Sophie Wörishöffer
Gerettet aus Sibirien
Sophie Wörishöffer

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Sechzehntes Kapitel.

Vater und Sohn.

Am dritten Tage nach der Ankunft und nachdem man noch die ganze Ansiedelung mit einer meterbreiten, festen Schneemauer umzogen hatte, brach langsam die Polarnacht herein. Draußen war alles dunkel, drinnen brannten, solange die Flüchtlinge wachten, zwei Lampen, die von den Schneewänden widerstrahlten, Tag und Nacht flammte auf dem steinernen Herd ein mit großen Holzklötzen genährtes Feuer. Als erst einmal der Anfang überstanden war, ging diese Heizungsart vortrefflich – man trocknete heute den Vorrat für morgen und so fort, dann brannten die Stücke von der Größe eines Eimers ganz vorzüglich.

Die Flüchtlinge lebten selbst unter diesen Verhältnissen vollkommen regelmäßig, sie standen früh auf, wuschen sich im frischen Schnee und wechselten täglich die Kleider, um dieselben immer kühl und trocken zu halten; das Leinenzeug reinigte Emma, so gut es anging, ohne Seife in einem dazu bestimmten Eimer.

Die Kälte wurde immer strenger, zuweilen trieb der Ostwind den Rauch des Feuers in das Haus zurück, zuweilen fehlte den Lampen das Öl und dann wieder dem Tische das Fleisch – alles Metall war dermaßen durchkältet, daß die Berührung brannte wie die des Feuers, selbst die Pfeifen der Jakuten waren gefroren.

164 Bekanntlich wirkt eine kühle, ja selbst mäßig kalte Luft angenehm erregend, die Eiseskälte aber erschlafft. Allmählich verschwindet jede Regung, welche sonst die Seele bewegt, der Wille wird gelähmt, die Gesichtsmuskeln verlieren ihre Spannkraft, die Kniee schlottern, und die Nase wird spitz.

Herr Bochner erlag diesem Verhängnis zuerst; seine Kinnladen bekamen den Zitterkrampf, seine Bewegungen wurden schwankend wie die eines Trunkenen. Selbst in der unmittelbaren Nähe des Feuers konnte er sich nicht mehr erwärmen, und des Nachts wanderte er schlaflos durch das geräumige Wohnzimmer.

Jermak seinerseits war auch von diesem neuen Leiden unberührt. Er wollte die Dunkelheit benutzen, um nach Nischney-Kolymsk zu entfliehen, dazu aber brauchte er einen Führer und das sollte womöglich Tekel sein.

Dieser war indessen vollständig wachsam. Ehe ihm Jermak bestimmte Erklärungen geben konnte, ließ er ihn schon ganz deutlich erkennen, daß von ihm kein Verrat zu erwarten sei; dadurch wurde ein unliebsamer Auftritt vermieden und gleichzeitig der Polizeimeister an den zweiten Jakuten verwiesen. Khort ließ sich schrecken, er fürchtete die Rache des Beamten und bat um einige Tage Bedenkzeit, wahrscheinlich in der Absicht, während derselben unbemerkt zu verschwinden – beide Pläne wurden indessen gleicherweise vereitelt.

Hermann kam zu der Überzeugung, daß es ihm völlig unmöglich sein werde, andauernd die vielen Hunde zu ernähren, er beauftragte daher die Eingeborenen, in den beiden Narten nach Elop-Balo am Omolon zu fahren und dort Lebensmittel, Schießbedarf und ein neues Zelt einzukaufen; zugleich gab er Tekel Geld genug, um auch den Führern eine freie Reise und einen hübschen Überschuß zu sichern, so daß die Leute den neuen Plan mit beiden Händen ergriffen.

Auch eine Bogdare mußten sie mitbringen, einen Kahn aus Leder, um die großen Flüsse passieren zu können, Speck zum Bestreichen der Schlittenbänder und etwas Branntwein für alle etwa vorkommenden Fälle.

Tekel und Khort waren es sehr zufrieden, dem Polizeimeister aus den Augen zu kommen. Der eine wollte die Leute, welchen er diente, nicht ins Verderben stürzen, der andere nicht etwa selbst in Gefahr kommen, und so trafen sie für den nächstfolgenden Tag die Vorbereitungen zur Abreise, ohne mit Jermak nochmals zu sprechen.

In der Nacht vor dem geplanten Ausfluge fingen plötzlich alle Hunde zu gleicher Zeit an zu bellen und wollten sich auf keine Weise 165 beruhigen lassen. Der Polizeimeister kam aus seinem Zimmer hervor, die Jakuten aus ihrem Winkel, und auch Hermann und Herr Bochner fuhren erschreckt auf. »Was bedeutet das?« rief der erstere.

