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Die Erkundung der Linie

 

 

Dem Maler Joseph Fassbender zugeeignet

 

 

J'avais la manie de n'aimer que le
fonctionnement des êtres, et dans
les œuvres que leur génération.

Paul Valéry
»Introduction à la méthode
de Léonard de Vinci«

Constantin: Vigilius, nachdenklicher Freund mit der gefalteten Stirne! Dich scheint unsre Gesellschaft allmählich zu langweilen.

Vigilius: Wie?

Constantin: Ich sage: daß wir dir anscheinend gleichgültig werden, wenn nicht gar lästig. Seit Cosmas in seiner wohlgesetzten Rede jene unwiderlegbaren Erklärungen abgegeben hat, wodurch unser Gespräch schließlich beendet wurde – und seitdem ist geraume Zeit verflossen –, sitzest du schweigend da, zeichnest auf einen Briefumschlag, ich weiß nicht was, und übersiehst uns geflissentlich.

Vigilius: Aber höre doch! Du irrst! Ich kann dir versichern, daß mir eure Gesellschaft angenehmer denn je ist, und mein Schweigen darf gewiß nicht als ein Anzeichen von Überdruß gedeutet werden.

Constantin: Schon gut! Nimm meinen Vorwurf nicht allzu ernst. Aber es wollte mir scheinen, als hättest du dich in einer so völligen geistigen Abwesenheit befunden, daß es, wie ich glaubte, nötig war, etwas starke und etwas laute Worte zu finden, um dich dort überhaupt zu erreichen ... Aber nun laß sehen, was du mittlerweile gemacht hast!

Vigilius: Hier!

Constantin: ... Wie? Ist dies dein Ernst? Was soll dies heißen? Wo ist denn der Scharfsinn geblieben, mit dem du vorhin noch, während unseres Gespräches, deine Gedanken ausgedrückt hast? Widersinniges Gekritzel! Wer in aller Welt soll daraus klug werden? ... Kreise, die sich ineinanderschlingen, Bruchstücke von Kreisen; andere wieder, die sich an Linienbündel lehnen; Querstriche und Parallelen, die sich kreuzen; Geflochtenes, Geschupptes; Striche, die plötzlich grundlos abbrechen; andere, die nach scharfer Biegung rückwärtskehren ... Von welcher Seite aus soll dies Machwerk denn überhaupt betrachtet werden? Was sollen diese Striche hier bedeuten? Ich glaube hier einen Pfeil zu erkennen, aber wenn ich das kleine Papierchen drehe, so ähnelt das Ding einem Blütenkelch mit langem Stempel ... Dann bemerke ich hier von ungefähr einen Buchstaben, ein S in lateinischer Schrift; dort einen Augapfel, daneben eine Beere; was aber alles genauso gut etwas anderes vorstellen könnte. Wahrlich, nicht viel! ... Ich habe Unsinn noch nie auf solch vollkommene Art ausgedrückt gesehen wie hier. Und zu diesem Tun mußtest du noch eine solch nachdenkliche Miene aufsetzen?

Cosmas: Freund, halte ein! Ich traue deinem Urteil nicht ganz. Deine Meinung ist vorhin durch unsere Worte der Unrichtigkeit überführt worden, und so muß ich annehmen, daß dein Geist, in seiner Eitelkeit getroffen, wahrscheinlich ohne daß du es weißt, sich noch nicht genügend erholt hat, um schon die seltene Fähigkeit wieder erlangt zu haben, die ein unbefangenes Urteil über irgendeine Sache fällt. Nimm mir dieses Mißtrauen nicht übel! Es ändert an der Wertschätzung deiner Person nichts, sondern richtet sich bloß gegen die allgemeine Schwachheit der menschlichen Natur. Aber laß mich das verrufene Blatt jetzt selber betrachten.

Constantin: Hier! Sieh es an!

Cosmas: Ach! Dachte ich es doch! Wie? Hast du an diesen dunklen Deutlichkeiten nur das Dunkle gesehen? An diesen verschwiegenen Reden nur die Stummheit bemerkt? Diese Zeichen sind wie Hieroglyphen: mit verborgenem Sinn, aber mit Sinn so geladen, daß sie meinen betrachtenden Geist aufregen und bannen.

Constantin: Du irrst. Jene ägyptischen Zeichen waren genau bestimmten Bedeutungen unterworfen. Wenn auch unverständlich für lange Zeit, hatten sie doch einen Sinn, den man eines Tages enträtseln konnte. Diese Zeichen hier aber sind die Sinnlosigkeit selbst.

Cosmas: Gleichwohl! Sie ziehen mich an, als wirke eine geheime Magie aus ihnen.

Constantin: Du mußt mir erlauben, dies Wort zu verachten. Ich habe schon allzuhäufig erfahren, daß sich alles unter ihm verbirgt, was sich scheut, seinen Unverstand offen zuzugeben.

Cosmas: Aber so lasse dich doch wenigstens herbei, zu unterscheiden! Trenne doch genau zwischen Unverstand und Unverständlichkeit.

Constantin: Wie das?

Cosmas: Nun, etwas braucht nicht unverständig zu sein, weil du es nicht verstehst. Oder willst du behaupten, daß die Fassungskraft selbst der ausgebildetsten Vernunft das Maß sei, an dem alle Dinge zu messen sind? Bedenke, es gibt Erscheinungen, die durch den Zugriff unserer Vernunft unkenntlich werden wie das gebrechliche Gewebe einer Qualle, wenn eine Hand es aus dem dämmrigen Bereich des Wassers holt, um es in der Beleuchtung der Luft zu untersuchen. Eine solch scheue Erscheinung, gleichsam nur versteckt zu beobachten, ist auch dieses Gebilde hier ... Und das Auge der Erkenntnis, gewohnt an die mittägliche Helligkeit, in der es sonst zu unterscheiden liebt, wird, bevor es hieran das Sinnvolle ausfindig machen kann, gezwungen, sich umzustellen und sich erst zu gewöhnen an die Umgebung des unsicheren dämmrigen Stoffes, in dem allein es sich bewegen kann. Einen Andrang von scharfen hellen Fragen erwidert es, wie du gesehen hast, indem es zergeht. Die Ahnung allein begreift es.

Constantin: Und was also ahnst du vor diesem Wirrsal von Linien?

Cosmas: Spuren der Bewegungen einer Seele! Verzagen und Sehnsucht; Versuchungen, Furcht, Ruhe, Melancholie, Verzweiflung; Zuversichten und Müdigkeiten! Diese Linien umschreiben die Bewegungen einer Welt, der nichts Gegenständliches unterlegt ist. Das Einsetzen von Sichtbarem bleibt dem Betrachter überlassen. Und nun: welch ein unerschöpflicher Reiz, die eventuellen Bezüge zu erwägen! Muß die Linie durchaus einer Anschauung dienen, die du in der Wirklichkeit draußen zu haben geruht hast? Sollte es ihr nicht einmal erlaubt sein, geleitet von einer erregten Seele, ein gestaltloses, aber liebenswürdiges Spiel für sich zu beginnen? Es ist wahr: es gefällt ihr dabei, unsere Vernunft ein wenig zu foppen. Aber ehe wir uns davon abwenden wollen, empört, scheltend, fühlen wir uns insgeheim auch schon bezaubert von ihren kaum vorherzusehenden Erfindungen. Und wir machen gerne, befreit von jedem Zwang, den das Gegenständliche uns auferlegt, an Hand des topographischen Planes, den die Linien bilden, eine Reise ins Land des ungetrübten, des reinen, des besseren Empfindens. Wollt ihr mir folgen? ... Verlaßt den Zustand gefühlloser Ruhe! Gebt euch hin an ein Erregtsein! Seht! Wir leisten, dem Lauf einer Linie folgend, die uns lockt, die Bewegung! Wir wandern! Beschwingtes Gefühl! Wir wandern, bis die Linie sich unterbricht, und rastend blicken wir nun zurück, wie weit wir schon sind: unsere Augen verfolgen die Gegenbewegung. Welch überwundene Ferne! ... Aber wir brechen wieder auf und stoßen schließlich weiterziehend auf ein ganzes Bündel von Linien, allwo wir überlegen, wohin wir uns wenden sollen. Abenteuerliche Entschlüsse! Der Weg, den wir einschlagen, führt uns zu einigen wellenförmigen Strichen. Wie? Ein Fluß will uns hindern? Kühn bedienen wir uns eines Bootes. Erst beim Übersetzen bemerken wir, daß weiter oben sich die Bogenreihe einer Brücke befunden hätte. Wieder an Land, begegnen wir etwas Rundem und Geflochtenem: Korbflechter kehren heim auf ihrem Wagen. Am Horizont ist die Zickzacklinie eines Blitzes. Zieht ein Gewitter an? Über uns ist noch die Punktsaat der Sterne. Kehren wir lieber rechtzeitig heim! ... Anmerkung: Die Reisebeschreibung entspricht einigen Notizen des Malers Paul Klee.

Vigilius: Besten Dank für diese sinnige Auslegung. Aber teurer Cosmas! Willst du mir glauben, daß ich, als mein Zeichenstift diese Linien zog, nicht einmal von ferne an diese reizenden Dinge gedacht habe?

Cosmas: So denn an etwas anderes. Tatsache ist es, daß dieses Gespinst von Linien durch die Verteilung und Anordnung seiner Figuren sich stark genug erwiesen hat, um meine Imagination zu erregen. Ist damit der von Constantin erhobene Vorwurf von Sinnlosigkeit nicht entkräftet?

Vigilius: Allerdings! Eine Ehrenrettung hast du vollbracht. Du hast dieses Gebilde nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu gerühmt. Aber wie? Wodurch? Und mit welchem Hinweis?

Cosmas: Ich erkannte es als etwas Inkommensurables, als etwas, das mit der Undurchsichtigkeit eines Gefühls handelt; als etwas, das seinen Sinn nicht irgendwoher entleiht, sondern ihn ausschließlich in sich selbst trägt; das mit einer fraglosen Sicherheit recht tut, ohne sich um Unterscheidungen von recht und falsch zu kümmern.

