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Gedenken an Trinakria

Der sommerliche Himmel des Südens war nichts als eine farblose Klarheit. Die ungeheure, berauschende Helle, mit der die Sonne die Tage erschöpfte, entband das Sichtbare von aller Last und Sicherheit des Stoffes. Leicht und schwebend blieben die Dinge zurück. Man konnte sie nur noch als einfache Umrisse denken: die Kurven der Berge, erfüllt von einem durchsichtigen Gelb, von Grau und Hellrot, – und in den Linien der Täler, verschwimmend, ein kaum noch empfundenes Grün. Selbst die gekräuselten kleinen Schatten, die um die Stämme der Ölbäume huschten, waren durchtränkt von dem mächtigen Licht und erschienen als gegensatzlose Helle: ein violfarbenes Rosa.

Blendend prallte das Licht vom Weiß der Häuser ab. Der Berg, der hinter dem Hügel von Alcamo aufstieg, warf kaum noch Schatten, senkrecht stand die Sonne über ihm.

Drüben in den Mandelbaumgärten, deren zartes Gespinst in der Ferne schäumend verging, lag die kleine Behausung, von der ich herkam, und wo mich armselige Bauern mit einer unwiderstehlichen Anmut zur Mahlzeit eingeladen hatten. Ich saß im fensterlosen Raum und speiste mit ihnen mitten zwischen Vieh und Geräten in der Kühle. Der Bauer hatte eines der gemästeten Meerschweinchen, die überall herumliefen, geschlachtet. Er hatte es mit raschem Ruck an den Hinterbeinen ergriffen und, während die anderen quietschend davonliefen, mit dem Kopf gegen die Mauer geschmettert. Nun lag es gebraten auf dem Tisch. Wir aßen feuchtes Maisbrot dazu und eingemachte Oliven und tranken von dem bittersüßen, klebrigen Wein, der hier wuchs. Später holte der Mann aus dem Garten die ersten reifen Pfirsiche und bot sie als köstliches Gastgeschenk dar. Sie lagen auf seiner breiten, von Erde und Sonne gebeizten Hand und waren so heiß, daß ich erschrocken zurückfuhr, als ich sie anrührte.

In den Gassen der Stadt war es totenstill. Nur das durchdringende Licht war auch hier, vor dem mir die Augenlider erlahmten. Man spürte die Hitze kaum, denn übers Meer, von den Wüsten Afrikas her, rauschte unaufhörlich der Wind. Selbst nachts, wenn ich zu Bett lag und draußen alles still war, fuhr er fort, mir in den Ohren nachzudröhnen, dumpf und tief, wie in Höhlen ein gefangen.

Im Halbtraum schritt ich voran. Zuweilen drang durch einen schmalen Spalt der geschlossenen Augen das bruchstückhafte Bild von etwas Gegenständlichem in mich ein: ein fahles Gesicht im Dunkel einer offenen Tür, dahinter das unwirkliche Weiß eines Bettlakens – ein zerbrochener Krug. All dies war unbeschreiblich arm und schmutzig. Auf der schmalen, ungepflasterten Straße lag Spreu, verwelktes Gemüse und Dung – einige Fischköpfe mit ausgebohrten Augen. An den Hauswänden, wo ein dünner Schatten stand, rieben die Ziegen ihr Fell und kicherten mit dürrer Stimme.

Ich konnte nur mit Mühe in dem Gassengewirr die beabsichtigte Richtung einhalten. Einmal stieß ich unterwegs auf ein nacktes kleines Kind, das am Boden saß und sich zum Spiel das stinkende Naß einer Jauchepfütze durch die Finger rinnen ließ. Als ich, geistesabwesend, mit schwerem Tritt in die Lache trat und es über und über mit Schmutz besudelte, jauchzte es auf. Aus der nahen Tür lief schreiend und scheltend ein Weib herbei. Doch ein paar Kupferstücke, die ich eiligst spendete, machten, daß alsbald eine Flut von Segenswünschen über mich herrauschte. Sie tönten mir nach, als ich längst um die nächste Ecke gebogen war, und überzeugten mich von der Wirklichkeit des häßlichen Vorfalls, an der ich sonst längst gezweifelt hätte, mit halb geschlossenen Augen, wie ich voranschritt, einen rosigen und dichten, alles verschleiernden Dunst davor. Wirklichkeit schien nur noch das Netz von wirren Gedanken zu sein, das der Geist, erregt von dieser winddurchpeitschten, heißen und trockenen Luft, wie eine hurtige Spinne in mir aufzog, in Erwartung einer unermeßlich wichtigen Beute. –

Ich setzte mich auf der Piazza in eines der Cafés, die sich auf ihren Längsseiten wie Jahrmarktsbuden aneinanderdrängten. Bei jedem waren die Markisen, die das von der Sonne überschwemmte Viereck schattig besäumten, mit einer besonderen Farbe gestreift, rot, orange, grün, – nur das Weiß war allen gemeinsam.

Spiegel, mit den bunten Inschriften von Reklamen bemalt, zierten die Seiten des offenen Eingangs. Ein rosiges, in einem Frack steckendes Schwein nippte darauf an einem Likör. Herkules im Pantherfell bedeutete durch sein Schmunzeln, daß ein gewisser Wermut der beste sei. Ich wurde nicht müde, diese Erfindungen grotesker Geschmacklosigkeit zu betrachten. Hinten in der Dämmerung und Kühle des Raumes stand die Theke des Wirtes, das Ungetüm der vernickelten Kaffeemaschine, die wie ein lebendiges Wesen, mit Zischen und Pusten, das schwarze Getränk erzeugte. Weiter im Hintergrund glänzten, an den Wänden gereiht, die Flaschen mit den seltsamen Destillaten, die einander an Künstlichkeit übertreffen, und die man, obwohl sie anfangs abscheulich schmecken, in südlichen Cafés mit wachsender Leidenschaft trinkt.

