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Zwanzigstes Kapitel. Ost und West

 

So der Westen wie der Osten
Geben Reines dir zu kosten.
Laß die Grillen, laß die Schale,
Setze dich zum großen Mahle.

 

Wir haben einen Gang durch China hinter uns. Wir sahen hinein in die alte Zeit, soweit sie in ihren Wirkungen noch in unser Jahrhundert hereinragt, wir sahen dem Prozeß der Umwandlung zu und gewannen einen Einblick in die Kräfte, die heute dort in der Auswirkung begriffen sind. Wir fragen uns nun, was sind die tiefsten, letzten Kräfte, auf denen China und der Osten gegründet sind? Was sind die maßgebenden Erkenntnisse, die uns der Osten zu geben hat? Welches Licht fällt dadurch auf den Westen und seine Entwicklung? Wir fragen ferner, was sind die Änderungen, die in dem alten Kulturbestand von China vor sich gehen, und welche Folgen und Wandlungen sind aus dem gegenwärtigen Zustand vorauszusehen? Kann der Westen für diese Wandlungen Richtlinien und Aufklärung geben?

I.

Der Osten ist keine einheitliche Größe. Gewiß gibt es eine Art von Gemeinsamkeit, die für alle Kulturen von Konstantinopel bis Kalkutta und Tokio charakteristisch ist, wenn man sie Westeuropa und Amerika gegenüberstellt; diese Gemeinsamkeit läßt sich kurz bezeichnen als das Festhalten an naturgegebenen Seelentiefen gegenüber der konsequenten Mechanisierung und Rationalisierung des Lebens durch den Westen. Aber innerhalb dieser Sphäre finden wir eine Menge verschiedener Ausdrucksformen. Wir können für unsere Zwecke absehen von dem türkisch-arabischen Orient, da dieser durch Kulturverbundenheit zum Westen gehört und eine zwar zuweilen ausgeschaltete, aber dennoch notwendige Komponente des europäischen Kulturgeschehens bildet. Bis Mittelasien geht der Pendelschlag kulturellen Werdens hin und her.

Ein wesentlicher Unterschied ist ferner zwischen Indien und Ostasien. In Indien war das geistige Leben unkörperlich. Vor der Energie geistigen Eindringens in die Tiefen der Welt verschwanden immer wieder die Umrisse des äußeren Daseins. Es löste sich in gleichgültigen oder gefährlichen Schein auf. Wichtig war allein das ewige Innere. Das gibt der indischen Kultur das Widerspruchsvolle einer tropischen Fülle von Lebensgestaltungen, die doch alle ohne historische Bedeutung sind. So war Indien im Äußeren immer wieder das Objekt für die Politik umwohnender Völker, während seine Denker sich verzehrten in der Leidenschaft, den Schein des Daseins zu zerstreuen.

China dagegen, das eine zwar von außen befruchtete, aber im wesentlichen unbeirrt konsequente Kulturentwicklung hat, ist nie in seinem Denken losgelöst gewesen von dem Boden des Lebens. Sein Mittelpunkt verschob sich wohl innerhalb der Grenzen des ostasiatischen Kontinents – genau gesprochen können wir auch statt eines Mittelpunktes mehrere Brennpunkte beobachten – aber es ruhte immer in sich selbst, und die Strahlen seines Lebens beleuchteten die umliegenden Kulturen: im Westen und Norden die mongolische, turkestanische und tibetanische, im Osten und Süden die koreanische, japanische und südostasiatische.

Die alte chinesische Kultur gipfelt in einer nördlichen und einer südlichen Form, die sich befruchten und durchdringen und so eine Einheit von ungeheurer Dauer geschaffen haben. Die nördliche Kulturform gruppiert sich um das Stromgebiet des Gelben Flusses. Der Gelbe Fluß ist in seinem Unterlauf nicht schiffbar. Er wird immer schwieriger, je näher er der Küste kommt. So scheint diese Kultur kontinentalen Ursprungs zu sein. Der Osten und das Meer werden erst spät erreicht. Das Werk des großen Yü, eines der Kulturheroen dieses Kreises, war es, den Flüssen den Zugang nach dem Meer zu öffnen und so das Land vor ihren Überschwemmungen zu sichern und bewohnbar zu machen.