Vigilius: Gut! Aber du selbst hast gesagt, daß die Zahl der Erscheinungen groß ist, die, auch wenn von verschiedener Gattung, sich doch in dieser Hinsicht gleichermaßen verhalten; scheue Erscheinungen hast du sie genannt, die sich unserer Vernunft entziehen, die nichts Bestimmtes erkennen lassen und nur als Erreger von Empfindungen zu betrachten sind. Ich kenne Worte von Dichtern, die, obwohl sie rätselhaft und zusammenhanglos erscheinen, gleichwohl imstande sind, die heftigsten Erschütterungen des Geistes hervorzurufen. Und ich kann mir bloße Zusammenstellungen von Farben denken, von welchen eine ganz ähnliche Wirkung ausgeht, wie sie von diesen Linien auf dich ausgegangen ist. Du weißt, ich habe in einem meiner Zimmer eine Farbentabelle aufgehängt, bei deren Betrachtung ich oft die intensivsten Vorstellungen und Empfindungen erlebe. Und dies, ohne daß die Erregungen des Geistes mit den rechteckigen Mustern der Farben in irgendeinem notwendigen, ich meine objektiven Zusammenhang stehen. Die Farben gelten in diesem Fall nur als Anlässe, die, von der Außenwelt her auf dem Weg über den Gesichtssinn eindringend in den Geist, dessen Ruhe in Bewegung verwandeln. Die Richtung dieser Bewegung aber wird von ihm selber angegeben, und sie endet schließlich in Gedanken, die, von unberechenbaren Zufällen bestimmt, keineswegs aus jenen Farben an sich zu folgern sind. Ein und dieselbe Farbe vermag zu verschiedener Zeit meinen Geist ganz verschieden zu erregen. Er zeigt sich stark genug, um einige Data durch Bezüge zu verknüpfen, die er frei erfindet. Der Genuß wird hier zu einer neuen Leistung des Geistes ... Indem ich aber vorhin diese Striche hinzeichnete, habe ich mir vorgenommen, mit ihnen eine Wirkung zu erzielen, wie sie einzig und allein nur von den Linien selbst ausgehen kann. Diese meine eigentliche Absicht, diese zugleich erste und ursprüngliche Absicht der Linie überhaupt hast du, mein Lieber, mit deinen Erklärungen nicht berührt.

Cosmas: So sage also: Was hast du damit beabsichtigt?

Vigilius: Etwas sehr Bestimmtes anstatt des Unbestimmten, das dir Anlaß gab zu deinem Spiel der Gefühle; etwas sehr Eindeutiges anstatt des Vieldeutigen, das du empfunden hast. Denn glaubst du nicht, daß ein anderer diese Zeichen nicht wieder anders auslegen wird als du? Daß er nicht Gedanken dabei haben wird, den deinen ganz unähnlich?

Cosmas: Gewiß!

Vigilius: Ja, ich muß dir offenbaren, mein Teurer, daß deine Seele sich an den frostigsten Handlungen meiner Vernunft zu wärmen gesucht hat.

Cosmas: So staune! Es ist ihr gelungen.

Vigilius: Vielleicht war unmerkbar und auf irgendeine Weise auch meine Seele an diesen Handlungen beteiligt. Doch kann ich dir versichern, es ging dabei vor allen Dingen um die Schärfe des Geistes.

Constantin: Unmöglich! Diese konfusen Zeichen sollten ein Ausdruck von Geistesschärfe sein?

Vigilius: Gewiß! Warte doch ab, was ich sage!

Constantin: Wozu noch Erklärungen? Ein Unsinn wird nicht vernünftiger, wenn man ihn kommentiert.

Vigilius: Aber vielleicht begreiflich. Bin ich doch überzeugt, daß der erste aller Gedanken aus der Keimzelle des Aberwitzes hervorgegangen ist. Es gibt einen Zustand des Geistes, in dem ihm jede Erfahrung abgeht, da Sinn und Unsinn ein unteilbares Ganzes bilden, welches erst getrennt werden kann, wenn der Geist in einen folgenden zweiten Zustand eingetreten ist, durch den sich die Vergleichsmöglichkeiten ergeben. Alle Gebilde des menschlichen Geistes lassen ihre Herkunft geradlinig oder auf Umwegen auf jenen ursprünglichen Geisteszustand zurückverfolgen, in dem die Gegensätze noch eine trübe Mischung bilden; und sie zeigen, gegen das reine Licht der Vernunft gehalten, irgendwo immer noch diese geheimnisvollen Stellen von Trübungen, um die herum sich die klaren Flächen ihrer Kristalle angesetzt haben.

Constantin: Es mag sein, und ich störe mich auch nicht daran, solange diese Art von Sinnlosigkeit nicht an das Licht des Tages tritt. Sobald sie mir aber begegnet, um ihre Pose eitel in den blanken Spiegel meines Bewußtseins zu werfen, erregt sie in mir eine Erbitterung ohnegleichen.

Cosmas: Wieso das?

Constantin: Ihr Auftreten bedeutet die Verwirrung des Unterschiedenen. Bedeutet das nicht eine Rückkehr ins Nichts?

Vigilius: Du fürchtest dich vor diesem?

Constantin: Ich kenne nur sein Gegenteil: die Fülle der unterschiedenen Vorhandenheiten.

Cosmas: So hast du es selbst nie kennengelernt?

Constantin: Nein. Gleich, in welcher Maskerade es mir auch begegnen mag: als Gefühl, als Begriff, als Ereignis – es hat keine Macht über mich.

Vigilius: Du kennst also nicht jenes gestaltlose Grauen, du hast noch nie jene Leere und Kälte gespürt, die einen Augenblick lang, aber bedrohlich genug, in mir geherrscht hat, bevor ich die Fläche dieses Papieres mit meinen krausen Zeichen bedeckte? ... O Freund! Ich habe damit das Gegenteil getan von dem, was du glaubst, daß ich getan hätte. Ich bin dem Nichts entflohen; ich habe es besiegt.

Constantin: Erkläre dich näher. Ich begreife noch nichts.

Vigilius: So höre zu und suche zu verstehen, in welchem Zustand ich mich vorhin befunden habe. Es wird dir schwerfallen, ihn dir auch nur halbwegs vorzustellen, wenn du, wie du sagst, ihn noch nie hast erdulden müssen. Aber glaube! Mir war zumut, als sei mit dem Wort, das als Letztes unsere vorige Unterhaltung beschloß, der letzte Gedanke, die letzte Empfindung zugleich aus mir hinweg entwichen. Das einzige, was ich noch fühlte, war eine grenzenlose Unfähigkeit. Selbst meine Sinne waren mir verschlossen, und es war mir versagt, die Öde meines Geistes zu verlassen und durch sie in die Welt der Körperlichkeit hinauszutreten. Ich sah, was ihr auch sahet: eingerahmt von dem dunklen Gerüst des Fensters, zwischen den abendlichen Rändern seiner Ufer den Spiegel des Sees, heller als der verblassende Himmel, als hätte er einen Teil des entschwindenden Lichtes eingefangen. Aber ich sah dies anders als jetzt. Das liebe Bild blieb gleichsam auf der Oberfläche meiner Augen hängen. Mein Bewußtsein weigerte sich, es aufzunehmen. Ich hätte die Lider schließen, hätte in diesem Augenblick blind werden können, ohne einen Verlust zu bemerken. Da erkannte ich mich auf diesem kleinen Stück Papier, dessen Weiße unter den Dingen, die es umgaben, vom Abendlicht satt und dunkel gefärbt, und die ich jetzt erst wieder erkenne – dessen Weiß-sein also auf dem dunkel gemaserten Holz der Tischplatte, neben dem blauen Leib der Vase, aus dem die einzelne Rose hervorquillt, neben der die grünen Feigen enthaltenden Fruchtschale, neben dem flaumigen Brot dort und sogar neben dem weißen Ei verharrte, als existiere es unabhängig von einem Gegenstand, als bilde es unter all diesen so unbezwingbar in ihrer Gegenständlichkeit verweilenden Dingen einen Bezirk aus nichts. Ich erschauerte. Ausgeschieden aus dem Organismus der Wirklichkeit wie ein Fremdkörper, verlassen, wie ich war von den Empfindungen meiner Person, von Wunsch und Sättigung, von Liebe und Haß, von Freude und Trauer, erfüllte mich einzig ein gegenstandloses Verlangen nach irgend etwas Wahrnehmbarem, an dessen Spur ich mein Dasein hätte bestätigt finden können. Aber dies Zeichen – Kunde meiner selbst –, das mit seiner Anwesenheit die Abwesenheit meines Seins durchstrichen hätte, konnte nicht anders, als sein Wesen aus der Wesenlosigkeit selbst bilden. Ich zeichnete auf die unermeßlich abgründige Leere dieses Papiers eine Linie, die, entsprungen jenem verborgenen Drang, der bildend an die Stelle des Nichts die Hinterlassenschaft eines Wollens setzt, zunächst von keinem anderen Willen beseelt war als von dem, zu scheiden. Die Linie war da und trennte. Das Nichts, das sie durchstrich, war in zwei Hälften geteilt. Die Schwierigkeit, es vollends zu überwinden, verminderte sich mit den nächstfolgenden Linien, deren jede das Bewußtsein meiner selbst so überaus stärkte, daß mein anfangs mühsames und zweifelhaftes Unternehmen dahin kam, mir Unterhaltung und Vergnügen zu bereiten. Ich war darauf aus, meine notwendige Aufgabe mit möglichster Anmut zu lösen. Erleichtert, als erst das Netz von starren, teilenden und sich schließenden Strichen das Gähnen der Leere überspannt hatte; zurückgeführt in die Welt der Bestimmtheiten, begann ich, meinem Tun eine Reihe von Absichten beizulegen, die mir zu erlauben ich anfangs unfähig war. Ich versuchte, noch hart am Rande des Nichts, aber doch schon auf dem festen Grund der linearen Begrifflichkeit, die unsichere Gestalt einiger Anschauungen, die wieder anfingen mich zu besuchen, in mein Gebilde einzuführen. Und hättest du, o Freund, mich nicht vorzeitig unterbrochen: wer weiß, ob du dann an Stelle dieser zunächst nur für mich Gültigkeit besitzenden Zeichen nicht etwas hättest sehen können, was deiner Wahrnehmungslust genügt haben würde: das Abbild irgendeines Gegenstandes.

Constantin: Gut! Doch ich suche vergeblich in deinen Worten den versprochenen Aufschluß zu finden über die besondere Wesensart, die die Linie nach deiner Meinung besitzen soll.

