmals an, die Rettung naht – ich höre den Strom rauschen.«

Als er das sagte, rollten Feuerbrände quer über den Weg. Hermann mußte springen, das flatternde, unter dem Pelz hervorsehende Kleid seiner Schwester fing mehrfach Feuer und wurde von dem Knaben oder dem Tanzlehrer immer ebenso schnell gelöscht; dann endlich kam der Strom in Sicht.

»Gerettet!« rief Herr Bochner. »Gerettet!«

Hermann ging, ohne sich zu besinnen, in das Wasser hinein – es war warm wie die Suppe, wenn sie auf den Tisch kommt. Er wollte so lange waten, bis ihm der Grund unter den Füßen fehlen würde, und dann weiter schwimmen, zu seiner großen Freude aber fand er die Stelle sehr flach, so daß es ihm möglich wurde, vorsichtig Schritt um Schritt das andere Ufer zu erreichen. Taumelnd, jetzt erst vom Schwindel erfaßt, legte er das junge Mädchen auf den Boden und fiel dann selbst wie gelähmt hin.

Ihm folgten im gleichen Augenblick die beiden anderen.

»Gerettet! Gerettet!«

Es war ein Jubelschrei, dies eine Wort, ein Dankgebet, es enthielt alles, was das Menschenherz empfindet, wenn ein schweres Verhängnis durch Gottes Gnade noch in der zwölften Stunde an ihm vorüberging.

Jetzt ruhten die gequälten Menschen aus, jetzt konnten sie in sicherer Entfernung dem Toben des Waldbrandes zusehen, wie einem Kunstfeuerwerk. Etwas Schnee, auf Emmas Stirn gelegt, brachte auch das ohnmächtige Mädchen bald wieder zu sich; sie klammerte im ersten Augenblicke die Hände voll Schreck und Verwirrung um den Arm ihres Bruders. 80 Dann löste ein Strom von Thränen die übergroße Spannung aller Nerven. »Hermann«, schluchzte sie, »Hermann, wie soll ich Dir jemals vergelten?«

»Thorheit«, lächelte er, während seine Stimme bebte, »Thorheit – welcher Mann, wenn er nicht ein Feigling wäre, würde wohl anders gehandelt haben?« 81

 


 


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