Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Legenden einer Reise

Kurz nach Murano hatte uns der Kapitän erlaubt, das Dach des Schiffes zu besteigen, wo wir nach allen Seiten hin freien Ausblick genossen. Die Lagune war überquert, das Dampfboot näherte sich schon den Inseln, und wir befanden uns bald auf einem engen Kanal, der sich dazwischen hindurchwand. Riesigen Flößen gleich zogen sie an uns vorüber, befrachtet mit Gärten und Häusern, die als zitternde Bilder im Wasser nochmals erschienen.

Wir verließen Murano. Immer kleiner werdend schwamm es von Norden nach Süden, und während wir noch mit rückwärts gewandten Blicken beobachteten, wie es unter der Last seiner alten Gehäuse, aus deren Mitte der Mastbaum eines schiefen Kirchturms emporstach, allmählich versank, hatten wir uns unversehens einer neuen Insel genähert. Das Fahrzeug stand still. Wir kletterten vom Dach und überschritten als die einzigen Passagiere des Schiffes einen gebrechlichen Steg, der uns an ein stilles, verlassenes Ufer führte. Ein Feld mit laubenförmig gezogenen Reben dehnte sich aus. Ein schmaler Kanal, den an der einen Seite ein Pfad begleitete, zog sich landeinwärts. Doch auch hier entgingen wir nicht dem Schicksal, sofort als Reisende entdeckt zu werden.

»Heißer Weg, staubig und lang«, rief uns jemand in unserer Muttersprache entgegen. Die Laute klangen seltsam und abgewandelt, als spräche sie ein gelehriger Papagei. Doch war es ein Schiffer, dessen Kahn, verborgen von dunklem Gebüsch, am gegenüberliegenden Ufer lag, und der zu uns herüberruderte und sich erbot, uns zu Schiff nach Torcello zu bringen. Auf Italienisch begann er den Preis zu erörtern. Ohne daß wir etwas entgegneten, begann er zu handeln, entwickelte eine lange, schwungvolle Rede, in deren Verlauf er seine Forderung um die Hälfte verminderte, und als er uns endlich zu Wort kommen ließ, war er nicht wenig erstaunt, daß wir nicht die geringste Neigung bewiesen, seinen Kahn zu gebrauchen. Aber das Wetter war herbstlich mild und keineswegs heiß; soweit wir den Pfad überblickten, war er auch keineswegs staubig, und vor der Länge fürchteten wir uns nicht.

Es war ein Weg, der nirgends etwas Auffallendes vorwies. Bescheiden zog er an einem schwarzen, reglosen Wasser entlang, führte an Feldern vorüber, an Artischockenbeeten und von der Ernte zerzausten Weingärten. Einmal kam ein baufälliges Haus, über dessen rosa verblichene Mauern dunkles Gewölk von Feuchtigkeit zog; ein Mandelbaumgärtchen folgte. An jedem anderen Orte wäre ich achtlos den Weg dahingegangen. Hier aber gewann dies alles einen eigentlicheren Sinn. Nie ist der Geist so wach und aufmerksam wie im Zustande einer Erwartung. Und zu gleicher Zeit tritt alles, was nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit ihr steht, in der Seele des Betrachters verschwindend zurück. Indem ich mich der Eigenart jener Stunde entsinne, ist mir, als sei ich den Weg allein gegangen. Und erst die Erinnerung, die das eine oder andere genauer zurückruft, läßt mich wieder der Begleitung der Freunde gedenken, wenn auch sie, so oft sie mich anging, wie alles ins Unvertraute und Fremde verwandelt war. So sehe ich wieder, wie Joringel auf dem Rand einer Böschung erschien. Ich hatte mich etwas verzögert, meine Freunde waren vorausgegangen. Da rief sie mir plötzlich entgegen und wies mit wehem Ausruf ein Traubengerippe vor, an dem die Beeren zu winzigen Körnern vertrocknet waren. Ihr Haupt war vom Laub der hochgezogenen Reben umschattet. In grüner Dämmerung verschwamm ihr Gesicht. Die Augen, dunkel wie die Umgebung, blickten glanzlos, waren wie leer. Und mitten aus dem Laubdach hervor, das sich über ihr breitete, unbegreiflich vom Körper gelöst, ragte ihr Arm nackt in die bläulich schmelzende Luft; das Traubengerippe, dürr und schwarz, fiel auf mich nieder.

Hat mich das Mädchen auf folgendem Wege begleitet? Mich dünkt, als sei sie zurückgeblieben in der wilden Umarmung der Ranken, als sei sie, berührt von meinem erwartenden Blick, der sie gefährlich umfing, zu einer Rebe geworden, als habe sich wieder ein uralter Vorgang in ihr wiederholt.

Als ich den Platz betrat, war ich allein. Der Kanal nahm hier ein plötzliches Ende. Ich schaute umher, und dort auf der rechten Seite standen die beiden Kirchen. »Großartig«, sagte ich mir, und wollte es doch nicht recht glauben. Denn auf dem Bild, das ich in meiner Vorstellung trug und dem einige photographische Aufnahmen zugrunde lagen, standen die Bauwerke um vieles schöner und größer. Doch ich kannte bereits diese Täuschung und war auf der Hut. Begegnet man der Wirklichkeit mit einem Traumbild, um sie an ihm zu messen, so zieht sie sich zurück hinter einen übertrieben unbedeutenden Anschein.

Ich wandte also rasch mein Auge von den beiden Bauwerken ab und ließ es über die Dinge schweifen, die mir der auswählende Blick der Kamera auf den Abbildungen vorenthalten hatte: ich betrachtete die Bäume, die hier gediehen, ich war ihnen gleichsam dankbar dafür, daß sie hier wuchsen; ich ging die schmutzigen Häuser entlang, die sich zum Kanal hin erstreckten; Hühner liefen umher; jemand verprügelte ein ungezogenes Kind. Im ersten Stockwerk eines Hauses war eine Malerin zu beobachten, die am Fenster stand und einen gegen überliegenden Garten abkonterfeite. Sie hatte die Staffelei dem einfallenden Licht entgegengedreht, man konnte von unten ohne Schwierigkeit das Gemälde beschauen, das sich in wenigen Minuten der Vollendung näherte, indes ein zigarettenrauchender Freund, nur mit einer Hose bekleidet, dabeistand und sachkundige, bis auf den Platz hinunter vernehmbare Bemerkungen dazu machte.

Dann trat ich zu einer kleinen Schenke, angelockt von Gelächter und lautem Geschrei. Einige halbwüchsige Burschen versuchten dort, eine wild mit den Flügeln um sich schlagende Gans auf eine Tischplatte zu setzen, wogegen sie sich aus Leibeskräften wehrte. Jedesmal, wenn die Burschen hofften, sie würde sich endlich beruhigen, und sie losließen: als eine außergewöhnliche Gans, die schon zu Lebzeiten auf eine Tafel kam, flatterte sie auf und suchte zu fliehen. Erst als mit unzweideutigem Geräusch das Zeichen ihrer fassungslosen Angst auf den Tisch fiel, ließen die Burschen von ihr ab. Lachend stoben sie weg, die Gans suchte gleichfalls das Weite, und zurück blieb ein gräßlich geschändetes Tischtuch, dessen Aussehen jeder Beschreibung spottete und geradezu nach Erbarmen schrie. Nun war es zwar auch vorher himmelweit von dem einladenden Weiß frischgebügelter Wäsche entfernt gewesen. Man hätte sogar gezögert, es kurz und bündig sauber zu nennen. Ein langer Sommer war nicht spurlos über sein Aussehen hinweggegangen. Es waren zahlreiche Gäste gekommen, die beim Einschenken ihren Wein zu verschütten pflegten, der rötlich auf dem Tischtuch eingetrocknet war. Speisen waren herabgefallen und hatten unappetitliche Flecken erzeugt. Jeder von den Gästen, die während dieses Sommers an dem Tische gespeist hatten, und war es selbst ein außergewöhnlich reinlicher und sorgfältiger Gast gewesen, hatte, ohne es zu wollen, dazu beigetragen, daß sich die graue Tönung allmählich verstärkte.

Nun aber, da plötzlich dieser handgreifliche Kot auf ihm lag, konnte von diesen geringen Beeinträchtigungen seiner Sauberkeit nicht mehr die Rede sein. Sie waren mit einemmal wie weggewischt. Sie waren verschwunden, als hätten sie nie existiert. Einzig und ausschließlich lag da dieser feuchte, schwarzgrüne Klumpen, und darunter und um ihn herum erschien das Tischtuch in einem bitter, ja tödlich beleidigten Weiß. Eine Kellnerin eilte herbei und packte das Tuch zusammen. Jammernd erhob sie die Stimme. Ich war erstaunt, denn ich hatte im Grunde erwartet, daß sie nun zu schmähen und zu schelten begänne. Aber sie beschied sich damit, lange und gründlich zu jammern, auf eine trostlose und durchaus mitleiderregende Art. Ich fühlte mich zutiefst genötigt, ihr zuzusprechen und sie über den Vorfall zu beruhigen, der in Wirklichkeit nicht so schlimm sein konnte, wie es nach ihren Klagen erschien. War doch der Sommer vorüber, standen doch immer noch Tische in genügender Anzahl umher, um die wenigen Gäste, die noch kamen, weißgedeckt zu empfangen.

Dies hielt ich dem Mädchen vor, fand mich aber getäuscht, wenn ich glaubte, ihr einen Trost damit zu geben. Verständnislos sah sie mich an. Ich sah auf das Tischtuch. Mir war, als hätte das Tischtuch geklagt. Das Mädchen hielt es noch ungefaltet in der Hand. Der gröbste Schmutz war davon abgefallen. Aber die zurückgebliebenen Reste waren immer noch ekelerregend genug. Und wesentlich blieb, daß die Verunreinigung dem Tischtuch auf eine ganz und gar nicht zukommende Art geschehen war. Auf eine Art, zu der es sich völlig schuldlos verhielt. Denn während es für die übrigen Unsauberkeiten, die ihm in seiner Eigenschaft als Tischtuch zustießen, gleichsam die Verantwortung trug; während man ihm einen Vorwurf daraus machen konnte, daß Speisen- und Weinflecken es verunzierten (ausgehend von dem berechtigten Wunsch, daß ein Tischtuch seinem Wesen nach sauber zu sein hat), war es durch dieses Ereignis auf eine Art und Weise verunreinigt worden, die seine tischtüchliche Unschuld, soweit sie ohnehin schon vergangen war, wieder in neuem Glanze erscheinen ließ, und soweit sie in Zukunft gefordert werden konnte, endgültig und verantwortungsledig entriß. War das nicht eine herrliche Gelegenheit, um zu klagen?

Die Gans tummelte sich längst wieder im Wasser. Meine Freunde hatten sich zerstreut. Allmählich fand ich mich mit diesem Jetzt und Hier genugsam befreundet, so daß ich mir trauen konnte, mich den beiden Bauwerken in der rechten Verfassung zu nähern.

Ein Pfad: eine Linie nackter Erde führte über den Platz, lief zwischen buschigem Gras zum Portal. Und wie aus Überfluß abgegeben, gar nicht trümmerhaft, vielmehr wie das noch ungebrauchte Material einer Werkstatt, lagerte auf der hellen Wiese steinerne Form; Gestalt und Halbgestalt, Kapitell und Säule aus körnigem Marmor. Runde riesige Wannen standen umher, aus härterem Gestein geschlagen: Granit und Porphyr, in den die Täuflinge frühester Jahrhunderte eingetaucht waren.

Vor dem Portal des Domes, in den Erdboden eingelassen, war der runde Unterbau eines Gebäudes zu sehen, einst gleichfalls der Taufe oder anderen heiligen Waschungen dienend. Alles war abgetragen bis auf eine niedrige Mauer, und allein unter dem schützenden Dach einer ziegelgedeckten Laube, die dem Eingang des Domes vorgebaut war, stand noch ein kurzes Stück der alten Wand, breit genug, um an der Innenseite noch eine mannshohe Nische zu tragen. Wenn man sich vorstellte, wie ehedem ein ganzer Kranz von solchen Gelassen den runden Raum umgeben hatte, wie einst das geräumige Becken, das jetzt fehlte, in seiner Mitte stand, so dachte man unwillkürlich an den Raum eines römischen Bades, wie deren einige in Pompeji noch heute zu sehen sind. Eben die Anstalten, die im Altertum dem Kult des menschlichen Leibes dienten, hatten die ersten Christen übernommen und sie in den Dienst des neuen Geistes gestellt. Manche der Wannen, in denen sich einstmals glänzende Leiber getummelt, umfaßte später das kostbare Wasser, in welches die sehnsüchtigen Täuflinge stiegen, um das ewige Heil zu empfangen. Und Aphrodite, die sich einst tausendgestaltig in den Nischen erhob: aufrecht stehend; mit der Pracht ihres Leibes in zärtlichem Spiele begriffen; dem Bade entstiegen, erschreckt ihre Blöße bedeckend; oder kauernd, ihr Haupt an die fruchthaften Glieder geschmiegt – Aphrodite mußte die in neuen Gebrauch getretenen Räume verlassen. Doch indem ich die zartgeformte Leere dieser hier übriggebliebenen Nische besah, schien es, als sei sie noch immer, nur auf verwandelte Art, von der Sinnlichkeit menschlichen Leibes durchwirkt. Mühelos konnte ich ihren Reiz in der Linie entdecken, die kraftvoll und gerade hinaufstieg, um sich oben zum Halbkreis zu biegen; sie trat aus dieser Öffnung hervor, hinter der sich das Mauerwerk zum sanft gemuldeten Raume schloß. Nichts war verlockender, als den Erinnerungen, Anklängen und schwebenden Ähnlichkeiten menschlicher Gestalt in diesen Formen nachzuspüren. Indem sie zu Linien und geometrischen Körpern verflüchtigt war, fehlte ihr nur das Bestimmte, der Glanz der fühlbaren Oberfläche, doch nicht das Sinnliche selbst. Rein, ja gesteigert trat es hervor, nahm gleichsam im Geiste alle Möglichkeiten einer Erscheinung vorweg. Denn ist es nicht einzig die Linie, mit der sich die Hüfte von einem Hintergrund abhebt, die Wölbung, mit der eine Brust in den Raum stößt, wodurch das Wohlgefallen am Körper erweckt wird? Dies aber war in der asketisch entblößten Nische noch durchaus enthalten. Alle Schöne des Menschenbildes, die die Zeit, in der das Gemäuer entstand, enttäuscht und grollend begrub, ruhte noch in ihr, ohne erstorben zu sein; schlummerte nur, ständig bereit, sich wieder wach zu erheben, sobald der Geist sie berührte ...

In ihrer jetzigen Gestalt stammen die beiden Kirchen aus dem zehnten und elften Jahrhundert. Santa Maria Assunta, eine dreischiffige Basilika, ist von bezaubernder Schlichtheit der Linien. Das Karge ist hier erlesen. Die Front, die sich dem Platze entgegenkehrt, bleibt unvergeßlich wie ein geliebtes Gesicht: breitgezogen, ein niedriger Giebel; darunter sechs hochgeführte, ungleich breite Lisenen, die sich auf leicht hervortretende Vorsprünge stützen und die Mauer zärtlich beleben.

Stärker geprägt ist das Antlitz der Rückfront. Sie überrascht zuerst, da man statt der drei, die man erwartete, vier ungleich große Apsiden findet, – fünf, wenn man näher zusieht, denn die größte, die als Chorumgang das Ende des Mittelschiffs schließt, trieb an ihrem Fuß noch ein weiteres, vielfach gegliedertes, gleichfalls ziegelgedecktes Halbrund hervor, das kleinste in dieser ungleichen Gruppe zu fünft. Und hier erst bemerkt man, daß auf der nördlichen Seite dem Hauptschiff ein zweites Nebenschiff angefügt ist, auch mit einer Apsis versehen, das die Sakristeien enthält. Doch was hier nach Willkür errichtet scheint, all das Ungleichartige, schließt sich in Wahrheit zu einer vollendeten Harmonie.

Der Baustoff ist Ziegelstein, von einer durch Alter verwitterten Farbe, die zwischen Gold und Orangerot spielt. Die Schatten sind braun; wenn mattes Herbstlicht herrscht, mit violettem Weinrot durchtränkt. So steht diese Rückfront noch um etwas verlassener da als die Vorderseite, die ihren kleinen baumbestandenen Platz zur Gesellschaft hat und mit der luftig-beschwingten, aus bogenbekränztem Achteck sich zur prallen Trommel erhebenden Kirche der heiligen Fosca durch Baulichkeiten verbunden ist. Die Rückfront hat nur das in sich versunkene Spiel der Apsiden, und der Betrachter geht ganz in ihm auf, denn nichts mehr erwartet ihn hier. Nur noch wenige Schritte auf moorigem Grund, und das erste Wasser, das zur Lagune gehört, noch ein schmaler Graben erst und leicht zu überschreiten, beginnt. Und drüben, wenn auch als Weingarten und Feld, ist schon das andere, die Ungestalt. Mit dem Rhythmus der Apsiden hörten der Gedanke und seine Anmut auf. Daneben: mächtig, in seiner Höhe gar nicht ergreifbar – denn, auf dem spärlichen Inselbezirk, wo wäre da der Punkt, der Abstand gewinnen ließe? – unübersehbar wuchtet der Turm sich empor, einsam stehend, eine Burg, die steil in die Höhe schoß, eine Burg gegen Himmel und Wasser, für die die Bezeichnung Glockenturm oder der singende Ton von Campanile gar nicht mehr gültig sein will.