Der alte chinesische Staat ist ein religiöses Gebilde auf kosmischer, astrologisch bedingter Grundlage. Himmel, Erde und Mensch sind die drei Weltkräfte, und der Mensch ist es, der die beiden anderen: den Himmel, die schöpferische Kraft des zeitlichen Geschehens, und die Erde, die empfangende Kraft der räumlichen Ausdehnung, in Harmonie zu bringen hat. Der Himmel zeigt die Bilder, der Berufene verwirklicht sie. Das Buch der Wandlungen, in dem der Satz steht, ist auf der Erkenntnis aufgebaut, daß nicht die ruhenden Zustände die letzte Wirklichkeit sind, sondern das geistige Gesetz, von dem das Geschehen seinen Sinn und den Impuls dauernder Wandlung erhält. Will man wirken, so muß man die Keime beobachten und in das Feld der Zukunft säen.

Immer mehr befestigte sich von den gesellschaftlichen Formen die patriarchalische. Ums Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung haben die von Westen herkommenden Tschou diese patriarchalische Gesellschaftsform als Religion in ihrer Reinheit festgestellt und mit dem kosmischen Sternkult verknüpft. Beim großen Opfer auf dem Anger wird der Ahn des Geschlechts dem Herrn des Himmels zugesellt. Fünfhundert Jahre später kommt diese Welt zu ihrem Höhepunkt in Konfuzius und Laotse.

Konfuzius schafft ein Gebäude geistiger Kräfte, das imstande ist, die Kultur auf Jahrtausende hinaus zu tragen und zu umschließen. Sein tiefster Gedanke ist die letzte Harmonie der polaren Kräfte. Harmonie ist etwas Ewiges, Beharrendes nur im transzendentalen Wesen des Weltsinns. Sobald das Ewige sich verwirklicht, gibt es Bewegung, Verwandlung. Wenn aber diese Wandlungen im rechten Sinn geleitet werden, so bilden sie die Harmonie des Werdenden. Man kann das Wandelnde im ewigen Sinne leiten durch die Magie des Wortes. Wenn die Namen gefunden werden, die das innerste Wesen des Seins ausdrücken, so läßt sich durch ihre Anwendung die Welt regieren. Wenn ich z. B. die Namen »Vater« oder »Sohn« so definiere, daß sie wirklich das Wesentliche, das ihnen zugrunde liegt, ausdrücken, so genügen sie zur Ordnung der durch sie zu bezeichnenden Wirklichkeit. Jeder Vater muß einfach in der richtigen Weise Vater sein und jeder Sohn ein wahrer Sohn, so sind die Beziehungen zwischen Vater und Sohn in Ordnung. Darum war das Grundbestreben des Konfuzius die Richtigstellung der Namen. Diese Namen – nicht aus der zufälligen Wirklichkeit geschöpft, sondern vom Sinn her erfaßt – können zur Kritik der Wirklichkeit und damit zu ihrer Richtigstellung dienen. Wenn ich alle Dinge in der Menschenwelt mit ihrem rechten Namen nenne, so sind sie dadurch gerichtet.

