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Die Insel

An jeglichem Eiland erweist sich eine geheime Verwandtschaft mit jener dem Knaben gehörigen, Namen entbehrenden Robinsoninsel, die steinig und unbewohnt mit ihrem weglosen dunklen Gebüsch, einigen windzerzausten, verhungernden Bäumen und dem schmalen, herzbeklemmenden Streifen Geröll den Fluß in zwei aufgeregte, nach Vereinigung tobende Hälften teilte. Trotz Drohung, Strafe und Unglücksverheißung hatte der Knabe sich nie davon abhalten lassen, den riff- und wirbelgespickten Flußarm auf waghalsigem Balkengebündel zu überschiffen. In der ausgetrockneten Kehle saß ihm erstickend die Angst, sowohl die Angst vor den Spähern und Angebern, die am Ufer lauern mochten, am Abend den Rückkehrer zornig empfangend, als auch die Angst vor den schlingbegierigen Pratzen des Wassers, die über das Balkenfloß langten. Dann aber kam der Aufprall am Inselkies. Jedesmal kam er; ein Schicksal, des ferneren Lebens gedenkend, da dem Knaben eine gefährlichere Schiffahrt zugedacht war, schlug den Ansturm dieser Gefahren mit einer ans Wunder grenzenden Sicherheit jedesmal ab. Genug, daß der schweigsame kleine Ferge bei der Überfahrt den eisigen Griff am Herzen verspürte. Gemessen an dem tatsächlich niemals eingetroffenen Augenblick, in dem sich das Leben zum Tode wandte, war diese beständige Untergangsnähe von einer unendlich viel größeren Bedeutung.

Dann aber, nachdem das Floß am Ufer festgebunden war, folgte der warme, angstentlassene, einsamkeitsstille Nachmittag auf der Insel. Im Innersten des Gestrüpps schmiegte sich eine Mulde. Darin, auf Reisern und Heu, war die Lagerstätte. Bärenkraut, fette, feuchte Blattpflanzen verbreiteten ihren Geruch. Der Duft versetzte die ängstliche Seele in einen sanft ergreifenden, halben und schaukelnden Schlaf. Im Uferwald rief der Kuckuck. Da war dann kein Vogel mehr, der hier rief. Es war ein abstrakter Laut, ein Zubehör dieser abgelegenen, maßlos beglückenden Stunde. Unwirklich fern tönte das mühsame Geigenspiel. Die schwitzenden Finger, der niemals rein sein wollende Ton, jene ganze, auf Schein und Nichtigkeit gerichtete Aufmerksamkeit der Erwachsenen, gegen die sich der Knabe wehrte, lag wie ein trüber Traum zurück. Der Gaumen zog sich zusammen unter dem bitteren Geschmack von wilden Malvenfrüchten.

Das war es: eine einsame, schweigsam lebendige Welt, in der nur das Stumme Gesellschaft leistete, ein Paradies, schöner als das der biblischen Kunde, weil es erst nach einer Vertreibung im Dürren gefunden war und sein Vorzug im Gegensatz zu dem Draußen deutlich erfühlt wurde. Auch schwermütiger war es, da keine Sekunde verging, in der nicht die neue Vertreibung bevorgestanden hätte. Es sind nicht die Schlechtesten, die auf Inseln lebten, in Absicht und Freiwilligkeit einen kleinen Bereich sich erwählend, da ihnen das Ganze wirr und ordnungslos dünkte. Und dennoch – wenn man in Wirklichkeit einer Insel sich nähert, ergreift einen trotz des Entzückens an ihrer Erscheinung, an der von dem fremden und zauberischen Element des Wassers geschützten Lage und ihrem so deutlich begrenzten Vorhandensein inmitten eines unübersehbaren Raumes bei dem Gedanken, man solle sein Leben hier zubringen, jetzt und für alle Zeit, ein zweifelvolles und quälendes Gefühl. Die instinktive Sicherheit der Entscheidung, durch die die Kindheit sich ausgezeichnet hatte, war mit den Jahren verlorengegangen. Noch zu sagen, hier sei der Platz, der einzige, auf dem es zu leben gelte, fällt dem Umgetriebenen schwer, mißtrauisch, wie er geworden ist angesichts der Unverläßlichkeit aller Entscheidungen.