Da das Portal verschlossen war, mußte ich den Dom durch einen seitlichen Eingang betreten. Der erste Blick, der suchend umherschweifte, um Richtung und Gegenstand zu gewinnen, blieb an der Decke haften. Nackt lag das Dach über den Wänden, mit dem Giebel bildenden Gebälk, mit den Versteifungen und mächtigen Querbalken, die, den Raum durchstoßend, von einer Wand zur anderen reichten.

Ein für allemal war hier der Vorgang des Bauens offenbar. Jede Handlung war hier eingegangen ins Sichtbargebliebene. Man hatte, das sah man, wunderbar dick, die Mauern errichtet. Man hatte sich nicht genug tun können, sie möglichst haltbar und fest zu machen. Steine um Steine wurden aneinandergefügt, unendlich viel Steine. Nun standen die Wände, trennten den Raum. Doch immer noch flutete diesseits und jenseits ein und dieselbe Luft. Da begann man das Dach. Man schloß das gute, ausgetrocknete, uralte Holz, wuchtige Balken, zusammen. Es lastete als Gerüst auf dem Stein. Es wurde mit Ziegeln belegt, Stück für Stück, und inmitten der Unendlichkeit erstand nach Maß und Gesetz ein Raum.

Daß es offenbar blieb, wie Holz und Stein zusammengingen, um diesen Raum zu erbauen, daß man sie bei diesem gleichsam fortwährenden Tun, das in einem Ausharren und Dauern besteht, belauschen kann, ist das eigentlich Herrliche an dem Bauwerk. Holz als Holz, Stein als Stein wird durch diese Eintracht wie niemals sonst, wenn jedes, als Wald oder Steinbruch, für sich allein ist, in seinem Wesen bestätigt und ausgedrückt. Und überall in der Kirche setzt sich das Verhältnis aufs glücklichste fort. Holzbalken, warm gegen den kühlen Stein, versteifen die über Säulen gespannten Bögen, durch welche das Hauptschiff von den Seitenschiffen getrennt wird. Balken, braun und rissig, überspannen den Raum in seiner ganzen Breite, und kurz vor dem Chor ist eine Schranke errichtet: eine Reihe dunkler Bildtafeln, von zierlichen Säulchen hochgehoben.

Noch verwirrte mich der Raum, der mich umgab, da ich ihn nicht der Ordnung entsprechend, nicht von hinten, sondern durch diesen zufälligen Eingang von der Seite betreten hatte. Ich ahnte zwar schon an den beiden Enden das Große. Goldener Schimmer hatte mein Auge getroffen. Ich wußte, daß es vorhanden war, wagte aber nicht, mich so ganz aus dem Unbeständigen heraus mit ihm zu beschäftigen. So blieb ich fürs erste vor dieser herrlichen Schranke, die mir den Blick nach vorne verbot. Die Säulchen, über denen die Bilderreihe stand, stiegen, blütenstengelgleich geschwellt, zwischen steinernen Tafeln hervor. Und kaum hatte ich diese erblickt, fühlte ich mich wie gebannt.

Es waren Dinge, vor langer Zeit von Menschenhand gemacht. Aber ruhig und bei klarem Bewußtsein konnte ich sagen, daß sie zum Schönsten gehörten, was es gibt. Was war es?

Nicht sehr viel. Nichts Lautes, nichts Riesiges, nichts, das durch den Umfang Auge und Geist überwältigt. Auf marmornen, fast quadratischen Platten: frühromanische Basreliefs. Der Stein, elfenbeinfarbig und fein gekörnt, hatte die Milde des Alters. Sublimes Gefühl, mit dem er behandelt war, Musik kreiste in ihm, – Musik der Linien, und umgeben von ornamentalem Rahmen vollzog sich auf ihm ein ornamentales Spiel, das dann und wann im Figürlichen aufging, da etwas mehr, dort etwas weniger.

Das war alles. Der Verstand wird es niemals begreifen, niemals ganz. Aber wen eine Spur von der Macht, die in diesem Spiel des Abstrakten beschlossen ist, jemals berührte, wird nie mehr weggehen können und sagen: »Ich habe jetzt alles gesehen, ich kenne diese Bildwerke Zug um Zug. Sie vermögen mich nichts mehr zu lehren.« Denn sie sind unergründlich, mit einem seltsamen und unerschöpflichen Reichtum in sich. Es ist, als ob sich die Harmonie ihrer Teile verändern könnte mit der Langsamkeit einer Uhr. Als ob ein Leben in den abstrakten Figuren pulse, das sie langsam verschiebt, wachsen und sich verändern, ihre Ordnung niemals zum Stillstand kommen läßt. Ich habe die Tafeln sechs- oder siebenmal angeschaut, lange, minutenlang, schließlich für Stunden. Immer wieder bin ich zu ihnen zurückgekehrt, ihretwegen unternahm ich noch oftmals die kleine Reise nach Torcello, und immer fand ich sie anders; doch die Ordnung erwies sich niemals gestört, es war, als könnten ihre Teile unaufhörlich neue Bezüge erfinden.

Es sind vier Platten, je zwei mit derselben Darstellung. Das eine Mal, von züngelnden Akanthusblättern umrahmt, sieht man auf dem Viereck etwas wie einen Baum, – nur einen gedachten Baum, ein Gewächs, das mit seinen Verzweigungen so gestaltet ist, daß die Leere der steinernen Fläche, die unter allem Linienspiel immer noch droht, für dieses Mal, hier und in dieser Stunde, gerade genau überwältigt wurde. Ein dünner Schaft zerteilt das Viereck, etwas wie ein Stamm, den zwei aufgerichtete Löwen bewachen, und aus dessen Seiten die Äste in zwölfmal gewundenen Kreisen hervorwachsen, zu sechst auf jeder Seite, die Leere überspinnend, Blätter treibend, von Vögeln beflogen, die im Innern der einzelnen Astkreise sind.

Das andere Mal zeigt die Umrahmung einander berührende Ringe, mit Blütensternen im Innern, und auf dem Bild, das wieder in der Mitte geteilt ist – diesmal durch einen Pfeiler, der ein kleines Becken trägt –, sind rechts und links im Rankenwerk zwei hohe Vögel zu sehen, Pfauen, die sich emporrecken, denen die Linie schwingend vom Schwanz über die Brust und den Hals emporläuft und gespannt über den Rücken steigt, um beidemal in den Schnabel zu münden, mit dem sie aus dem Becken Körner oder Perlen picken. Doch der Geist des Betrachters ist nicht an das, was erscheint, gebunden. Leicht verwandelt er es. Bestehen bleibt nur die Kraft der Linien. Ihr Sinn verändert sich. Ohne Beschwer werden die Vögel zu einer Fontäne, die zweigeteilt dem Becken entspringt; zur rauchenden Fackel, zum Krug, zur Landschaft, zum reinen abstrakten Spiel.

Jede Begegnung mit den Tafeln endete mit einem beglückenden Verzicht auf Welt. Ach, die Erscheinungen! Was wollten sie hier noch bedeuten! Die Seele verharrte in herrlichem Gleichgewicht. Schwebend schien alles, – vorhanden und möglich, keineswegs ausgelöscht; nur die Berührung, der plumpe Griff war verboten ...

Ich überschritt die Schranke des Chors, worauf sich der Blick unbehindert erhob und in schimmernder Weite versank. Das Gold war da. Wand und Wölbung der Apsis waren ganz von ihm ausgefüllt, und davor, in blauem Gewand, himmelfahrend, die Hand segnend erhoben, schwebte die Gestalt der Maria, zu Füßen Apostel und Heilige.

Frühe herrschte, Morgenfrühe. Die Frühe des Jahres und die der Zeiten. Vorne stand der Altar, nichts als eine gewaltig behauene Platte aus Stein. Sie ruhte auf steinernen Pfosten. Und darunter, wozu? warum? halb im Erdboden versenkt, lag ein römischer Sarkophag, auf dessen Wänden beschwingte Liebesgötter reigten.

Dahinter erhoben sich Stufen. Hoch hinauf war die Rundung der Apsis von ihnen besetzt, Stufen und Sitze im Halbkreis übereinander wie in antiken Theatern. In der Mitte, gesondert und steil, stieg eine Treppe hinauf, die vor einem ungeheuerlichen Thronstuhl endete. Im Grunde war es nur ein ungefüger Block, ein Steingebilde, das auch im Freien gewaltig erschienen wäre. Und wieviel mehr in diesem lichten, wandbegrenzten Raum, auf der Höhe dieses schwingenden Anstiegs von Stufen. Die Mulde des Sitzes ebenso wie die niedrigen Armlehnen und die Lehne für den Rücken veränderten kaum die Wucht seiner Masse. Sie schienen wie mühsam eingegraben. Übermenschlich und schmucklos stand das Ganze, zusammenhängend in sich als Gestein.

Ich ließ mich auf ihm nieder. Ein Bischof hatte einst hier gesessen, im Halbkreis auf den Stufen saßen Priester und Diakone, während unten in der Tiefe, auf dem steinernen Tisch, sich die verheißende Handlung vollzog.

Doch der Blick streift unwillkürlich über sie weg. Was dort auf der Tafel vor sich ging, war nicht an Körper und Erscheinung gebunden. Die Handlung lebte im ganzen Raum, überall. Sie verlangte nicht nach dem zuschauenden Auge. Und so ist (in der Ferne, muß man schon sagen, denn das Schiff ist lang), dem Auge noch ein bildliches Schauspiel geboten. Die ganze Wand der Front bedeckend, vor imaginärem goldenem Raum, auf dem Grund von Mosaik, vollzieht sich das Jüngste Gericht. Die Figuren, körperlos, nur aus Gebärde und Ausdruck bestehend, stellen das Geschehen mit entsetzender Eindringlichkeit dar. Aus der Ferne betrachtet erscheint zuerst nur wildes Getümmel, Verwirrung und Ratlosigkeit; Angst, die wie ein Sturmwind über die Schöpfung rast. Dann, beim langsamen Nähertreten, über die Treppen hinab, durch die Schranke hindurch, über den Boden, den beruhigte, aus bunten Steinchen zusammengesetzte Figuren bedecken, teilt sich das Chaos in zwei deutlich getrennte Bereiche. Zur einen Seite die lichte Ordnung der Seligen, zur anderen das Wirrsal der Verdammten. Über allem, in der Höhe, thront Christus, drohend und schrecklich gerecht. Mit starkem, ungebärdigem Griff umklammert er den Arm des ersten Menschen, den Arm Adams, ihn, der demütig zu knien versucht, wild zu sich emporziehend. Unter ihm schwebt ein Engel, die Waage der Gerechtigkeit schwingend. Tief und schwer wie ein praller Apfel sinkt die eine Schale hinab; zuckend flattert die andere in die Luft empor. Ein Feuerstrom geht von den Füßen Christi aus, fließt zu seiner Linken, wird stärker und stärker, breitet sich aus, überströmt den ganzen Bereich, in den die Verdammten hinabgestoßen sind. Zutiefst in der Hölle ist nichts als Schwärze, Dunkel und Nacht. Sogar das Feuer ist hier erloschen. Nur fahles Gebein leuchtet noch auf, Schädel und Glieder, von grünem Gewürm umwunden. Erst in der höheren höllischen Ordnung, von Flammen umgeben, ist menschliche Gestalt gewahrt. Könige mit Kronen brennen hier, eitle, schöne Frauen in prächtigem Gewand. Und inmitten der Gesellschaft von Teufeln und Verdammten, abseits und größer als alle übrigen, hockt ein schwarzer Dämon, der ein helles Kind auf dem Schoß hält, das segnend die Hand erhebt. Was hatte das zu bedeuten?

Der Aufseher konnte keine Antwort erteilen. Ich fragte den einen meiner Freunde, den ich vor diesem Bildwerk wieder angetroffen hatte, und der in Kunstdingen sehr unterrichtet war. Der Antichrist? der große Widersacher? War dies kleine Menschlein im bänderumwickelten Kissen der falsche Gottessohn? Keiner von uns wußte es recht zu erklären. Der schwarze Dämon war eher großartig als schrecklich. Etwas Schmerzliches drückte sich in ihm aus. Etwas von Himmel und Hölle Unabhängiges. Wo er saß, dieser schwarze Riese, ob hier oder drüben bei den Seligen, schien völlig unerheblich zu sein. Mit traurigen, weit geöffneten Augen blickte er vor sich hin ins Leere.

*

Als wir die Kirche verließen, trafen wir draußen unseren dritten Gefährten und fragten ihn nach Joringel.

»Sie ist immer noch drüben in dem kleinen Museum«, sagte er. »Sie kann sich nicht davon trennen. Ich selbst war eben dort. Alle Sachen liegen auf breiten Tischen umher, wie sie die Bauern auf ihren Feldern fanden. Man sieht Gefäße und Schmuck, Geräte und kleine Figürchen, auch Bruchstücke von Statuen und Bauwerken. Niemand verbietet einem, die Dinge anzufassen. Man nimmt in die Hand, was einem gefällt, und sieht es sich an. Joringel beschäftigt sich damit, aus dem Wirrwarr die schönsten Stücke herauszulesen, um sie auf freien Regalen nach ihrem Geschmack zu gruppieren.«

Gerne hätten wir auch das kleine Museum besichtigt, aber schon begann es Abend zu werden, und wenn es möglich war, wollten wir noch die letzte Helle des Tages benutzen, um auf den Turm zu steigen und von dort einen Blick über die Gegend zu tun.

Als uns der Wächter die Turmtür öffnete, empfing uns eine tiefe Dunkelheit. Schon wollten wir sorgen, ob wir beim Aufwärtssteigen auch ohne Gefahr die Stufen der Treppe fänden, da bemerkten wir, als sich die Augen einigermaßen an das Dunkel gewöhnt hatten, daß von einer Treppe überhaupt nicht die Rede sein konnte. Es war eine richtige Gasse, die uns hier aufwärts entführte, gepflastert und sanft ansteigend wie ein Gebirgspfad.

Munter schritten wir sie hinan und hatten bald die erste Mauerlucke erreicht, durch die ein Streif von Licht drang. Helligkeit fiel bald auch von oben, und wir fanden uns ohne Mühe zurecht. Mit jedem Schritt vertiefte sich der Abgrund, den wir, aufwärtssteigend, umkreisten, und in den die starken Seile der Glocken hinunterhingen. Zuweilen rührten wir an sie. Dann drang mit der Helligkeit von oben herab ein leiser, aber lange nachhaltender Ton, der in dem Turmgehäuse summte wie ein sommerlich schwärmendes Bienenvolk. Zuweilen wieder beugten wir uns durch eine Luke hinaus und sahen über das abendumfangene Wasser, das zusehends an Leuchtkraft verlor, zusehends weicher und goldener wurde. Dann schritten wir rascher voran, um möglichst zeitig die Höhe des Turmes zu erreichen, wo wir eine ungehinderte Sicht über den ertrinkenden Tag erwarteten.

Schließlich standen wir dann mit ruhigem Atem und ohne uns angestrengt zu haben, unter dem Dach des Turmes. In der Mitte war das Gebälk, in dem die Glocken hingen, ein schmaler Gang führte um sie herum, und durch säulengetragene Bögen konnten wir frei nach allen Seiten blicken.

Wie immer vor einer großen Überschau suchte das Auge zuerst die Weite. Dort am Horizont, vor einer dunklen Wolkenwand, hinter die die Sonne schon hinabgestiegen war, lag Venedig, ein langer, braunroter Streif, dünn und schartig, wie die blutvertrocknete Klinge eines alten Dolches. Der Glanz der Wasserfläche war ringsum erloschen, nirgends mehr ein Flimmern, ein Glitzern, wie noch zu Mittag, als uns das Dampfboot herüberbrachte. Auf dem Himmel breiteten sich, wie auf alten Bildern, gebräuntes Gelb und Grün, das sanft im Wasser wiederkehrte.

In der Nähe lagen die Inseln. Drüben über dem Wasser Burano, unter uns Inseln mit Feldern und Gärten; darunter auch solche, die eben in Bildung begriffen waren, Landbänke in allen Zuständen ihrer Entstehung: solche, die sich kaum über das Wasser erhoben und deren jungfräuliche Erde noch ganz von ihm durchtränkt war; überall zwischen schwach gebildeten Inselrändern trat es als Pfützen und Lachen hervor. Dann sah man solche, über die die Bauern schon ein Netz von schmalen Kanälen gelegt hatten, um der Erde den Überschuß an Feuchtigkeit zu entziehen. Andere, da die fettglänzenden Felder sich langsam mit Wachstum füllten, vorsichtig erst, dann immer schwellender, üppiger, überschwenglicher. Deutlich sahen wir aus der Höhe die Anlagen der Pflanzungen: japanisch verhauchtes Gestrichel, das waren die Reisfelder; dann lange Reihen von Artischockenbeeten, bei deren Anblick wir uns der zartesten Freuden der Tafel erinnerten; dann, auf gewisser gewordenem Land: Maisstauden, Mandelbäume und Reben.