Dies alles sah ich durch einen Vorhang aus losen Perlenschnüren, der über dem Eingang herabhing. Die Perlen bildeten durch die Verteilung ihrer verschiedenen Farben ein von Vögeln umflattertes Rosenbukett, das jedesmal völlig in Verwirrung geriet, wenn jemand erhobenen Hauptes, ohne die Finger zu rühren, durch die Perlenschnüre hindurchtrat. Sie teilten sich nachgiebig vor seinen Schultern, raschelten und klirrten, und es ging immer eine gute Weile, bis das Rosenbukett wieder in Ordnung war.

Ich trank einen Cora unter einer weiß und orange gestreiften Markise. An der Schmalseite des Platzes, der ich zugewandt war, stand eine verkommene Kathedrale, wie sie in den kleinen sizilianischen Provinzstädten üblich ist, etwas normannisch, etwas barock, viel zu groß für die kleine Bevölkerung, aber trotz ihrer Belanglosigkeit fast immer ein wenig erfreulich durch irgendeinen Zug der Linien, vielleicht durch den Campanile oder durch die eine und andere Proportion an ihrer Fassade.

Um mich her, auf den benachbarten Tischen und Stühlen, lungerte die provinzstädtische männliche Jugend, angetan mit der lächerlichen, etwas schmierigen Eleganz, die an aufgeputzte Zirkusäffchen erinnerte. Sie spielte, nur unter sich, auf dem vom Kehricht der Gassen und Häuser und draußen von der wirklichsten aller Landschaften umgebenen Platz den ganzen Tag über Corso und Weltstadt, sie erzählte sich Zoten und gab sich kleinen Lastern hin, da man kaum eine Frau berühren konnte. Erst am späten Abend, wenn vor dem gußeisernen Garibaldidenkmal die Banda fascista spielte, betraten die Mädchen für eine Stunde die Straße, begleitet von alten frommen Matronen, die eifersüchtig die Richtung ihrer Blicke verfolgten. Zuweilen wird ein Eheweib mit einem der Jünglinge untreu; ein Drama erregt dann die kleine Stadt, etwas vom wirklichen Leben dringt in diese Welt der Einbildungen vor; meistens aber nimmt die Jugend ein natürliches Ende, wenn der Ernährer der Familie stirbt, oder wenn der junge Mann durch Vermittlung der Verwandtschaft verheiratet wird. Dann beginnt für ihn das Leben des Biedermanns; er bereist das Land und handelt mit Getreide, Schafen, Wein oder Öl.

Eine trübe Trostlosigkeit ging von diesen Burschen aus, wenngleich sie, erregt von der Gegenwart eines Fremden, lustig vor mir schauspielerten und paradierten. Nicht ein einziger von ihnen war gut gewachsen und schön. Es schien, als sei von den zahlreichen Völkerschaften, die im Lauf der Jahrtausende Sizilien bewohnt hatten, nur das Schlechteste übriggeblieben. Fast an jedem dieser Menschen war irgend etwas Verbogenes oder Übertriebenes; der eine hatte eine Stirn, die wie bei einem Hundekopf zurückfloh, der zweite eine unförmliche, der dritte eine zu scharfe Nase, die Glieder waren entweder zu kurz oder zu schlaksig; Griechenland hatte hier nicht einen Schimmer zurückgelassen.

Die Burschen schwatzten über Pferde und eine Prozession, die einer heiligen Maria zu Ehren in den nächsten Tagen stattfinden sollte. Es war kein allgemeines Kirchenfest, das im Kalender stand, sondern eines der zahlreichen Heiligenfeste, die in sizilianischen Orten aus besonderem Anlaß gefeiert werden. Meistens ist eine Prozession damit verbunden, die unter den absonderlichsten Formen vor sich gehen kann. Ich erinnere mich an eine, zu Ehren eines schwarzen Heiligen, der in Frühzeiten von Afrika herübergekommen war. Seine Statue stand, den Kopf mit krausen Löckchen bedeckt, gehüllt in einen funkelnden Mantel, in einer Kapelle, hoch über dem Ort, auf einem steilen Berg. Es hieß, ein Dieb habe einst nächtlicherweile die Monstranz geraubt, worauf die Figur des schwarzen Philipp Leben angenommen habe, um dem Dieb mit Sturmschritt nachzusetzen und das kostbare Gefäß ihm wieder zu entreißen. Alljährlich wiederholte sich nun diese Jagd. Die überlebensgroße Statue des Heiligen wurde in Stangen gehängt, von starken Männern auf die Schultern genommen und im Sturmschritt den Berg hinabgetragen bis zu der Stelle, wo sie den Dieb einst eingeholt hatte. Der weite Mantel flatterte im Wind, der durch die Schnelligkeit entstand, wie zwei riesige goldene Flügel. Schreiend und betend folgte die ganze Gemeinde, eine mächtige Staubwolke aufrührend. Der Priester, der alt war und keuchte, versuchte vergeblich das Tempo aufzuhalten; er mußte auf halbem Wege zurückbleiben, ohne die Chorknaben, die in ihren feuerroten Röcken johlend weiterrasten. Niemand verzichtete seinetwegen auf den Spaß. Zuvorderst rannten die Eisverkäufer, ihren mit Heiligenbildern geschmückten Wagen, der bergabwärts von selbst lief, kaum noch zurückhaltend. Ein Epileptiker fiel zu Boden und wälzte sich schäumend im Staub. Niemand kümmerte sich um ihn. Fern, an der Stelle, wo der Dieb einst erwischt worden war, winkten schon Buden und Fahnen. Zuweilen war es, wie ich hörte, schon vorgekommen, daß auch die Träger der Statue gestürzt waren und der Heilige so zu schmählichem Fall kam.

Ich trank einen zweiten und dritten Likör und blickte gelangweilt auf eine kümmerliche Palme, die in einem schadhaften Holzkübel stak. Nirgends etwas an diesem tristen Ort, bei dessen Anblick ich noch länger hätte verweilen mögen. Auf der Stirn der Kathedrale, verwittert und morsch, schien jede vorrückende Stunde Zeichen der Vergänglichkeit einzugraben. So oft ich hinblickte, erschien sie mir grauer und hinfälliger. Von den Gesimsen herab hing das Gras, dem der unmerklich entstehende Staub die Nahrung gab und das nun längst durch die Sonne verdorrt war. Ein dünner Schatten geisterte über die Scheibe der Uhr und zeigte geräuschlos die Stunden an. Dann klimperte wieder das Rosenbukett auf dem Vorhang, von wattierten Schultern in Unordnung gebracht; doch unversehrt ging es nach kurzer Weile wieder aus ihr hervor. Ich begann die Sekunden zu zählen, die zwischen seinen einzelnen erfolglosen Verwüstungen lagen; ich zählte, wie lange es brauchte, um wieder in Ordnung zu kommen. Ein Gefühl unendlicher Lebensferne ergriff mich. Vielleicht war es richtig, daß das Likör nippende Schweinchen in einem Frack stak.