Vigilius: Warte! Ich war vielleicht allzusehr damit beschäftigt, den Zustand zu erklären, in dem ich mich befunden habe, bevor ich diese Linien aufzeichnete. Aber es dünkt mich, als könnte man, als könnte zumindest derjenige, der diese Umstände kennt, von ihnen aus leicht auf diese Eigentümlichkeit schließen. Betrachte die Rückseite dieses ungebrauchten Briefumschlages! Sieh dieses völlige Leersein, das der Weiße des Papiers nicht einmal gestattet, eine Farbe zu sein. Ich zeichne darauf eine Linie. Sie rundet und schließt sich. Was geschieht? Das Nichts: plötzlich zerfällt es in zwei Bezirke, die sich zueinander derart entgegengesetzt verhalten, daß das Ganze, rein infolge dieser Gegensätzlichkeit, aufhört, nichts zu sein. Du bist geneigt oder sogar gezwungen, in der von der Linie umschlossenen Fläche etwas anderes wahrzunehmen als in dem, was außerhalb ihrer ist.

Constantin: Aber sagtest du nicht, du hättest vorhin als erste eine beliebig anfangende, und beliebig zu Ende gehende Linie aufgezeichnet? Nun beginnst du mit einer, die, fast als ein Kreis, wieder zu sich selbst zurückkehrt.

Vigilius: Ich wollte dir die Einsicht dadurch etwas erleichtern. Aber versuche es nun zu begreifen, daß auch durch diese meine erste beliebige Linie, die aus einer weit geringeren Fähigkeit entsprang als der, die nötig ist, um einen Kreis zu runden, die Wesenlosigkeit dieser weißen Fläche in zwei Verschiedenheiten gespalten wurde, die sich darstellen als die eine Seite und als die andere Seite. Wie geschah dies? Indem ich, einem geheimen Wollen gehorchend, diese wellenförmig beginnende, gerade fortfahrende, eine leichte Wendung begehende und wieder aufhörende Linie zog, verübte mein Geist eine Verrichtung, die den Anbeginn aller seiner Tätigkeiten darstellt. Die Linie schied. Sie entscheidet, sie unterscheidet. Sie lebt von nichts anderem. Sie ist eine unmittelbare Erscheinungsweise des menschlichen Geistes: transzendent wie eben dieser, da sie ja beliebig dünn gezogen sein kann und ihr Dasein nur durch ihr Tun und durch ihre Wirkung bestätigt, – sinnlich aber dennoch in ihrem Gestaltetsein wie nur irgend etwas Reales. Und wenn dir mein Gefüge von Linien als Unsinn erschienen ist, so nur deshalb, weil ich sie nicht auf etwas anwandte, sondern nur um ihrer selbst willen geübt habe, um mir dadurch meines durch die Empfindung des Nichts in Frage gestellten Geistes wieder bewußt zu werden.

Cosmas: Weißt du, daß du mit diesen Worten zugleich die besondere Wirkung erklärt hast, die von linearen abstrakten Ornamenten ausgeht? Ich wenigstens werde immer auf äußerst starke Weise von einem solchen berührt, und ich kann nun auch sagen, wie diese Wirkung zustande kommt. Es ist der erfindende Geist, der aus der Unbestimmtheit und Formlosigkeit seines Ruhens heraustretend, spielend mit einer Unerschöpflichkeit von Kräften, Einfällen und Launen, die Leere bezwingt, ihrer spottet und dadurch unser Bewußtsein in jene prickelnde Erregung versetzt, aus der dessen eigene Erfindungen hervorgehen.

Vigilius: Es verhält sich, wie du sagst.

Constantin: Aber so spitzfindig sich die Ornamente auch geben mögen, so ermüden ihre Reize doch auf die Dauer. Die Unerschöpflichkeit ihrer möglichen Zusammenstellungen ergibt immer nur ein und dieselbe Wirkung, die mich schließlich langweilt. Die Linie, sich selbst überlassen, genügt sich auch selbst und bleibt im rein Formalen, und so kommt es, daß auf der Skala der Empfindungen immer der gleiche Ton angeschlagen wird, nämlich die Empfindung einer mehr oder weniger überzeugenden, immer abstrakten Ordnung.

Cosmas: Gewiß! Ich gebe zu: die Wirkungsart der Ornamente ist eng begrenzt. Aber innerhalb dieser Beschränkung – und das ist die Belohnung, die sie gibt – zeigt sich eine Schönheit rein und vollkommen. Losgelöst von jeder stofflichen Absicht, erwecken die Ornamente eine von jedem nicht ästhetischen Interesse befreite Erregung.

Vigilius: Man könnte vielleicht das Ornament bezeichnen als die Lehre der Linie, durch die sie ihrer Kräfte und Fähigkeiten bewußt wird. Dies geistreiche Spiel der Bestimmungen, die nichts Konkretes bestimmen, der Begrenzungen und Unterscheidungen, die weder etwas begrenzen, noch etwas unterscheiden, wenn nicht sich selbst; – diese Gefallsucht, der aber die Linie mit einer Eleganz nachhängen kann, die auch du, Freund Constantin, ihr zugestehen mußt, verwandelt sich in ein ernsthaftes Tun, begleitet von Versuchen und peinigenden Mißerfolgen, bestimmt von Klugheit, Ausdauer und Mut, wenn sie sich vornimmt, eine sichtbare Wirklichkeit nachzugestalten.

Cosmas: Ich bin neugierig, Näheres darüber zu hören. Du hast sicher nicht umsonst Mappen voll auserlesener Zeichnungen gesammelt.

Constantin: Mache dich also nicht allzu kostbar und rücke mit deinen Erklärungen heraus.

Vigilius: So gebt acht und blickt einmal durchs Fenster! Ich will ein Beispiel vorführen. Seht, wie der eingebrochene Abend die Landschaft zu wenigen großen Zügen vereinfacht! Was erkennt man? Zwischen zwei etwas helleren Flächen eine dunkle, fast schwarze: zwischen den Helligkeiten des Himmels und des Seespiegels die finstere Masse der Berge. Ich habe rasch hingeschaut und dann mein Auge wieder davon abgewendet. Nehmen wir nun an, ich könnte infolge eines widrigen Geschicks die von uns so überaus geliebte Landschaft nie wieder sehen und hätte auch nie die Gunst erfahren, sie bisher zu betrachten: was bliebe mir dann nach diesem flüchtigen Anblick in der Erinnerung haften? Wendet euch gleichfalls ab vom Fenster! Prüft nach! Was habt ihr bemerkt? Einzig den Eindruck von drei optisch verschieden wirkenden Flächen und vielleicht ein ungenaues Gefühl einer abendlichen Stimmung, das dieser Landschaft nur als seiner zufälligen Erregerin verpflichtet wäre. Mein Auge, dem ich während des Hinsehens willenlos nachgab, hat entsprechend seiner Natur nur das grobe Augensinnliche wahrgenommen: den Gegensatz von Helligkeit und Dunkelheit. Wollte ich jetzt, abgewandt vom Fenster und alle früheren Erfahrungen vergessend, nur diesen eben erhaltenen Eindruck bildlich darstellen, so könnte ich auf irgendeiner Fläche nur drei verschieden getönte Flecke anlegen, deren Grenzen sehr unsicher wären, und die auf jeden Fall keine Vorstellung von der Landschaft da draußen erweckten. Mein Auge hat von sich aus mir das verehrte Bild nicht in die Erinnerung geprägt. Wie aber kommt es nun, daß ich gleichwohl von dieser Landschaft eine sehr genaue Vorstellung besitze; eine Erinnerung, deren Gegenwart mich nie verläßt, die in mir auftaucht, haarscharf und bereit zum Vergleich, wenn ich etwa angesichts der hochtrabenden Gebilde eines Hochgebirges in Gefahr sein sollte, mich durch einen Reisegefährten von Herrlichkeiten überzeugen zu lassen, die mich nichts angehen, – die mir vor Augen schwebt, beruhigende, tröstliche Vorstellung, wenn ich aus irgendwelchen Gründen gezwungen bin, mich auf unwirtlichem plattem Lande aufzuhalten, – die so scharf und lückenlos in meinem Geiste haftet, daß ich in Stunden der Muße meiner Sehnsucht nachgebend sie aufzeichnen kann? Wie, meine Freunde, geschieht dies?

Constantin: Ich kann nicht umhin, dies Wunder anzustaunen. Du ein Maler? Ich wäre schon neugierig zu wissen, wie eine solche Zeichnung von dir aussieht. Wenn ich nun auch die Gründe anerkenne, die dich zu dem vorliegenden und mir einzig bekannten Gebilde veranlaßt haben, so bist du doch noch weit entfernt, damit den Beweis deiner Fähigkeit erbracht zu haben.

Vigilius: Spötter, der du bist! Wie geht es, daß ich deine rastlose spitze Zunge nicht mehr reize? Muß ich besonders hervorheben, daß ich mit einem Gewissen behaupten darf, so rein, wie es nun bei Menschen einmal sein kann, daß ich in dieser Hinsicht nie einen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit verfolgen wollte? Mir ist die Begabung des Bildens versagt. Ich gestehe dies nicht ohne Bedauern ein; denn diese Kunst erscheint meinem Geist als das ideale Feld, auf dem sich zu beschäftigen er zuweilen sehnsüchtig träumt. Seine liebsten Bestrebungen wenden sich dorthin, um aber jedesmal wieder unverrichteter Dinge zurückkehren zu müssen, gleichwohl durch diese Ausflüge in ihr Wunschland auf seltsame Art gekräftigt, als hätten sie von dort eine unbekannte Nahrung bezogen, und jedesmal hernach leichter bereit, sich den Verhältnissen, die ihnen die Beschaffenheit meines Wesens auferlegt, aufs neue unterzuordnen. Es will mir scheinen, als genüge es, um das Selbstbewußtsein des Geistes zu befriedigen, daß man zum Beispiel die Art und Weise kennt, wie ein Gemälde zustande kommt. Es wirklich zu erzeugen ist eine Angelegenheit der persönlichen Kapazität, ist als etwas individuell Zufälliges, das nicht erworben werden kann, von sekundärer Bedeutung, ja, in ausschließlich geistiger Hinsicht betrachtet, belanglos; während es hingegen möglich sein muß, die Erkenntnis dieser Methode, die als Möglichkeit im allgemeinen Wesen des menschlichen Geistes begründet ist, durchaus rein und klar zu gewinnen.