Indessen wir so von allen Seiten die Gegend betrachteten, die, als ein Gleichnis der Schöpfungsgeschichte, aus dem Wasser wie aus dem Nichts entstand, wollte uns die Erzählung, die uns der Aufseher zum besten gegeben hatte, als wir nach den Ursachen fragten, die das völlige Verschwinden der alten Stadt bewirkt haben mochten, nur noch wenig einleuchtend dünken. Es war die alte Sage der versunkenen Stadt. Eine Sturmflut, hieß es, habe eines Tages Torcello überschwemmt, und nur die beiden Kirchen seien übriggeblieben.

Anfangs hatten wir diese Geschichte geglaubt, denn sie paßte gut auf die unergründliche Einsamkeit der beiden Kirchen. Nun aber, da wir sahen, wie seicht das Wasser ringsum war, wie bereit es sich zeigte, zurückzuweichen und der Erde den Raum zu überlassen, zogen wir vor, uns an eine andere Erklärung zu halten, die dahin ging, daß aus dem sumpfigen Gelände das Fieber aufgestiegen sei und die Bewohner vertrieben habe. Sie zogen sich auf gesündere Inseln zurück, nach Venedig vor allem, und brachen ihre einstigen Häuser ab, um die Steine anderswo zu neuen Bauten zu verwenden.

Unmittelbar zu unseren Füßen, schon in ihre Schatten versteckt, die der Abend langsam hervorlockte, als das einzig Feste auf dieser schwimmenden schwankenden Landschaft, lagen die beiden Kirchen. Helligkeit war noch auf ihren lachsroten Dächern. Ebenso lag noch ein wenig Helligkeit auf dem Platz davor. Und dort, von Schatten belagert, die sie wie lauernde Tiere umringten, auf einem Taufstein, der auf rührende Art in dieser Umgebung von Nacht seinen weißen Schimmer behielt, kauerte eine Gestalt, die mit nackten Armen ihr emporgezogenes Knie umschlang. Man sah sie von der Seite. Sie wartete. Ihr Rücken war angespannt und gekrümmt, das Gesicht zwischen den Armen verborgen.

Es war Joringel. Wir riefen ihr zu, wir riefen mit vereinigten Kräften, damit sie uns hören konnte. Was mochte sie denken? Hier saß sie, um auf die Freunde zu warten, und plötzlich vernahm sie nun deren Stimmen, ohne zu wissen, woher.

Zierlich und winzig erhob sie sich. Wir winkten ihr zu, wir hörten nicht auf zu rufen, wir schwenkten unsere Taschentücher, und als sie uns endlich erblickte, baten wir sie mit unseren himmlischen Stimmen, sie solle uns auf dem Turm besuchen kommen. Sie selbst blieb stumm, sie gab uns nur mit der Hand ein Zeichen, eine leichte Gebärde war es, die zustimmend aufwärts flog und zu uns flatterte wie eine Taube. Dann ging sie voran.

Wußte sie, in was für eine Gefahr sie sich begab? Indem ich von meiner Höhe aus zusah, wie sie sich vorwärts bewegte, wie sie den einen Fuß vor den anderen setzte, konnte ich nicht umhin, sie als ein durchaus belächelnswertes Geschöpf zu empfinden. Die Verhältnisse und Maße ihres sonst so wohlgewachsenen Körpers zeigten sich seltsam verzerrt. Kümmerlich – der alten vertrauten Anmut beraubt, krabbelte sie über den Erdboden hin, zu dem sie so ganz und gar zu gehören schien, daß es geradezu unziemlich wirkte, als sie, um in die Höhe zu schauen, ihr zartes Angesicht hob: – ein im Vergleich zu den seltsam verkürzten Gliedmaßen unverhältnismäßig großes Menschenantlitz starrte mich an, formlos und weiß in der beginnenden Dämmerung.

Sicher ahnte sie nichts von dieser Verwandlung, und umgekehrt mochte ich ihr, wie ich da oben neben meinen Freunden stand und mit winzigen Armen aus den Säulenbögen zappelte, nicht weniger mißgestaltet erscheinen.

Sie überquerte den Platz; furchtlos begab sie sich unter die lauernden Schatten und verschwand in dem schmalen Durchgang, den die Gebäude zwischen sich offen ließen. Länger als ich vermutete, blieb sie in ihm verschwunden. Mit jedem Augenblick, da ich meinte, sie müsse wieder erscheinen, ward ich enttäuscht. Unbegreiflich lange blieb die Freundin verschwunden, so daß ich, um meine Ungeduld zu beschwichtigen, auf ein kindliches und im Geheimen oftmals betriebenes Spiel verfiel. Ich fing zu zählen an. Ich zählte ganz langsam, um jeder Zahl die Möglichkeit zu gewähren, Joringels Wiederkunft zu bezeichnen. Freilich war ich nicht völlig gerecht. Es gab Zahlen, bei denen ich länger verharrte, weil ihr Wesen mir auf eindringliche Art sympathisch war, und ging über andere wieder rascher hinweg. »Zehn, – elf«, sagte ich bündig und sprach dann langsam und nachdrücklich die folgende Zahl aus: Zwölf. Ich verweilte noch einige Zeit bei ihr und versäumte es nicht, eine längere Pause zu machen, indem ich die Zahlen rasch nochmals durchging. So war es denn auch nicht weiter verwunderlich, sondern höchstens erfreulich, daß Joringel erschien, bevor ich dreizehn gezählt hatte. Ich freute mich darüber in einem Maße, daß ich vergaß, auf ihre Haltung zu achten. Ich konnte nur noch bemerken, wie lotrecht unter mir zwischen den dunklen Hälften ihrer Haare einen Augenblick lang die strenge Linie des Scheitels erstrahlte. Dann verschwand sie im Turm.

Mittlerweile hatte die Dämmerung zugenommen, die Nacht ließ nicht mehr länger auf sich warten. Rasch griff sie jetzt auch nach Westen hin. Schon trennte Venedig als schimmernder Edelsteingürtel das dunkle Wasser vom dunkleren Himmel, mit jedem Augenblick zuckte neues Geschmeide auf, gelbes und rötliches, – wir vermochten nicht mehr, das Geflecht der Inseln um uns her zu erkennen. Auch die Bauwerke waren zu formlosen Massen geballt, Finsternis deckte den Platz. Da entzündete einer von uns ein Streichholz, um seine Pfeife in Brand zu stecken, und erfreut über die Flamme, benutzten wir sie, um ein Blättchen Papier anzuzünden, das wir in die Tiefe warfen. Es brannte, es lohte im Wind seines Sinkens; doch bevor es den Boden erreichte, war es bereits erloschen.

Das war als ein herzliches Zeichen gemeint, um dem Mädchen, das in dem dunklen Turm an einer uns unbekannten Stelle emporstieg, eine Ermunterung zu verschaffen. Wir hofften, es würde die Flamme an einer Mauerluke vorbeifallen sehen ... Nun aber brannte es unzeitig ab.

Als die Freundin die Höhe des Turmes erreicht hatte, war es undurchdringliche Nacht. Aber wir wußten, daß bald der Mond heraufsteigen würde, es war Vollmond, und so beschlossen wir, ihn zu erwarten.

*

Es regnete. Nirgends kann das so trostlos sein wie in Venedig, wenn der Herbstregen einsetzt. Mehrmals am Tag studierte ich die meteorologischen Instrumente, die auf dem Markusplatz am Fuß des Campanile in kleinen Kästchen untergebracht waren. Zarte, mit blauschwarzer Tinte gefüllte Glasröhrchen zeichneten dort auf Zylindern, die mit der Gleichmütigkeit einer Uhr sich bewegten, auf feinliniertes Papier die verhängnisvollen, den Fortgang des Regens bedeutenden Kurven. Es war, als könnte ihre geheimnisvolle Bewegung das Wetter zum Guten oder Schlechten bestimmen. Übersichtlich waren die Zahlen an den Papierrändern angeschrieben. Es fehlte nur, wie es schien, daß der dünne Glasarm in seiner absteigenden Bewegung einhalten möchte, um, eine spitze Kurve beschreibend, schnurstracks die bläulichen Linien empor in die Gutwetterhöhe zu klettern, damit das schwarze, über die Fensterfluchten der Prokurazien einfallende Gewölk sich zerteilte und eine fruchtfarbene herbstliche Sonne ihren durch den Perlmutterdunst der Meerluft gemilderten Schein wie unlängst wieder auf das zierliche, im Freien stehende Täßchen des nachmittäglichen Kaffeehausbesuchers heruntersendete.

Aber es regnete tagelang fort. Zuweilen nahm das Geriesel zu, plötzlich konnte man von einer wilden Flut überrascht werden, Güsse und Wolkenbrüche stürzten auf einen herab und überschwemmten die Gassen. Eiligst fiel man dann in die nächstbeste offene Tür, in einen Postkartenladen, wo man unnütze Dinge erstand, in eine Bar, in der man sich ein Getränk geben ließ, das man verabscheute, oder in das Geschäft eines Früchtehändlers.

Dort, in Körbe geschichtet, sah ich seit Jahren wieder die gelbroten Fruchtbälle der Kakis. Ich konnte nicht widerstehen und wollte ein Pfund davon kaufen. Doch der Fruchthändler riet ab; sie seien zwar gut zum Einkochen, erklärte er freundlich, aber noch nicht ausgereift genug, um sie roh zu verzehren. Und als ich nachsann, hatte er recht. Waren es doch dunstige, laue Weihnachtstage gewesen, als ich die Früchte in einem Tessiner Garten zum erstenmal gesehen hatte. Die schlanken, strauchartigen Bäumchen, in deren Gezweig sie sich drängten, drohten damals fast unter der leuchtenden Last zusammenzubrechen. Die meist durch den Nebel dringende Sonne war von matterem Schein als die Früchte. Und ich hörte wieder das Geräusch, mit dem sie zu Boden stürzten, jedesmal überraschend im lautlosen Garten, – wenn sie zerplatzten, ihr süßes, leicht verderbliches Fleisch vergeudend, das so sanft auf der Zunge zerging ... Der freundliche Händler reichte mir indessen eine der Früchte als Kostprobe dar, und obwohl sie noch hart war und bitter wie Wermut, verzehrte ich sie mit Genuß im Angedenken vergangener Tage.

Jener Zauber, den man Venedig nachrühmt, und dem jeder Reisende, wenn er erzählt, noch etwas hinzufügt, wurde durch den unaufhörlichen Regen bis auf den letzten Rest vernichtet. Die Menschen und all das Menschliche, aus dem Venedig besteht, die Häuser, Paläste und Kirchen, die Bildwerke und Gemälde, waren nun, ohne das eigentümliche Licht der Lagune, plötzlich wie leblos und schienen entdeckt als eine nichtige Welt von Schatten. Am liebsten wäre ich weggereist. Doch aus den Wettertabellen war zu ersehen, daß es überall regnete, wohin meine Reisekasse mich noch zu bringen vermochte. So blieb ich hier, ruhte in meinem Hotelzimmer, ausgestreckt auf dem Bett, und beobachtete, wie die Flecken von Feuchtigkeit an der Decke und an den Wänden sich langsam vergrößerten, und welchen Veränderungen ihre Landkartenformen im Laufe der Zeit unterlagen. Ich entdeckte Arabien und Schottland, lag in der geliebten trockenen Hitze in einer Hängematte oder spazierte im Nebel von Edinburg, ich träumte von Ceylon und Spanien, und konnte dann wohl, verdrossen über solch lügnerischen Zeitvertreib, aufstehen und ziellos im Regen umherschlendern.

Eines Nachmittags betrat ich einen abgelegenen Hof in der Nähe des Rialto, in der Absicht, dort ungestört ein Gebäck zu verzehren, das ich soeben gekauft hatte, um ein unzeitiges Hungergefühl rasch zu beschwichtigen. Tauben, die mich erspähten, flogen herbei; in kurzer Zeit trippelte eine größere Schar von ihnen vor meinen Füßen, alle girrend die Hälse reckend. Ich kam ihrer leicht verständlichen Aufforderung nach und streute Brosamen, die sie mit gierigen Schnäbeln verschlangen. Um ihnen das Brot nicht allzu mühelos zufallen zu lassen, das nach menschlicher Sitte im Schweiße des Angesichts zu erwerben war, spendete ich ihnen als Nächstes einen größeren Brocken, an dem noch die Rinde haftete, und der nicht ohne Umständlichkeit vertilgt werden konnte. Eine der Tauben, die ihren Schnabel in das Weiche des Inneren bohrte, suchte das Stück für sich beiseite zu schleppen, wurde aber sogleich von der ganzen Gesellschaft verfolgt. So oft sie sich auch daranmachen wollte, etwas in Hast hinunterzuschlingen, waren die anderen sogleich bereit, ihr den Besitz zu entreißen.

Plötzlich, während ich zusah, fühlte ich an meinem Bein eine leichte Berührung. Ich wandte mich um und sah eine Katze, die hinter mir lauernd nach Deckung suchte und das Treiben der Tauben mit Spannung verfolgte. Der Brotklumpen wanderte von einem Schnabel zum anderen. Ohne die Gefahr zu bemerken, trippelten die Vögel hinter ihm her, und die Katze wiederum achtete kaum auf meine Gegenwart, da ich für sie in diesem gespannten Augenblick jede Bedeutung als menschliches Wesen verlor und nichts als eine günstige Deckung war, die sich in ihrer leidenschaftlichen, gleicherweise untergangsvertrauten und lebensübermächtigen Tierwelt bot. Ein Stoß von mir hätte genügt, ein Tritt in die Seite, und die Katze wäre zurückgeflogen in das Dunkel des Hausgangs, aus dem sie hervorgeschlichen war. Aber stand es mir zu, in die Geschehnisse dieser so fraglosen und vollständigen Welt von irgendeiner Höhe aus einzugreifen? Ich fühlte mich keineswegs berechtigt, mich von Empfindungen leiten zu lassen, deren ich selbst nicht ganz sicher sein durfte. Ich verhielt mich also ruhig und ließ die Katze gewähren. Auch mußte ich mir gestehen, daß die Gelegenheit, den Ereignissen eines unbefangenen Lebens zuzusehen, mich heftig erregte. Ich war wie gebannt und wartete der Dinge, die da kommen mochten.

Die Katze befand sich in einem Zustand von wilder Aufmerksamkeit. Ihr Leib war nur noch Anspannung und Kraft, Vorsicht und Gier. Lange Zeit strömte die Energie eines kommenden Sprunges wie glühende Lava unter dem Fell ihrer Hinterläufe. Der Kopf mit Augen, die im Dunkeln leuchteten, lag regungslos und dicht auf dem Boden. Und erst im Augenblick, als die Tauben den Brotklumpen vor die Stufen des Eingangs gewälzt hatten und nun zu dritt und viert darüber herpickten, schnellte sie los.

Geflatter erhob sich. Unwillkürlich hatten die Tauben die Gefahr, die ihnen drohte, begriffen. Sie schwangen sich auf, wildes Flügelschwingen rührte die Luft, doch die Katze, die im voraus ein solches Verhalten in ihre Taktik miteinbezog, hatte ihren Sprung mehr in die Höhe gezielt als auf den Boden. Noch in der Luft schlug sie die Krallen in den Rücken einer flatternden Taube, stürzte zu Boden mit ihr, und als ich, plötzlich ernüchtert durch den Ausgang des Ereignisses, mitleidergriffen und zu handeln entschlossen, der Katze die Beute entriß, war der Vogel schon tödlich verwundet. Zuckend blieb er mir in der Hand, während die Katze in weiten Sätzen über den Hof floh. Und als das Streicheln meiner Finger auf dem blutigen Hals sich notwendig in die Bewegung verkehrte, die dem heillosen Dasein zum Ende verhalf, sah ich mich unbeschreiblich bestürzt. Nicht, weil ich versäumt hatte, die Taube zur rechten Zeit vor ihrem Feind zu schützen, sondern weil es mir schien, als sei ich nun plötzlich vor beiden Tieren im Unrecht. Beide waren betrogen, die Katze um das Leben, die Taube um ihren Tod.