Doch ehe ich es versah, hatte der Fischer die Ruder ergriffen, wir stießen vom Ufer ab, und der Wagen meines Freundes, in dem ich angekommen war, machte kehrt und verschwand die stille Straße hinauf. Auch das Dorf schwand zurück, und je weiter es wich, desto verläßlicher schien es. Es war bald nur noch ein Bild, nicht anders, als es mir bisher, wenn ich die Augen schloß, an fremden Orten erschienen war: von seinem chiemseeweiten Hügelrücken und seinem spitzen Kirchturm bestimmt: Gstadt, friedlich und grün und unbeschreiblich gesichert.

Schon war die Jahreszeit vorgeschritten zum Herbst. Das Wasser empfing den Badenden kalt, und die Windeskühle besiegte das bläßliche Sonnenlicht. Früh sank der Abend herab. An der Stelle, wo die riesigen Silberweiden ein nach Westen offenes Tor erbauten, stand aneinandergelehnt das einzige Paar, das noch vom Sommer her auf der Insel verweilte. Fröstelnd in ihre flauschigen Mäntel gehüllt, blickten die beiden auf das untergehende Licht. Das Haar des Mannes war grau, Falten vergitterten sein Gesicht, und die Augen blickten ausgegraben, erloschen. Das Mädchen mit hochmütigem Busen, das Haupt von einem Schwall von schwarzen, drahtigen Puppenlocken umrahmt, war trotz der Verbundenheit eine Fremde. Bei den Mahlzeiten streichelte der Mann ihren Arm. Sie schwieg und vermied seinen Blick. Sie speisten mit mir im selben Hotel, denn die »Linde«, die ihren Namen nach dem tausendjährigen Baum trug, der sein ungezähltes Geäst in den Himmel ballte, und hinter dessen gewaltigem Wachstum das Haus bescheiden seinen Platz nahm, um dafür bis in das Innerste der Zimmer etwas von der Lebendigkeit eines Lebewesens abzubekommen, ist die einzige Gastlichkeit, die Frauenchiemsee birgt.

Täglich ließen mich die Wege dem ungleichen Paar begegnen. Die Wege waren gezählt; in weniger als einer halben Stunde konnte man den Uferpfad des Eilandes bequem umschreiten. Am dritten Tage bieten die Fischer und Fischerfrauen einem den Gruß.

Die Vermutung, daß jemand, der auf längere Zeit eine Insel bewohnen soll, an Seele und Geist eine Einengung spürt, erwies sich als durchaus begründet. Überall stieß der wandernde Fuß in kürzester Frist an unbeschreitbares Wasser. Der Schloßtrakt von Herrenchiemsee, unbegreiflich von leichtem, schwebendem Baumgewölk getragen, schien nur noch dem schweifenden Auge erreichbar. Zwar gab es Dampfboote, die zwischen den Inseln verkehrten. Sie legten in Frauenchiemsee an einem weit ins Wasser hinausgeführten Landungssteg an. Aber wer da, das Dampfschiff erwartend, am äußersten Ende sich aufhielt, der war schon ausgestoßen aus dem Kosmos der Insel; er befand sich bereits an einem undefinierbaren Punkt draußen im Unermeßlichen, von wo aus das Dampfschiff ihn vollends dem Unsicheren ausgesetzt hätte.

Mit dem Inselufer war die Welt auf antikische Art zu Ende. Auf engstem Raum gelang es dem See, das Wunder der Unendlichkeit aufzuführen. Er ist nicht sonderlich groß. Doch vermag er allein durch seine Gestalt dem Betrachter den Eindruck einer unermeßlichen Weite zu geben. Sein Umfang nähert sich der Figur eines Kreises, und da die Insel an einer Stelle gelegen ist, von der aus das unferne Festland schon deutlich genug im Unerreichbaren liegt, der See aber von diesem Standpunkt aus für das Auge von Süden nach Norden seine weiteste Dehnung vollführt, so stand der Inselbewohner, gebannt in das magische Reich des Gerundetseins, vor einer ihm niemals erreichbaren Ferne. Ist es nicht, als ob die Figuren, unabhängig von ihrer objektiven Erscheinung, noch außerdem über Kräfte verfügen, die, aus dem unfaßlichen Wesensgrund ihres Charakters entspringend, den Betrachter entgegen seiner besseren Einsicht mit zauberischer Gewalt umgarnen? Die Fläche eines Kreises scheint größer zu sein als die eines annähernd so großen Quadrates. Zumal wenn die Fläche von Wasser gebildet wird, von jenem Element, das sich wie die Luft nach der Raumlosigkeit sehnt und sich nur widerwillig an Ufern stößt, erhält sie für das Auge eine magische Ausdehnung.