Cosmas: So ungefähr wie jeder Mann um den Vorgang der Zeugung weiß, ohne daß daraus zu folgern wäre, ob seine Zeugungskraft gering ist oder groß, ob er sie anzuwenden gedenkt oder nicht.

Vigilius: Durchaus! Freund Constantin, du wirst mir also sicherlich eine Betätigung zugestehen wollen, die zuweilen einer privaten Neugierde dient, und der ich zwar keine maßgebenden Werke, doch dafür die eine oder andere nicht ganz unwichtige Einsicht verdanke. Hätte ich zum Beispiel nicht einmal eines dieser Blättchen mit nach Hause gebracht und, auf der Fensterbank sitzend, wie du jetzt, es nicht mit der Wirklichkeit verglichen, mir dabei allerlei Gedanken machend: – wie könnte ich nun so leicht dazu kommen, dir Dieses und Folgendes zu sagen? Ich erblicke nämlich auf einem solchen Zettel ein Gebilde, das, wie ich mit einer gewissen Freude feststellte – du wirst sie zwar wieder als Eitelkeit brandmarken –, ein genaues Bild des vor mir liegenden Geländes gab, aber zugleich mit der Wirklichkeit, die sich dem Auge bot, nicht das geringste gemeinsam hatte. Es war keine ihrer Farben zu sehen; kein Schatten, kein Licht; die Stellen des Bodens, die der Luft: alle waren auf dem Papier von gleicher Beschaffenheit. Sie waren leer und weiß, und da und dort von ein paar Strichen durchzogen. Anderseits fand ich von dem, womit mein Blatt ausschließlich bedeckt war: von den Linien nicht die kleinste Spur in dieser Einigkeit von Himmel, Bergen und See.

Constantin: Nun, was willst du damit sagen? Es gebe in der Wirklichkeit keine Konturen? Das ist hinlänglich bekannt. Die größten Maler haben ihren Ehrgeiz und eine unendliche Mühe daran gesetzt, sie aus ihren Bildern zu entfernen.

Vigilius: Du nennst diese Maler die größten. Du siehst also ab von jenen, die sich damit begnügten, die Leinwand mit einer Oberfläche, die aus nicht näher bestimmten farbigen Eindrücken zusammengesetzt ist, gleichförmig zu überziehen. Die anderen aber, an die du denkst, und denen es gelang, die Konturen zu überwinden und dennoch eine Form deutlich und begreiflich erscheinen zu lassen, die es fertigbrachten, auf das durchscheinende Gerüst der Perspektive zu verzichten und dennoch in ihren Bildern eine genaue räumliche Tiefe zu schaffen: diese Maler erreichten eine solch erstaunliche Täuschung nur, indem sie die größten Anstrengungen an jene Stellen wandten, wo die Konturen zu Recht erscheinen sollten. Bedenke auch, daß die Wirkung der Farben und die Wirkung des Gegensatzes von Hellem und Dunklem zum großen Teil von der genau erwogenen Grenze ihrer Ausdehnungen abhängt; und bedenke ferner, daß du als Betrachter eines Gemäldes eben diese hinter farbigem Leuchten und gemaltem Duft zurücktretenden Grenzen zunächst wieder feststellen mußt, wenn dir das Kunstwerk, nachdem deine Augen die Töne und die Verteilungen der Farben genossen haben, eine deutliche Erinnerung, ein ständig gegenwärtiger Besitz im Geiste werden soll. Diese Maler, von denen du sprichst, waren der Linie feindlich gesonnen, weil ihr Erscheinen die Mühe verraten hätte, durch die ihr gestaltender Geist die Wirklichkeit erfaßte. Eine Vermengung in ihren Werken von schließlich beglücktem Sein mit den sichtbaren Spuren der Künstlichkeit, durch welche dieses hervorgebracht worden: Täuschung, aber höheres Sein zugleich, gemessen an den wirklichen Erscheinungen der körperlichen Welt – wäre ihnen, die aus Mühsamkeit heraus die Leichtigkeit verehrten, unrein und mißglückt erschienen. Und so verkleideten sie die Anstrengungen ihres Geistes mit allen Lockerungen der sinnlichen Übergänge. Aber sicher hat niemand etwas genauer und etwas mit schmerzlicherer Schärfe von der unerläßlichen Methode der Linie gewußt als diese vom Flimmern des Scheines so überaus entzückten Maler, die imstande waren, das Vorhandensein der Linie derart zu verheimlichen, daß die bekannten Sperlinge herbeiflatterten, um von gemalten Trauben zu kosten ... Blicke aber nun nochmals durch unser Fenster ins Freie, damit ich dir, was ich meine, vor Augen halten kann! Nimm dir vor, die Landschaft, die du dort siehst, so eindringlich zu betrachten, daß nachher, wenn es vollends Nacht ist, du eine genaue Vorstellung von ihr besitzest. Sage und erkläre mir, bitte, wie du dies anstellst.

Constantin: O, was für eine heikle Angelegenheit willst du mir da aufbürden, mein Freund! Verschone mich damit! Weder vermag ich zu tun, was du von mir verlangst, noch spüre ich auch nur die geringste Lust, nach einer Fähigkeit, durch die ich dies vermöchte, in mir zu forschen oder mir eine solche durch umständliche Übung anzueignen. Wozu auch? Ich lebe nicht dieser Landschaft zuliebe. Ich weide meine Augen gerne an ihrem Dasein; aber wenn mir ihr Anblick durch irgendwelche Umstände entzogen wird, so lasse ich es darauf beruhen und wende meine Aufmerksamkeit jenen Dingen zu, die an seine Stelle treten. Alles zu seiner Zeit! Soll ich vielleicht meine Nächte damit hinbringen, indem ich mich bemühe, mir etwas zu vergegenwärtigen, was morgen bei Tageslicht sich mir von neuem zeigt, und soll ich darüber alles versäumen, was den Stunden der Nacht vorbehalten ist?

Cosmas: Was ist ihnen denn Besonderes vorbehalten, das zu versäumen so unverzeihlich wäre?

Constantin: Alles, was dem Tage gewöhnlich fehlt: Theater, Musik, der Tanz, der Umgang mit Frauen und schließlich das Beste: der Schlaf. Es geht mir keine Stunde vorüber, deren besondere Gelegenheiten ich nicht völlig erschöpfen möchte.

Cosmas: Wie aber geschieht es dann, daß du, anstatt dich irgendwo zu ergötzen, mit Aufmerksamkeit einem Gespräch folgst, das dich bei der Haltung deines Lebens so offensichtlich wenig angeht? Wirst du damit dem angeblichen Gebot, das dir die Stunde jeweils auferlegt, nicht untreu?

Constantin: O nein! Ich folge ihm nur. Die Aufmerksamkeit, die ich anwende, belohnt mich mit einem Vergnügen, das selten genug ist, um diese geringe Anstrengung aufzuwiegen. Ich bin gerne dort, wo es etwas Anziehendes zu hören gibt. Es bereitet mir zuweilen ein unbeschreibliches Vergnügen, zu verfolgen, wie ein Gedanke oder vielmehr die Möglichkeit eines Gedankens aufsteigt; wie er, zunächst noch unsicher, Gestalt annimmt, sich ausbreitet, noch doppeldeutig, noch rätselhaft; zu erfahren, in welche Worte er sich kleidet, welche Vergleiche er besteigt, um sich verständlich zu machen; und zu erleben, welch unabsehbare Reihe von weiteren Gedanken herbeikommt, um ihn zu nähren, bis er rund und leiblich dasteht. Dabei kümmert es mich wenig, wenn gegen meine eigene Art geredet wird. So wäre ich meinem Grundsatz erst untreu geworden, falls ich versucht hätte, die Aufgabe, die mir Vigilius gestellt hat, zu lösen. Was wäre mir dadurch nicht alles entgangen! Ungezählte Minuten, da ich, beschäftigt mit vergeblichen Bemühungen, die Schärfe und die Eleganz, die Weichheit und die Härte, die Sicherheit und die Schwierigkeiten eurer beredten Zungen nicht gehört hätte. Ihretwegen bin ich hier. Ich liebe die Gespräche. Aber ich ziehe es vor, mich dabei auf den ruhigen Posten eines Zuhörers zurückzuziehen, der nur dann und wann ein Bedenken äußert oder eine Frage stellt.

Vigilius: Ich habe dich stark im Verdacht, mein Lieber, daß du nur fragst und nur zu bedenken gibst, um dir dadurch das Vergnügen des Zuhörens zu verlängern.

Constantin: Nimm an, was dir gefällt! Ich werde nicht schweigen, wenn es mir an der Zeit scheint, den Fluß deiner Rede mit dem Wehr eines Einwandes zu unterbrechen. Die Stauung bewirkt, daß das Weiterfließende alles Unklare hinter sich zurückläßt, und das kurze Stocken wird durch um so rascheres Fließen wieder eingeholt ... Aber, wie ich schon sagte: man verlange von mir nicht, daß ich von meiner Eigenschaft als genießender Beiwohner ablasse, um mich mit schwierigen Aufgaben zu beschäftigen, die mich nichts angehen und die mich nur an der Aufgabe des Genießens hindern. Es ist das Eigentümliche bei jeder geistigen Verrichtung, daß der Geist, um sie zu leisten, entweder in der eben vergangenen Sekunde weilen muß oder in der demnächst folgenden, nie aber in der gegenwärtigen selbst weilt. Das ist nicht meine Sache. Eben jetzt, da ich versuche, diese Erfahrung, die ich schon häufig genug gemacht habe, euch mitzuteilen, sehe ich mich wieder in diese leidigen Umstände versetzt, unter denen mir die Empfindung des gegenwärtigen Augenblicks völlig entgeht. Indem ich mich nämlich bemühe, meinem Gedanken durch Worte Gestalt zu verleihen, damit ihr ihn erfahret, habe ich bald in vergangene Zeiteinheiten zurückzukehren, um den Anfang meines Satzes nicht zu verlieren, bald mich vorwärts zu wenden in künftige, um das Ende meines Satzes dem Anfang entsprechend zu bedenken. Ich vollbringe eine geistige Leistung. Aber ich muß einen teuren Preis dafür bezahlen. Ich sehe mich vom Genusse der Wirklichkeit ausgeschlossen. Denn der vollständige Genuß des Wirklichen wird nur demjenigen zuteil, der eine ununterbrochene Reihe unendlich kurzer Zeiteinheiten in ihren jeweiligen Gegenwarten nacheinander auskostet, ohne sich bei einer so lange aufzuhalten, daß er darüber die nächste versäumt; und ohne eine einzige zu überspringen, um sich voreilig mit einer zukünftigen zu beschäftigen.