*

Im Regen ging ich weiter, tiefer mich in Verwirrung verstrickend. Der Regenabend legte sich rasch auf den schmalen Himmelsspalt über den Gassen. Die Wände der Häuser lösten sich auf zu formloser Dunkelheit. Wege mündeten in sie ein, unversehens stand ich vor Tür oder Mauer, wo sich kaum in einer Ecke noch ein schmaler Durchgang fand, der weiterführte, oder ich sah mich genötigt, zurückzugehen; über Uferpfade und Brücken hinweg geriet ich auf belebtere Straßen, wo Leute sich drängten, Bewegung floß, wo Licht und lautes Wesen war: aber auch dieses blieb seltsam unwahrscheinlich. Fahle Hände von Bettlern, die an Kirchentüren hockten, stummes Gebet vor dunkel verdämmernden Bildern, Augenglanz und das wispernde Wort eines Mädchens, alles verging in dieser Stadt zu gespenstischen Schemen. Was hätte vor ihr bestehen können? Ein Stier, der ruhig, mit nachdenklich gesenktem Gehörn über den Markusplatz schritte, gewiß, er wäre unversehrt geblieben von der auflösenden Luft dieser Welt. Es wäre gewesen, als schritte er durch einen altmodischen, nach Staub und vergangenen Zeiten duftenden Salon. Denn dies auf allen Seiten von Gebäuden umgebene Rechteck, in dem ich stand, war nicht in eigentlichem Sinne ein Platz, kein Raum, der einen Teil der freien Welt in die Enge des menschlichen Wohnens versetzte; es war nur ein gewaltiger Saal, in dem die Front der Markus-Kirche wie ein Gemälde zur richtigen Wirkung gelangte, ein Innenraum, an dessen Ende sie erschien wie das Bild einer Fata Morgana. Der Platz war einzig erbaut, um dem Licht einen Zutritt zu geben. Wenn die Sonne schien, dann verwoben sich die phantastischen Formen der Fassade zu einem licht- und schattengemusterten Teppich. Glühend versank das Gestirn am Abend auf den goldenen Hintergründen der Mosaiken, und nachts, wenn in den Nischen die Dunkelheit nistete und nur das elektrische Licht totenbeinfarben die äußersten Vorsprünge der Front berührte, glich sie dem riesig vergrößerten Kalkgerüst einer gebrechlichen Qualle.

Drei Seiten des Platzes sind von bedeckten Wandelgängen umgeben, unter denen sich bei schlechtem Wetter ein zäher Fluß von Menschen wälzt. Der Platz ist dann leer, zuweilen kobolzt ein Schirm durch den Regen, die Taubenschwärme sind verschwunden, und im nüchternen Licht des Regentages erhebt sich die Front der Kirche wie das ausgebrannte Gestänge eines Feuerwerkapparates.

Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich die Auslagen der Geschäfte betrachtete, die sich unter den Wandelgängen aneinanderreihen. Nur wenige davon zeigten sich wirklich vornehm und dienten in Demut dem Gegenstande. In den meisten wurde der Nichtigkeit gehuldigt, die hier zu einer brutalen und alles besiegenden Majestät kam. Keine Geschmacklosigkeit war entsetzlich genug, um den Blick des Passanten auf sich zu ziehen. Da war im Schaufenster eines Uhrengeschäftes eine bauchige, mit Wasser gefüllte Vase zu sehen, auf deren Boden das offene Werk einer Uhr lag, während ein Goldfisch, ohne sich darum zu kümmern, im Wasser gelangweilte Kreise zog. Gewiß, das konnte dem Veranstalter dieser Schaustellung gleichgültig sein. Es blieb dem Fischchen anheimgestellt, innerhalb dieses Gefäßes zu tun, was ihm lieb war. Es hatte durch seine Schwimmkunst nur zu beweisen, daß der Uhrenverkäufer ein ehrlicher Mann war. Nämlich, es durfte in keinem Betrachter die Meinung entstehen, daß etwa der Inhalt des Glases auf Täuschung beruhe. Indem das Fischchen umherschwamm und Blasen von sich gab, die, wie man es in Bilderbüchern sieht, langsam an die Oberfläche stiegen, konnte darüber kein Zweifel sein: eine Uhr lag wirklich im Wasser. Und das, obwohl es doch jedem genugsam bekannt war, daß schon ein Tropfen von Feuchtigkeit genügt, um eine Uhr zu zerstören. Ja, eine andere Uhr, nicht aber diese. Von welch wunderbarer Beschaffenheit mußte sie sein! Dabei war es möglich, sich ein derartiges Kunstwerk zu kaufen. Zu billigem Preis. O, bitte! Hunderte dieser Uhren füllten das Schaufenster aus, lagen auf samtüberzogenen Stufen, hingen an den Wänden entlang, und jede war der anderen vollkommen gleich. Wer wollte da noch auf böse Gedanken kommen und sagen, daß die Uhr, die geöffnet im Glase lag, etwa doch nicht mehr gehen könnte, wenn es jemandem einfiele, sie aus dem Wasser zu nehmen?

Andere Geschäfte widmeten sich dem Verkauf von Glas, und es zeigte sich, daß diese Materie von einer ungeahnten Verwendbarkeit war. Die ganze Welt erstand ein zweites Mal in ihr. Gondeln aus Glas waren zu kaufen, Blumen und Tiere; eine gläserne Markuskirche war noch das geringste. Auch die Gestalt des Menschen blieb vor der Wandlung ins Gläserne nicht verschont. Tänzer und Tänzerinnen, eine Musikkapelle, ein Hirt mit seiner Herde mußten es sich gefallen lassen, aus Glas zu erscheinen. Doch an Stelle der Kunstfertigkeit und der Lauterkeit des Gefühls, womit die Meister früherer Zeiten zuweilen Ähnliches gebildet hatten, trat hier eine Sucht nach Auffälligkeit und billigem Reiz, die sich besonders im Grotesken gefiel und doch nichts weiter war als albern und läppisch.

Es fehlte auch nicht an Pikantem. Entblößte Frauen aus schwarzem, rotem und blauem Glas, in den verführerischen Stellungen längst vergangener Jahrzehnte wußten, daß sich immer noch Leute fanden, die sich an ihren Reizen entzückten. Man sah die Venus von Milo, auch sie aus Glas gegossen und auf Fingergröße verkleinert. Auf jede erdenkliche Weise trieben solche albernen Zwerginnen ihre Scherze. Sie lagen bäuchlings in Aschenbechern und streckten neckisch einen Fuß in die Luft, damit ein sinnender Betrachter die Asche daran abstreifen möchte. Es gab Parfümflaschen, an deren gläsernem Stöpsel sie als Verlängerung hingen, um alsbald, wenn die Flasche ihrer Bestimmung zugeführt wurde, in wohlriechender Essenz zu baden, bis zu den Füßen, bis zum Busen, bis zum Kopf, je nachdem das Gefäß gefüllt war; um dann, noch feucht von dem duftenden Wasser, an eine in jeder Hinsicht lüsterne Nase geführt zu werden ... Kurz, die Möglichkeiten waren nicht auszudenken.

Was an diesen Dingen aber, so platt sie im Grunde waren, bestürzend und unheimlich wirkte, war ihr gänzlicher Mangel an Individualität, der noch besonders hervorgehoben wurde, indem auch sie, wie die Uhren, serienweise im Schaufenster ausgelegt waren. Die Stücke schienen untereinander beliebig vertauschbar, und indem man sie ansah, mußte man unwillkürlich traurig werden, denn jene Verachtung von Wesen und Wesenhaftigkeit, die im allgemeinen unsere Zeit beherrscht, drückt sich in ihnen mit erschreckender Deutlichkeit aus. Es war nicht die Vielzahl der Gegenstände, die dies bewirkte; es war allein die absolute Tilgung jeglicher Einmaligkeit, die an ihnen stattgefunden hatte, und die gleichbedeutend war mit Verlust von Geist und Leben. Ich suchte mir vorzustellen, wie die Menschen wohl aussahen, die hier als Käufer erwartet wurden. Ich brauchte mich nur umzusehen, sie gingen an mir vorüber, blieben wohl auch vor dem Schaufenster stehen, und überlegten vielleicht einen Kauf, und indem ich sie ansah, war es, als seien sie untereinander ähnlich wie diese Dinge und ebenso leicht zu vertauschen. Kurz darauf, an der Ecke des Uhrturmes, wo die Studenten von Padua nach einer alten Sitte Anschläge befestigen, durch die sie ihre Promotion in Venedig bekanntmachen, fand ich ein zeichnerisches Gebilde, das mir meinen Eindruck unumwunden erklärte. Auf weißem Hintergrunde war ein menschlicher Kopf zu sehen, dargestellt durch strenge Umrißlinien; man sah das gescheitelte Haar, jedes einzelne peinlich gezeichnet, ein Bart war zu sehen, ein Kragen, ein Schlips. Auf dem Gesicht aber waren nur die Bögen der Brauen. Nichts sonst: eine unbezeichnete weiße Fläche. Darunter las man den Namen.

Das war nun freilich spaßhaft gemeint. Mir aber wurde es äußerst bedeutsam. Ich wußte, die Vertauschbarkeit dieser Gesichter beruhte auf ihrer Leere.

Musik, ein Lied, begleitet von Instrumenten, mit der ängstlichen Inbrunst von Straßensängern gesungen, schwang sich über die Köpfe der Menge hinweg.

Es war in einem ärmlichen Viertel, auf einem häuserbedrängten, engen Platz, die ganze Nachbarschaft stand hier versammelt, Türen und Fenster waren geöffnet, überall schauten Leute heraus, und in der Mitte standen die Musikanten, die eben ihr Stück beendeten.

Lautes Klatschen erhob sich. Kupfermünzen, sorglich in Papier gewickelt, regneten aus den Fenstern. Man konnte jetzt auch die Sängerin sehen, eine junge Frau, die ein Wickelkind trug und mit einem kleinen Napf in der frei gebliebenen Hand umherging, um bei den Umstehenden einzusammeln, die so rasch und reichlich gaben, daß sich in kurzer Zeit das Näpfchen bis zum Rande füllte. Obwohl ihr das Kind, das in einem festen, faustgeballten Schlaf lag, schwer über der Schulter lehnte, versäumte sie nicht, jedes Geldstück, das sie empfing, und war es noch so gering, mit einem tiefen, artigen Knicks zu quittieren.

Dann stellte sie sich wieder zurecht. Ein neues Musikstück wurde begonnen, ein langgezogenes, schmelzendes Lied, das die Zuhörer trauriger machte, als es in Wirklichkeit war. Mit durchdringender Stimme sang sie die leidenschaftlichen Worte, trippelte bei kurzen Tönen, wenn sie in die Höhe stiegen, mit kleinen Schritten voran, hob bei einer Kantilene den Arm, als wolle sie den Glanz ihres Tones vor die andächtigen Zuhörer wie ein Stück Seide hinbreiten, ließ, wenn die Tonfülle abschwoll, die Hand entmutigt sinken, machte plötzlich auf ihrem Absatz kehrt, um sich von den Zuhörern abzuwenden, vor denen sie bisher agiert hatte, und begann einer anderen Gruppe entgegenzusingen, indessen das Kind, unbekümmert um das Tun der Mutter, fortfuhr zu schlafen, sich geradezu in den Schlaf verbiß, wie aus der angestrengten Miene seines Gesichtchens hervorging. So gedieh das Lied, von jedem auf das beste unterstützt, bereits eine ganze Weile; schon war ein zweiter Vers angestimmt worden, alle, die Umstehenden wie die beiden Spieler, waren dabei, ein wundervolles Piano zu kosten, als ein Polizist durch die Menge sich drängte, den Alten, der sein Kommen nicht gesehen hatte, von hinten an der Schulter griff und ihn mit barschen Worten anging.

Das Lied brach ab. Es war ein Jammer zu hören, wie es endete. Die Ziehharmonika schwieg zuerst; plärrend sank sie in sich zusammen. Die vor Schrecken übergeschnappte Flöte fuhr noch fort und endete erst, als sie wieder auf den richtigen Ton verfallen war. Am längsten hielt sich die Stimme, die gerade dabei war, ein hohes H zu modulieren, das schmelzend in ein B überging, und sie sang noch, die Frau mit dem schlafenden Kind, als der Polizist schon die erste Frage erhob.

Wer ihm die Erlaubnis gegeben habe, in der Stadt zu spielen, wandte er sich an den Alten. Der begann sogleich seinen zerschlissenen Rock zu durchstöbern, bis er aus der Brusttasche ein Schriftstück von wahrhaft ehrwürdigem Alter hervorzog, schmutzig und mit zerfransten Rändern, das er mit ungeschickten Fingern ergriff, um es auseinanderzufalten und dem Diener der Obrigkeit höflich zu reichen.

Dieser nun hatte freilich gar nichts von einem Diener an sich, sondern erschien wie die Obrigkeit selbst. Nachlässig sah er das Schriftstück an, zuckte die Achseln und sagte etwas in venezianischem Dialekt, was ich nicht verstand. Überhaupt entging mir das meiste von dem aufgeregten Wortwechsel, der nun zwischen dem Alten und dem Polizisten entstand. Doch die Gebärden der beiden und die Zurufe, mit denen das Publikum den Streit begleitete, ließen mir keinen Zweifel, daß der Musikant in gutem Recht zu sein glaubte. Unaufhörlich deutete er mit seinem krummen Finger auf eine Stelle des Schriftstückes, das der Polizist in Händen hielt, wo anscheinend die Erlaubnis, Musik zu machen und zu leben, nach allen Regeln der Rechtskunst zu Papier gebracht worden war. Ich betrachtete den Alten genau, ich hätte es bemerkt, wenn in seinem Eifer irgendwelche Heuchelei gewesen wäre. Was aus ihm sprach, war nicht der Übereifer, mit dem sich Spitzbuben zu verteidigen pflegen. Nein: mochte auch nach Ansicht des Polizisten an dem Schriftstück ein Fehler zu finden sein, die Überzeugung, mit der sich der Greis verteidigte, gründete sich auf den unerschütterlichen Glauben an eine Ordnung der Welt, wonach er auf diesem kleinen venezianischen Platz mit den Mitgliedern seiner Familie Musik machen durfte, ohne damit gegen irgend ein Gesetz zu verstoßen. Das war so gewesen, solange er lebte. Und wenn da nun einer daherkam, und war es auch ein Vertreter der Obrigkeit, um Einspruch zu erheben, so wurde damit nicht nur sein eigenes Tun in Frage gestellt, sondern die ganze, seit alters bestehende Sitte, derzufolge Menschen unter freiem Himmel musizieren, um damit ihr Brot zu verdienen. Die Erregung des Alten war unbestreitbar ein heiliger Eifer, der sich um eine überpersönliche Sache erhitzte.

Da geschah es, daß der Polizist Überraschendes tat. Ohne noch länger auf die Reden des Musikanten zu hören, ergriff er mit gespreizten Fingern das fragliche Schriftstück, faßte es an der Mitte des oberen Randes, hielt es weit von sich ab, als sei er ein Henker, der dem versammelten Volk den Kopf eines eben Gerichteten zeigte, und riß es mit einem Ruck von oben bis unten entzwei. »Ecco!« Er legte mit Sorgfalt die Stücke übereinander, »ecco!« zerriß sie ein zweites Mal und fuhr damit fort, bis er auf dem Handteller nur noch kleine Fetzen behielt, die er mit zierlichem Schwung in die Luft blies.

Der Alte rührte sich nicht. Mit hängenden Armen, ohne ein Wort zu äußern, stand er dabei, aufmerksam, als wolle er dem Polizisten hinreichende Frist gewähren, um alles in Ruhe zu tun. Dann aber war es an ihm, mit Unerwartetem aufzutrumpfen. Und wirklich: niemand hatte die Absicht des Alten vermuten können, alles schrie auf, als er mit mächtigem Satz dem Polizisten entgegensprang, ihm an die Kehle fuhr, und ihn, der zunächst vor Überraschung erstarrte und unfähig war, sich zu wehren, nach hinten zu Boden fällte und alsbald unter klagendem Geschrei mit seinen dürren Fäusten auf ihn einhieb.

Eine niemals für möglich gehaltene Kraft mußte in diesen Augenblicken ihm zur Verfügung stehen. Obwohl der Polizist, der ein kräftiger, großer Bursche war, nach wenigen Sekunden die Lage erfaßte und nun versuchte, sich tüchtig zu wehren, schien es von Anfang an entschieden, daß der Alte es war, der in diesem ungleichen Kampf die Oberhand hatte. Wild ineinander verbissen, keuchend wälzten sich die Gegner auf dem Pflaster, und so oft es auch dem Polizisten gelang, im Laufe der Zeit obenauf zu kommen, der Alte brachte ihn immer wieder zu Boden. Er schien weder Schmerz noch Ermattung zu spüren. Unbezwinglich hockte er auf der Brust seines Gegners, umschlang dessen Arme mit den seinen und preßte sie ihm fest an die Seiten, und da ihm selbst durch diese Angriffsweise die Arme gebunden waren, schlug er blindlings mit seinem Vogelkopf auf das Gesicht seines Gegners ein.

Die Zuschauer, ich selbst nicht ausgenommen, hatten samt und sonders die Partei des Musikanten ergriffen und frohlockten, sooft der Polizist zu fluchen begann. Bald tat er es nur noch leise, atemlos und ohne Kraft. Alles deutete daraufhin, daß es dem Alten gelingen würde, seinen Gegner, wenn nicht zu überwältigen, denn wer wollte hier gleich an das Schlimmste denken? so doch fürs erste unschädlich zu machen, um mit seiner Familie in das Labyrinth der Gassen zu entfliehen.

Da aber trat nun der Flötenspieler hinzu, entschlossen, diesen Kampf, der seine sanftmütige Seele mit Entsetzen erfüllte, um jeden Preis zu beenden. Sicher bedachte er in diesem Augenblick nicht, daß er den Vater seiner Frau einer bitter rächenden Gerechtigkeit überlieferte, wenn es ihm wirklich gelang, ihn von seinem Gegner abzubringen.