Hinten in der Dunkelheit wurde ein mechanisches Klavier in Betrieb gesetzt, das mit grauenhafter Genauigkeit begann, die Zeit in Töne zu zerhacken. Sie prallten gegen die Mauern des Platzes, verdoppelt, verdreifacht zurückgeworfen; es war, als würden der Raum und die Luft in Stücke zerschlagen, und als die Weise zu Ende war, schien nichts mehr übrigzubleiben als eine unendliche Öde. Die nun folgende Stille war nicht mehr zu ertragen. Die Burschen hatten aufgehört zu schwatzen, vielleicht ergriffen von dem sentimentalen Musikstück, das an einen unechten Mond erinnert hatte, an durchdringenden Mädchengeruch und klebrige schnalzende Küsse. Die kleine Welt dieses Platzes war endgültig tot. Nur noch ein Wunder konnte sie erwecken.

Doch das Wunder kam auch. Nach einer unausdenkbaren Spanne von Zeit klirrte es auf dem Pflaster. In leichtem Galopp sprengte ein ungesatteltes Pferd auf den Platz, mit goldbraun schimmerndem Fell, strahlend von Stärke und Frische, als sei es eben neu erschaffen. Zu Fuße folgte atemlos ein halbnackter junger Knecht, der nur mit Mühe die Zügel hielt. Er rief dem Tier etwas zu, brachte es aber nicht gleich zum Stehen. Im Übermut seiner Fülle, mit aufgeworfenem Haupt, vollführte das Tier auf dem leeren Platz eine Runde, die mit einemmal den Raum mit berstender Lebendigkeit füllte. Dann, von den Burschen umgeben, stand es in meiner Nähe still, hielt eigentlich nur an, denn die Bewegung selber ruhte nicht: sie durcheilte unaufhörlich wie Wellen seine Gestalt; als blonder Schaum flogen Mähne und Schweif in die Luft, und auf den Kugeln seiner tänzelnden Vorderbeine kreisten funkelnde Münzen aus Licht.

Die jungen Leute kosten das Pferd und schwatzten von der Prozession. Das Tier sollte zum erstenmal mit dem Heiligenbanner an der Spitze des Zuges schreiten und war deshalb von einem entlegenen Landgut hereingebracht worden. Deutlich sah ich vor mir das Bild: die Fahnen, den Lärm, die Gaukelei dieser ausgehöhlten, künstlichen Menschen, und ich sah, wie das klägliche Theater der frommen Mienen, die sie bereithielten, der falschen, zur Schau getragenen Gefühle durch dieses nur aus Wahrhaftigkeit bestehende Geschöpf zur herrlichen Wirklichkeit ward. Eine ganze Säule von Pferden sollte an der Spitze des Umzuges gehen. Ich sah, wie das Leben in ihnen das Göttliche streifte. Hier war die Gestalt noch rein überliefert, überall noch begründet auf der Erfüllung ihres besonderen Seins. Mächtig stieg vor meinem Auge der zurückgebogene Hals des Pferdes an; die obere Linie war straff und beinah gerade; die untere verlief in zärtlichem Schwanenhalsbogen hinab zur Brust. Nichts war entleert und brüchig; alles aber erfüllt von der verborgenen Kraft, die als Lebendigkeit in den Formen wirkte und ihre Gestalt als Sinn erscheinen ließ.

Ich verbrachte eine schlimme und unruhige Nacht. Mein Zimmer, das im ersten Stock des Hauses lag, war durch eine schmale Locanda zu betreten. Ich ließ der Hitze wegen die Glastüre offen, vernahm aber nichts von der nächtlichen Kühle, da das Zimmer kein Fenster ins Freie hatte, sondern das Licht nur durch diese Türe erhielt, die nach dem glasbedeckten Hof des Hauses ging. Obschon die Scheiben des gläsernen Daches hochgerichtet waren, brodelte in dem engen Raum noch die ganze Hitze des Tages. Der Eigentümer züchtete dort seltene tropische Pflanzen, von denen die Ranken bis zu dem hölzernen Balkon emporklommen. Es blühte einiges, was einen süßlichen Geruch nach Verwesung entsandte. Mehrmals in der Nacht erging ich mich auf dem schmalen Gang. In den Laubmassen des Grundes schimmerten einige fahle Blüten, Leuchtkäfer erhellten das Dunkel, während oben, durch das Glas unendlich getrennt, ein lichter Sternhimmel glänzte.

Ich verließ das Haus mit frühestem Morgen und bestieg den Wagen, der mich in die Nähe Segestas bringen sollte. Sobald die letzten Häuser von Alcamo zurückblieben, das wie ein widerlicher Aussatz auf seinem Hügel über dem Golf von Castellammare liegt, vor der südwestlichen Ecke Siziliens, umgab mich wieder diese so ungewohnte und geliebte Landschaft, die einsam ist, deren Verlassenheit sich bis zu Wüste und Öde steigern kann, die aber niemals vorweltlich wirkt, die den Menschen nie in sich untergehen läßt, ihn nie vernichtet; diese Landschaft, die Maß hat bei aller Größe, die, fast von Natur aus bestimmt, Szene für Menschliches zu sein, aus allen Ereignissen in ihrer Stärke und Frische unversehrt hervorging, die sich ausbreitet in ihrer mütterlichen Leibhaftigkeit, als erwarte sie noch den ersten menschlichen Fuß.