Vigilius: Wahrlich! Auf diese Art betrachtet scheint es unendlich schwierig zu sein, die Aufgabe des Genießens richtig zu erfüllen. Doch, wie mir scheint, hast du in dieser Kunst schon Bewunderungswürdiges erreicht. Glücklicher, für den der Tod ohne Schrecknisse sein wird! Ich glaube, du wirst sterben, versunken in die Gegenwart einer frischen Blume, die man dir zwischen die gefalteten Hände steckt. Und bei diesem letzten Anblick all die zahllosen ausgekosteten Augenblicke deines vergangenen Lebens vergessend, weder von Trauer geplagt über das Unwiederbringliche, noch mit Angst das Kommende erwartend, wirst du den Übergang zum tödlichen Augenblick erst spüren, wenn du ihn infolge seiner Natur zu spüren nicht mehr imstande bist.

Constantin: Möge dies angenehme Sterben mir zustoßen. Ich kann mir nichts Besseres denken.

Vigilius: So wende ich mich also, bester Cosmas, an deine Bereitwilligkeit und bitte dich etwas zu tun, das unserem Freunde zu tun zwar widerwärtig ist, dessen Ergebnis aber zu erfahren ihm, wie er sagt, einiges Vergnügen bereitet ... Versuche also, mein Teurer, festzustellen, was geschieht, wenn du dir von dieser Gegend dort, die sich nun über unserem Schwätzen beinahe völlig verdunkelt hat, sei es als Maler auf der Fläche eines Papiers, sei es als bloßer Liebhaber im Geist ein Bild machen willst, das eine genaue Vorstellung von ihr gibt.

Cosmas: Gut! Ich sehe ein, indem ich meine Augen suchend über das Gelände da draußen schweifen lasse, daß es nicht genügt, um das zu erfüllen, was du von mir verlangst, wenn ich mich an den weichen Tönungen der abendlichen Farben aufhalte, die mich so sehr zu verweilendem Genießen verlocken ... Seht diese Helligkeiten und Schatten, wie sie unermüdlich über den See huschen, als stritten sie sich darum, wer von ihnen die Herrschaft schließlich erlange. Und dagegen stehen die unerschütterlich dunklen Leiber der Berge, und die Lampen der bergwärts gelehnten Häuser leuchten nacheinander auf und reihen sich als Perlenschnüre zu einem Schmuck von heilsamer Kraft: sind sie nicht Zeichen gesicherter bewußter Existenzen, vor denen die Gewalt des gestaltlosen Dunkels zurückweicht, welches den See mehr und mehr überflutet? Aber ich weiß, ich muß von all diesen Eindrücken und Gedanken absehen und mir den Genuß, den sie mir bereiten, versagen, wenn ich die Eigentümlichkeit dieser Landschaft produktiv erfassen will. Constantin hat recht.

Vigilius: Sei getrost! Sobald dein Bewußtsein sich einmal des Daseins dieser Landschaft bemächtigt hat, sobald die Erkenntnis ihrer Besonderheit in dich eingegangen ist, wird dir die Freude des Genusses, die du jetzt zu unterdrücken dich genötigt siehst, anstatt daß sie vergeht und dir nur eine vage Erinnerung an ihr Gewesensein läßt, in einer unvergänglichen Gegenwart beistehen.

Cosmas: So will ich mich also entschließen, mein Auge ganz zum Diener meines erkennenden Geistes zu machen. Ich lasse, was mir von der Stunde in schöner Bereitschaft geboten wird, auf sich beruhen. Doch wohin muß ich meine gesammelte Aufmerksamkeit richten? Sind es nicht jene fraglichen Stellen, wo der betrachtete Gegenstand, das Gebirge zum Beispiel, sich meiner Wahrnehmung entzieht, die für die Bildung einer genau bestimmten Anschauung maßgebend sind? Die Grenze, an der das Gebirge infolge seiner Beschaffenheit aufhört, steigend den Horizont zu bedecken, und wo die Sichtbarkeit des Himmels anfängt?

Vigilius: Bist du dir auch bewußt, von welcher Bedeutsamkeit der geistige Akt ist, den du damit begehst? Was ist die Grenze? Auf jeden Fall nichts Wirkliches. Du kannst nicht den Finger auf sie legen, um zu sagen: hier ist sie. Du nimmst sie an, weil dein Geist erkennt, daß zwei verschieden geartete Bereiche aneinanderstoßen. Du siehst zunächst von deren besonderer Stofflichkeit ganz ab; du achtest nicht auf das Was, sondern untersuchst ausschließlich ein gewisses Wie, das in einer solchen Absonderung nur von Gnaden deines Geistes existiert, und das du als Grenze bezeichnest. Wir begreifen etwas nur, indem wir seine Grenzen bestimmen.

Cosmas: Um also die Anschauung dieser Landschaft im Geiste zu vollenden, muß ich weiterhin dem Verlauf der Begegnung von Wasser und Land nachspüren. Ich muß vor allem erkennen, wie sie nebeneinander hergehen, gespannt oder locker, wie der eine Bereich vorspringt, wenn es die Umstände mit sich bringen, und die Oberhand gewinnt; und wie der andere dann zurückflüchtet. Indem du ausgesprochen hast, worauf es eigentlich ankommt, hast du mich erst richtig sehen gelehrt. Ich habe dies bisher nur undeutlich geahnt, und die Anschauungen, die ich von diesem oder jenem Gegenstande gewonnen habe, sind auch dementsprechend verschwommen und unrein. Gefühlsmäßiges und Gegenständliches haben sich dabei vermischt.

Vigilius: Nun sag' aber, mein Freund, wie wäre es, wenn nun ein Fremder, der von diesem Landstrich und seiner Schönheit, die weder zu streng, noch allzu weich ist, gehört hat, und der nun begierig ist, sich eine Vorstellung davon zu machen, dich bäte, ihn etwas Genaueres darüber erfahren zu lassen. Nimm an, du wolltest ihm deinen Begriff davon übermitteln! Wie ginge dies?

Cosmas: Warte! ... Laß mich mich auf die rechten Worte besinnen ... Ich glaube, in ihrem Gebrauch einige Übung zu haben ... Warte und laß mich suchen! ... Aber wie? ... Sollte es unmöglich sein, die überaus genaue Anschauung, die ich besitze, ebenso genau durch Worte auszudrücken? ... Rechts und links, oben und unten, Biegung, Wendung, Schwung, breit und schmal, ausladend und gemuldet: sind das nicht Bestimmungen, die, wie ich sie auch stellen mag, doch nur ein Ungefähr meiner tatsächlichen Vorstellung wiederzugeben vermögen? Ich kann nicht anders, als stumm einen Stift zur Hand nehmen und versuchen, ob ich gewandt genug bin, um die behaltenen Umrisse nachzuzeichnen. Ich muß an Stelle jener angenommenen Grenzen die Linie setzen, wenn es mir gelingen soll, daß dein neugieriger Fremdling sich von unserem Gelobten Lande eine Vorstellung macht, die der Wirklichkeit nahekommt.

Constantin: Damit wird also dargelegt, daß der menschliche Geist Anschauungen gewinnt, die er nicht anders als bildhaft behalten oder, wenn er sie mitteilen will, nicht anders als bildhaft wiedergeben kann?

Vigilius: Ja. Aber füge hinzu, daß diese Anschauungen alle von sichtbaren oder als sichtbar zu denkenden Dingen herrühren.

Constantin: Und um diese Anschauungen zu äußern, hat der menschliche Geist als besonderes Hilfsmittel die Linie gleichsam erfunden?

Vigilius: Du sagst es. Jedes Wort, welches ein Ding der sichtbaren Wirklichkeit bezeichnet, das also ein Sachname, ein Dingwort ist, umschließt, begreift und gibt von dem betreffenden Ding, welches gerade gemeint ist, nur dasjenige wieder, was auch beliebig vielen anderen Dingen der gleichen Gattung als Eigentümlichkeit anhaftet. Den Dichtern erwächst daraus eine betrübliche Einsicht. Man stelle sich vor: es weile einer von ihnen in diesem Lande, das jeden Geist, der sich nach dem Zustand des Schönen und des Stillen sehnt, so wohl umfängt und in jene gelassene Heiterkeit versetzt, welche die empfindliche Geburt eines Gedankens so sehr begünstigt. Man stelle sich vor, es sei dem Dichter infolge einer leicht begreiflichen Dankbarkeit darum zu tun, daß auch seine Leser von diesen gesegneten Gefilden wissen. Er kommt also an irgendeiner Stelle seiner Werke auf sie zu sprechen, und da er Talent besitzt, gelingt es ihm, genau die Gefühle, die ihm die Gegenwart der Landschaft einflößte, zu schildern. Aber plötzlich stockt er. Wie er sich nämlich bemüht, seinen Lesern das Gegenständliche darzustellen, um ihnen die Begeisterung seiner Gefühle erklärlich zu machen, sieht er sich zu seinem Leidwesen mit einem Male außerstande, die Landschaft in ihrer Unvergleichlichkeit in Erscheinung treten zu lassen. Er nennt ihren südlichen Namen. Er zerlegt sie in ihre Bestandteile und findet für jeden die treffendste Bezeichnung. Er zieht die eindringlichsten Worte herbei, die seltensten, kostbarsten Wendungen. Er vergleicht etwa die beschwingte Folge von Hügelkuppen mit dem Rhythmus eines Liedes oder mit einer Reihe von Mädchen, die tanzend hintereinander herschreiten. Aber siehe da! Unter allem, was er findet, ist nichts, das seinen Leser hindern könnte, sich nicht eine andere Landschaft vorzustellen als die gemeinte. Gefühlsmäßig und unwillkürlich wird sich der Leser im Geiste aus verschiedenen von da und dort herstammenden Erinnerungen, die durch die Worte zufällig in ihm aufgeweckt werden, das Bildnis einer südlichen Landschaft fügen, wie es mit unserer Wirklichkeit kaum eine Ähnlichkeit haben mag. Die Linie hingegen und was schließlich aus ihr folgen kann: die Verteilung von Farben, gibt von ebenderselben Landschaft, wenn es einem Maler, der sie sieht, darum zu tun ist, ein Bild, das all ihre Besonderheiten auf unzweifelhaft bestimmte Art darlegt. Vielleicht, daß in dem Betrachter Empfindungen wach werden, die sich beträchtlich unterscheiden von jenen, die der Künstler hatte, als er sein Bild erschuf. Doch das wäre ohne Belang. Der Maler, den die inständige Wirklichkeit entzückte, machte sie zum Gegenstand seiner Darstellung, damit sie ihn und sich selbst überdaure. Ich will nicht sagen, daß die Maler, wenn sie arbeiten, an diese Absicht denken wie an einen Wahlspruch. Sie ist in ihrer Seele verborgen, sie wirkt im Geheimen, aber sie erregt dort in ihnen jenen unaufhörlichen Drang, der sie zu Malern macht und sie die Dinge der Wirklichkeit gestalten heißt. Sie schaffen die Ursachen, daran die Betrachter jeweils ihre besonderen Empfindungen wecken können, während der Dichter ebendieselben Empfindungen, die darzustellen nicht im Wesen der Malerei liegt, mitteilt und anderseits ihre mit Worten nur angedeutete Ursache der selbständig bildenden Vorstellung seiner Leser überläßt.