Dieses Werk der Gesellschaftskritik war aber nur die eine Seite vom Wirken des Konfuzius. Was er auf der anderen Seite erstrebte, war Harmonie zwischen Natur und Kultur. Die Kultur sollte die Natur des Menschen nicht vergewaltigen oder verzerren, sondern verklären und läutern. So begründete er die Sippe als Grundlage der Gesellschaft. Innerhalb der Sippe leben natürliche Gefühle der Zuneigung. Eltern und Kinder lieben einander aus freiem Instinkt, ebenso Mann und Frau und die Geschwister untereinander. Diese Nächstenliebe ist kein schweres Muß, sondern reiner selbstverständlicher Naturtrieb. Es gilt nur, diese Triebe zu formen, daß sie harmonisch ineinandergreifen, daß bei aller Gemeinsamkeit des Gefühls Ordnung und Zucht gewahrt bleibt. Es entspricht dem Namen Vater, daß er seine Liebe dem Sohn gegenüber anders gestaltet als der Sohn dem Vater gegenüber. Der rechte Vater hat eine zärtliche Fürsorge für seinen Sohn, der rechte Sohn einen verehrungsvollen Gehorsam gegen den Vater. Der rechte Gatte übt eine gütige Rücksicht gegen die Gattin, die rechte Gattin weiß sich ihrem Gatten in Grazie zu fügen. Der ältere Bruder hilft seinem jüngeren Bruder und schützt ihn, der jüngere ordnet sich unter und gibt nach. So gestaltet sich die Familie zur Harmonie ihrer Beziehungen, und die Liebe wird verklärt durch die sanfte Leitung der Sitte. Von der kultivierten Natur der Sippe ist dann der Übergang nicht schwer zur natürlichen Kultur des Staates. Das Gefühl der ehrfurchtsvollen Liebe zum Vater, der freundschaftlichen Unterordnung unter den älteren Bruder wird zur Pflicht der Treue gegenüber dem Fürsten und der Unterordnung unter die Vorgesetzten und umgekehrt. So wird die Pflicht zur erweiterten Liebe und der Staat zur erweiterten Familie. Aber der Blick bleibt bei keinem begrenzten Gebilde haften. Wie sich der Himmel allgegenwärtig über die Erde schützend breitet, so bleibt die letzte Einheit der Kultur die Menschheit, harmonisch geordnet durch die Auswirkung letzter Ideale.

Dies sind die Grundgedanken, die Konfuzius der chinesischen Kultur unverlierbar eingeimpft hat. Mit dem Gesetz der Wandlung alles Irdischen ist es gegeben, daß ein solcher Zustand des Friedens, da Himmel und Erde in Verbindung sind, Obere und Untere vereinigt sind, da die Edlen herrschen und die Gemeinen dienen, keine Dauer besitzt. »Keine Ebene, auf die nicht ein Absturz folgt, kein Hingang, auf den nicht die Wiederkehr folgt: das ist die Grenze von Himmel und Erde.« So kommen auf Zeiten der Ordnung und des Friedens notwendig Zeiten des Chaos und der Stockung. Aber in dieser Gesetzmäßigkeit Hegt auch ein Trost. So oft auch die chinesische Welt in Revolution und Chaos gestürzt wurde, immer wieder haben sich Ordnungsmenschen gefunden, die den Frieden wiederhergestellt haben durch Anwendung der ewigen Gesetze der Harmonie. Man hat China oft mit einem in sich gefestigten Würfel verglichen: Er mag wohl umfallen; aber auf welche Seite er auch fällt, er kommt immer wieder ins stabile Gleichgewicht.

Die südliche Richtung der chinesischen Kultur zeigt andere Züge. Während der Norden auf die Organisation der Menschheit sich konzentriert, sein »Sinn« der Sinn des Edlen ist, sucht der Süden den Menschen zu verstehen im allgemeinen Naturzusammenhang. Laotses »Sinn« ist der Sinn des Himmels. Für ihn ist der Mensch einfach ein Teil der Natur. Alles, was die Natur beherrscht und vergewaltigt, ist vom Übel. Rückkehr zur Natur ist das einzige Heil. Laotse hat den Weg vorbereitet für die Einflüsse, die später durch den Buddhismus in China eingedrungen sind. Diese Lebensform findet sich mehr im Stromsystem des Yangtse. Dort war von jeher eine Verbindung mit maritimen Einflüssen. Der Yangtse ist ein wohlschiffbarer Fluß. So waren denn seine Mündungsgebiete früher der Schauplatz von Kulturstaaten, die in losem Zusammenhang mit der chinesischen Kultur standen, als sein Mittel- und Oberlauf. Es ist nicht Zufall, daß die Sagen hier immer wieder vom »Südmeer« sprechen, aus dem Götterbilder und Heilige angeschwommen kamen. Die Insel Putou, wo der »Heilige des Südmeers, der große Meister« Kuanyin Kuanyin ist die Übertragung des indischen Avalokiteshvara, der, ursprünglich männlich, in China wahrscheinlich im Anschluß an eine einheimische weibliche Gottheit allmählich zur Mutter der Barmherzigkeit wurde. verehrt wird, ist nur eine Instanz für diese Auffassung. Hierher gehören die Sagen, daß geheime Offenbarungen, Pläne der Weltordnung von merkwürdigen drachenartigen Tieren aus dem Wasser heraufgebracht wurden.