»Es müssen Tschuktschen in der Nähe sein!« antwortete Tekel.

»Und meinst Du, daß wir von diesen einen Angriff zu befürchten hätten?«

»Einen offenen Angriff wohl nicht!«

»Ich werde hinausgehen«, entschied Hermann. »Es könnten auch Kosaken sein. Bitte, Herr Jermak, Sie bleiben hier!«

»Es sind keine Kosaken«, beharrte Tekel.

Dies Urteil schien den Polizeimeister zu bestimmen, er legte sich ohne eine Silbe wieder auf sein Lager.

Hermann trat mit dem geladenen Gewehr hinaus ins Freie. Noch war alles um ihn herum völlig dunkel, aber gerade jetzt zeigte sich fern am Himmel ein seltsam weißer Schimmer, ein Glanz wie von hellen, silbernen Sternen, der sich immer weiter ausbreitete und dessen Stärke mit jeder verrinnenden Minute zunahm, der endlich sogar das Meer beleuchtete, daß es aussah wie gefrorene Milch.

Und dann erschien an den Rändern der weißen, glänzenden Fläche ein rosafarbener Streif, der allmählich überging ins Rote und in den gesättigtsten, dunkelsten Purpur. Flammengarben brachen hervor, Feuerschwerter, die den Himmel durchkreuzten und ihn wie in Blut getaucht erscheinen ließen. Tropfen von rotem Licht fielen überall herab, grüne Streifen schossen auf, gelb umrandet, es zuckte und wogte wie ein tobendes, von den verschiedensten Farben umleuchtetes Meer.

Im Lichte dieser Himmelserscheinung – des Nordlichtes, von dem unsere Breiten nur eine schwache Vorstellung besitzen – sah Hermann auf dem gefrornen Meer einen mit Renntieren bespannten Schlitten gerade auf die Hütte zukommen. Er rief den Tanzlehrer und zeigte ihm die Fremden. Sollten es Verfolger sein?

»Dann werden wir ihnen die Zähne zeigen!« antwortete der Wiener hinter seinen über Nase und Ohren gezogenen Pelzen hervor. »In einem einzigen Schlitten können nicht mehr als höchstens drei Personen sitzen.«

Sie horchten jetzt beide. Die Narte war so nahe herangekommen, daß man schon in der stillen Luft ihre Insassen miteinander sprechen hörte. Herr Bochner fuhr plötzlich auf.

»Herr Brandt«, rief er, »es war mir, als müsse ich die Stimme, welche da soeben sprach, kennen!«

166 Der Deutsche nickte. »Ich glaube es auch«, sagte er plötzlich erbleichend. »Großer Gott, wie wäre das möglich?«

»Und doch! Und doch! Es war Otto, der da sprach!«

»Er war es – ja, da spricht er wieder! – Otto, mein armer kleiner Otto!«

»Die im Schlitten hören das wütende Gebell der Hunde – sie kommen hierher!«

Die Narte hatte jetzt den Strand erreicht und hielt an. Ein Knabe sprang heraus, er allein lief bis zu der Hütte, und als er die beiden vor derselben stehenden Männer sah, eilte er mit ausbrechendem Jubel zu ihnen. »Hermann! Hermann! – Herr Bochner! Ach wie glücklich bin ich!«

»Otto! Otto! – Mein lieber kleiner Bruder!«

Und Hermann hob das Kind zu sich empor, er trug es herum, als sei der Knabe ein Säugling, als müsse er den so unerwartet Wiedergefundenen nun auch festhalten, daß er ihm nicht zum zweitenmal abhanden komme.

Nachdem auch Herr Bochner den kleinen Bruder seines Freundes auf das herzlichste begrüßt hatte, fragte er ihn nach den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit. »Bei wem hast Du bisher gelebt, Otto, wer brachte Dich hierher zurück?«

»Jermaks Sohn!« rief der Knabe. »Er ist draußen im Schlitten. Hole ihn herein, Hermann, der arme Dimitri ist verwundet.«

»Mein Gott – und das sagst Du erst jetzt!«

Herr Bochner eilte zum Meeresstrande, während Hermann, nachdem er den Knaben in Emmas Arme gelegt hatte, den Polizeimeister aufsuchte und ihn auf die Begegnung mit seinem unglücklichen Sohne vorbereitete.