Er näherte sich mit Vorsicht, auf den Fußspitzen gehend, dem am Boden liegenden Paar. Er balancierte mit vorgestreckten Armen und reckte den Hals nach rechts und links, als wolle er seine Scheu damit abschütteln. Und als er sich endlich zu den Kämpfern hinunterbog, da lachten wir alle, denn es war, als nahte ein unbeholfener Knabe der schönen Prinzessin. Niemand traute ihm zu, daß er ernstlich Entscheidendes ausrichten konnte.

Aber seltsam genug: es geschah. Der Flötenspieler rührte den Alten nur leicht an der Schulter, es war ein fast unmerkliches Auflegen der Hand, begleitet von einem vorsichtigen Neigen des Kopfes, »Vater«, sagte er. Und der Alte, wie von einem Zauber getroffen, ließ von seinem Gegner mit einem Mal ab, seine unheimliche Kraft schwand dahin, sein Zorn sank zusammen, und das Wunder war plötzlich zu Ende. Berührung und Wort des Vertrauten hatten genügt, damit er aus dem feurigen Himmel seiner Stärke zurücksank in Schwäche und Wehrlosigkeit.

Zugleich mit der Ernüchterung machten sich die Folgen des Kampfes bemerkbar. Während der Polizist seine Fassung gewann und unter wüsten Verwünschungen sich allmählich erhob, blieb der Alte am Boden zurück, kauerte, hörte, wie ein altes, zerrupftes Huhn, nicht auf, am Boden zu kauern, starrte mit lidlosen Vogelaugen ins Ungewisse und sank bei jedem Versuch, sich auf die Knie zu erheben, kraftlos zur Seite.

Die Welt war wieder in Ordnung. Der Schwache lag, wie es sich ziemte, darnieder, und daß ihn noch vor kurzem die Kraft beseelt hatte, sich einige Minuten lang mächtig zu erweisen, das gereichte ihm jetzt zum Fehl, daraus mußte bei aller Großartigkeit, die es hatte, notwendig Strafe und Buße erfolgen. Greifbar lag es in der Luft. Wir alle, die wir dabeistanden, spürten das nahende Unheil, es war, als senkte sich dunkel ein Vogelschwarm auf uns nieder. Der, dem es zustand, der Starke zu sein, und der in diesem Rechte soeben bitter gekränkt worden war, der Polizist, war schon im Begriff, seine Stellung und Würde wieder aufzurichten. Er schlug sich den Staub von den Kleidern. Er rückte seine in Unordnung geratene Uniform zurecht, wütend schrie er nach seinem Helm, den er im Kampf verloren hatte; wo war er? Niemand konnte es sagen, der Helm blieb verschwunden. Ein Spaßvogel mußte ihn unbemerkt weggeschafft haben, als der Kampf alle Augen in Anspruch nahm. Schon wagten ein paar Leute zu lachen. Um den Spott nicht noch stärker herauszufordern, gegen den er sich machtlos fühlte, entschloß sich der Polizist, die Nachsuche einzustellen, und wandte sich wieder dem Sünder zu, dem er mit neu gewonnener Fassung und mit der erdrückenden Fülle seiner Macht entgegenzutreten gedachte. Aber was wollten jetzt noch die Flüche bedeuten? Verwünschung, Beschimpfung und Drohung? Indem der Buntbetreßte den lauten Lärm des Weltgetriebes entfesselte, daß es tosend von den Häusern des Platzes zurückscholl, wurde schon längst nach einer anderen Melodie gehandelt, nach einer, die sich unhörbar für uns alle vollzog und nur von dem Flötenbläser und der jungen Frau vernommen werden konnte. Doch war es den Zuschauern möglich, den Rhythmus, nach dem sie ging, aus den Bewegungen der beiden abzulesen. Liebreich hatten sie sich zu dem Alten hinuntergebeugt, die Tochter, deren Kind eine zuschauende Frau in Hütung genommen, holte aus ihrem Busen ein Tüchlein hervor, säuberte mit dem reinen Gewebe den Kopf des Alten, der Sohn legte ihm den Arm um den Hals, um ihn aufrecht zu halten, und sprach mit tröstenden Worten auf ihn ein. Und ohne sich um den zornigen Ordnungshüter zu kümmern, warteten beide geduldig, bis der Alte wieder zu Kräften kam. Als er sich fähig fühlte, sich unter dem zärtlichen Beistand der beiden zu erheben, nahmen sie ihn in die Mitte, stützten ihn unter den Armen, die Frau erbat sich ihr Kind zurück, an dessen Schlaf die Ereignisse machtlos vorübergegangen waren, sie nahm es auf ihren Arm, und der Flötenbläser schleppte die Instrumente: – so schritten sie dem helmlosen Polizisten voran, der ihnen mit barschen Worten den Weg wies.

*

Seit das Wetter sich aufgeklärt hatte, wohnte ich Venedig gegenüber am Lido. Die kurze Wasserstrecke wurde von großen bequemen Motorbooten zurückgelegt, die an der Riva degli Schiavoni anlegten. Auf dem Hinweg nahm ich meinen Platz am Heck, auf dem Rückweg stand ich am Bug. Dadurch hatte ich, solang die Überfahrt währte, beständig den Dogenpalast vor Augen.

So, von der Wasserseite betrachtet, erklärte sich die Gestalt des Bauwerkes, das allem architektonischen Herkommen und Gesetz widerspricht, als eine natürliche Folge seiner Lage. Der Palast ist dem Wasser entgegengebaut, die abfahrenden und ankommenden Schiffe sollten ihn sehen, und da der flache Grund, auf dem er steht, schon auf geringe Entfernung im Wasser versinkt, so mußte das Gebäude, wenn es wirklich stehen und nicht als eine schwimmende Masse erscheinen sollte, auf ein tüchtiges Pfahlwerk gegründet sein. So wächst, kaum mehr als mannshoch, doch dick und stämmig, eine Reihe von Säulen empor, über die sich breite, gotische Spitzbögen spannen. Darüber verzweigt sich ein weiteres Gerüst, aus vielfach verschlungenen Formen erblüht eine gotische Galerie, und dann erst folgt die feste Wand, die einstmals Herz und Haupt der Stadt umbarg, deren weite und leere Fläche von einem Rautenmuster aus ocker- und rosagefärbten Backsteinen belebt wird.

Von der Landestelle am Lido hatte ich noch eine gute halbe Stunde zu gehen, bis ich das Hotel, wo ich wohnte, erreichte. Der Weg begann mit einer Straße, die die schmale Insel des Lido schnurgerade durchquert. Auf beiden Seiten säumten sie die Reihen riesiger Platanen, die trotz des vorgeschrittenen Herbstes ihr fröhliches Grün behielten. Doch daß der Sommer dahin war, erkannte man an den Hotels, an denen die Fensterläden geschlossen waren, und an den Landhäusern, die verlassen in ihren Gärten lagen. Kaum ein Mensch war auf der Straße zu sehen. Man passierte Plakatanschläge, die immer noch in bunten Farben und Bildern zu längst vergangenen Festlichkeiten luden. Sommerliche, sternenbesäte Nachtbläue war auf ihnen abgemalt, man sah aneinandergeschmiegte, tanzende Paare, ein silberner Mond stand am Himmel, schimmerte durch das schwarze Fächerwerk einer Palme; all das war an irgendeinem Mittwoch oder Donnerstag im August gewesen.

Zuweilen, wenn ich die Allee entlangging, lud mich wohl der eine oder andere Geschäftsinhaber ein, seinen Laden zu besuchen. »Kommen Sie«, sagte er, »Sie brauchen ja nichts zu kaufen.« Weit und breit war ich der einzige, der wenigstens den Anschein eines Käufers erwecken konnte. Sicher war der Geschäftsinhaber nur von dem Verlangen geplagt, wieder einmal ernstlich über seine Waren zu plaudern, ohne dabei auf eine Einnahme zu hoffen. Gerne gab ich der Bitte nach und ließ mir die schönen Dinge zeigen. Es war nicht anders, als wenn Kinder unter sich Kaufladen spielen. Denn in Wirklichkeit gab es hier nichts zu kaufen. Alle Dinge waren ausschließlich für den Sommer bestimmt, die Badetrikots aus schmiegsamer, zarter Wolle; die leichten Sandalen aus hellem Leder, die riesigen Hüte aus Panamastroh: wo war das Wasser, der Sand, die Sonne dazu? Und die aus Bindfaden geflochtenen Täschchen, die kleinen Schirme aus roter Seide, ein reizender Gürtel aus Fischhaut, als Mitbringsel für den Abendbrottisch geeignet: ich lächelte, betrachtete alles genau und zuckte die Achseln: »Sono solo.«

Man hielt sich gerne auf dieser Straße auf. Nachts entwarfen die Laternen eine unabsehbar lange Perspektive. Stille und eine endlose Verlassenheit zog durch sie hin, bedrückend, gewiß. Doch wer diese Stimmung ertrug, dem gab sie am Ende Gleichmut und jenseitige Heiterkeit.

Man schlenderte und hatte nichts zu versäumen. Geflissentlich übersah man das welke Laub auf dem Boden. Es war wirklich nicht viel, und ein Grün, ein dichtes, unüberwindlich erscheinendes Grün hing im Geäst der Platanen, so weit man sah, bis an das Ende der Straße.

Sie ist eine prachtvolle Auffahrt, wie es dem Gegenstand ziemt, zu dem sie führt. Sie verbindet Lagune und Meer. Wo sie endet, an der Balustrade, hinter der der Sand liegt, blieb ich stets eine Weile stehen und begrüßte mit stummem Anblick die Weite.

Die Weite sprach. Sie besitzt eine Stimme, mit der sie mächtig zu singen vermag. Ein melodieloses Singen ist es, eine Stimme, die nur drei oder vier verschiedene Töne kennt, doch die einen wilden aufpeitschenden Rhythmus singt, der alle Sehnsüchte weckt und jedes abgestumpfte Herz erschüttert.

Ich ging dem Meer entlang. An der Straße, die sich nun dem Strande entlang zog, standen die Bäume kahl. Spätblühende Beete brannten noch rot und gelb. Doch das entlaubte Geäst der Silberweiden bestimmte den Eindruck. Bräunlich stand es an trüben Tagen vor dem schieferblauen Himmel. In stumpfem Graugrün lag das Meer, auch die Wellenkämme waren glanzlos. Überall siegte das Matte und Zarte. Die Tinten des Sommers, die Badehütten und Zäune, die festlich gefärbt waren, rot und orange, lagen tonlos dazwischen, an Musikinstrumente erinnernd, an zerbrochene Trompeten und Pauken, die, obwohl ihrer Gestalt nach zum Lärmen bestimmt, nun unbrauchbar geworden umherlagen und schwiegen.

Nur das Meer musizierte, unaufhörlich seine harten Rhythmen schlagend. Der gleichförmige Grundton wurde von den Wellen gemacht, die in der Ferne verschäumten, er klang dunkel und dumpf wie das Brausen in einer ans Ohr gehobenen Muschel. Von ihm begleitet dröhnte der synkopische Takt der in der Nähe brandenden Wellen, abstürzend und auslaufend die eine; dahinter die andere im Aufstieg sausend. An hellen Tagen war der Rhythmus bacchantisch und leidenschaftlich, an trüben klang er wie ein Lied der Verzweiflung, die in der Einsamkeit gleichförmig klagt ...

Kurz vor meinem Hotel lagen von Lorbeer umgebene Tennisplätze, wo um die Mittagszeit, wenn die Sonne noch warm war, weißgekleidete Paare spielten, denen ich mit großem Vergnügen zusah. Der Gedanke, daß die vollkommenste Handlung des Menschen das Spiel sei, ließ sich vor diesem Beschwingt- und Bewegtsein, in dem sich die Spieler befanden, nicht mehr bestreiten. Das Tun, in dem kein weiterer Sinn war als der, daß es einfach getan wird, der Spieltrieb, der am reinsten im Kind wirkt und der jede Arbeit zu adeln vermag, wenn er ihr innewohnt, erschien bewunderungswürdig und erhaben über jeden Vergleich. Konnte noch etwas wichtiger sein als die Begierde, einen Ball durch die Luft zu treiben? Alle Schwere verging, löste sich auf in Sprung und Flug. Beliebig vermochten die Spieler sich in die Luft zu erheben. Der Ball fuhr hin wie ein Geschoß, scharf über das dünne Netz hinweg. Der Blick vermochte ihm nicht mehr zu folgen, er zuckte im Abstand zwischen den Racketts nur noch als blendender Strahl, und das Mädchen und der Junge duckten sich, sprangen auf, mühelos tanzten sie über das hellrote Feld, ständig bereit, den Ball zurückzuschlagen; es war, als könnte das niemals ein Ende nehmen. Doch einmal wurde der Ball zu niedrig gezielt, er verfing sich im Netz, zappelte darin wie ein ins Garn geratener Vogel und fiel dann, während das Mädchen ihn glitzernd belachte, tot auf die Erde.

Das Hotel, in dem ich wohnte, war neu erbaut und lag auf ziemlich freiem Gelände unmittelbar am Strand. Blank und sauber empfing es den Gast. Ging man über seine hellen Treppen und Gänge, so ergriff einen eine tiefe Zufriedenheit über die Zeit, die dieses Bauwerk errichtet hatte. Zuversicht und Stärke ging von ihm aus, man sah getrost in die Zukunft und freute sich, daß es einem vergönnt war, gegenwärtig zu leben. Mein Zimmer, geräumig und hoch, machte nicht den geringsten Versuch, den Gast mit Gemüt zu umgeben. Es wollte nicht mehr und nicht weniger als ein neutrales und praktisches Zimmer sein, das man mit Vergnügen betrat und, ohne Umstände zu machen, wieder zurückließ. Nirgends hing hier eines der Bilder, die wohl den Geschmack des Besitzers erfreuen, doch den des Gastes aufs schlimmste beleidigen, noch war da eine der bösen Tapeten, Quälerin schlafloser Nächte, aus deren irrsinnigem Muster einem die Blicke aller vorhergegangenen Gäste entgegenstarren. Ein lichtes Gelb bedeckte ununterbrochen die Wände und erinnerte, je nach Beleuchtung, an Weizenfelder und sonnenbeschienenen Sand.

Die eine Seite des Zimmers war ganz dem Licht bestimmt. Man öffnete die gläsernen Türen, man trat auf einen Balkon und blickte über das Meer. Zuweilen nahm ich mir vor, nur für eine Sekunde hinauszusehen, eine Minute lang höchstens. Doch jedesmal blieb ich. Das Meer war von magischer Kraft. Jede Ruhe ertrank in seiner riesigen Fläche. Es hielt die Seele in dauernder Spannung. In jedem Augenblick war es bereit, sie in sich einzuschlingen. Mit unaufhörlichem Wellenwirbel schlug es den Rhythmus und sang: Das sichere Haus geht unter, der mächtige Wagen geht unter, ein Felsen, ein Garten ertrinkt, nur der schmiegsame Fisch bleibt der gleiche. Eine Seele, die mit dem Meer sich berührt, geht unter oder verändert sich, wird in ein Schiff verwandelt, schafft einen Raum in sich, der vor dem Schlagen der Welle gesichert ist. Ihre Form wird schlank sein wie ein Delphin, vom Druck des Wassers gebildet, geschickt, es leicht zu durchfurchen. Segelwerk setzt sie, herrliches Werkzeug der Seele, sie gebraucht alle Winde, um den gestaltlosen Raum zu durchqueren. Sie landet an fernsten Ufern, nach Sturm und verzweifelter Windstille sichtet sie Land: seltsame Lust! sie geht nun für Stunden vor Anker, sie weilt nicht, sie wohnt nicht, sie nimmt von den Schätzen nur mit, was der Laderaum hält, und die Versuchung der Leere verlockt sie aufs neue.

So fliegt sie hin, die Segel zum Reißen gespannt, auf dem Grunde von Himmel und Wasser, auf dem Hintergrunde des Nichts, wirklicher als irgend etwas aus der Greifbarkeit dieser Erde.

*

Außer einem Mann aus Udine war ich der einzige Gast des Hotels. Die Badesaison war vorüber. Die Familie des Besitzers, siebenköpfig, nahm ihre Mahlzeiten in dem weiten Speisesaal ein, in dem für mich ein kleines Tischchen reserviert war. Ich hatte beständig die (sicher unbegründete) Empfindung, als wäre ich hier aus Barmherzigkeit gerade geduldet und erhielte nur, was drüben vom Tisch der Großen für mich abfiel, besonders, wenn ich zu einer Mahlzeit zu spät kam und der Kellner mir nachservieren mußte.

Stets herrschte eine bedrückte Stimmung im Saal, deren unverkennbare Ursache in der ältesten Tochter des Hauses zu suchen war, einem erwachsenen Mädchen, das mit verweinten Augen zu Tisch kam und kaum etwas von den aufgetragenen Speisen aß. Es wurden nur die notwendigsten Worte bei Tisch gesprochen. Meistens herrschte Schweigen. Die Stiefel des ein- und ausgehenden Kellners knarrten in dem weiten Saal, man hörte das Klappern der Bestecke, und vor dem Fenster summten verzweifelt einige Winterfliegen.