Cosmas: Du verweisest damit die Dichter in ihre eigentlichen Bereiche: in den des Geistes und in den der Seele, in welchen die Wirklichkeit der fünf Sinne nur den Anlaß gibt zur Entstehung und zur Entwicklung eines Gedankens oder eines Gefühls. Aber glaubst du nicht, daß die Wahrnehmungen des Gesichtes und des Gehörs und die der übrigen Sinne, wenn sie in einer glühenden Phantasie existieren, nicht ebenso gedacht werden können wie nur irgend etwas Wirkliches, das uns von der Außenwelt her berührt?

Vigilius: Was willst du damit sagen?

Cosmas: Ich meine, daß die Landschaft, die dein angenommener Leser sich nach der Beschreibung deines angenommenen Dichters vorstellt, wenn sie auch nicht der wirklichen gleicht, von ihm doch sehr wohl als irgendwo existierend gedacht werden kann.

Vigilius: Das liegt schließlich im Wesen aller Vorstellungen, die etwas Wahrnehmbares zum Gegenstand haben. Ich wollte auch durchaus nicht die bilderregende Kraft, die von Worten ausgehen kann, außer acht lassen. Aber du bist mit deiner Meinung, die an sich richtig ist, abgeschweift, weshalb ich vermute, daß du noch nicht ganz erkannt hast, was ich eigentlich feststellen wollte. Leihe mir also noch einmal deine Aufmerksamkeit und höre! Ich nehme an, daß die Phantasie eines Dichters sich irgendeinen Gegenstand ausdenkt, wie er in der Wirklichkeit nirgends existiert, zum Beispiel den Schmuck einer Heldin, der in irgendeiner Geschichte eine wichtige Rolle spielt und deshalb so eindringlich beschrieben wird, daß man glauben könnte, ihn vor sich zu sehen. Aber auch hier, da es sich um eine reine Erfindung des Geistes handelt, wird der Leser oder Hörer nach den Worten, die diesen Schmuck beschreiben, zu einer Vorstellung kommen, die, verglichen mit dem Urbild des Dichters, ein neues, davon völlig verschiedenes Phantasiegebilde sein wird. Anders aber, wenn ein Künstler durch das Mittel der Linie ausdrückt, was er unter der Herrlichkeit eines Geschmeides versteht. Die Linien, welche die Darstellung dieser nur im Geiste angeschauten Sache ausmachen, welche die Sache abgrenzen von einer bestimmten Umgebung, von der Leere des Papiers etwa oder von der Haut einer gleichfalls dargestellten Brust, auf der das Geschmeide liegt, – und welche innerhalb dieses Umrisses weitere Entscheidungen treffen über die Beschaffenheit des Schmuckes: über die Größe der gefaßten Steine und über die Art der Ornamente, – diese versammelten Linien werden von der Vorstellung des Künstlers ein Abbild geben, das ihr so vollkommen entspricht, als er es haben will oder mit seinen künstlerischen Fähigkeiten zustande bringt. Indem er durch diese wunderbare Tätigkeit die Vorstellung eines Dinges, das also ein reines Geschöpf seiner Phantasie ist, in die sinnliche Wirklichkeit entläßt, ihm alle seine genau bestimmten Eigenheiten mitgebend, die ihm für immer die Unveränderlichkeit seiner Erscheinung sichern, begeht er eine Handlung, die ich keiner anderen als der des Zeus vergleichen kann, durch die, wie sie sagen, eine Anschauung des göttlichen Gehirnes sich aus dem Schoße des Geistes gelöst und, unter das Wirkliche tretend, dessen Vorhandenes um ein neues Vorhandensein vermehrt habe.

Cosmas: O wunderbar erschaffene Athene!

Vigilius: Ja, höchste Erschaffung, reinste und wirklichste zugleich, an die ich immer denke, wenn ich der Gangart einer Linie folge, die eine vielvermögende Hand veranlaßt hat, und sehe, wie sie das ebene Weiß-sein eines Papieres teilt und wieder teilt und das Nichts mit Räumen ausfüllt, darin sich Formen aufhalten, gleichfalls gebildet aus dem Nichts, das aber kraft der Linie sich zu Wirklichem verdichtet.

Cosmas: Das Ergebnis ist also dasselbe, ob etwas bildlich gestaltet wird, das einer Vorstellung, einer bloß gedachten Wirklichkeit entspricht, oder etwas, das in der Wirklichkeit ein Vorbild besitzt?

Vigilius: Vollkommen! Nimmst du gewöhnlich, wenn du ein Bild betrachtest, irgendein Interesse daran, ob das dargestellte Ding einem wirklich vorhandenen entspricht oder nicht? So oder anders: du zweifelst nicht an der Wirklichkeit, die das Dargestellte als solches nunmehr geworden ist und durch die es auf dich wirkt. Bildliches Gestalten ist zu betrachten als das Ergebnis einer Übereinkunft, welche Geist und Wirklichkeit miteinander geschlossen haben. Vorgestellt kann demnach in der malerischen Phantasie nur das werden, was – und sei es noch so entfernt – als wirklich sichtbar gedacht werden kann; und alles Wirkliche, das dargestellt werden will, muß erst zu einer Vorstellung des Geistes geworden, also erst ins Gestaltlose eingekehrt sein, bevor es durch den künstlerischen Akt wieder Gestalt annehmen kann.

Constantin: Aber sind diese Gestalten, gemessen an der sinnlichen Wirklichkeit, nicht als schwache Nachahmungen anzusehen? Ist ihnen ihr Herkommen nicht deutlich auf ihre chimärische Stirn geschrieben? Was gibt die Linie? Grenzen, wie ihr sagt. Sie ist dort, wo die Ganzheit sich unserem Blick zu verbergen beginnt. Das Gewölbtsein, das Fruchtmäßige, die Prallheit des Leibhaftigen: sie kann es uns nur anblicken lassen, weil es die Stelle gibt, wo sich sein Dasein dem Erfassen durch unser Auge entzieht. Sie gibt Körper, die wir nie berühren können; Räume, die wir nie erreichen. O, was für Begierden, die sie erweckt und die nie gestillt werden können! Was nützt es, wenn es endlich eurem Scharfsinn und eurer Fertigkeit gelingt, die Umrisse dieser Landschaft da im Fenster festzulegen? Kahl und sehr dürftig ist das, was ihr besitzen werdet im Vergleich zu ihrer wirklichen Erscheinung. Läßt mich die Linie irgend etwas Stoffliches erfahren? Weiß ich von einem Gegenstand, den sie darstellt, ob er hart oder weich ist, dicht oder durchscheinend, hell oder dunkel? Die Linie unterschlägt. Sagt sie von den Formen dieser Landschaft nicht ebensoviel und ebensowenig wie eine nüchterne Landkarte?