Jermaks Hände zitterten. »Mein Sohn!« sagte er. »Mein Sohn! – Und schwer verwundet? – Ich darf ihn doch in dies Haus bringen, Herr Brandt?«

»Welche Frage!« rief Hermann. »Mein Gott, halten Sie mich denn für einen Unmenschen? –Ach, Herr Jermak, so lassen Sie uns doch endlich Freunde werden!«

Ein Kopfschütteln war die Antwort, dann eilten beide Männer hinunter zum Strande, wo Herr Bochner eben dem todbleichen jungen Menschen vergebens zuredete, doch mit ihm ins Haus zu kommen. Dimitri wollte erst die Erlaubnis seines Vaters erlangen.

168 Der Polizeimeister beugte sich über den Unglücklichen und küßte ihn. »Mein armer Schelm«, sagte er, »Du siehst schlecht aus!«

Dimitris Augen füllten sich mit Thränen. »Vater«, flüsterte er, »willst Du mich denn jetzt nicht mehr sterben sehen?«

Und der Polizeimeister küßte ihn wieder – leise und innig wie eine Mutter. Die offenbare Nähe des Todes erschütterte selbst diesen eisernen Charakter; er streichelte zärtlich, während die Männer mit dem tungusischen Führer zusammen den Verwundeten in das Haus führten, die eiskalten, mageren Hände desselben. »Du hast eine gute That vollbracht, Dimitri«, sagte er, »hast um des fremden Schicksals willen Dein Leben aufs Spiel gesetzt – dafür soll alles Frühere verziehen sein.«

»Gottlob!« hauchte der Sterbende; »ach Gottlob, Vater! Nun laß mich Dir aber auch erzählen, wie – –«

»Nein, nein, Du könntest Dir schaden, Dimitri!«

»Mir schadet nichts mehr, lieber Vater! Vielleicht sind meine Stunden schon gezählt – ich will Dir vorher alles berichten.«

Und dann gab er, auf dem Bette seines Vaters liegend, eine Schilderung der letzten Vorgänge. Er selbst und der Wor, jener arme Schelm mit dem zerfetzten Gesicht, hatten beide das wüste Leben ohne Arbeit und Ehre längst satt, sie beschlossen, mit dem Knaben zu entfliehen und ehrliche Leute zu werden, aber die Mitglieder der Bande hatten das Geheimnis entdeckt, zwei Kugeln wurden ihnen nachgesandt, der Wor brach, mitten ins Herz getroffen, lautlos zusammen, und ihm selbst blieb das tödliche Blei in der Brust stecken, aber die Flucht gelang trotzdem – Otto war den Seinigen zurückgegeben.

»Aber wie fanden Sie denn den Weg zu uns, Herr Jermak?« fragte Hermann.

»Von Feuerstelle zu Feuerstelle«, lautete die mit schwacher Stimme gegebene Antwort, »Otto besorgte das fast allein. Sein Mut ist der eines Mannes!«

»Sprich nicht so viel, mein armer Junge«, bat Jermak, »Du schadest Dir!«

Dimitri lächelte wehmütig, er hielt seines Vaters Hand zwischen den seinigen und schien nicht oft genug hören zu können, daß nun alles vergeben und vergessen sei.

Draußen erhellte das Nordlicht mit flackerndem grünen und purpurnen Schein den Gesichtskreis und die stille, tote Eiswüste, drinnen schlugen langgetrennte Herzen aneinander im Glücke des Wiedersehens. Die kleine Familie der Deutschen saß mit dem befreundeten 169 Tanzlehrer eng geschart um den zurückgekehrten Knaben, der Polizeimeister und sein Sohn flüsterten Worte voll Liebe, und die beiden Jakuten plauderten in ihrer Ecke mit dem Tungusen, welcher aus seiner Narte ein halbes, erst gestern erlegtes Argali herbeiholte und dasselbe am Feuer briet.

Es war eine Nacht, die keiner von allen je im Leben wieder vergaß.

Gegen Morgen schlief der Verwundete vor Schwäche ein. Diesen Augenblick benutzte Jermak, um sich den Deutschen zu nähern. »Herr Brandt«, sagte er, »wir alle hatten Ihren kleinen Bruder für verloren gegeben, und in dieser Nacht bringt mein Sohn denselben wohlbehalten zurück – finden Sie nicht, daß das etwas ist?«

»Das ist sogar unendlich viel, lieber Herr Jermak! – Früher waren Sie unser Schuldner; jetzt ist das Gegenteil eingetreten. Aber giebt Ihnen das alles nicht zu denken? Wollen Sie nicht uns gegenüber von Ihrer grausamen, feindlichen Haltung ablassen?«

Er streckte die Hand aus, ihm lag das Herz auf den Lippen. »Jermak, wollen wir nicht endlich Freunde werden?«