Der Mann aus Udine saß meinem Tisch gegenüber. Es war ein älterer Herr von unvorstellbar großem Umfang des Leibes. Er erschien zu den Mahlzeiten mit einer blauen Mütze auf dem Kopf, die er abnahm, sobald der Kellner die Speisen brachte. Dann wurde es offenbar, daß seinem in Fett gebetteten Schädel jeglicher Haarwuchs fehlte. Schon sein Kopf war ein abstoßender Anblick. Zwischen aufgetriebenen, bleichen Wangen verschwand eine kleine Nase, Augen und Mund waren kaum bemerkbar.

Tagaus, tagein bestand seine Mahlzeit aus geröstetem Brot und weichgekochten Eiern, die er mit durchdringendem Geräusch ausschlürfte, bevor er sie, einen kleinen Löffel gebrauchend, ihres restlichen Inhalts entleerte. Er aß langsam und umständlich, wälzte das geröstete Brot minutenlang im Munde und trank dazu in kleinen Schlucken ein Glas Zitronensaft.

Eines Abends verließ er nicht wie gewöhnlich auf geradem Wege den Saal, sondern wandte sich unvermutet zu dem Tisch der Familie. Betreten blickten die Erwachsenen vor sich hin, der Vater, die Mutter, der älteste Sohn. Das Mädchen aber, erschrocken, sah ihm entgegen, während die drei kleinen Geschwister mit den Löffeln zu klappern begannen, als wollten sie den wandelnden Berg damit bannen.

Angelangt vor dem Tisch, stieß er einige abgebrochene Worte hervor, von denen ich nur den Namen Elena verstand. Das Mädchen brach in Tränen aus, begann verzweifelt zu schluchzen und breitete ihre Arme über den Tisch, um ihr Gesicht darin zu verbergen.

Darauf kehrte der Mann wieder um. Er bewegte sich langsam zur Tür, er ging an mir vorüber, und soweit sein unförmiges Antlitz des Ausdrucks fähig war, verbreitete sich darüber Betrübnis und trostlose Traurigkeit. Eine Falte warf sich auf seiner Stirn, mitten darüber zog sie sich hin, eine Rille, die ich bisher noch nie auf ihr gesehen hatte. Der Mund stand offen, man sah, daß er zahnlos war.

Ich begab mich nach diesem peinlichen Vorfall unauffällig hinaus und setzte mich in die Bar, wo mir Rino, der älteste Sohn des Hauses, einen Vermouth und eine Grappa zusammengoß.

»Sie ist mit ihm verheiratet«, begann er ohne Umschweife. Er mochte sich mir als dem einzigen Gast des Hauses wohl zu einer Erklärung verpflichtet fühlen und hatte keine passende Einleitung finden können. »Meine Schwester hat ihn geheiratet, weil er uns mit seinem Geld aus der Patsche geholfen hat. Sie müssen wissen, es war ein schlechter Sommer für uns, dieses Jahr. Und das Hotel hat sich nie recht gelohnt, wir hatten Schulden. Meine Schwester hat den Mann vor einem Monat geheiratet. Nach einer Woche kam sie wieder zurück. Sie können sich denken, warum. Der Mann ist ihr mit dem nächsten Zug nachgereist und wohnt jetzt bei uns. Es ist schrecklich.«

Er sah mich flehend an, als wüßte ich einen Rat. Was konnte ich sagen? Ich besann mich und gab zu bedenken, daß unter den Umständen, die anscheinend vorlagen, von Seiten der Kirche kein Hindernis bestehen könne, die Ehe zu lösen.

»Er will nicht«, entgegnete Rino, »er ist in Elena leidenschaftlich verliebt. Und dann, bedenken Sie! Unser Geschäft ...«

Ich träumte. Der Traum war von solcher Lebhaftigkeit und seine Welt erschien mir derart wirklich, daß ich, als ich die Augen aufschlug und Licht im Zimmer sah, glaubte, ich hätte mich bisher wach befunden und dies hier wäre ein Traum. Ich fühlte, wie sich eine Hand auf mich legte, ich ließ es geschehen mit jener Duldsamkeit, mit der man in einer Traumwelt darauf verzichtet, nach Ursache und Grund zu fragen. Doch die Hand begann mich zu schütteln, ich fühlte, ich war wach und hörte, wie eine Stimme sprach, eine andere als vorher im Traum: »Stehen Sie auf. Ich bitte Sie, helfen Sie mir.«

Elena beugte sich über mich. Gleich einer sagenhaften Kriegerin stand sie da, den Oberkörper entblößt, nur mit einem Rock bekleidet. Ich suchte unwillkürlich nach Schild und Bogen.

»Kommen Sie«, bat sie nochmals mit dringender Stimme.

Ich erhob mich, so wie ich war, in meinem zerknitterten Bettanzug, und trat auf den dunklen Gang. Elena war schon vorausgegangen. Als ich draußen stand und mich umsah, war sie verschwunden. Aber die Tür des benachbarten Zimmers stand offen; Licht brannte in ihm. Als ich eintrat, sah ich den Mann aus Udine ausgestreckt auf seinem Bett. Er regte sich nicht. Unbekleidet lag er da, gewaltigen Leibes, und mir schien es zuerst nicht anders, als sei er in eine mächtige Trunkenheit gesunken. Seine Fülle, wie sie dalag und ruhte, ganz in Ruhe versunken, ein enormer Haufen irdischer Üppigkeit, rötlich vom Lampenlicht überhaucht, ließ mich als erstes Heiterkeit empfinden. Freude ergriff mich, den Mann, der mir stets so unbeholfen und kläglich begegnet war, nun endlich des Glückes teilhaftig zu sehen: als wäre seine Seele in den ihr bisher feindlich gesinnten Körper endlich in Frieden eingegangen, lag er da. Dieser Mensch, dachte ich, dürfte sich nie mehr erheben. Immer müßte er liegen bleiben, mächtig ruhen und lagern, damit nie mehr in sein Dasein ein Widerspruch träte. Sobald es ihm wieder einfällt aufzustehen, muß ihn die Lächerlichkeit der Bewegung aufs neue befallen. Sein Körper ist nun einmal nicht um sich zu bewegen gemacht. Kommt ihn die Lust an, seinen Aufenthaltsort zu verändern, so muß er sich auf einem Tragbett umhertragen lassen. Von dunkelhäutigen Dienern, gegen die sich die Helligkeit seines Körpergebirges erlesen und vornehm abheben würde. Bewegungslos müßte er ruhen, lagern in der Stille von heißen Gärten; Blumen müßten ihn umgeben, rote Gladiolen, und Räucherpfannen, aus denen der Wohlgeruch kräuselt, über seinem Haupte müßte ein goldener Käfig mit unaufhörlich schnatternden Papageien schaukeln ... Zusehends würde sein Leib an Umfang gewinnen, ein mythisches Wachstum hübe an, zusehends würde die Ruhe seiner Seele sich vertiefen ... Die Kunde von einem unerhörten Glück durchliefe die Welt ...

Elena stand an der offenen Balkontür, ohne ein Wort zu sprechen. Überwältigt von dem außerordentlichen Anblick, hatte ich sie ganz außer acht gelassen und wurde mir ihrer Anwesenheit erst wieder bewußt, als mein Blick auf eine dunkle Bluse fiel, die auf dem benachbarten Bett lag.

Ich wandte mich um. Ein uralter, ein gleichsam sagenhafter Schmerz war über ihr Antlitz gekommen und hatte es verwüstet. Zugleich aber sprach aus ihm die Kraft der stillen Verzweiflung, mit der der Einsame eine feindlich verschworene Welt besteht.

Es war deutlich, sie erwartete nichts von mir. Ohne ein Wort zu sagen, nur durch ihr Schweigen, verwies sie mich an den reglosen Mann, mit dessen Stille sie nicht mehr fertigwerden konnte. Sie hatte mich geweckt, damit ihm jemand zu Hilfe kam. Was sie selbst anbetraf, lehnte sie jeglichen Beistand ab, ja, sie hätte ihn, wäre er ihr in diesem Augenblick angeboten worden, selbst als reine, vollkommene Güte, fürchten und hassen müssen. Jedes Wort einer Anteilnahme hätte sie jener wilden Kraft beraubt, durch die sie fähig wurde, trotz aller Verwirrung sich aufrecht zu halten. Ich verstand, warum sie den Fremden, den zufälligen Gast geweckt hatte, und warum sie sich scheute, ihre Eltern als erste an diesen Ort zu holen.

Ein unbestimmter süßlicher Geruch, teils betäubend, teils abstoßend, den die frische Luft, die durch die Balkontür kam, nur verdünnen und nicht vertreiben konnte, durchdrang das Zimmer. Auf dem Nachttisch lag ein halb geleerter Flacon. Ein blutgetränktes Tuch verwickelte sich um meine Beine.

Und wirklich, als ich näher trat, sah ich, daß der Mann aus Udine ein frieden- und glückerfülltes Gesicht trug, wie ich niemals gedacht hätte, daß er es einmal trage. Ich griff an seinen Puls, konnte aber nicht erkennen, ob er stillstand oder noch schlug. Ich drückte mein Ohr an die Stelle, wo ich das Herz vermutete, und hörte ein leises ungleichmäßiges Pochen.

Ich ging und benachrichtigte telephonisch einen Arzt. Über der Unruhe, die allmählich im Hause entstand, erwachten Elenas Eltern. Sie stürzten herbei, notdürftig bekleidet, lärmten und schluchzten ... Man hörte auf der Straße das surrende Geräusch eines Motors; der Krankenwagen kam an.

Von beiden Seiten umklammerten die Eltern den Arzt, der den Kranken untersuchte. »Gehirnlähmung«, sagte er trocken. »Nicht unbedingt tödlicher Ausgang.«

Man seufzte erleichtert. Wärter und eine Schwester tauchten auf, eine Bahre wurde herbeigebracht. Als der Kranke transportiert werden sollte, ereignete sich ein tragikomischer Vorfall, wie er fast zu erwarten stand. Die beiden Krankenpfleger, von denen der eine an Asthma litt, bemühten sich vergeblich, den schweren Körper zu heben, ihre Kräfte reichten nicht aus, und als der Arzt und ich selbst mit angriffen und wir den Körper glücklich auf die Bahre gebracht hatten, brach nach den ersten Schritten, die die Wärter taten, das leichte Gestell entzwei, und nur mit Mühe wurde der Kranke, indem wir alle gleichzeitig zusprangen, vor einem gefährlichen Sturze bewahrt.

Man telephonierte, man wartete, Elena wurde von ihren Eltern mit dummen Fragen belästigt, die, es versteht sich, nicht sehr präzis waren. Gewisse Grenzen des Aussprechbaren sollten gewahrt werden, andererseits wieder wollte man doch möglichst genau unterrichtet sein, kurz, es war eine äußerst unerquickliche Unterhaltung, und ich zog mich zurück, sobald ich annehmen konnte, daß man meiner Hilfe nicht mehr bedurfte.

*

Das Pferdchen aus Holz, mit dem ich als Knabe gespielt hatte, war stattlicher anzusehen gewesen als das Tier, auf dem ich ritt. Aber was gelten die feurigsten Augen, wenn sie Glasperlen sind, und was bedeutet das glänzendste Fell, wenn es nach Lackfarbe riecht, vor einem alten, aber wirklichen und mit allen Fasern lebendigen Pferd?

Es gehörte einem Gärtner, bei dem ich es gegen ein kleines Entgelt, sooft ich wollte, entlieh, und trug den Namen Armida.

Ich hatte lange gezögert, bevor ich es erstmals bestieg. Sein Fell, das seit Jahren nicht mehr gestriegelt worden, glich einem abgetragenen Rock mit verdächtig glänzenden Nähten; an den Knochen glänzte es nämlich. Und der Schweif und die Mähne, das war in einem Maße verfilzt, daß ein Kamm, den ich kaufte, sich machtlos dagegen erwies. Mehrmals schon war ich in den morschen Schuppen getreten, um mir das Tier zu betrachten. Gespenstisch stand es im Dämmerlicht, vielleicht in die Träume versunken, die als Dunst und Gerüche die enge Behausung erfüllten. Abgeschieden vom Tag, der draußen herrschte, stand es, als warte es nur auf die mitternächtliche Stunde, um sich in die Luft zu erheben und, die Insel verlassend, die sachlich und nüchtern war, zu einem verrufenen Ort auf dem Festland zu fliegen.

Eines Tages, als ich es wieder besuchte, drehte es sich um, als erkenne es mich, und als ich näher trat, begann es zu wiehern und rieb seinen Pferdekopf zärtlich an meinem Arm. Es schnupperte, dann stieß es einen langen Freudeatem durch die Nüstern, und ich, gerührt von diesem Verhalten, band es los, zäumte es und gab ihm den Namen Rosinante.

Es war nicht jeden Tag in gleich guter Form. Es konnte sich manchmal plump wie ein Esel benehmen, trottete vor sich hin und verfiel in einen Gang, der das Notdürftigste war, wodurch sich ein vierbeiniges Wesen vorwärtsbewegt. An solchen Vormittagen mußte ich umkehren. Kein Zuspruch, kein Apfel, nichts half.

Dann aber konnte sich Rosinante auch der Tage früheren Glanzes entsinnen, der Pappelalleen mit aufgeworfenem Reitweg, sie dachte wieder an die langröckigen Damen, wie sie einst seitlich im Sattel saßen, kokett und herrisch, verzärtelt und tieräugig ... dann riß sie ihre besten Kräfte zusammen und trabte mit altmodischer Grazie dahin, mit einer überjährigen Anmut, die in dieser jungen Landschaft am Lido eigenartig und rührend sich ausnahm; ich spürte es unter dem Sattel. Aber wir waren allein auf dem langgezogenen Strand, niemand begegnete uns, der über unseren Ritt hätte lächeln können. Die Badekabinen waren verschlossen. Unberührt erstreckte sich vor uns der Sand, der in der Nähe des Meeres feucht war, und wenn wir zurückkehrten, war der Eindruck der Hufe immer noch die einzige Spur, die er trug.

Ich liebte es, über die erste auflaufende Welle zu reiten, Wasser und wilder Schaum spritzten hoch; es war die einzige Art, Rosinante zu einem Galopp zu bewegen. Sie fürchtete das Meer; sobald die Flut ihre Beine berührte, raste sie los, und da sie wußte, es würde mich ärgern, wenn sie zur Seite auswich, galoppierte sie über die Wellen hinweg, vielleicht von der geheimen Hoffnung getrieben, daß, je schneller sie galoppierte, desto eher das Meer ein Ende nehme.

Weiß und bizarr, wie die Kultstätten fremder Götter, standen auf dem Strand die seltsam geformten Turmhäuser der Solarien, deren balkonbesetzte Fronten sich von Osten nach Westen dem Lauf der Sonne entgegenbogen. Es war ein völlig an Meer und Himmel hingegebenes Land, dem wir entlangritten, ein Land des Wachens und der Erwartung. Jeder Schritt mußte der Weite entgegenführen. Alles stieg, – nahte dem Schweben. Akazie und Haus, Geländer und Fahnenmast, jeder Gegenstand schien in augenblicklichem Aufbruch begriffen.

Woge um Woge zerfiel unterm Tritt des eilenden Tieres. Doch in der Ferne, unabsehbar, standen schon die Heere der künftig herannahenden Wellen. Unaufhörliches drang in mich ein, als Weg, als Brausen, als das blendende Funkeln, mit dem das Licht auf dem Wasser lag. Ich ließ meinen Blick darauf ruhen, bis ich geblendet war, und alles um mich her im Dunkel verging. Ich folgte dem Licht. Verfolgte es, ohne es je erreichen zu können. Und Rosinante, die vielleicht ahnte, von welcher Sehnsucht ihr Reiter erfüllt war, galoppierte voran mit dem äußersten Aufgebot ihrer Kräfte. Immer entzog sich das Licht um einige Längen, immer blieb es voraus. Beginnend auf dem vordersten Wellensaum, nach der Ferne zu sich verengend und ausgedehnt wieder gegen den Horizont, lag es über dem Meer, lag da wie das abgezogene Fell eines Tieres, ausgestreckt zwischen Himmel und Tiefe, unmittelbar nah vor meinem Auge, fern für meine Begierde, leuchtend lag es da wie das mythische Goldene Vlies.

Alles war herrlich, das Meer, die Helligkeit, das weder schöne, noch seltene Geschöpf, mit dem ich umging und das ich oft ansehen konnte, als würde ich zum ersten Male erfahren, was es bedeute: ein Pferd, ein Tier. Ich war überzeugt, nach dem Rechten zu leben, wenn ich mit aller Inbrunst die Welt in mich aufnahm, sie ansah und hörte, wenn ich bereit war, jegliches Ding, das namenlos in ihr lebte, in meinem Bewußtsein zu nennen.