Man darf diese Linien natürlich nicht übertreiben. Die chinesische Kultur als solche setzt sich aus beiden Elementen zusammen, und heute spielt der Norden oder Süden der Abstammung keine wesentliche Rolle mehr, nur daß das Leben in Sutschou oder Hangtschou flüssiger, leichter, naturgewandter erscheint als die strengere, trockenere Art des Nordens. Die südliche Richtung des Denkens steht nicht im Gegensatz zur nördlichen. Sie umspinnt und umfaßt deren Anschauungen. Konfuzius ist von der Sage zu einer Art von Schüler des Laotse gemacht worden. Darin liegt eine Wahrheit, auch wenn die beiden sich nie gesehen haben sollten. Der Taoismus in China ist trotz aller seiner mystischen Tiefen harmonischer als die indischen Gedankenrichtungen. Gütig lächelnd läßt er das Leben der Natur bestehen. Es wird vom Sinn getragen und verklärt. Nicht Übersteigerung der Natur und feindselige Abkehr, sondern gütige Duldsamkeit und Vereinigung mit Himmel und Erde, Aufsteigen zu Sonne und Mond, Verewigung des Einzellebens durch seine Vereinigung mit den kosmischen Kräften ist hier das Ziel. Man kann sagen, daß die Naturzugewandtheit der Mystik des Südens ebenso wie die Naturzugewandtheit des Rationalismus des Nordens es bewirkt haben, daß der chinesische Mensch sich nie vom Mutterboden des Irdischen gelöst und seine Harmonie gefunden hat in einer riefen Bejahung der Welt als Kosmos. Auch die erkannten Unzulänglichkeiten der Wirklichkeit wurden nicht Grund zum Pessimismus. Man ließ sie gelten in der Gewißheit, daß sich im großen und ganzen doch letztlich alles zur Harmonie ausgleicht.

Diese Weltanschauung kennt weder den prinzipiellen Bruch zwischen Mensch und Weltall noch den Zwiespalt zwischen Individuum und Gesellschaft. Der einzelne ist sicher eingebettet in feste, tragende Zusammenhänge der übergreifenden Organismen von Sippe, Volk und Menschheit, und ebenso hat die Menschheit ihre feste, harmonische Stellung im Weltall. Die Ordnung der chinesischen Gesellschaft beruht darauf, daß jeder seinen natürlichen, ihm zukommenden Platz hat, von dem aus er sich voll betätigen kann und über den hinauszugehen weder recht noch erwünscht ist. So hat im chinesischen Weltbild der titanische Stolz keine Stelle, denn da niemand dem Menschen seinen Platz streitig macht, ist es nicht heroisch, sondern verbrecherisch, darüber hinaus zu wollen. Darum findet man im chinesischen Wesen eine ebenso unbedingte Hartnäckigkeit im Kampf um die Stellung, die einem mit Recht zukommt, wie ein zufriedenes Bescheiden gegenüber dem Unerreichbaren. Das Untitanische der chinesischen Weltanschauung im Gegensatz z. B. zur deutschen drückt sich sehr gut darin aus, daß das Unrechte bei uns ein »Fehler« ist, in China ein »Überschreiten«. Auch den himmlischen Mächten gegenüber findet sich kein titanisches Aufbäumen: denn man sieht sich nicht einem persönlichen Autokraten gegenüber, der die Welt mit Willkür und Ungerechtigkeit lenkt, sondern der tiefste Weltsinn ist überpersönlich. Gegen ihn kann es keine Auflehnung geben, da er ja nicht etwas Fremdes ist, sondern mit den eigenen Tiefen des Menschen wesentlich eins. Was von untergeordneten Instanzen der Weltregierung etwa verkehrt gemacht wird, das sucht man nach Möglichkeit durch magische Mittel zu korrigieren, und wo alles versagt, herrscht eben die unerbittliche Notwendigkeit, der man sich fügen muß. »Me yo fa tse« (mit Achselzucken gesprochen), d. h. »es läßt sich nichts machen«, oder »pu yao kin«, d. h. »es tut nichts«, sind die Auskünfte dem Unausweichlichen gegenüber.

