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Anekdote aus dem spanischen Bürgerkrieg

Einige Monate vor Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges geschah es in Barcelona, daß in der Velvetfabrik des Grafen Güell, nicht ohne Schuld eines Arbeiters, der, um sich auf eine halbe Stunde entfernen zu können, die Ausführung eines gefährlichen Handgriffes einem Unbefugten übertrug, ein Lehrjunge namens Campderrós in einen Kessel voll siedender Farbe fiel, wobei seine Beine, obwohl ihm einige Leute unverzüglich zu Hilfe eilten, in einem Augenblick bis über die Knie von einer einzigen entsetzlichen Brandwunde bedeckt wurden. Als der Pfarrer, der die Arbeiterkolonie der Güellschen Fabrik betreute, nachdem er von dem Unfall gehört hatte, sich in das betreffende Krankenhaus begab, wo man den Schwerverletzten untergebracht hatte, um sich in priesterlicher und menschlicher Sorge nach seinem Befinden zu erkundigen, teilte ihm der behandelnde Arzt mit knappen Worten mit, daß der Lehrling verloren sei, wenn nicht binnen kürzester Frist an den verletzten Stellen eine Hauttransplantation vorgenommen werde. Ohne sich lange zu besinnen, erbot sich der Geistliche, seine Haut zu diesem Zwecke zu opfern, mußte aber zu seinem Leidwesen erfahren, daß in Anbetracht des großen Umfanges, den die Verletzungen einnahmen, die Haut, die ein Einzelner für sich selbst unbeschadet abzugeben vermochte, zu einer Gesundung der kranken Glieder nicht ausreiche, sondern daß man der Haut von mindestens vierzehn Opferwilligen dazu bedürfe. Der Geistliche eilte in seine Gemeinde zurück, um bei allen, die den Lehrling Campderrós kannten, Schritte zu seiner Rettung zu unternehmen. Die Arbeiter aber, aufgepeitscht von der Entwicklung der politischen Lage und den schon seit Wochen umgehenden Gerüchten über den Ausbruch des Bürgerkrieges, hatten andere Dinge im Kopf als das Leben eines belanglosen Jungen. Es würden jetzt Zeiten kommen, meinten sie, da viele ins Gras beißen müßten; auf einen mehr oder weniger käme es da nicht an, zumal die geplante Operation gleich über ein Dutzend gesunder Männer für einige Wochen kampfuntauglich machen würde. Der Geistliche predigte tauben Ohren. In mehreren Tagen des Umherlaufens und Zuredens hatte er nur zwei Männer aus der näheren Verwandtschaft des Lehrlings zusammengebracht, die sich mit dem lebenrettenden Eingriff, der an ihnen vorgenommen werden sollte, einverstanden erklärten. Schon gab der Priester die Hoffnung, Campderrós Hilfe zu bringen, auf, da hörte man eines Tages in der Fabrik erzählen, der Unternehmer, Graf Güell selbst habe, nachdem er über das Geschick des Lehrlings in Kenntnis gesetzt worden war, sich ohne Umstände dem behandelnden Arzt zur Verfügung gestellt. Diese Nachricht verfehlte nicht, auf die Leute einen stillen, aber äußerst tiefgehenden Eindruck zu machen. Es war, als hätte sich die gewittrige Atmosphäre, die seit Wochen die Fabrik bedrückte, mit einem Male entladen. Entgegen ihrer Gewohnheit, nach Arbeitsschluß sich auf der Straße zu debattierenden Gruppen zusammenzurotten, verließen die Arbeiter am späten Nachmittag selbigen Tages, ohne ein Wort zu reden, ihre Arbeitsstätten, machten sich still auf den Weg, jeder für sich, und staunten nicht wenig, als sie schließlich auf der Straße, an der das Krankenhaus lag, einander wieder begegneten; an jeder Ecke schlossen sich neue Zuzügler an, bald sah man die ganze Belegschaft der Güellschen Fabrik versammelt, die spanische Begeisterung wachte wieder auf, und lärmend langte der Zug vor dem Tor des Krankenhauses an. Als der erschrockene Portier, der anfänglich glaubte, es handle sich hier um irgendwelche revolutionäre Umtriebe, die sich aus einem ihm unbekannten Grunde gegen das Krankenhaus richteten, sich über den Wunsch und die wahre Absicht der Leute unterrichtet hatte, schickte er unverzüglich nach dem Arzt, der den Lehrling behandelte; dieser wählte unter den Leuten die gesündesten aus, hieß sie zu bestimmter Stunde wiederkommen, und indem dann vierzehn Männer ihre Schenkel dem Messer des Arztes entblößten, wurde die Transplantation auch glücklich vorgenommen.

Von diesem Tag an machte sich unter den Arbeitern der Güellschen Fabrik ein seltsames, bisher niemals erlebtes Gefühl von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit bemerkbar, durch das sie sich mehr und mehr von den Idealen ihrer Klassengenossen entfernten, während es sie innerhalb der Fabrik, den Grafen nicht ausgenommen, von Tag zu Tag stärker zusammenschloß. Unabhängig von allen politischen Organisationen, denen die einzelnen angehören mochten, bildete sich allmählich eine neue Organisation, die, ohne Programm, Ziel oder irgendwelchen Parteiapparat, sich in etwa als eine einfache und unausgesprochene Verbrüderung von Menschen betrachten ließ, wie sie höchstens durch die Person des Lehrlings Campderrós in Erscheinung trat. Dieser nämlich hatte nach einigen Wochen der Heilung das Krankenhaus wieder verlassen; auf seinen Beinen, kaum mehr voneinander zu unterscheiden, war die Haut des Grafen Güell zwischen den Hautstreifen von zwei Anarchisten kerngesund festgewachsen, und nicht weniger heilsam und freundlich schloß sich die Haut des Priesters an die Hautstücke, die einige Gottesleugner gespendet hatten. Es schien, als sei die wunderbare, ja göttliche Selbstverständlichkeit, mit der das Leben sich der verschiedensten Hautteile bediente, um ein lebensfähiges Ganzes daraus zu bilden, nachdem sie sich derart der menschlichen Einsicht kundgetan, in ihrer ganzen Größe in die Gesinnung der Leute, sowohl derer, die ihre Haut geopfert, als auch der anderen, die diesen Vorgang nur miterlebt hatten, eingegangen, um daselbst fortzuwirken inmitten einer Welt der Gegensätze und tödlichsten Trennungen.

Als nach Ausbruch der revolutionären Unruhen der Graf seine Belegschaft zusammenrief, um die einstweilige Schließung der Fabrik zu verkünden, wurden sich die Arbeiter in einer raschen Besprechung einig, sich nicht für die ringsum gepriesene Änderung der Ordnung einzusetzen, sondern sich zurückzuziehen und einstweilen jeder für sich zu sehen, wo es das Rechte zu tun gab. Campderrós entblößte seine Beine, und jeder, wie er dabeistand, schrieb auf die Haut als Zeichen seiner Verbundenheit seinen Namen. Hierauf zerstreuten sie sich. Einige, die nicht durch ihre Familie an Barcelona gebunden waren, darunter Campderrós, verließen die Stadt, um auf Seiten der Militärpartei zu kämpfen. Graf Güell, sei es, daß er sich nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, sei es, daß er entschlossen war, auf Leben und Tod bei seiner Arbeitsstätte auszuharren, wurde von den roten Milizen gefangengesetzt und als Anhänger der Nationalpartei erschossen.


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