Die äußerste noch bewohnbare Stelle auf der Insel bestand aus einem Brettergerüst, das ein Fischer vor seinem Badehaus angebracht hatte, als eine Gelegenheit, auf der die Sommergäste sich sonnten. Der Boden schrägte sich leicht auf den Wasserspiegel hinab, was der Anlage, auf der einst in Stille und Ernst der Sonne gehuldigt worden war und die jetzt verlassen dalag, etwas von der Feierlichkeit eines Opferaltares verlieh. Von dort aus blickte man in die oberen, lichtdurchtränkten Regionen des Wassers. Fische stiegen herauf und verhielten sich unbeweglich in hellgrünem Dämmer. Es war nicht mehr möglich, die Stelle, auf der sie verharrten, mit einem menschlichen Hier zu bezeichnen. Sie ruhten, ohne daß dieser Zustand verständlich erschienen wäre; sie ruhten, im Leeren aufgehängt, unausdenkbare Wesen, wie sie der menschliche Geist nicht ersinnen dürfte.

Und sie erschienen noch fremder, indem ihre starren geometrischen Körper über und über von den rötlich blühenden Gewächsen einer Krankheit bedeckt waren, einer Fischseuche, wie man mir sagte. Der Mensch aber hat im Übermut das ihm angewiesene Element verlassen, um in die Ortlosigkeit vorzustoßen. In die Tiefe des Wassers und in die Höhe der Luft hat er für seine Bewegungen Zugang gefunden, er kennt einen Raum, der nicht mehr mit dem Erdboden endet. Dies Vordringen aber in fremde Bezirke hat seinen Herrschaftsbereich nicht wahrhaft erweitert. Längst ging er in der Unendlichkeit dieses Raumes unter, und der Übermut des Eroberers ist der Schwermut des Ausgestoßenen gewichen.

Jenseits der nur von den Schwingen der Möwen und Segelboote beflogenen Fläche, im Süden, als die äußerste Grenze des nicht mehr bewohnbaren Reiches, erhob sich die Wand der Gebirge. Dünn und blau stand sie gegen den Himmel, der lückenlos auf ihren Berggraten aufgesetzt war. Die Kampenwand mit gezackter Zinne und links die Zwillingskuppe von Hochfelln und Hochgern, dazwischen der Bergbügel, der das Tal der Tiroler Ache schließt, waren die unaufhörlich bezaubernden Linien, an denen das Licht, das die Welt der Insel belebte, sich fing. Morgenrötlich hing es von ihnen hernieder, abends schillernd zwischen Rosa und Grün, bis endlich die Farben in mattem Flieder verhauchten. Und zu Mittag, durch das blinzelnde Auge, stand hartes Blau gegen Blau, ein von Wasser, Gebirg und Himmel gebildeter, golden getönter Klang. Und keine Nacht war so schwarz, daß sie von diesem Umriß nicht jene äußerste glückliche Teilung erfahren hätte, durch die sie der Gestaltlosigkeit entging.