Die Luft war kühl. Der Wind hatte sich noch nicht erhoben. Das Licht, noch zärtlich fühlend, berührte die Erde nur, um sie zu den trockenen, undurchsichtigen Farben des Südens zu verlocken: zu dem Bronzegelb des Kornes, dem stumpfen Grün der Ölbäume, dem satteren der Büsche und Pappeln. Das eilende Band der vielfach geschlungenen Straße führte den Wagen über die Lehnen der abfallenden Hügel zu Tal: eine dionysische Bewegung, die an aufgeworfene Glieder, an Tanz und geschwungene Kränze erinnerte. Dann nahm den Wagen ein schmales Tal auf, das wieder langsam aufwärts führte. Die Straße ging auf der Schattenseite, wo geräumige dunkle Bäume den Hang hinaufstiegen. Japanische Mispeln waren darunter, die zu dieser Zeit gerade reiften. Ihre schlanken Äste wurden von den Büscheln der rötlich gelben Früchte tief zu Boden gezogen.

Auf der anderen Seite des Tales, über dem schilfbestandenen Fluß, lag auf den schroffen Felsabstürzen die morgendliche Sonne. Eine innige Erwartung ergriff mich. Ein stärkeres Dasein schien plötzlich von den Weingärten und Maisfeldern auszustrahlen. Diese Bäume, die sanft erzitterten unter dem Wind, der sich erhob, wurden in tieferer Bedeutung lebendig. Nur ein Blick, eine Berührung des Menschen, und es mußte sich aus ihrer stärkeren Kraft das einzelne Wesen gebären, das sie als Dryade und Nymphe bewohnte. Jeder Lorbeerstrauch war eine wieder verwandelte Daphne. Nichts zerfloß. Alles blieb nah als stärker erklärte Gestalt. Ich glaubte, erst jetzt zu erfahren, was es bedeutete, dies: ein Kolben der aneinandergereihten, glühenden, süßen Körner, der, seine seidengrüne Umhüllung sprengend, von dem mächtig durchflossenen Rohr seines Schaftes abstand. Es war! Ich öffnete eine der Früchte, die ich während des Fahrens vom Wagen aus von einem überhängenden Zweige gepflückt hatte. Mürbes Fleisch ballte sich um die drei kühlen Kerne, die die Unendlichkeit ferneren Lebens enthielten. Mit Allgewalt rief dies nach Deutung; sie hätte, wenn nötig, das Göttliche nochmals erfunden.

Erwartung und Hoffnung schwebten, mit beinah wirklichen Flügeln, in der morgendlichen Luft des Tales. Es schlug mit der sanften Gewalt seines Aufwärtssteigens die hintereinanderstehenden Flanken der Berge auf wie Türen. Das lang Erwartete mußte hinter ihnen verborgen sein: der Sinn, das anschaubare Wesen dieser Landschaft, die Gestalt dessen, was hier als Überfluß aus allen Dingen drängte. Endlich zeigte es sich. Auf einer fernen hohen Stelle, umgeben vom Übermaß der Abhänge, mit einer Deutlichkeit, die zunächst einmal jedes Gefühl erschreckte, stand der Tempel im hellsten Licht. Mühelos übertraf er die kühnste Hoffnung. Nur einen Augenblick lang, dann nahm ihn eine Wendung des Tales wieder fort.

Ich verließ mein Gefährt an der Brücke, wo eine Straße abzweigt, um in weitem Bogen am Fuße des Varvaro, auf dessen Gipfel sich einst Segesta erhoben hatte, emporzusteigen. Zypressen am Rande eines Kornfeldes gaben die letzte Kühle. Noch einen Blick über das bukolische Grün des Tales, das der Skamander tränkte, dann führte die Straße, begleitet von dünnen Ruten, die in Jahrzehnten vielleicht eine Allee bilden mochten, hinauf ins Schattenlose und Leere.

Als ich den Tempel wieder erschaute, durchzuckte mich nochmals die Erschütterung, die entsteht, wenn das Gefühl mit aller Anspannung auf etwas Großes vorbereitet ist, das dann in Wirklichkeit in einer fassungslosen Größe begegnet. Er war da wie ein lebendiges Wesen. Ringsum die Öde, durch die ich zum Schluß gegangen war, war plötzlich an allen Enden erfüllt vom Übermaß seiner Lebendigkeit. Er stand auf einer leichten Erhöhung des Bodens. Die Nähe verringerte nicht seine Kraft. Er ließ keine Vertraulichkeit zu. Man konnte ihm nicht allmählich begegnen. Er mußte mich entweder aufzehren, oder er bliebe mir fremd. Alle Stärke fiel mir ein, die ich jemals in meinem Leben aufgebracht hatte: sie reichte vor seiner Stärke nicht aus; alle Härte, alle Vernunft und Skepsis, die ich zusammenholte, aus Angst, aus Schutz, sie reichten nicht hin; ich sah den zerschmetterten, blutigen Toten, den ich einst ohne Erregung auf meine Arme geladen hatte; – durch die Ärmel stak ein Knochen, spitz und bläulich weiß, ich hatte das rosige Blut gerochen, das mit lauer Wärme mir über die Hände floß; ich dachte an den Tod meines Vaters, ich wußte schon lange, daß er sterben würde, ich erinnerte mich wieder der seltsamen kühlen Neugier, mit der ich damals versucht hatte, den Tod zu ertappen, mein Vater war bei klarstem Bewußtsein und sprach, dann schwieg er, ein Sperling flog auf, ich wußte, es war jetzt endgültig anders als eben, da der Vogel, den ich beobachtet hatte, noch auf dem Fensterbrett saß, ich war unberührt, ich vermochte alles niederzuhalten, weil ich ahnte, wie furchtbar es wäre, wenn es plötzlich aufstiege in mir ..., diesmal war es umsonst ..., was war es noch, daß ich an alles Unrechte dachte, das ich jemals getan, blitzschnell zogen die Bilder in meinem Innern an mir vorüber; der Ungerechte, der Selbstgerechte, der Eitle, der Spötter, war ich das nicht? ..., vergeblich; ich mußte die Augen schließen. Dieses hier! Was wurde von mir erwartet? – Ich glaube, ich stürzte vorwärts mit ausgebreiteten Armen.