Vigilius: Erinnere dich, daß dein Vater beabsichtigt, dich bald in eure öde Stadt im Norden zurückzurufen. Freund, ich glaube, du wirst dir dort in kurzem eine solche Karte zu verschaffen wissen, wirst sie an die Wand deiner Wohnung hängen, neben den Schreibtisch, von dem aus du die Angelegenheiten des Handels dirigierst, oder über das Bett, in welchem du deine Kräfte zur Eroberung des Mammons erquickst. Du wirst, wenn du diese Landschaft liebst – und ich glaube dies, denn was hätte dich sonst bewogen, dich so lange hier aufzuhalten? –, jeden dieser nützlichen Zustände zuweilen unterbrechen, um den Linien dieser Karte mit aufmerksamen Blicken zu folgen. Und du wirst darauf mit Entzücken die besondere Ordnung von Gebirge und See, die das Wesen dieser Gegend ausmacht, mit einer Klarheit überblicken, die du niemals gewinnen konntest, indem du in ihr umhergingst ... O Freund! Wolltest du die Linie schmähen, indem du ihre bescheidene Aufgabe herabsetztest, die sie auf den Landkarten erfüllt? Genau besehen hast du damit den Anfang ihrer Stärke gerühmt, mit der sie das Entstehen von gewissen unserer Vorstellungen bewirkt und ihr Aussehen bestimmt. Hat dich noch nie der Reiz einer alten handgestochenen Karte bezaubert, darauf eine Küstenlinie oft mit solchem Ausdruck gezogen ist, daß man, ihr folgend, sich deutlich vorstellen kann, welcher Art die Landschaftsszenerien waren, die man während der Reise am Ufer entlang erlebt hat; da, um deine träge Vorstellungskraft anzustacheln, als liebenswürdige Verzierungen noch Schiffe mit geblähten Segeln die Meere durchfurchen, und wo die Berge als wellenförmige Erhebungen eingezeichnet sind, um ihre unterschiedliche Höhe deutlich genug vor Augen zu führen? ... Es ist die ausschließliche Absicht der Landkarten, von dem betreffenden Gebiet, das sie darstellen, nur dasjenige zu geben, was sein Wesen ausmacht und was nicht verändert werden kann, ohne daß nicht zugleich sein Wesen sich mitverändert: die Formation, die Lage der Ebenen, Siedlungen und Berge und deren Verhältnis von Höhen, den Gang der Flüsse und Straßen und die Ausdehnungen der Seen und Meere. Es wird aber nichts bestimmt über all jene Umstände, die nur vorübergehend sind und wechseln: über die Erscheinungen der Farben, über Helligkeit und Schatten und über die Einflüsse, die der Wechsel der Jahreszeiten und der Witterung auf die Dinge ausübt ... Aber nehmen wir an – um auf den eigentlichen Gegenstand unseres Gespräches zurückzukommen –: du findest keine solche Karte von dem hiesigen Land und du bittest mich deshalb, dir eine meiner anspruchslosen Zeichnungen zu senden. Vielleicht, ich gebe es zu, wird dann meinen Linien das nicht gelingen, was sie im Grunde beabsichtigen. Aber ich kann ja meine Annahmen ruhig um eine weitere vermehren und sagen, es sei meinen Bemühungen auf vollendete Art und Weise geglückt, das Wesen dieser Berge und das Wesen dieses Sees, ihre Form darzustellen. Werden dann diese äußerst bestimmten Linien deinen Geist nicht bestimmen, den reinen Formen, die sie umschreiben, die stofflichen Wirklichkeiten hinzuzufügen, deren Fehlen du an ihnen beklagst: die silberne Flüssigkeit des Blaus, das der See zuweilen hat, die durchsichtige Leichtheit des Himmels, die sich absetzt gegen das fruchtbar Feste der Berge und all die anderen näheren und ferneren Umstände des Stofflichen? Ich erinnere mich, schon Linien gesehen zu haben, die bloß durch die Art, wie sie geführt waren, erwiesen, von welcher Beschaffenheit der von ihnen umschriebene Gegenstand war, ob fest oder weich, glatt oder rauh, gewölbt oder flach. Versteht mich wohl! Es handelt sich dabei um Nuancen, die sich jeder Faßlichkeit und Erklärung durch Worte entziehen, die nur mit dem Auge wahrgenommen werden können und deren Gelingen ganz von der Empfindlichkeit des Künstlers für den Duktus eines Striches, von einer aller Regeln entbundenen Treffsicherheit und einem angeborenen Scharfsinn für Unterscheidungen abhängt. Und eben diese unbeschreibliche Weise einer Linie, mit der sie das Entschwinden einer Form umschreibt, kann uns Anlaß sein, daß wir im Geiste das unserer Wahrnehmung Entzogene mit Genauigkeit und Sicherheit ergänzen.

Cosmas: Du glaubst also, daß die Linie nicht nur das von ihr Umschlossene, nicht nur einen Teil des dargestellten Gegenstandes, sondern die vollständige Form seines Daseins uns anschauen und begreifen lassen kann?

Vigilius: Ich bin davon überzeugt. Ja, der Wert einer Linie kann geradezu danach beurteilt werden, ob sie uns, ohne daß wir uns dessen besonders bewußt zu werden brauchen, dahin bringt, daß wir an das Vorhandensein der Teile, die unserer Wahrnehmung entzogen sind, ebenso glauben wie an die der unserem Auge dargebotenen; – ob sie uns also folglich veranlaßt, daß wir von dem abgewendeten Teil eines Dinges eine Vorstellung bilden, die ebenso deutlich ist wie der Anblick des uns zugewendeten Teiles, so daß wir statt der Hälfte einer Form, wie sie uns die sinnliche Wahrnehmung darbietet, im Geiste das Ganze besitzen. Das Wohlgefühl, das uns überkommt, wenn wir gewisse Zeichnungen betrachten, hat seinen Grund in der geistigen Ergänzung, die der Urheber der Linien angesichts der Wirklichkeit geleistet hat, indem er die Unvollkommenheit unseres Sehvermögens überwand, was wir nun bewußt erkennen oder unbewußt erfühlen.

Constantin: Gib, bitte, ein Beispiel! Sag, an was du denkst!

Vigilius: Nun, ich habe schon gesehen, wie zwei Linien, die in einem gewissen Abstand nebeneinander herliefen, die bald auseinanderstrebten, bald sich einander näherten, an der einen Stelle stärker, an einer anderen schwächer wurden, die mannigfaltigen Formen eines Beines von der Festigkeit der Ferse bis zu dem üppigen Überschwang des oberen Schenkels mit vollendeter, greifbar erscheinender Körperlichkeit ausdrückten. Die Fläche war überwunden. Die unsichtbare Seite dieser Form wurde mir so gegenwärtig wie die sichtbare. Betroffen von der Stärke dieser Linien, mußte ich mir unfehlbar die glänzende Gespanntheit einer Haut vorstellen, welche bald die Härte von Knochen, bald sanfte, kaum merkliche Wölbungen von Muskeln überzog. Es schien, als habe sich die Umrißlinie dieses menschlichen Gliedes von allen Kräften des Sinnlichen genährt, die in der Wirklichkeit als über das ganze Bein gleichmäßig verteilt ausgehen. Sie strahlten, diese beiden Linien, indem sie eine leere Fläche umschlossen, eine Fülle von versammelten und verdichteten Kräften derart wirksam über sie aus, daß die Blankheit und Wesenlosigkeit sich verwandelte in Substanz und Gestalt. Ich glaube, daß vielleicht schon der reine Umriß einer Erscheinung genügt – dieses äußerst bedeutsame Feststellen, wo und wie sie unserem Blick entschwindet –, um ihr Wesen einzufangen und es zu einer ungeminderten Anschauung zu bringen.

Cosmas: Ja, ich denke da an Schattenrisse, die ich von einigen meiner Bekannten kenne, und durch die ihre Gesichter vereinfacht, aber um so klarer in ihrer besonderen Art dargestellt werden; gleichsam als würden durch diese Schattenrisse die Ideen ihrer Antlitze gegeben, abgelöst von den Zufälligkeiten der Umstände, unter denen sie gewöhnlich erscheinen.

Vigilius: Du bringst mich damit auf einen seltsamen Gedanken. Fast möchte ich annehmen, daß jeder Körper unter den zahllosen Möglichkeiten seiner Ansichten eine ganz bestimmte Möglichkeit besitzt, bei welcher der Umriß seiner Erscheinung von besonderer Bedeutsamkeit für die Anschauung seines Wesens ist.

Cosmas: Du hegst eine Vermutung, die ich vielleicht in eine Gewißheit verwandeln kann. Es haben nämlich die alten Ägypter die Menschen, die sie bildlich darstellten, infolge dieser Einsicht stilisiert. Sie gaben zum Beispiel von den möglichen Ansichten des Kopfes beständig das Profil, zeichneten aber das Auge immer en face: beide Körperformen also in derjenigen Ansicht, die den Inbegriff ihrer Erscheinung am umfänglichsten wiedergibt; und wiederum bildeten sie, während Beine und Füße in der Seitenansicht zu sehen sind, den Oberleib als von vorne gesehen ab, so daß, um von den verschiedenen Teilen des Körpers die wesentlichste Ansicht zu zeigen, der dargestellte Mensch, in welchem Zustand er sich auch immer befinden mag, ob stehend, schreitend, in Bewegung oder in Ruhe, seinen Leib auf eine unmögliche Weise verrenkt.

Vigilius: Hier ist also der Klarheit und der Eindringlichkeit der Anschauung zuliebe die Wahrscheinlichkeit geopfert. Dies Verfahren und die Erklärung, die du dafür gibst, ist mir bedeutsam, um das Tun gewisser Maler zu rechtfertigen, die bei ihren Bildern darauf verzichten, die Wirklichkeit eines Dinges vorzutäuschen, die aber dafür die Anschauung, die das Wesen des Dinges enthält, mit einer Deutlichkeit und Reinheit ausdrücken wie wir andere, wir Nicht-Maler, beschäftigt mit den zahlreichen belanglosen Umständen, unter denen sich das Ding zu der betreffenden Stunde gerade befinden mag, begehrlich, zerstreut oder trüben Sinnes, sie in der Wirklichkeit selbst zu gewinnen schwerlich imstande sind.

Cosmas: Gewiß!