Ebenso gibt es keine wesentliche Tragik. Es gibt traurige Dinge, furchtbare Dinge, Folgen von Verfehlungen, die sich auswirken und die hätten vermieden werden können, wenn man nicht falsch gehandelt hätte. Natürlich treffen solche Schicksalsschläge auch Unschuldige mit, die mit dem Frevler schicksalsverbunden sind. Aber die innere Entzweiung des Weltgrunds, die im Helden und seinem Gegenspieler notwendige Verkettungen von Schuld und Sühne schafft, gibt es deshalb nicht, weil die Pflichtenskala nicht auf verschiedenen Grundlagen aufgebaut ist, sondern einen einheitlichen Zusammenhang bildet. Es gibt eine klare Reihe von Pflichten, die bei gutem Willen immer das Richtige zu wählen erlaubt.

»Ich esse gerne Fische, ich esse gerne Bärentatzen. Wenn ich nicht beides haben kann, verzichte ich auf die Fische und halte mich an die Bärentatzen. Ich liebe das Leben, ich liebe die Pflicht. Wenn ich nicht beides vereinigen kann, so verzichte ich auf das Leben und halte mich an meine Pflicht.« Mit diesem Wort hat Mongtse diese feste und darum beruhigende Wertskala am besten bezeichnet. Dieselbe positive Stellung zum Leben, die die Tragik ausschaltet, zeigt sich in der Allgewalt der Sitte. Es gibt für jede Situation ein richtiges Handeln. Wenn man es nicht trifft, so ist das nur die Sache der Unwissenheit, nicht eine tragische Notwendigkeit.

Äußeres und Inneres sind in Harmonie zu setzen. Eine Gesinnung, ein guter Wille, der sich nicht auf die rechte Weise äußert, ist nicht wirklich gut. Darum auch das strenge Achten darauf, daß man keinem anderen eine Beschämung bereitet, und daß man selbst nicht »das Gesicht verliert«. Denn »Gesichtsverlust«, d. h. Beschämung ist nicht etwas Äußerliches, von dem man sich innerlich in Freiheit absondern kann, sondern etwas Wesentliches, was den ganzen Menschen betrifft. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht, daß dasselbe Wort den Leib und die Persönlichkeit bedeutet.

Fassen wir zusammen, so finden wir, daß die chinesische Kultur ein Ideal zeigt, das wesentlich auf Harmonie eingestellt ist im Zusammenhang mit der Vernunft der Organisation in Kosmos und Gesellschaft. Darum ist das Leben auch des Geringsten verhältnismäßig glücklich und zufrieden, nicht angekränkelt von des Gedankens Blässe.

Es ist selbstverständlich, daß diese Kultur gewisse wirtschaftliche, ja selbst geographische Verhältnisse zur Grundlage hat. Es ist die Kultur der Agrarform, und sie setzt voraus ein weites Gebiet, das bei richtiger Ansetzung der vorhandenen Produktionskräfte eine ausreichende Existenz ermöglicht. Sie setzt ferner voraus, daß die Spannungen innerhalb der Gesellschaft zwischen vornehm und gering, reich und arm nicht übermäßig sind, so daß sie durch Sitten und Standesordnungen geregelt werden können, indem die Reichen und Vornehmen soziale Verpflichtungen anerkennen und durch Familienbeziehung und Rücksichten mit den weiten Schichten des Volkes verbunden sind. Auch zwischen den Gesellschaftsschichten ist das Band nicht zerbrochen. Daher der instinktive Zusammenhalt aller Teile des Volkes, wenn es sich um Abwehr von Vergewaltigungen des Auslandes handelt. Wie diese Verpflichtung der Vornehmen sich auswirkt, davon konnte man anläßlich des großen japanischen Erdbebens ein schönes Beispiel sehen: die im chinesischen Denken erzogenen vornehmen Familien und Prinzen des kaiserlichen Hauses öffneten selbstverständlich ihre Parks und Paläste für die obdachlosen Flüchtlinge, die europäisch eingestellten Großkaufleute verrammelten ihre Türen und ließen sich durch Polizei bewachen.