»Nie! – Das ist unmöglich.«

»Sie achten uns also, weil Sie eben nicht anders können, aber – Sie hassen uns?«

»Ich hasse keinen Menschen!«

Hermanns Auge blitzte im plötzlich erwachenden, heftigen Zorn. »Nun«, rief er leidenschaftlich, »das ist schade! Ich würde lieber Deinen Haß haben wollen, Du Verblendeter, als diese Unbeugsamkeit, die Dich vom Menschen mit einem warmen, empfindenden Herzen herabsetzt zum bloßen Werkzeuge eines rohen Gesetzes. Dich kann nichts rühren, nichts erweichen, Du bist in Dir versteinert! – Du kannst weder hassen noch lieben!«

»Ich gehorche höheren als persönlichen Beweggründen.«

Hermann ergriff plötzlich das Gewehr des Polizeimeisters. »Da«, rief er, »da, Jermak, nimm Deine Waffe, ich fürchte Dich nicht. Da – das bin ich Dir in meinem eigenen Bewußtsein schuldig!«

Der Polizeimeister nahm ohne ein Wort des Dankes sein Gewehr; dann setzte er sich ebenso stumm an das Bett des unglücklichen Sohnes.

Herr Bochner, der immer freundliche, immer geschickte, zeigte während dieser Tage, daß er sich neben allem übrigen auch auf die Krankenpflege meisterlich verstand. Die Kugel war sehr tief eingedrungen – hätte man 170 nur ein wundärztliches Instrument zum Hervorziehen derselben gehabt, so würde wohl die ganze Angelegenheit eine andere Wendung genommen haben, aber unglücklicherweise war nichts dergleichen vorhanden, so daß sich auch keinerlei Hilfe bringen ließ. In jedem Augenblick konnte der Tod eintreten.

Alle Bewohner der Schneehütte wetteiferten miteinander in treuer, unermüdlicher Pflege; der Tunguse – in seinem Stamme ein berühmter Jäger – ging täglich aus, um irgend ein Tier zu schießen, dessen Fleisch dem Kranken eine Suppe versprach, aber nichts half, das Wundfieber wurde immer stärker, bis endlich ein sanfter Tod den jungen Mann von seinen Leiden erlöste. Er starb ruhig, versöhnt mit Gott und begleitet von dem Segen des gebeugten Vaters.

Die drei Eingeborenen des öden, schrecklichen Landes, die beiden Jakuten und der Tunguse, entzündeten am Strande ein großes Feuer, in dessen Schein sie das Grab auswarfen. Kaum ließ sich der steinharte Boden mit Äxten bearbeiten, kaum gelang es während zweier ganzer Tage, notdürftig die Grube herzustellen – dann folgte das traurige Leichenbegängnis.

Voran ging Otto mit einer Laterne, darauf kamen die Eingeborenen, welche den toten, gefrorenen Körper trugen, um ihn ohne Sarg, nur von einem Leintuch verhüllt, in die starre Erde zu legen. Hinter ihnen gingen der Polizeimeister, Hermann und Herr Bochner, ganz zuletzt folgte kläglich winselnd der Hund.

Dieser Zug bewegte sich bei dreißig Grad Kälte in tiefster Dunkelheit über den Schnee dahin, am Grabe machte er Halt, und nachdem Hermann laut das Vaterunser gesprochen, wurde die Leiche der Erde überliefert.

Die Jakuten hatten aus unbehobeltem Treibholz ein Kreuz angefertigt, das befestigten sie auf dem Hügel, unter welchem ein müdes Herz die letzte Ruhestätte gefunden; schwarz und unförmlich zeichnete das Kreuzeszeichen sich ab gegen das Weiß des Bodens.

Die Sterne glänzten hell am Himmel, der Mond schien mit einem Strahlenkranz umgeben – lauter bleiches, ungewisses Licht in der Einöde, deren Stille, deren Todesähnlichkeit die Herzen schwer bedrückte. Alle Seelen waren erfüllt von einem Gefühl der Not, der Beklemmung, das sich gleich einem Alp nicht mehr verscheuchen ließ, alle diese Männer fragten sich unwillkürlich, ob sie je das Land ihrer Heimat wiedersehen würden, ob nicht vielmehr auch ihnen das Grab in Sibiriens eisiger Erde schon ganz nahe sei. 171

Stumm drückten sie sich gegenseitig die Hände; der Polizeimeister hielt sogar diejenige des Deutschen fest in der seinigen. »Ich achte und schätze Sie aufrichtig, Herr Brandt«, sagte er, »der Mensch in mir hält sogar viel von Ihnen, aber – mehr dürfen Sie niemals verlangen. Ich habe als Beamter meinen Eid geleistet, das sagt alles.«

Und Hermann antwortete nur durch einen Blick; seine Lippen blieben stumm – – 172

 


 


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