Vigilius: Wenn nun aber die Linie hinreicht, um von einem Gegenstand dasjenige zur Anschauung zu bringen, was als erste und letzte Bedingung gilt, damit wir sagen, er ist: seine Form; wenn die Linie dazu nicht nur hinreicht, sondern uns die Form in ihrer möglichsten Reinheit anschauen läßt; und wenn dieses außerordentliche Anschauenlassen von Wesenheiten des Daseins, die wir in der Wirklichkeit nur getrübt erkennen, die Ursache jener ungeheuren Ergriffenheit ist, die uns angesichts mancher Bilder durchdringt: – Freunde! so mögen wir einsehen, daß nichts von der Malerei entfernter ist als die Absicht, einen billigen Ersatz für die Erscheinungen der äußeren Welt zu bereiten. Ich glaube zwar sagen zu dürfen, wenn ich jetzt an einige der von dir erwähnten ägyptischen Darstellungen denke, daß ihre Gleichförmigkeit ihnen einen absolut gültigen Wert versagt. Sie haben sich begnügt, der Wirklichkeit eines Menschen eine einzige summarische Anschauung abzugewinnen, und indem eine bestimmte Figur des Kopfes oder eine solche des Auges endlos wiederholt wird, ist hier in der Tat die Linie zu einem Zeichen geworden, welches wie ein Wort für eine beliebige Anzahl von Erscheinungen gilt. Es ist aber das Unvergleichliche der Kunst des Zeichnens, daß mit ihrer Hilfe der Geist es vermag, das einmalige Wesen, das er in jedem Körper oder in jeder Vorstellung eines Körpers erkennt, uneingeschränkt darzustellen. Die Vielfalt der Formen, die auch besteht unter den Formen der gleichen Gattung, ist dem Durste des Erkennens, dieser erhabenen Neugierde, eine Quelle, die unerschöpflich fließt. Sie spendet und bietet, und der Geist, unermüdlicher und dankbarer Zecher, durch sie versetzt in eine sublime Trunkenheit, erfreut sich der Stärke, der Erscheinungen Flucht zu bannen. Dem unaufhörlichen Sichverändern, in dem die lebenden und toten Körper begriffen sind, erduldend dies Gesetz teils als begründet in ihrer Natur, teils als auferlegt von außen, gebietet er gestaltend den Einhalt der Dauer. Seht diese unendliche Vielzahl von Körpern, wie sie den Menschen und Tieren gehören, und die wir so sehr bewundern; diese in ihrer Form zahllos abgewandelten Früchte, die ein herrliches Aussehen annehmen, um uns zu ihrem Genuß zu verlocken; diese Unzahl von Gewächsen, deren langsam errungene Schönheit so eilig dahingeht; und die unabsehbare Fülle von Formen, wie sie herrscht unter den Geräten des menschlichen Gebrauchs, von denen ein einfaches an Schönheit der Gestalt sich oft mit dem kostbarsten messen kann: und bedenkt, wie jede dieser Erscheinungen ihr besonderes Wesen erfüllt, indem sie eine Form annimmt, die diesem Wesen entspricht, und richtet nun eure Bewunderung auf das Tun der Maler, die, indem sie diese Formen erkennen und in ihrer Reinheit nachgestalten, den Besitz von Anschauungen für die Gesamtheit des menschlichen Geistes ins Ungeheure vermehren! ... Ach, wir besitzen nichts als durch den Geist! Sterbliche, die wir sind, unterliegen wir in jedem Augenblick dem Wirken einer furchtbaren Macht, welche wir wie ihren Erben, den Tod, nach einer stillschweigenden Abmachung zu vergessen uns angewöhnt haben: ich meine die Zeit, die, wenn ihre Wirkung unaufhörlich spürbar wäre, uns das Leben zu einer Marter machte, jener fremdländischen Hinrichtungsart vergleichbar, bei der dem unbeweglich festgebundenen Verurteilten gelinde, anfangs kaum merkliche Tropfen von Wasser auf ein und dieselbe Stelle seines Hauptes fallen, bis er daran stirbt. Zuweilen aber geschieht es, daß wir, ansteigend durch die außerordentlichen Gefilde der Entzückung – vielleicht beim inständigen Kosten einer Frucht oder, hingeneigt über einen Leib von fremdem Geschlecht, beim endlichen völligen Außer-uns-sein – außergewöhnlich befreit von der Dumpfheit und dem Schwerfälligsein unseres Lebens und übergehend ins Durchscheinende, Schwebende, tödlich von einer unerwarteten Helligkeit erleuchtet werden, die nichts als wesenlos klar ist, und in der wir plötzlich, erschrocken, ernüchtert, den Fall des höhlenden Tropfens vernehmen. Entsetzlicher Augenblick! Droht uns Vernichtung? Fern ist alles, wovon wir soeben noch glaubten, es sei unser innigster Besitz; verloren das Deutlichste; fraglich das Sicherste. Der Gedanke, der letzte, der zu denken noch möglich ist, naht, geladen mit der Kraft, die ihn selbst vernichten wird: Wie? wir sind nichts, umgeben von nichts? ... Möge es dann die Gunst der Stunde fügen, daß der Geist uns beisteht mit der ganzen Stärke seines Bewußtseins und sich mächtig genug erweist, um, Besieger der Zeit, den Dingen zu einer ewigen Gegenwart zu verhelfen! ... Dir aber, Constantin, Freund der betörenden Übergänge, glücklicher Jäger der flüchtigsten Augenblicke, der du mit allen fünf Sinnen auf der Lauer liegst und vielleicht noch weitere Sinne, weitere Fallen für Wirklichkeiten hast, von denen ich nichts weiß, dir, Liebhaber des Glanzes, des Schimmers, des Hauches und der unerwarteten ephemeren Spiele des Lichts, der du der Linie vorwirfst, sie könne all dies nicht bewahren, dir muß ich gestehen, daß es Erscheinungen gibt, entzückende, köstliche, staunenswerte Erscheinungen, die wir nur wahrnehmen in dem Augenblick, der sie uns zugleich entführt; Anblicke, die zutiefst den Geist erregen, um sich ihm dennoch zu entziehen, unvergleichliche Erscheinungen, von denen uns nichts übrigbleibt als eine vage Erinnerung daran, daß wir sie einmal genossen haben; gewisse Dinge meine ich, deren Wesen es ist, sich als Veränderung und Bewegung zu zeigen, wie zum Beispiel die Wolke, die Woge oder der Vogelflug.

Constantin: Es gibt aber dennoch Gemälde, auf denen Wolken, die über den Himmel schweben, bewegte Wasser und fliegende Vögel abgebildet sind.

Cosmas: Freilich. Aber ich erinnere mich eines befremdlichen Eindrucks, den ich hatte, als ich einmal auf einem Bild nichts als eine einzige Woge dargestellt sah, mächtig aufgeschürzt, kurz vor dem Augenblick, in dem sie sich überschlagen mußte. Ich empfand dabei dunkel, daß irgend etwas zu sich selbst im Widerspruch stand.

Vigilius: Und nicht zu Unrecht. Es muß sich wohl eine Art von Widersinn ergeben, indem der Maler diese Gestalt aus Wasser, die einzig durch ihre Bewegung lebt, in einem für uns unvorstellbaren Zustand von Ruhe festhielt; denn es ist die unwiederbringliche Folge von Veränderungen: die Bewegung, der allein sie ihre Form verdankt. Ach, wer ist es, der sie wahrnehmen kann, diese ihre unaufhörlichen Verwandlungen, und die anderen, die von Wolke und Vogelflug, ohne daß seiner Lust zu sehen nicht zugleich der Schmerz über das mit jedem Augenblick Sichverlierende beigemischt wäre?

Constantin: Derjenige, o mein begeisterter Freund, der sich gleichbleibt, indem er sich mitverändert ...

Vigilius: ... Du hast recht ... Ich ließ mich hinreißen ... Es hätte vielleicht genügt zu sagen, daß es unmöglich ist, die Folge von Umrissen zu behalten, die ein Vogel, aufgeschreckt aus dem Laub durch einen Schuß, in der Luft beschreibt, und deren Wechsel die Leere des Himmels bedeckt mit einer unerschöpflichen Fülle von Figuren, die nur sichtbar werden, um spurlos anderen unvorhersehbaren zu weichen ... Aber mich ließ die Erinnerung an solche längst geschehene Wahrnehmung zu sehr an das einst durch sie genossene Entzücken denken, als daß ich jetzt nicht ganz von Bedauern erfüllt wäre, da ich nur noch weiß, daß dieser Vogel auftauchte und jäh entschwand, doch nicht mehr weiß, wie es geschah, mit welchen namenlos schönen Bewegungen. Vielleicht, wenn ich überaus angestrengt in meinem Gedächtnis nachsuche, daß ich mir den Zustand seines beschwingten Leibes noch denken kann, wie er, bevor er zurückfiel in das Dunkel des Waldes, eine Sekunde lang ausruhte, als wäre ihm, da nun seine Kraft sich erschöpft hatte, in der Luft ein unsichtbares Kissen aus Höhe bereitet ... Aber was ist dies gegen das Wunderbare aller Zustände, die ihn zu diesem Ruhepunkt gebracht hatten und die ihn wieder davon entfernten und deren Kenntnis mir nun völlig entschwunden ist? ...

Constantin: Tröste dich! Es werden künftighin neue Vögel erschreckt oder getroffen werden und aufsteigend und zurückstürzend ihre Flüge wiederholen.

Vigilius: Aber nie mehr wird es wieder dieser einzige Flug sein, der damals vor sich ging und mich so unerhört berührte. Dieser ist ewig verloren, denn er war identisch mit dem unwiederbringlichen Augenblick, den unwiederbringliche Umstände gebildet hatten. Und so sehr mir auch dieser Anblick der Dauer wert erschienen ist: mein Geist sah keine Möglichkeit, sie ihm zu verschaffen. Seine Wirklichkeit war die Zeit selbst, deren Gegenwart wir nicht festhalten können, ohne daß sie nicht notgedrungen sich in eine Vergangenheit wandelt.

Cosmas: Da also, mein Teurer, jener Überfluß von Freude für dich einen solch schmerzlichen Verzicht zur Folge hatte, so wirst du auch keinem Tanz zusehen und keiner Musik zuhören können, ohne daß dich nicht der gleiche Kummer befällt? Denn beide Künste leben durch die Zeit und durch die Veränderungen.

Vigilius: Nicht ganz, lieber Cosmas! Freilich gestehe ich, daß mich die Schnelligkeit herrlich bewegter Glieder oft schwere Verluste empfinden läßt; auch daß, schwerfällig wie mein Geist gegenüber der Beschwingtheit der Töne ist, er oft die Folge ihrer Spuren verliert. Aber eine gute Gewißheit spendet mir da einen Trost, der augenblicklich einsetzt. Weiß ich doch, daß alle diese Bewegungen, die der Glieder und die der Töne, Gesetzen unterliegen, die der Geist erfunden hat, und in denen sie treulich bewahrt werden. Sind die Gebärden eines Tanzes, der mir gefällt, nicht beliebig oft zu wiederholen? Sie werden immer dieselben sein, und ich kann mir schließlich ihre feinsten Einzelheiten vergegenwärtigen, wenn ich sie nur oft genug gesehen habe. Musik und Tanz sind gestaltete Zeit. Der Geist vollbringt durch sie sein Äußerstes. Er formt die Formlosigkeit selbst. Das zeitliche Dasein in seiner unabsehbar gestaltlosen Bewegung wird überlistet, indem die Töne und die Handlungen es einteilen in gesetzmäßig bestimmte Längen.

Cosmas: In deren Ordnung aber sind wir gesichert. Dürfen wir also nicht getrost sein?

Vigilius: Wir müssen, anders können wir nicht die Last des Lebens in jene Leichtigkeit verwandeln, durch die wir es lieben ... Aber ich sehe: die Stunde ist vorgerückt. Wollen wir nicht zur Ruhe gehen? Es lebt sich gut im Zustand des Schlafes. Wir werden durch ihn vom Leben erlöst, ohne der Gewalttätigkeit des Todes anheimzufallen.


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