*

Sechsunddreißig aufrechtstehende Säulen, sechs an der Front, zwölf an den Längsseiten, alle unversehrt, bilden eine offene Halle. Auch Architrav und Giebel sind als Formen unbeschädigt. Nur der Werkstoff, ein bräunlicher Kalkstein, ist etwas verwittert. In schmalen Spalten und Höhlungen hausen Mauerfalken, die schreiend steigen und stürzen.

Vergleicht man den Tempel mit dem von Paestum, so mag ihn dieser überwiegen um eine gewisse Weisheit, die seine Teile ausgeglichener gliedert, etwa um die unfehlbare Entschlossenheit einer Tat nach langer Erfahrung, um die Reife eines Sommers oder um eine abendliche Ruhe. Man wagt dem Tempel in Paestum nur in Ehrfurcht nahe zu sein; er spendet; – nicht alles, er hält zurück, auch nimmt er einen nie ganz in Besitz, man kann ihn ruhig betrachten. Die Jahrtausende, die als Geschichte über die Landschaft von Paestum zogen, ließen auf ihm ihre Last zurück, er ist davon beinahe unmenschlich geworden. Der segestische Tempel aber, sobald sich die erste entsetzte Freude der Begegnung gelegt hat, erweist sich als menschlich gesinnt und nimmt einen, Liebe erweckend, völlig auf.

Er steht, wie er anfangs war. Das Werk ist nie zu Ende geführt worden. Die Cella, das innere Gehäuse, wo im Dunkeln das Gottesbild stehen sollte, fehlt. Die Säulen sind ohne den Zwang der Kandeln. Die sanfte Welle des Bodens, auf der das Bauwerk steht, ist niemals eingeebnet worden. Die Stufen des Tempels liegen noch vertieft, die Säulen erheben sich auf gleicher Höhe wie die hohen Stauden der Disteln, die der ohnmächtigen Sommererde noch ein glühendes Violett entpressen, ringsumher die einzige Farbe, die klingt.

Was steht, ist vollkommen. Nichts erinnert daran, daß es einmal anders geplant war, daß es anders hätte sein können. Mit den Stufen, die nicht das Maß eines menschlichen Schrittes kennen, beginnt es – ungeheuer als Gedanke – emporzusteigen in eine endgültig sichere Gestalt. Diese knappe Treppe ist eigentlich riesig; sie ist kein Spiel mit dem Gelände, damit sie es tanzend überwinde wie die Spanische Treppe in Rom; hier ist sie Gegensatz zu der Erde, die sie trägt, erste Ordnung des Stoffes, Absage an den Zufall, erstes über das Chaos gelegtes Gesammeltsein der Kraft, auf welchem die Säulen ihre Plätze finden, um die feierliche Ordnung zu vollenden.

Ich betrat den inneren Bezirk. Es war die gleiche Erde wie draußen: ein Teppich von kleinen Kräutern und Gras, aber dennoch, welche Verwandlung! Raum wird plötzlich Gestalt. Ohne Mauer, ohne Dach. Nur umzirkt von dem ununterbrochenen Umriß, der als Architravrand über die Säulen gelegt ist, der über ihren Fronten als Giebel aufsteigt, ein Umriß, gezogen über die Landschaft und den leeren Himmel draußen mit einer atembeklemmenden Leichtigkeit, mit der mühelosen Gewalt eines Diamanten, der formloses Glas in Figuren zerteilt.

Innerhalb des Raumes, der überall dem Freien furchtlos Zutritt läßt (es kann ihn nicht überfluten), wird alles, was draußen ist, flach und bildhaft. Hügelrücken, die Rudel gedrängter Berge, Unendlichkeit der Horizonte stauen sich vor den Reihen der Säulen. Durch die Macht dieser Waagrechten und Senkrechten, denen entlang entzückt die Blicke gleiten, gewinnt noch die Luft Gestalt. Indem die Säulen das formlose Lagern der Mauern zerteilten in einzelne entschlossene Übernahmen der Last, blieben die Zwischenräume zurück als gestaltete Freiheit, mühelos siegreich, mit der Stärke einer unüberwindlichen Wand.

Dies mochte es einst gewesen sein, was diesen Raum erbaute: das Verlangen nach Ordnung, die Angst vor dem Endlosen. Vielleicht ging angesichts der vernichtenden Fernen einer hin, nichts als ein Mensch, ein Nachkomme Prometheus', und begrenzte, um nicht wehrlos zu sein, ein endliches Stück. Er tat vielleicht auf der nackten formlosen Erde einen Schritt, so weit ihn die Spannkraft seiner Glieder vermochte, oder er reckte vor dem sinnlos weiten Himmel die Arme aus und übertrug dies Maß auf den Stoff, auf die zufällige Form gebrochnen Gesteins. Er zählte nicht, er maß. Die Verhältnisse des Tempels sind geometrisch bestimmt und nicht in glatte Zahlen zu fassen. Eine angenommene Strecke wurde geteilt im Verhältnis des Goldenen Schnitts. Es bestimmte am Tempel in unablässiger Anwendung den Platz selbst der kleinsten Einzelheit, bestimmte den Ort jeder einzelnen Säule aufs neue, ihre Abstände untereinander, die jeweils verschieden sind, bestimmte die ungleiche Länge der Seiten, ihr merkwürdiges Abweichen voneinander, das den Anschein erweckt, als sei die Überfülle an Leben, die das Bauwerk enthalte, nicht mehr zu bändigen. Die Größe jener ersten angenommenen und nach dem Goldenen Schnitt geteilten Strecke entscheidet die Physiognomie des Tempels. Eingefangen und gebannt schlummert in der Begrenztheit dieses Raumes das Unendliche, das niemals die Zahl erfaßt. Eine jede Zahl verlangt nach der höheren. Aber Türme, die entstehen, sind für das Unendliche nichts als ein eiliger Durchgang, Versuche, die es vergeblich verfolgen; sie fallen auf sich selbst zurück, Vermehrer der Ohnmacht. Mit der Zahl entflieht das Unendliche noch über den Gipfel der zuhöchst getürmten Kathedrale hinaus; sie bleibt zurück, ein Bruchteil des Unzählbaren, Stückwerk, das beliebig größer und höher zu denken wäre. Der Tempel aber, den eine Platane überschatten könnte, der nicht breiter ist als ein Viergespann von Pferden, enthält die Unendlichkeit wie ein Geschöpf die Kraft des Lebens. Nirgends ist sie unmittelbar anschaulich, aber überall durch ihre Wirkung als vorhanden erkennbar.