Hier endlich war ein Standpunkt gefunden, von dem aus die Welt sich betrachten ließ. Übersichtlich bot sie dem entzückten Auge sich dar. Doch dieses vermochte sich nicht an einen Überfluß zu verlieren. Eine strenge Zucht ward ihm auferlegt, eine Beschränkung von außen. Im Sinne der Anzahl gab es hier nicht viel zu sehen, und die meisten Besucher glaubten denn auch, mit einem viertelstündigen Rundgang der Insel Genüge geleistet zu haben. Der Geist, an das zeitgenössische Übermaß an Eindrücken gewöhnt, sah sich hier anfangs in eine ihm unbehagliche Lage versetzt. Eine einzige Kirche stand da, ein einziger Gasthof und ein einziges Dorf. Und ringsum nichts als die Flächen von Wasser und Land, die auf den Schultern des Herkules oder auf dem Rücken einer Schildkröte ruhen mochten. Aber das Unermeßliche, jenes Geheimnis, das durch die Wirkung der unerfindlichen Zahl φ die Erscheinung des Kreises erst eigentlich anwesend macht, die unzerstörbare Wesenheit, die dem oberflächlichen Blick gewöhnlich entging, trat unter solchen Umständen aus dem Inneren dieser Dinge zutage und wurde dem Geist ein Anlaß zu unaufhörlicher Aufmerksamkeit.

Daß man von jedem Punkt der Insel binnen kürzester Zeit auf den Glockenturm, der zu der Klosterkirche gehörte, mit einer unumgänglichen Sicherheit wieder zurückkam, daß der Koch, der in der »Linde« die Speisen bereitete, der einzige Vertreter seines Faches war und das leibliche Wohl der Gäste ganz von seiner Kunst, seiner Erfindungsgabe und dem Gelingen oder Mißraten seiner Töpfe abhängig war: diese Ausschließlichkeit der Erscheinungen rief eine ungewöhnliche Stärke der Eindrucksfähigkeit hervor. Sie hinderte jegliche Oberflächlichkeit der Berührung. Dem unansehnlichsten Ding lag etwas Wunderbares zugrunde. Man fragte nicht mehr nach Schönerem oder weniger Schönem, nach dem Besseren oder Schlechteren. Die Welt der Insel trug ihr Maß in sich selbst.

Der Turm war nicht sonderlich hoch. Mißtrauisch gegen den unsicheren Inselgrund, hatte der Baumeister nicht gewagt, ihn über eine gewisse Höhe hinauszubauen. Aber nachdem sich der auf die Insel verschlagene Geist mit den Umständen, die er hier antraf und die ihm wohl anfangs unzureichend und kärglich erschienen waren, auf robinsonische Weise abgefunden hatte, fühlte er eine tiefe Zufriedenheit in sich. Er sah sich einbezogen in eine Welt, in der alles auf eine einmalige und endgültige Weise nach vorgegebenen Bedingungen vollendet war.

Schwankt unsere Zeit nicht hilflos zwischen Maßlosigkeit und Mangel? Wenn wir verlernten, die Dinge von innen her zu betrachten, um sie, von Zahl und Masse berauscht, sinnlos aneinander zu messen, so legte die Insel ihrem Bewohner diese längst vergessene Übung als tägliche Aufgabe auf.

Und er konnte nicht anders als sie getreulich erfüllen. Der Turm, der von der Kirche etwas abseits stand auf einem kleinen grasigen Hügel und der womöglich von einer der alten Linden um mehreres überragt wurde, schien nichtsdestoweniger dem Himmel am nächsten zu sein. Er besaß die absolute Höhe seiner Idee. Er war hoch, weil er Turm war. Und Turm an ihm waren die Quader aus trockenem, rauhem Stein, die zarten Lisenen, die sein Oberteil schmückten, und der pralle zwiebelförmige Helm aus wetterfarbenem Holz.

In unaufdringlichen Zeichen ist auf der Insel die Zeit der Vergangenheit übriggeblieben. Am Portal der Kirche ruhen auf Säulen romanische Fabeltiere. Das Kircheninnere mit gotischer Decke besitzt einen barocken Altar. Aber nichts daran ist so bemerkenswert, daß man vor staunenden Hörern darüber erzählen möchte. Die Zeit hat hier keine Triumphe gefeiert, und wenn sie sich dennoch verewigte, so nicht in ruhmvollen Werken, sondern allein im Bereich der Natur. Die Vergangenheit ist hier Natur geworden. Man möchte hier nicht mehr zwischen den Lindenbäumen und Bauwerken unterscheiden. Die Insel ist Wohnort im ausschließlichen Sinne des Wortes. Es gibt auf ihr kaum einen Fleck, der nicht zu irgendeiner Zeit die Berührung des Menschen erfahren hätte. Aber trotzdem blieb alles Natur. Es mag im Wesen des Menschenschlags liegen, der diese Gefilde bewohnt; oder ist es gar selbst die Natur, die den Menschen nach ihren Bedürfnissen bildet? Es scheint, als könne hier keine feindliche Trennung entstehen: wo auch das Geistige einem begegnet, geht es mit sinnlicher Unschuld einher, und alles Natürliche, das man hier trifft, besitzt ein geistliches Scheinen.