*

Wenn wir zu sechst am Nachmittag in den Garten traten, um Boccia zu spielen, veränderte alles um uns her seinen Sinn. Ich brauchte nur auf den Mann aus Udine zu schauen, der jedesmal, wenn er die Kugel geworfen hatte, sich auf den Weg machte, um an das andere Ende der Bahn zu gelangen, von wo aus das nächste Spiel vonstatten ging, und der infolge seines ungeheuren, ihn beim Gehen behindernden Körperumfanges, um diesen Weg zurückzulegen, gerade so lange brauchte, bis wieder die Reihe zu werfen an ihn kam, so wußte ich, daß hinter diesem formlos dicken Gesicht, dessen Augen und Nase aus den Fleischpolstern kaum noch hervortraten, ein anderes, zweites Gesicht sein mußte, das, mit schönen Zügen nach innen gerichtet, zu lächeln begann. Wenn jemand Boccia spielte, so fand er auf den Grund einer Einsicht, die ihm sonst, wenn er die äußere Welt und seine Stellung in ihr betrachtete, schmerzlich versagt war. Ungeordnet lagen die Kugeln am oberen Ende der Bahn zerstreut. Sie waren hier nicht wie gewöhnlich aus Holz, sondern gleich alten Kanonenkugeln aus dunkler, massiver Bronze. Wer sollte, wenn er sie liegen sah, auf den Gedanken verfallen, daß sie dank einer Geschicklichkeit, die aus Überlegung und körperlichem Aufwand gleichermaßen zustande kam, im Verlauf des Spieles in eine Lage gebracht wurden, die sich zwar, von außen betrachtet, nach wie vor ordnungslos zeigte, in Wirklichkeit aber, für uns, die wir spielten und uns nach den Gesetzen des Spieles zu richten hatten, eine unbedingt gültige Ordnung war, aus der sich Gewinn und Verlust ergaben? Daß der Mann aus Udine hier gleichwohl noch eingreifen konnte mit einem Wurf, auf den es noch ankam, bestätigte ihm ein Mitwirken an der Welt, aus dem er sonst, in Anbetracht seiner körperlichen Beschaffenheit und einer Geschichte, die hier nicht erzählt werden soll, nahezu ausgeschlossen war.

Er vermochte sich nicht mehr zu bücken. Rino reichte ihm einzeln die Kugeln hin. Er wog sie einen Augenblick still in der Hand, als fühle er hinter ihrer metallenen Undurchdringlichkeit ein zartes empfindliches Herz, unmerkbar für jeden, dessen Hände nicht hören konnten; er ließ sie nach sorglicher Prüfung wieder fallen und fuhr damit fort, bis er eine gefunden hatte, von der er annahm, daß sie ihm nützlich sein konnte. Es schien, als seien die Kugeln persönliche Wesen. Von unterschiedlicher Größe und unterschiedlichem Gewicht, gingen sie einem durchaus verschieden zur Hand. Für jeden von uns erwies sich ein abwartendes Wägen und Tasten, ein Versuchen auf mannigfaltige Art und Weise als nötig, bis man endlich herausfand, welche der Kugeln die passendste war. Indes der Gendarm, als wolle er sie auf ihre Festigkeit prüfen, eine nach der andern mit Wucht auf den Erdboden warf, spielte Rino mit zweien zu gleicher Zeit Ball, überlegen und tändelnd; und man fürchtete doch, die dünnen Gelenke möchten ihm brechen, wenn die Gewichte von der Höhe herab auf seine Handballen klatschten. Auch hier vollzog sich ein Einbeziehen ins Ganze, wie es sonst nicht der Fall war. Rino, der die Abende mit seiner Freundin im Café über sehnsüchtigen Zirkusträumen verbrachte und sich morgens gegen zehn Uhr grämlich erhob, mit der für ihn leidigen Aussicht, eines Tages das Hotel seines Vaters übernehmen zu müssen, – ebenso wie der Gendarm, der, wenn niemand etwas verbrach, in seiner Amtsstube sich bis zur Schwermut langweilte und doch vor Bedauern umkam, wenn er der vorgesetzten Behörde einen Fall von menschlicher Unbotmäßigkeit zu berichten hatte: – beide fanden sich in dieser durch die Macht des Spieles anders gewordenen und durch den Wurf der Kugel sichtlich und unmittelbar zu verändernden Welt an einem Platz, der sie restlos erfüllte.

Es verhielt sich wirklich nicht anders: wenn der Apotheker die zinnoberrot prangende Kugel, nach der sich das Spiel zu richten hatte, und die er die Moglie nannte, ins Feld warf, mit einem nachlässigen Nebenbei, als wolle er dem Zufall ein beschwörendes Opfer bringen, bei dem er sich zumindest für die Dauer des Spieles beruhigte, schien es, als habe sich unter den sichtbaren Dingen mit einemmal ein Zusammenhang hergestellt, der sich verläßlicher zeigte als sonst. Die Erde stand wieder still, und die Sonne bewegte sich um sie von Osten nach Westen. Sie war wieder da als persönliches Wesen, als Helios mit dem Gespann, um eigens für die Spieler den festgestampften, rötlichen Boden zu hellen. Ich sah nun, wenn ich die Augen hob, nicht wie sonst auf einen vorstadtartigen Wirrwarr von Dingen, deren Oberflächen in Wie und Warum zerschilferten, die schwankten und voller Fragwürdigkeit waren, mit Spalten und unerklärlichen Klüften dazwischen, sondern da stand nun, hell und äußerst genau, eine milchweiße Hauswand mit vorgebauten Balkonen; auf einem von ihnen ging es durch eine offenstehende Tür in die Wohnlichkeit eines Zimmers. Dieses zwar blieb im Dunkel, davor aber leuchtete, an einer Leine befestigt, wie ein Emblem ein sonnenbeschienener blauer Badetrikot.

Alles drängte sich fester zusammen und führte um uns eine undurchdringliche Mauer von Wirklichkeit auf. Gegenüber, durch eine Efeuhecke getrennt, erstreckte sich ein benachbarter Garten. Palmen standen darin, er war etwas vornehmer als der unsrige, die Läden der Villa waren um diese Jahreszeit längst geschlossen. Und hinter uns blickte man durch das zarte Drahtgeflecht eines Zaunes auf die nun plötzlich senkrecht gestellte Straße und auf die Front eines Sanatoriums, von dessen Balkonen die Genesenden mit Spannung den Lauf unseres Spieles verfolgten. Sie gingen alle in blauweiß gestreiften Kitteln, und während mir sonst ihre Anwesenheit bedrückend und peinlich war, erhielten sie nun in ihrer Eigenschaft als Zuschauer eine pflanzenhafte, oder noch besser gesagt: eine lazarushafte Notwendigkeit.

Das Boccia-Spiel bildet um sich einen Raum, der an Weite und Ferne zwar einbüßt, doch an Beständigkeit vieles gewinnt. Seinem Wesen nach ist es ein männliches Spiel, und die Mädchen und Frauen tun tatsächlich besser daran, wie die Freundin von Rino, am Rande der Bahn zu sitzen, eine scharlachne Blume im Haar, das Klöppelwerk zwischen den Fingern und dem Hin- und Hergang der Kugeln gelassen zuschauend. In ausruhender, unendlich beharrlicher Haltung, die wie eine Ranke aus ihrer Natur wuchs und darum bei aller Lässigkeit keinen Anstoß erregte, saß das klöppelnde Mädchen auf ihrem zierlichen Gartenstuhl. Es wäre unmöglich gewesen, sich vorzustellen, daß sie, so wie ihr Freund es tat, nach einer Kugel sich bückte, das runde, zielbegierige Ding in die Hand nahm, um dann mit den Sohlen den Erdboden abzutasten, bis endlich der richtige Standort gefunden war. Schon ihr Körper, der in der Ruhe so schön war, hätte bei diesen Anstalten einen lächerlich eifrigen Eindruck gemacht. Lydia wußte dies und beschied sich, kreatürlich in sich gekehrt, auf ihrem Stuhle zu sitzen und noch eine Zeitlang auf den von ihr ewig hinausgeschobenen günstigen Zeitpunkt zu warten, an dem sie mit Rino, wie sie ihm abends, um ihn zu trösten, versprach, zu einer Zirkusgesellschaft durchzubrennen gedachte. Rino beugte den einen Fuß vor und streckte den anderen, um eine möglichst federnde Stütze zu gewinnen, in weitem Abstand zurück. Es sah aus, als wolle er zu einem Wettlauf starten, dann aber war es doch nur die nachdenklich in der Hand gewogene Kugel, die schließlich in Bewegung geriet.

Sie war vollendet gezielt. Unmittelbar neben der Moglie kam sie zum Stillstand, Rino, der bisher seine angespannte Haltung nicht aufgegeben hatte, trat nun zurück, schlenkerte mit Armen und Beinen und sah herausfordernd stolz zu Lydia hinüber. Und diese lächelte, göttinnenbreit auf ihrem Stühlchen, ohne bei ihrem Klöppelwerk einzuhalten, und wenn man sie sah, konnte man sich nicht der Überzeugung verschließen, daß Rino eines Tages seine Fluchtpläne aufgeben würde, um in dem Raum, den dieses Menschengeschöpf in seiner seligen Ruhe um sich verbreitete, alle Möglichkeiten zu kühner Bewegung zu finden, ohne dabei das Ziel ins Maßlose und ins Unabsehbare verlegen zu müssen. Das Wesen des Mannes ist die Bewegung, und es gefällt ihm, Bewegungen selbst hervorzurufen; er will ihr Herrscher sein und ermessen, wohin das Bewegte gelangt. Fast könnte man meinen, er habe zu diesem Behuf das Spiel mit den Kugeln eigens erfunden, da ihr Geschehen von durchsichtigeren und daher leichter erträglichen Gesetzen bestimmt wird als jenes andere, bei dem er zu handeln gezwungen ist, gegen das er sich aufbäumt und das ihn enttäuscht und ermüdet. Was Lydia unbewußt ahnte, war für ihre Mutter, die ihrem Alter entsprechend um einiges breiter als sie auf ihrem Klappstuhle saß, dessen schmales Gestänge von ihren Röcken völlig verdeckt ward, so daß es den Anschein erweckte, als ruhe sie wie durch ein Wunder schwebend aus sich selbst, zur Gewißheit einer lebenslangen Erfahrung geworden. Ihr Mann, der Gärtner Enrico, der die Küche des Hotels mit seinen geduldig gezogenen, aromatischen, zarten Gemüsen versorgte, liebte es, wenn die Reihe des Werfens an ihn kam, sich wie ein Ungestümer zu gebärden. Mit kreisendem Arm schwang er die Kugel wie ein Wurfgeschoß, als gedenke er, des Spieles vergessend, in eine ihm unbekannte Ferne einen blindlings gezielten Polyphemwurf zu tun. Dann aber, sich wieder besinnend und seine in die Ferne gerichtete Kühnheit nun ganz auf die nächstliegende Aufgabe richtend, schleuderte er seine Kugel mit derart kräftigem Wurf in die Bahn, daß sie den Anfang der Strecke nicht anders als in ausgelassenen Sprüngen zurücklegte und erst allmählich in einen zwar rasenden, aber gebändigten Schuß kam. Wenn alle Kugeln der Gegenpartei, kenntlich an einem eingravierten Kreis, in nächster Nähe der Moglie lagen, und der Sieg uns so gut wie verloren schien, wurde auf den Wurf Enricos die letzte Hoffnung gesetzt. Er allein vermochte die von den Gegnern da unten so kunstvoll errichtete Ordnung mit einem Schlag auseinanderzusprengen. Indem seine Kugel, zielsicher, trotz ihrer Gewalt, auf die Moglie traf, um mit ihr an eine weit entfernte Stelle zu kullern, wo die beiden zusammen die nächsten waren, gelang es ihr, einen zwar bescheidenen, aber kaum noch erwarteten Sieg zu unseren Gunsten zu erringen.

Mafalda war die erste, die mit ihren molligen, aber nicht ungraziösen Händen (denn sie stammte aus dem seiner schönen Frauen wegen berühmten Chioggia) dem Erfolg ihres Ehemanns Beifall klatschte. Der Mann aus Udine, der sich auf seinem Pendelgang just an den beiden Frauen vorüberschob, einem riesigen Schiffe vergleichbar, insofern als er vorankam, ohne daß man gesehen hätte, von wo aus an seinem gebuchteten Leib der Antrieb einer Bewegung eigentlich ausging, hielt einen Augenblick inne, um vor der Gärtnersfrau, als der Gemahlin des Siegers, eine unbeholfene Verbeugung zu machen. Mit ihren jugendlichen und unvermindert glänzenden Augen verstand sie, auf entzückende Art sich für die Huldigung zu bedanken, worauf der Mann aus Udine sein Gesicht in jene verklärenden Falten legte, von denen man auf sein anderes, nach innen gekehrtes schöneres Antlitz schloß. Auf den Balkonen des Sanatoriums riefen die blau-weiß Gestreiften begeistert bravo.

Daß jedesmal, wenn die Kugeln bahnauf- und bahnabwärts rollten, ein bestimmtes Maß an Zeit verging, vermochte nicht jenes schmerzliche und lähmende Gefühl zu erwecken, mit dem man das Messen der Zeit gewöhnlich betrachtet. Immer, wenn ich auf einer Uhr das Vorwärtsrücken des Zeigers verfolge, erinnere ich mich der Worte eines alten Kaplans, der während einer Religionsstunde unserem Kinderverstand die Vergänglichkeit alles Irdischen einleuchtend machte, indem er darauf hinwies, daß im Augenblick, da die Schulglocke läutete, wir wieder um eine halbe Stunde dem Tode nähergerückt seien. Jedesmal, wenn mir dies einfällt, durchzuckt mich der alte Kinderschreck.

Doch der Spieler blieb davor gesichert. Kam die Kugel ans Ende, so schien es, als hätte sie die Zeit, die sie brauchte, nur vorübergehend als ein Mittel zum Vorwärtskommen benutzt. Wenn sie das Ziel verfehlte, hatte die Enttäuschung, die den unglücklichen Spieler befiel, nicht den bitteren Beigeschmack eines unwiederbringlichen Verlustes. Die Freude, die Zeit vertrieben zu haben, und das Gefühl einer niemals erschöpfbaren Ewigkeit, das jeden beseelt, der einem Zeitvertreib obliegt, unterdrückten solche Gedanken ganz. An Stelle der scharfen Empfindung, nach der die Zeit als eine unabsehbar fortlaufende Kette von niemals mehr wiederkehrenden Augenblicken erschien, trat nun das Bild einer ewigen Rückkehr der Kugeln und Dinge. Vielleicht war die Zeit, die während eines Spieles verfloß, auch immer ein und dieselbe, von jeder Kugel aufs neue gebraucht, ohne dabei zu verschleißen. Die Wirklichkeit, in der sich das Spiel vollzog, war jedenfalls unbeeinflußbar von ihr. Mafalda und Lydia saßen, so oft ich sie ansah, ohne Veränderung da, als seien sie schon seit unvordenklichen Zeiten Mutter und Tochter gewesen: – ewig dauernde Bilder menschlichen Lebens. Genügte es nicht, daß Enrico mit seiner Ehefrau Tag für Tag lebte, gleichsam denselben Tag stets von vorne beginnend, so wie die Kugel immer denselben Lauf nahm, damit er glaubte, es bliebe sich alles gleich? Abend für Abend saßen die beiden einander am Tisch gegenüber und musterten ihre Gesichter; wann sollte es da geschehen sein, daß Enrico auf der Stirn seiner Frau die waagrechte Falte entstehen sah?

In diesem Augenblick ergriff Mafalda einen schwarzen Umhang aus Spitzen, der ihr bisher über den Schultern gelegen war, und zog ihn über ihr graugewordenes Haupt. Die Schatten unter den Bäumen, das sah ich erschrocken, waren mit einemmal länger geworden, ein kühler Luftzug kam auf, und die blendende Hauswand war matt und golden ...

Diesmal warf der Gendarm die letzte Kugel. Eine der unsrigen lag in unmittelbarer Nähe der Moglie, sie berührte sie fast, während unweit davon die beiden Kugeln der Gegenpartei sich befanden.

Die Lage war schwierig. Lange überlegte der Gendarm und zögerte, seinen Wurf zu tun. Außer dem Mann aus Udine waren wir alle bereits am Ende der Bahn versammelt, um der Ankunft der Kugel entgegenzusehen. Da löste sich vom Geäst eines Baumes ein welkes Blatt und sank, uns jäh an die vorgeschrittene Jahreszeit mahnend, in gemächlichem Wirbel zu Boden, um zwischen den Kugeln liegen zu bleiben, als sei dies der Ort, an dem es in Ruhe dem Winter entgegenzumodern gedachte. Die Kugeln lagen nahe beisammen, sie waren schwer, von Regen und Sturm nicht leicht zu verrücken, und ein Blatt, das dazwischen sich niederließ, hätte in ihrem Schutze sich ungestört auflösen können. Ihre Schatten berührten einander, und wenn der Herbstregen einsetzte, mußte der Boden unter ihnen auf lange Zeit feucht bleiben.

So dauerhaft aber die Kugeln auf ihren Plätzen zu verharren schienen, für uns war ihre Ordnung doch nur ein sehr vorübergehender Zustand. Konnte das Blatt nicht auf den Lauf der kommenden Kugel einen störenden Einfluß nehmen? Es war für uns als ein mögliches Hindernis zu betrachten. Deshalb nahm es auch niemanden wunder, daß der Apotheker hinzutrat und es sorgsam beiseite schob.