*

Ich folgte dem schmalen Pfad, der die Bergkuppe erklimmt, auf der sich einst die Stadt Segesta erhoben hatte. Das Gelände war mit unförmlichem Geröll bedeckt; nichts erhob sich mehr vom Boden, dessen Gestalt den Geist zu einer Deutung erregt hätte. Glatt wie der Rücken eines schmerzgekrümmten Riesen, der sein Haupt zwischen den angezogenen Knien verbarg, erhob sich die Rundung des Berges. Das spärliche Gras war unter dem Brand des Sommers vertrocknet. Nur die stachligen Disteln mit ihren zum Himmel schreienden Blütenhäuptern dauerten aus.

Oft, an einer Wendung, verlor sich der Pfad im Wüsten. Ich bahnte dann den Weg aufs Ungefähr aufwärts, scheuchte Eidechsen und matte raschelnde Schlangen auf, die zwischen den Steinen strömten wie kleine unversehens entspringende Gewässer, die ebenso unversehens wieder versiegten. Dann, wenn es wieder gerade bergan ging, fand ich vielleicht wieder eine Spur des Pfades. Ich erkannte ihn meist an den ausgewaschenen Steinen, über die zur Regenzeit das bergabströmende Wasser floß. Doch zuweilen trog auch dieses Zeichen. Die Spur der vom Wasser geschliffenen Kiesel verlor sich im ungangbar Steilen. Es war nicht mehr mit Sicherheit festzustellen, was Pfad war und was Bachbett. Um höher zu kommen, gebrauchte ich bald das eine, bald das andere, bald wieder berührte ich Erdreich, das vielleicht seit Jahrtausenden niemand mehr betreten hatte. Jeder Schritt, den ich tat – Teil eines unsichtbaren Weges – verließ das Vergangene, als sei es niemals gewesen. Es gab auf diesem Weg, den ich langsam erschuf, kein Zurückfinden mehr. Rückwärtsblickend sah ich dort dieselbe Öde wie vor mir; sicher blieb einzig die Stelle, auf der ich gerade stand, die unerklärbaren Steine unter dem Fuß, zerbrochen, zerspellt, zersplittert, – kantig und rund, mit glatten und rauhen Seiten, vielleicht einmal vor langem von einer menschlichen Hand berührt, die eine vergangene Gestalt an ihnen bestimmt hatte. Nichts war ihnen anzusehen. Hatten sie einst eine Mauer gebildet, als Pflaster oder Schwelle gedient, geglättet von dem unmerklichen Streifen zahlloser Sohlen? – Rätselhaft lagen sie da, sinnlos zusammengeworfen, bald erblassend unter der Stärke des Lichts, bald schillernd, von Sprüngen durchlaufen, von abgestorbenen Wurzeln mit hartnäckiger Kraft umklammert, unter der Seite, mit der sie auflagen, eine laue Feuchte bewahrend, die, aufgedeckt, unter der senkrechten Sonne von den Rändern her zusammenlief; es glich einer Versammlung lebendiger Schatten, die eilends in das Innere der Erde verschwand.

Ich war in weitem Bogen um den Berg herum aufwärtsgestiegen. Der Tempel hatte sich längere Zeit vor meinen Blicken verborgen. Jetzt aber, kurz bevor ich den Gipfel erreichte, der wie eine dem Meer entgegengewendete Stirn vornüber hing, trat er wieder plötzlich in meinen Blick, vor der spröden zerklüfteten Wand des hinter ihm absinkenden Bergsturzes liegend, unten, auf seinem sanft gewölbten Boden, über den ich aus der Ferne, wenn ich die Hand vor die Augen hielt, hinstreichen konnte; er füllte gerade ihre innere Fläche, und während die Sonne mich mit den Büscheln ihrer brennenden Pfeile bewarf, glaubte ich etwas Festes und Kühles daran zu spüren. Wie die Perle auf dem Muskel der Muschel lag der Tempel da unten.

Ringsum, breit und hingegossen, lagerten schlummernd die Massen der Berge; die Flanken nackt, ungenau unter dem zitternden Licht, in bewußtlosem Schlafe hingestreckt. Nur an den Stellen, wo sie der durchsichtige Himmel berührte, auch wo das ferne Meer mit der Klarheit des Golfes hereinbrach, erwachte ein Anfang von Form: steigend und fallend spielten mit ihr die unsichtbaren Umrisse der Hügel und Buchten, gerade entschieden genug, um das Feste vom Losen zu trennen. Aber noch unerlöst lagen die Ähnlichkeiten beieinander. Die Landschaft war nichts als Stoff, und so nah auch zuweilen sie an die Möglichkeit einer Ordnung herantrat: – es war ein glücklicher Zufall, der ihr dies schenkte; Zufall war es, der den Wohlklang einer Bewegung begann, der diesen schwingenden Kranz von Bergen um diesen Ort da unten geworfen hatte, wo so unanfechtbar eindeutig sich die Ordnung des Tempels erhob.

Panische Stunde. Nichts geschah in der sichtbaren Welt. Der anhaltend gleißende Ton, den die Heuschrecken unermüdlich erregten, war längst zum Bestandteil der Stille geworden. Die Falken über dem Tempel waren niedergegangen, verschwunden in den kleinen Höhlen, die das himmlische Wasser in den Kalkstein des Tempels genagt hatte, ohne die Gewalt seiner Formen zu schwächen. Unversehrt gingen die Linien ihrer Bestimmung entgegen. Die Umrisse der Giebel, gefaltet zu dem breiten, zweimal göttliche Heiterkeit spendenden Dreieck, formten aus der Luft ein unzerstörbares Dach. Lichtgetroffen trat jede Säule hinter den Schattenstreifen der nächsten, bis die beiden Reihen einander in der lichtgebadeten Ecksäule trafen.