Die chinesische Kultur hat schon einmal eine Krise durchgemacht vor ungefähr 2200 Jahren. Damals trat die alte chinesische Kultur in ihr mechanisches Zeitalter ein. Erfindungen technischer Art wurden gemacht, eine Art von Kapitalismus und Manufakturismus kam auf. Die alten Stände verfielen, eine neue Aristokratie des Besitzes und der Macht bildete sich. Das Denken begann sich zu atomisieren. In der Philosophie des Yang Tschu zeigte sich die Selbstherrlichkeit des Individuums, das nicht auf ein Haar oder einen Faden verzichtet hätte, und wenn es auch der ganzen Welt damit hätte nützen können, und das andererseits auch nicht einen Faden angenommen hätte, der ihm nicht von Rechts wegen zugehörte. Demgegenüber trat Mo Ti auf mit einem rationalen Glauben an einen anthropomorph gedachten persönlichen Gott, dessen Wille es sei, daß alle Menschen einander lieben sollen. Er wollte die Gesellschaft aufbauen auf dieser allgemeinen Menschenliebe, die er kirchlich organisierte, und auf einem rationalen Pragmatismus und Utilitarismus. Wahr ist für ihn, was sich in der Geschichte bewährt hat, was praktischen Nutzen bringt, was dem gesunden Menschenverstand entspricht.

Der Blick der Naturwissenschaft hatte sich kosmisch erweitert. Astronomische Anschauungen von der Unendlichkeit von Raum und Zeit, innerhalb derer die Menschenwelt nur als verschwindender Ausschnitt in Betracht kam, fanden sich. Auf der anderen Seite wurden in der Fachphilosophie die festen Maßstäbe von Recht und Unrecht von einer sophistischen Dialektik einer vernichtenden Kritik unterzogen. Der Mensch, und zwar das einzelne Individuum, wurde als Maß aller Dinge aufgestellt.

Die sozialen Bindungen der Familie und des Staates waren der Gefahr der Zersetzung verfallen. Gewiß kämpften derartigen Zeitströmungen gegenüber die Vertreter des Konfuzianismus für eine organische Gliederung der Gesellschaft. Aber auf der anderen Seite wurde die Tatsache der Kultur und ihres Wertes schlechthin in Frage gestellt. Die Rechtslehrer kamen, auch soweit sie den Konfuzianismus vertraten, immer mehr von dem humanistischen Ideal ab und wandten sich immer mehr dem Prinzip der Staatsregierung durch den Mechanismus von Gesetzen und Einrichtungen zu.

Allein diese Periode ging spurlos vorüber. Die Welt war noch nicht reif für ein richtiges Maschinenzeitalter mit den daran geknüpften Erscheinungen des Industrialismus und Kapitalismus. Außerdem wurden alle Ansatzpunkte einer mechanisierten Gesellschaftsordnung wieder zerstört durch entsetzliche Kriege, in denen die ganze Kultur Alt-Chinas überhaupt vernichtet wurde. Ähnlich wie auf den Trümmern des römischen Kulturstaates die Germanen mit einer neuen Barbarei begannen, so primitivisierten sich die Verhältnisse Chinas wieder unter der Handynastie. Die Bevölkerung wurde dezimiert, die Kulturdenkmäler wurden in weitem Ausmaß vernichtet. Aufs neue konstituierte sich das Patrimonialrecht auf agrarischer Grundlage. Damit kamen auch die alten Ideale wieder auf. Die Lehren des Konfuzius wurden aus dem Staub wieder hervorgezogen und kamen erst jetzt allmählich zu ihrer vollen Geltung.