Immer noch stand der Gendarm am oberen Ende, überlegte seinen Wurf und suchte nach der richtigen Stellung. Ein Lüftchen kam auf und wehte die Bahn herunter. Plötzlich hatte es sich hinter dem Gendarmen erhoben, als dieser eben im Begriff war, die Kugel zu werfen und seinen Oberkörper ausladend weit nach vorne bog, daß seine knapp geschnittene, hinten geschlitzte Jacke wie ein Flügelpaar steif von ihm abstand und er auf eine entfernte Weise dem griechischen Götterboten nicht unähnlich war. Spürbar streifte das Lüftchen an uns vorüber, wir spürten seine Berührung überm Gesicht; dann ließ es sich über den Kugeln herab: sichtlich fast, wie es mich dünkte, als ein leichtgeschürztes, neckisches Windgeschöpf, so ergriff es das Blatt, das der Apotheker soeben entfernt hatte, und legte es wieder an die vorige Stelle zurück.

Der Apotheker zuckte zusammen. Einen Fluch zwischen den Zähnen hervorstoßend, verärgert und rot im Gesicht bückte er sich, hob das Blatt auf und steckte es nun, als traue er den bei hellichtem Tag umgehenden geheimen Mächten nicht mehr, mit raschem Entschluß in seine Hosentasche. Da lag es nun unversehens im Dunkeln, rieb sich an der Schnupftabakdose, die ihr Besitzer nach jedem Spiele hervorzog, um eine Prise daraus zu nehmen. Es stieß sich an den Geldstücken, die der Apotheker lose in der Tasche zu tragen pflegte, um sie abends hervorzukramen, wenn er am Büfett des Hotels seinen Apéritif bezahlte. Das Blatt war brüchig und welk. Es konnte nicht anders geschehen, als daß es von den Münzen im Laufe der Zeit zerrieben wurde. Der Apotheker war Witwer und besorgte als ein geschworener Weiberfeind seinen Haushalt selbst. Es bestand keine Aussicht, daß das Blatt aus diesem Taschenverliese jemals wieder auftauchen würde. Niemand nahm sich des Beinkleides an. Es war alt und schmierig; in korkzieherförmigen Falten, die Rinos Schneider in helle Verzweiflung gesetzt hätten, wand es sich um die Glieder, die es gleichsam nur widerwillig bedeckte. Das Blatt, das den Sommer über, den tausend anderen gleich, lichtgestreichelt in der Krone der Platane geglänzt hatte, war, wenn nichts Ungewöhnliches eintrat, rettungslos an ein ganz und gar unblatthaftes Geschick verloren. Sollte ich den Apotheker bitten, es mir zurückzugeben? Unter der Versicherung, es in einer Ecke des Gartens einzugraben, so daß es nie mehr imstande war, den empfindlichen Vorgang unseres Spieles zu stören? Er hätte mich sicherlich nicht verstanden. Er hätte mich angeschaut, über seine dicken Brillengläser hinweg, mit seinen rotgeränderten Augen, die gar nicht so verquollen waren, wie es durch das Glas hindurch schien, sondern winzig und scharf, und hätte mich einen Narren genannt, ohne einzusehen, daß jemand, der ein Blatt in die Tasche steckte, nicht ungewöhnlicher war als einer, der die Absicht hatte, es wieder daraus zu entfernen ... Unmut befiel mich, als ich bedachte, daß es auf Erden wohl keinen Vorgang gibt, der nicht einen anderen in seinem Ablauf stört.

Endlich warf der Gendarm die Kugel. Wir wußten im selben Augenblick, daß sie nach der unsrigen zielte, um sie von ihrem Platze zu stoßen. In gemäßigtem Tempo, ohne bei ihrem Lauf merklich an Stoßkraft einzubüßen, kam sie heran. Auf ihrem Rücken malte das Herbstlicht einen Kreis aus flüssigem Gold. Über sie hingebeugt, als wolle er sie mit seinen Gedanken lenken, mit großen Schritten und unter beschwörenden Worten und Gebärden begleitete sie der Gendarm, und als sie sich der Gruppe der anderen näherte, überholte er sie mit einem Sprung, um ihrer Ankunft entgegenzusehen und so ihre Wirkung besser beurteilen zu können.

Tatsächlich war es ein herrlicher Wurf. Der Apotheker frohlockte, schon bevor die Kugel ihr Ziel erreicht hatte. Es gab einen leichten Prall, ein leises Klicken wurde vernehmbar, und die Kugel, die uns gehörte, rückte, als sei sie von der anderen höflich gebeten worden und beeile sich nun, soweit es in ihren Kräften stand, der Aufforderung nachzukommen, um ein kleines Stückchen beiseite, – es war gerade genug, damit die Kugel der Gegenpartei die glückverheißende Stelle einnehmen konnte. Wir hatten verloren, und die Sieger lachten. Aber ungetrübten Herzens stimmten wir in ihre Heiterkeit ein.

*

Gedanken und Bilder erschienen; ich sah ...

Was sah ich? Eine Stadt, in die ich einzog, und die ich nicht kannte, einen Platz, erfüllt von irrsinnig sich gebärdenden Leuten; ein Wartezimmer mit grau gestrichenen Wänden; ich war allein darin und wartete, ich mußte ein Leben des Wartens verbringen, niemals öffnete sich die Tür ...

Ein tödlicher Unmut überfiel mich, je mehr mich die Kräfte des Schlafes verließen. Es war frühmorgens. Eine trübe Helligkeit herrschte draußen. Wo das Meer sich sonst dehnte, lag Nebel ...

Und ich sah eine Unbekannte, wie sie winzig in der Leere stand und auf mich zukam. Groß wie ein Himmel neigte sich ihr Gesicht über mich, ... verzerrte sich, wurde gelangweilt und dumm, – funicoli, funicola, eine Taube verendete mit abgedrehtem Kopf, man nahm einen Bettler gefangen: sie johlte den albernen Kehrreim vergnügt und ausgelassen. Und ich sah vor mir einen Koffer mit aufgeprägtem Muster, daß es schien, als sei das Behältnis aus Leder. Er klappte auf, die Innenseite war mit geblümtem Papier beklebt, und was da entquoll an Gebrauchsgegenständen eines zivilisierten Menschen, war billigste Dutzendware,

X. Y.
Geschäftsreisender

stand auf einem kleinen Schildchen am Handgriff des Koffers, ... ich sah diese Leute vor mir, die Schlechten, die mit dem Anschein einer heiligen Überzeugung etwas verrichten, an das sie nicht glauben, die Guten, die glauben, was sie tun, aus Furcht vor Überlegung, und über ihnen, strahlend in seinem Glänze und lächelnd, erhob sich der Held unserer Zeit, der Harte und Tüchtige, widerspenstiger als das widerspenstige Leben, der nicht Tod und nicht Teufel fürchtet, in Tagesruhm stirbt oder im Elend verkommt; was macht es? Er findet sich damit ab, ohne den Mut zu verlieren; wer kennt nicht seine Geschichte?

Soldat, – nach dem Weltkrieg Beamter auf einer Bank, – wird abgebaut, – strolcht getrost durch Europa, sieht und lernt, – hilft in Ungarn bei der Getreideernte, bettelt wohl auch, – fährt als Schiffsheizer nach den Vereinigten Staaten, wird Preisboxer oder Filmstar, heiratet eine märchenhaft reiche Erbin, – holt seine versäumte Bildung nach und macht Studien, – verliert bei einem Bankkrach sein Vermögen, geht als Goldgräber nach Klondyke, – kehrt reich zurück oder verhungert: – lächelnd verschwand der Unverwüstliche, und ich sah wieder den Jüngling vor mir, dem ich vor langer Zeit bei einem vaterländischen Fest begegnet war. Es war Nacht gewesen damals, der Umzug vorüber, in einer dunklen Straße marschierte ein kleiner Zug junger Menschen schweigend nach einem mir unbekannten Befehl. Ich schritt nebenher, und im Schein einer Laterne sah ich jenes Gesicht, unvergeßlich und schön; Männlichkeit und Knabentum durchdrangen sich in ihm; um Kinn und Mund lag künftige Entschlossenheit, die Stirn aber trat noch kinderrein und unbezeichnet dem Leben entgegen. Das Unwahrscheinliche, all das nicht mehr Geglaubte: Freundschaft und Tapferkeit, Liebe und Anmut, das Abbild adeligen Wesens schien in dem herrlichen Jungen wieder auferstehen zu dürfen, ... und dann, damals, auf jener nächtlichen Straße, suchte mich plötzlich ein schreckliches Bild heim, das auch jetzt mich wieder verstörte: ich sah, wie dieses Antlitz vernichtet war, Stirn und Mund waren entsetzlich getrennt, zerstückelt, ... die Augen gläsern erstarrt, blutüberströmt das Ganze, – es war der Krieg!

Der Nebel war aufgestiegen. Verdichtet zu einer schweren bleiernen Last, hing er über dem Meer; man konnte es frei überblicken. Überdeutlich auf seiner glatten leeren Fläche standen die Umrisse der Fischerboote, die vom nächtlichen Fang zurückkehrten.

Ein leichter Wind kam auf. Auf den Booten, die bisher mit dem Motor gefahren waren, spannten sich langsam die Segel. Es war, als würden Flügel gerührt, Schwingen von kleinen traurigen Vögeln, die erwachten. Ihre bei Sonnenlicht gelb und goldbraun glühende Leinwand war dunkel und trüb.

Am Strand, zwischen den Badekabinen, tauchte, in einen Mantel gehüllt, ein Mann auf, – barfüßig, mit unbedecktem Kopf.

In federnden Sprüngen, deren Bewegung leicht stilisiert war, als gälten sie einer ringsum versammelten Menschenmenge, die sie kritisch beurteilte, überquerte er den Strand bis an die Stelle, wo der Boden feucht zu werden begann. Das Meer war über Nacht um ein Stück zurückgewichen. Allerlei sterbendes Meergetier lag umher, und die feuchte Masse des Sandes bewahrte noch den Abdruck der Figuren flüchtig bewegten Wassers.

Der Mann warf seinen Mantel zu Boden. Er bemühte sich weiter, in jede Bewegung eine tänzerische Bedeutung zu legen, als wollte er sie, zum ersten oder letzten Male vollführend, so anschaulich und klar als möglich tun.

Er war unter dem Mantel nackt gewesen. Sein Körper war weniger kräftig als zäh. Einem Gegner wäre es vor dem Kampfe schwergefallen, die Möglichkeiten, die er besaß, zu schätzen. Ein plumper Ansturm konnte genügen, um ihn zu Boden zu werfen; doch ebenso konnte er unüberwindlich sein.

Langsam vorwärtsschreitend über den feuchten Sand, betrachtete der Mann seine Glieder. Dröhnend schlug er mit der Faust auf die Brust, er spannte die Muskeln seiner Arme, – es war, als wundere er sich darüber, und zugleich wieder schien er zufrieden. Mit stillem Lachen blickte er nach den Booten.

»Eine halbe Stunde noch, und sie kommen vorüber«, sagte er. »Sie fahren in einem Abstand von tausend Metern vorbei. Gut!«

Er berührte mit seinen Füßen das Wasser. Es war schon winterlich kalt. Er holte zu mächtigen Sätzen aus, um durch die Bewegung den Körper warm zu halten. Inmitten einer nach allen Seiten stürzenden Wassergarbe rannte er ein Stück meerein. Als das Wasser ihm über die Knie ging, schnellte er sich nochmals empor, tauchte unter und arbeitete sich, das Haupt hin- und herwerfend, mit weiten Stößen voran.

Der Strand blieb rasch zurück. Von Zeit zu Zeit schaute er um und bemerkte mit Genugtuung, wie die Entfernung wuchs; der schmale Sandstreifen war schon verschwunden, die Badehütten schienen zu schwimmen. Doch vorn, die Fischerboote verharrten wie unbeweglich auf ein und derselben Stelle.

Von Zeit zu Zeit legte er sich auf den Rücken, um auszuruhen. Die Wellen stiegen zu beträchtlicher Höhe; nicht immer gelang es ihm, sich von ihnen emportragen zu lassen. Mit angehaltenem Atem mußte er warten, bis die Kämme über ihn weggeeilt waren. Das strengte allmählich an, aber noch besaß er die Kraft, sich nach einiger Zeit wieder aufzuschnellen, um die Lage zu überblicken. Wirklich! die Boote waren nähergerückt. Deutlich vermochte er schon die Leute zu sehen, wie sie sich – kleine Figürchen – an Bord zu schaffen machten. Mit neuer Kraft, in weiten Zügen, holte er aus.

›Eine Stunde kann ich schwimmen‹, dachte er. ›Wieviel Zeit mag inzwischen vergangen sein? Noch keine Stunde, aber mehr als eine halbe, ich bin müde.‹

Dann kam die Zeit, da seine Kräfte erlahmten. »Ausruhen! Nur keine Aufregung, nur nicht die Ruhe verlieren.« Er legte sich still auf den Rücken. Wenn die Woge über ihn wegfuhr, stieß er einige Mal kräftig mit den Beinen. Aber schon geschah es, daß zwei, drei Wellen über ihn hinschlugen, ohne daß er dazwischen auftauchen konnte. Dann bedurfte es aller Kraft, einer fast schon verzweifelten Anstrengung, um wieder aufzusteigen, um wieder Luft zu bekommen. Das Salzwasser, das er versehentlich geschluckt hatte, fing an, ihm Übelkeit zu bereiten. Die Augen schmerzten, er vermochte nicht mehr durch die Nase zu atmen; überall war das ätzende Meerwasser eingedrungen. Drei, vier Wogen schlugen über ihn weg. Es gelang ihm nicht mehr emporzukommen. ›Ich werde unter Wasser nicht lachen können‹, dachte er. ›Ich bin ganz ruhig. Ob ich schon sinke? Man spürt eigentlich nichts, es fehlt nur die Luft.‹

Das Glückhafte, wenn es unerwartet geschieht, wirkt bestürzend und drohend wie die Gefahr; das Gefühl kann in der ersten Sekunde nicht unterscheiden. So war denn auch der ermattete Schwimmer, als er mit den Füßen unversehens gegen etwas stieß, eher erschrocken als froh. Es dauerte kaum einen Augenblick, das Wasser hob ihn hinweg. Doch als er nach kurzem die Berührung von neuem spürte, begann er sich an sie zu gewöhnen. Wille und Widerstand erwachten, er suchte Stand zu fassen. Noch war es nicht möglich. Der Grund lag zu tief. Aber noch wenige Stöße mit den Armen vorwärts, und er war so weit gekommen, daß er sich aufrechthalten konnte.

Er stand, den Kopf knapp über dem Wasserspiegel, keuchend und erschöpft Wasserreste von sich speiend. Er machte einige wankende Schritte nach vorn. In kurzer Zeit reichte ihm das Wasser nur noch zur Hüfte.

Die Lage war klar: er war auf eine Sandbank geraten. Er befand sich mit den Fischerbooten beinah auf gleicher Höhe. Doch war das Boot, dem er am nächsten stand, immer noch ein beträchtliches Stück links von ihm. Er hatte sich viel zu weit südlich gehalten. Was tun? Mit seinen Kräften war er zu Ende. Ein Zurück war unmöglich. Schreien? Damit man auf den Booten ihn hörte? Das wäre unehrliches Spiel gewesen, Betrug an dem Gegner, den er zum Kampfe herausgefordert hatte. Gewiß: der große Unsichtbare hätte alles mit Stillschweigen geduldet. Aber was für ein Sieg!

Er überquerte die Sandbank, bis ihm das Wasser zum Kinn reichte.

›Stark bleiben, nur kein Verzicht!‹ Das einzige, was erlaubt schien, war, zu warten, bis die Boote sich näherten. Das vorderste mußte höchstens in einem Abstand von hundert Metern die Sandbank passieren.

Sie fuhren mit lautlosen Segeln, eines hinter dem andern, der Wind war schwach, sie kamen nur langsam voran. Als das eine, das vorderste, nahe genug war, daß er hoffen konnte, es mit einiger Sicherheit zu erreichen, begann er wieder zu schwimmen.

Finger und Zehen waren erstarrt, das Wasser umfaßte ihn eisig. Jede Bewegung wurde zur Qual. Der Atem keuchte und setzte aus, zuweilen schwand die Besinnung. Es gelang ihm nicht, der Wellen Herr zu werden. Sie glitten wieder über ihn weg, drei, vier hintereinander ...

Übermächtiger Griff, Schwindel und Aufschwung: eine Wogenflut hatte ihn angepackt, trug ihn empor, – hoch, hielt ihn, ließ ihn langsam hinuntergleiten ...: Tacken drang an sein Ohr. Wußte er, was es war? Es scholl, als schlügen die Herzen von tausend Menschen im Einklang zusammen: Hirten, Matrosen und Mönche, Seiltänzer, Frauen und Bauern.

Auf dem Fahrzeug drüben war der Motor angeworfen. Hatte man ihn bemerkt? Das Tacken hielt an, schlug stärker und stärker, segelgeschwellt, hoch und groß und dunkel – Allegorie des Lebens – nahte das Boot.

Männer standen bereit. Ein Seil ward geschwungen, klatschte aufs Wasser. Er griff danach, hielt es, klammerte sich fest, eine dem Wellengang konträre Bewegung, der er sich willenlos hingibt, erfaßt ihn: – man zog ihn an Bord.


 << zurück weiter >>