Ich mußte mich plötzlich an etwas erinnern, das lange zurücklag. In Zuständen von Verwirrung und Bedrücktsein war es mir immer erschienen als etwas Richtiges und Klares, dessen Gegenwart im Geiste mich stets erleichterte und erhob. Es war dies ein alter riesiger Tisch, der in einem weiten Zimmer stand, das ich einmal einen Sommer lang in Florenz bewohnt hatte. Der Boden war mit kühlen roten Fliesen bedeckt. Durch die geschlossenen Fensterläden drang gedämpft das Licht. Während ich morgens Stadt und Landschaft durchstreifte, pflegte ich nachmittags, während der heißen Stunden, mit Ausschließlichkeit und einem unbeschreiblichen Entzücken Platon zu lesen. Ich bewahrte die Bücher in meinem Gepäck, mit Ausnahme des einen, mit dem ich mich jeweils beschäftigte. Das lag auf dem dunkel geölten, grob gemaserten und abgebrauchten Holz der Tischplatte, immer aufgeschlagen an der Stelle, wo ich gerade las. Einfache Dinge umgaben das Buch, eine strohumflochtene Weinflasche, einige Früchte, Tomaten, Feigen und Pfirsiche, – ein Messer, die Pfeife und ein feucht bedeckter Krug mit Tabak. Eines Tages, ich las im »Phaidros«, ergriff mich ein seltsames Gefühl. Mit einer Beschwingtheit, wie ich sie noch niemals erfahren hatte, folgte mein Geist der Entwicklung der Gedanken. Ich geriet an die Stelle, da Platon jene schwierigen dunklen Worte erfindet, mit denen er das Übersinnliche, selbst wo es unfaßlich scheint, noch ergreift und mitteilbar macht. Da fiel mein Blick ganz zufällig über die Zeilen des Buches hinweg auf das ruhige Rot einer Frucht.

Täglich legte ich diese Dinge, wie ich sie kaufte und brauchte, auf die Platte des Tisches, ohne eine Absicht in ihrer Anordnung zu verfolgen. Nun aber, beschworen von der Magie jener Worte, deren Sinn mir unter dem Einfluß dieser gnädigen Stunde plötzlich wahrnehmbar geworden war wie ein rundes sinnliches Ding, das man betrachtend zwischen den Händen dreht, mußte ich in diesen Gegenständen, die ich höchstens ihrer Dinglichkeit wegen liebte und hinlegte, etwas anderes sehen als sonst. Ich erkannte in ihrer Lage plötzlich das Gesetz einer besonderen Ordnung. Es war nicht die Regelmäßigkeit. Früchte und Gegenstände lagen scheinbar wahllos zerstreut umher. Aber dennoch werde ich nie mehr vergessen, auf welche Art und Weise diese Dinge zueinander lagen. Es war das Schöne. Die Erscheinungen waren plötzlich belanglos geworden nach Zweck und Bedeutung, waren ihrer Stofflichkeit und deren Reizes entkleidet, doch sie wurden, getragen von jener unerschütterlichen Ordnung, die mein Geist in ihnen erkannte, unendlich und wunderbar als Farbe und Form.

Daran dachte ich wieder, als ich die im Stoff des goldenen Steines errichtete Ordnung des Tempels erblickte. Der Gedanke verband Vergangenheit und Augenblick wie ein grünendes Gewinde. Freilich, ich wußte: blendendes Weiß, Dunkelrot und tiefes Blau hätte die Formen da unten einst schmücken sollen. Ein goldschimmerndes Dach war geplant gewesen. Figuren hätten Gesims und Giebel gefüllt. Aber es schien mir, als läge es gerade an der Entblößung dieser Gestalt von allem Schmuck, daß das Zeugnis, das sie gab, so ungeheuer zu mir redete.

Ich wußte: dies Haus war gemeint als Wohnung eines Gottes. Aber hinweggewischt war dies alles, die Götter gestürzt; der Zweck, den der Tempel hätte erfüllen sollen, war mit den Menschen, die ihn erfunden hatten, verwest. Doch was bestand, was über aller Verlassenheit herrlich bestand, war diese Ordnung, die das Chaos besiegte, ruhend in ihrem eigenen, aus sich selbst hervorgebrachten Gesetz, war das Schöne, die ewige Gegenwart, das Unverlierbare, Unveränderliche, die herrliche Überwindung des Nichts.

Was hieß es noch, daß dieser kahle Berg, auf dem ich stand, vor ungefähren Zeiten von Menschen bewohnt war? Ich blickte nach den leeren Himmelsrichtungen, von denen einst das zeitliche Geschick Segestas bestimmt worden war. Im Osten lag Griechenland; südlich, hinter der von einer kleinen erdfarbenen Wolke bekrönten Kuppe des heiligen Berges Eryx Karthago; nordwestlich, hinter dem Füllhorn des Golfes Rom.

Segesta hatte im Altertum als eine Gründung ausgewanderter Trojaner gegolten, zu Unrecht, wie die Wissenschaft feststellt, doch Grund genug, um unaufhörliches Unheil über sie zu beschwören. Die Griechen, die sich in den Nachbarstädten angesiedelt hatten, bekämpften in ihm das in Asche gesunkene Troja aufs neue. Segesta, schlimm bedrängt, verbündete sich hierauf mit Athen, das die Absicht trug, die Macht der sizilischen Pflanzstädte zu brechen. Doch das Heer der Athener erlag vor Syrakus. Alkibiades erscheint, der sommerliche Mittag läßt seinen Schatten als Wirklichkeit zu. Der Schöne, der Leichtfüßige, der Ehrgeizige, Hochmütige, Kluge, der noch die Kraft der Zeit bezaubert und sie unsterblich durcheilt, indessen mancher biedere Held seit langem vergessen ist, trug Mitschuld an jener Niederlage. Aber noch über Elend und Schmach triumphierte das Schöne; man berichtet, daß Athener, die vor den Siegern die Verse des Euripides vortragen konnten, um dieser Kunst willen der Sklaverei entgangen seien.