Es würde zu weit führen, die ganzen Wandlungen der chinesischen Geschichte durchzugehen. Genug daß sich eine immer weitergehende Stabilisierung und damit freilich auch Erstarrung der chinesischen Lebensformen findet, die mit einzelnen Erschütterungen und Unterbrechungen bis in die neue Zeit herunterreicht.

Wenn wir nun fragen, was dieses China mit seinem reichen Erbe der Vergangenheit uns zu bieten hat, so kann man die Meinung kaum unterdrücken, daß die Erhaltung Chinas bis auf die moderne Zeit von geradezu providentieller Bedeutung für die Weiterentwicklung der Menschheit ist. Gewiß bedeutet der chinesische Geist in der eben gezeichneten Form einen, entwicklungsgeschichtlich gesprochen »älteren Typus des Genus Mensch« als das, was sich im Westen entwickelt hat. Aber es gibt gewisse Punkte, wo älter und jünger keine Beziehung zu höher oder niedriger mehr haben. So repräsentiert ja auch der Mensch in gewisser Hinsicht dem Affen gegenüber einen älteren Typus. Das Ältere ist oft sozusagen eine Ansammlung von Kraftquellen, die von der Zukunft direkt in den Strom des Geschehens übernommen werden können. So steht z. B. Laotse den Grundlagen der Welt des Matriarchats wesentlich näher als Konfuzius, der in China die spätere Stufe des Patriarchats repräsentiert. Dennoch kann man nicht sagen, daß Konfuzius den Laotse überholt habe. Im Gegenteil: er hat manche der wertvollsten Intuitionen direkt von Laotse übernommen, und der Taoismus bildet dauernd ein Regulativ, das den Konfuzianismus vor Verflachung und Utilitarismus bewahrt.

In diesem Sinn ist die chinesische Lebensweisheit Heilmittel und Rettung für das moderne Europa. Denn so seltsam es klingt: die alte chinesische Lebensweisheit besitzt die Kraft der Kindlichkeit. So alt das chinesische Volk auch ist, es hat nichts Greisenhaftes an sich, sondern lebt aus der Harmlosigkeit, wie sie Kindern eigen ist. Diese Harmlosigkeit ist weit entfernt von Unwissenheit oder Primitivität. Sie ist die Harmlosigkeit des Menschen, der ganz tief im Sein verankert ist, da wo die Quellen des Lebens sprudeln. Darum kommt für den Chinesen das, was er macht, was er nach außen hin leistet, gar nicht in erster Linie in Betracht, sondern das, was er als Wesenskraft ist. Dieses Sein ist nicht ein lebloses Vorhandensein, sondern eine kraftvolle, konkrete Wirklichkeit, von der Einflüsse ausgehen, die um so kräftiger wirken, weil sie nicht bewußt gewollt sind, sondern etwas Selbstverständliches, Unwillkürliches zum Ausdruck bringen. Das gibt eine große Ruhe und Gefaßtheit. Der Blick bleibt nicht hängen am eigenen kleinen Ich der zufälligen Persönlichkeit, sondern erweitert sich zu Menschheitstiefen. Man lebt schicksalshaft, und darum wird man den Oberflächenwellen gegenüber souverän. Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Ein großer Mann hat die Kraft, große Schwierigkeiten in kleine zu verwandeln und kleine Schwierigkeiten zerschmelzen zu lassen, ehe er irgend etwas tut.« Für die Führerpersönlichkeiten kommt dazu noch die Geduld, daß sie nicht unmittelbar wirken wollen und äußeren Erfolg suchen, sondern daß sie die Keime des Werdens beeinflussen und die Magie des Gestaltens auf lange Fristen ausüben.