Noch sind die Klostergebäude von schwarz gekleideten Frauen bewohnt. Der König, der nach der Säkularisation in den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts das Kloster wieder mit Nonnen besetzte, muß die Störung des Ganzen empfunden haben, die durch den weltlichen Zweck der Gebäude entstand. Ein Schloßherr ist nicht am Platze gewesen. Für weltliches Herrentum ist die Insel zu klein. Die Ländereien, die zu den Gebäuden gehören, erstrecken sich ganz im Unsichtbaren. Nur kleine, unansehnliche Fenster erhellen die Außenwände der Trakte, und der grüne Hof, in dem eine riesige Pappel steht und den die freundlichen, lichten Fassaden umgeben, dem fernen Gebirge entgegengewandt, wird nur auf dem Uferweg durch ein in die Mauer gebrochenes Gattertor für einen Augenblick sichtbar.

So tritt die andere Welt in Erscheinung: in einer Nonne, die mit weißem Gesicht unter den Uferweiden die Stundengebete liest, im Turmgeläut oder im Chorgesang; am innigsten aber, wenn im Frühsommer an Fronleichnam die farbenprächtige Prozession zu Schiff auf dem See einherzieht.

Das Übersinnliche steht zu dem Sinnlichen nicht in Gegensatz. In gewissen Gebärden und Einrichtungen grenzt es ans Weltliche an. Auf breitem Grenzgelände vertragen sich die beiden Bereiche in freundlichster Nachbarschaft. In verschlossenen Räumen wird dem Himmel die irdische Arbeit geweiht, und das Ergebnis: ein aus Kräutern destillierter, honigfarbener Likör, dessen Güte den Ruhm der frommen Frauen begründete, die kleinen Herzen aus rotem Quittengelee und die in Model gepreßten, mit Dornenrose und Pelikan geschmückten Marzipanfladen, wird von den Gästen in altehrwürdiger Stube verzehrt.

Klein und das Obergeschoß aus Holz, so liegen die Fischerhäuschen in Grün und Blumen vergraben. Die Einwohner heben die farbige Heiterkeit, und das vom Wasser widergespiegelte Licht verleiht ihr das Geleucht eines traumhaften Südens.

Oben auf der sanften Inselerhöhung ist eine Wiese noch frei geblieben, ein uralter Lindenhain schließt sich daran an. Sonst aber ist alles von Häusern und Gärten bedeckt. Kleine Fußwege fuhren dazwischen hin, es gibt auf der ganzen Insel kein Fuhrwerk. Die Einsamkeit, das Fremde und Unerfaßliche ist hier verbannt. Eine lebenatmende, beinah gesellige Stille umfängt den Gast. Binnen kurzem ist ihm ein jegliches Haus mit seinem genau geprägten Gesicht ein Vertrauter. Nur in den Blumendschungeln liegt ein unaufhörliches Abenteuer beschlossen. Immer wieder verliert sich in ihnen das Auge des Gärtners und Gartenfreundes. Zwar findet man auch Gemüse gepflanzt, auf kleinen Beeten stehen die Sorten nebeneinander, endlich beweisend, was ein Kohlkopf, ein Kürbis, eine Tomate ist. Es wird aber nicht mehr gepflanzt, als der einzelne Haushalt benötigt. Der übrige Raum wird ganz an Blumen verschwendet. Wie einer heimlichen Abmachung nach sind die Altanen und Fenster mit dem Rot-Weiß-Blau der Petunien bebändert. Es war der immer wiederkehrende Grundton in den schmetternden Farbenakkorden der Gärten. Auch die ausgelassensten Beete wurden von ihnen gestillt: Tagetes, Phlox, Polygonon, Violen, Wicken, Malven, Geranien, Winden, Rittersporn, Gladiolen, Zinnien, Dahlien.