Ich wußte nicht, wieso es kam, daß die Stadt und alle menschliche Spur so restlos aus dieser Gegend vertilgt worden war. Der Tempel lag da, als wäre niemals Geschichte gewesen. Freilich, die Landschaft half; dieses Land, das alle menschliche Berührung wieder vergessen konnte, dem es geglückt war, die Ruinen spurlos zu zertrümmern, Menschen- und Tierblut einzutrinken wie Regentropfen, ohne daß die Erde dadurch ihr Aussehen geändert hätte; dies Land, das den Atem zahlloser Geschlechter wieder in heiße, trockene Luft verwandelt hatte, spurloser als den Hauch, der vom blühenden Thymian aufstieg. Jungfräulich lag es umher. Nirgends steht ein Tempel so rein vom Staub der Vergänglichkeit.

Ich bestieg noch vollends den Gipfel des Berges. Oben, als Halbrund in die Kuppe eingebaut, erst sichtbar, wenn man nahe davor steht, umfaßt das alte Theater Segestas mit einem herrlichen Blick die Weite. Die Einteilung der Szene ist noch vorhanden. Man sieht noch den Standort der Chöre, die breiten Steinplatten, auf denen agiert wurde. Ganz offenbar sind Meer und Himmel in den Spielraum einbezogen. Poseidon spielte mit, und Zeus war gegenwärtig, um die Geschicke zu lösen.

In weitem Bogen stiegen die marmornen Reihen der Sitze an, die Plätze durch leichte Mulden bezeichnet. Ich setzte mich auf eine der obersten Reihen. Der Zuschauerraum lag im Schatten, die Sonne beleuchtete nur noch die Szene, auf der sich ein schwarzer Ziegenbock bewegte. Er hatte sich wohl verirrt, nirgends war etwas von einer Herde zu sehen. Wie ein Schauspieler war er von der Seite hereingetreten und stand nun in der Mitte der Szene still, das gehörnte Haupt in die Höhe geworfen, als warte er auf eine Berührung von oben.

Und als erflehte er das Zeichen mit der Inbrunst seiner ganzen Kraft, hob er sich auf seine hinteren Läufe, machte aufrecht einige Schritte, legte dann die vorderen Läufe auf einen Quader und harrte zitternd, den Hals wie einen abschußbereiten Bogen gespannt, die Hörner völlig zurückgelegt, daß sie im langhaarigen Fell des Rückens verschwanden. Mit silbernem Glanz strömte das Licht an ihm nieder. Der Hals erhob sich strahlend, wurde weiß und schmal. Es schien, als würde das Haupt mit menschlichen Zügen begabt. Deutlich war es mir zugewandt, der Mund im Schmerz verzogen, die Augenhöhlen leer.

Schimmernd übergoß das Licht den aufrechten zitternden Leib, der wieder tänzelnd einherschritt, an den Schenkeln noch die Strähne dunklen Haares. Bald fiel auch sie ab, vom Licht entkleidet, wie ein Schatten. Ein nackter Leib erbaute sich, der ruhend stand, Kraft und unendliche Möglichkeit verheißend durch die mächtig erfüllten Glieder, unter deren Haut es sich rührte, als drängten Geschöpfe darunter, bereit, an das Licht des Tages zu springen. Schmerzverzerrt war das Antlitz immer noch aufwärts gewandt, eine wilde Gebärde der Sehnsucht, verzweifelt gegen den gleichmütigen Himmel gerichtet, Flehen zugleich und Anklage, bis endlich auf dem Hintergrunde der bläulichen Luft über dem Altar dieser Stirne ein matter weißer Schein entstand, ein Wölkchen mit verschwimmenden Rändern, das stieg und sich senkte wie aus eigener Kraft bewegt.

Langsam erhob die Gestalt ihre Arme, die Bewegung veränderte unaufhörlich ihren Leib, bald streng und rauh, bald zart und weich, spielte sein Aussehen unbestimmt zwischen männlich und weiblich. Und die erhobenen Arme ergriffen den formlosen Dunst, ballten ihn, während das Antlitz einen heiteren Ausdruck gewann, während Glanz in die Augen stieg und der Mund sich lächelnd schloß, mit leichtem Druck und schöner Bewegung der Hände, ließen davon ab, ballten ihn wieder, bis er als vollkommene goldene Kugel anfing zu kreisen.

Sie flog. Meer und Erde tauschten sie aus. Sie rollte durch die bläuliche Mähne des Golfes, sprang mühelos leicht über die Scheitel der Berge, stieg in die Leere des Himmels, immer wieder ergriffen von den formenden Händen, bis sie schließlich zu hoch stieg und ihnen entwich.

Regungslos stand die Gestalt wieder da, die Arme herabgesunken, zwitterhaften Leibes zu der goldenen Kugel emporblickend, die blasser und blasser ward, um bald als unbestimmtes Wölkchen über der Stirn zu verschweben. Nochmals griffen die Hände nach ihm, aber sie formten es diesmal nicht; sobald sie sich über der Helligkeit trafen, schlugen sie mit feindlicher Kraft gegeneinander, umschlangen sich wild im Kampf, zerrten und rissen ..., der ganze Leib geriet in wilden Aufruhr. Sinnlos sprangen die Füße gegeneinander an, lösten sich ab, gebaren neue Gestalten, Zerrbilder von greulicher Widernatur, die nur für Augenblicke bestehen konnten, deren einzige Tat, bevor sie vergingen, Zerstörung hieß ... Schmerzverzerrt, losgelöst von dem zerstückelten Leib, mit riesigen Öffnungen ins Leere, schwebte über dem Rasen das machtlose Haupt. Seine Züge erstarrten, während alles andere gestaltlos verschwand. Und langsam begann es sich zu drehen, blickte hohl nach den Richtungen der Winde: nicht mehr als eine leblose Maske, durch deren Ausschnitte von Augen und Mund die Bläue des Himmels hindurchdrang. Doch da begann die Wolke, vom Zufall der Lüfte ergriffen, sich in der Mitte zu öffnen; sie zitterte leicht wie Blattwerk, fast zärtlich schwebte sie nieder, und wie mit lebendig wachsenden Ranken schlang sie sich um das Haupt als verhüllender Kranz.


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