In dem Überschwang und Triumph der alten Bauernfarbenherrlichkeit vertrugen sich selbst die feindlichsten Töne. Ein erregender Rhythmus lag diesem Blumentheater zugrunde. Unwillkürlich mußte ich an die Stimmen aus dem Feenfest der ersten Walpurgisnacht denken. Wie in den Versen, wurden auch hier zwischen den Tutti grotesker Heiterkeit zuweilen seltsame Stimmen vernehmbar, Pimpelei mit rührender Zartheit gepaart. Mitten in dem Wachstumsgestrotz an dünnem, gebogenem Stengel reihten sich anhängerartige, wie aus Email gegossene Blüten. Es fiel mir ein: man nannte sie »Tränende Herzen«, und dann, in der von Wärme und Süßigkeit greifbar gewordenen Luft rekelte sich wie eine Opernsängerin von 1840 mit üppigem Embonpoint die längst aus der Mode gekommene Zentifolie.

Der Anblick einer Blume forderte einen unwillkürlich zur Namengebung auf. Angestrengt durchstöberte ich mein Gedächtnis, und wenn sich der Name trotz aller Bemühung nicht auffinden ließ, so hieß die Blume ganz einfach die »dunkelviolette Trichterförmige, die sich damals bei einer Kindervisite um das Gartentor rankte«, oder der »einst zum Leichenbegängnis eines kleinen Mädchens in der Hand gehaltene Strauß aus kleinen, lilafarbenen Blüten mit gelbem Staubfädenkorb in der Mitte«. Auf irgendeine Art mußte die Erscheinung der Blumen umschrieben werden.

Der Maler indessen bemerkte nichts von solchem Zusammenhang. Er saß – als alter Besucher der Fraueninsel seit langem schon selbst zu einem Naturgegenstand geworden – im Freien auf einem Feldstühlchen vor seiner Staffelei und versuchte, auf seiner Leinwand ein Motiv zu reproduzieren. Die Landschaft war deutlich erkennbar: links der Weg, und an seiner tief in den Raum hineinführenden Perspektive Gartenmauer, Kirchturm und Weiden säuberlich aufgereiht. Rechts, zum Trocknen an Pfähle gehängt, waren silbrige Netze, zwischen denen ein Fischer, wie in eine schimmernde Wolke gehüllt, seine letzten Handgriffe vollführte. Aber das Dargestellte gab von der Wirklichkeit nur den Schein. Ohne sich auffällig anzustrengen, mit der Überlegenheit, die einem ein tausendmal vollzogener Handgriff verleiht, übertrug der Maler die Farben von seiner Palette, wo sie hintereinander von hell nach dunkel gestuft in kleinen Häufchen angerührt waren, in eine den sichtbaren Dingen nahekommende Ordnung auf das Bild. Dementsprechend wurde die Turmhaube braun. Aber ach, es war nicht die unvergleichliche Farbe, die Sonne und Wind im Lauf der Jahrhunderte hervorgebracht hatten. Ein trüber und ungefährer Farbton äffte sie nach, und über der Eile des Streichens war die Prallheit der Zwiebelform verlorengegangen. Blau in hellen Schattierungen: dies war der See, ein schummeriges Weiß die Netze. Das Schmerzlichste aber rührte aus einer fatalen Ähnlichkeit, die den Erscheinungen nahetrat, ohne ihre Besonderheit zu empfinden. Auch was das Machwerk eines Dilettanten noch retten kann, die eingestandene Vergeblichkeit der Bemühung, die den Gegenstand mit einem Gewand von Liebe bedeckt, durch das er dem Betrachter bei aller Unvollkommenheit immer noch rührend erscheinen kann, sie fehlte hier ganz. Die Vergeblichkeit war mit Blindheit geschlagen und saß auf dem Thron der Eitelkeit.

Das Ergreifende des Motivs war verdorben. Der Maler bemerkte nichts von dem wie durch Leiden ausgeklügelten Widerspiel zwischen Linie und Farbe, nichts von der Art, wie es dem Weg entlang in den Raum hineinging, starr und beängstigend weit, aufenthaltlos an den Dingen vorüber, während rechts die Gestalt des Fischers von den Schleiern der Netze gefesselt war. Nur solch Einmaliges greift uns ans Herz, das einzelne in seiner möglichen Ewigkeit und seiner Verlierbarkeit für die Zeit. Demzufolge kann unsere Liebe auch nicht der Menschheit gelten, sondern immer nur einer genau bestimmten Erscheinung, der Geliebten oder dem Freund.

Ich konnte mir nicht verhehlen, daß mich das Unglück des grauhaarigen Mannes, dem ich auf den Inselwegen mehrmals am Tage begegnete, wichtiger dünkte als die Opfer des Kriegsgespenstes, von denen die Zeitung in anonymen Zahlen berichtete.

Eines Morgens sah ich den Mann auf dem Friedhof. Das Mädchen war abgereist. Er betrachtete nachdenklich einen Grabstein. Doch vielleicht war dies nur eine eingenommene Haltung, hinter der sich seine innere Abwesenheit verbarg. Es hatte nicht viel zu besagen, wenn man hier auf dem Friedhof spazierenging, denn er war für die Insel durchaus kein gemiedener Ort, sondern ein täglicher Umgang der Lebenden. Man konnte die Kirche nur betreten, wenn man ihn vorher durchquerte. Die Grabzeichen rankten sich in die Luft wie Gewächse. Ein Jahrtausend lang hatte die Erde die Toten geschluckt. Sie war dadurch fruchtbar geworden, daß sogar Eisen und Stein zu leben begannen.

Der Mann stand versunken vor einem Grab, als läge dort seine Geliebte bestattet. Nach einer Weile holte er ein Notizbuch hervor und begann in raschen Zügen zu schreiben. Aber können die Toten noch Briefe erhalten? Der Mann mußte sich selbst diese Frage vorgelegt haben, denn als er das Schriftstück beendet und nochmals überlesen hatte, zerriß er es in kleine Fetzen und zerstreute sie über den Weg. Es sah aus, als wären aus dem Erdboden kleine Blumen gesproßt; von der Schrift konnte man nichts mehr erkennen.

Als der Grauhaarige gegangen war, begab ich mich neugierig an den Ort seiner Trauer. Es war ein Grab, von Immortellen bedeckt. Ein Moosröschenstrauch umrankte den kleinen Denkstein. Dieser bestand aus einem granitenen Block, auf dessen Gipfel ein Marmorkreuz aufgestellt war. Sein pompöses Gehabe, das wohl die Vorstellung eines im Meer der Schmerzen einsam ragenden Felsriffs erwecken sollte, war indessen durch die Miniaturausgabe des Monuments beträchtlich gemildert. Eine sorgfältige Hand hatte die Ruten des Rosenstrauchs zu Schlingen gebogen. Einige aber standen immer noch wild davon ab, sich emporreckend oder herniedersinkend, als wollten sie eine maßlose Trauer zum Ausdruck bringen. Nur die glattpolierte Fläche auf dem moosbewachsenen Felslein, auf der man einen Spruch und den Namen des Gott-hab-ihn-selig eingemeißelt hatte, blieb noch inmitten des Rosengeblühes frei. In verblichenen Lettern stand da zu lesen: ... 1867.

Nur die Jahreszahl weiß ich noch, die Worte sind mir entfallen. Aber ich erinnere mich, daß eine ungewöhnliche und eigentümliche Stärke von ihnen ausging. Sie waren gewiß nicht bedeutend. Auf einfältige Art und Weise wurde etwas über das Verhältnis des Menschen zum Tode gesagt. Eine unerschütterliche Zuversicht trat darin zutage. Es war, als hätte der Tote die Worte sich selbst auf den Grabstein geschrieben. Sie machten den Friedhofbesucher auf das Sterben nahezu neugierig. Hatte der greise Liebhaber sie gelesen, als er den Brief zerriß? Doch wie ich mich auch besinne, ich kann sie nicht mehr zusammenfinden.

Gestalten und Probleme

Fünf Versuche

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