Das ist es, was wir brauchen und was Alt-China uns geben kann. Nicht Nachahmung kann uns nützen, nicht äußere Mode oder künstliches Anempfinden an Dinge, die uns fernstehen, sondern wir müssen zu uns selber kommen. Wir müssen unsere eigenen Tiefen finden und zu den Quellen vordringen, aus denen unser Leben quillt. Aber indem wir sehen, daß diese Ruhe möglich ist, daß der Zugang zu jenen tiefsten Regionen echter Magie offensteht, finden wir Mut, uns von dem Äußerlichen abzuwenden, zu verzichten auf Machen und Handeln in den Regionen der Schalen des Daseins. Wir werden es lernen, Kinder zu werden und die Mutter zu finden, die ihre Kinder nährt und ruhig macht und ihnen Kraft gibt, daß sie von innen her auf die Dinge wirken können, statt in der Jagd nach Erfolg sich an die Welt zu verlieren, die man zu beherrschen wähnt in dem Augenblick, da mit der erstrebten Wirkung zugleich schon deren Widerspiel einzusetzen beginnt nach den festen und ehernen Gesetzen der Wandlung alles Seins.

II.

Allein während wir die alte chinesische Weisheit auf uns wirken lassen und die Quellen suchen, aus denen wir für unseren Bedarf schöpfen können, machen wir die Erfahrung, daß China, ja der ganze Osten in einer rapiden Verwandlung begriffen ist. Der Westen hat im letzten Jahrhundert eine mechanische Zivilisation geschaffen, die alles übertrifft, was seit Menschengedenken auf der Erde sich fand. Nicht nur eine einzelne Kultur, sondern die ganze Menschheit ist in diese Periode eingetreten. Zum erstenmal wirken Maschinen mit, die nicht mehr auf menschliche oder tierische Kraft angewiesen sind, sondern das mechanische Reich in ihren Dienst gezwungen haben. Höchstens die Zeit, da der Mensch die Kräfte des Tieres in seine Dienste zwang, ist in der Menschheitsentwicklung solch ein Einschnitt gewesen. Vielleicht hat dieser Umschwung das Patriarchat an die Stelle des Matriarchats gesetzt, weil zum Pflügen mit Stieren größere Kräfte nötig waren, als sie die Frau besaß, die bisher den Hackbau betrieben hatte. Heute ist der umgekehrte Fall eingetreten. Während das Zugtier das stärkere Geschlecht zur Herrschaft brachte, wirkt die Maschine nivellierend. Sie erspart Kräfte. Frauen und Kinder können sie nahezu ebensogut bedienen wie der Mann. Darum wirkt die Maschine proletarisierend. Damit aber hört nicht nur die patriarchalische Ehe auf, sondern auch der heroische Patrimonialstaat, und die Masse siegt.

Diese Eigenschaft der Maschinenzivilisation ist es auch, die ihr auf der ganzen Erde Eingang verschafft hat. Wo sie hinkommt, verschwinden die autochthonen Kulturen. Sie wirkt vernichtend auf alle anderen menschlichen Daseinsformen, wie das Vorhandensein der Wanderratte der Hausratte ein Ende bereitet. Der stolze federgeschmückte Indianerhäuptling mit seinem scharfen zur Jagd geeigneten Adlerauge, der prächtige Maori in seinem Schmuck von Kräuselhaar und Muscheln, der Negerfürst in seinem Kriegerschmuck: sie alle werden zu dürftigen Proletariern, wenn sie in der phantasielosen europäischen Kleidung einhergehen und alle Eigenart sich in Ungewandtheit des Benehmens verwandelt hat. Aber die Maschinenkultur vernichtet alles andere, weil sie zu einfach ist. Wenn man die Wahl hat, ob man sich Feuer bohren will aus wohlgewählten Hölzern oder ein Streichholz anstecken, so setzt sich das Streichholz mit absoluter Sicherheit durch; denn es hat die Logik des Gesetzes der Kraftersparnis für sich. So geht es schließlich mit fast allem Mechanischen; denn es bedarf weder der Weisheit noch der Kraft, sondern nur der Geschicklichkeit und der Übung.

Auch China ist daher von der westlichen mechanischen Kultur des Lebens überrannt worden. Aller Widerstand half nichts. Der Westen kam aber nach China in besonders unsympathischer Form, die aufreizend wirken mußte: mit bloßer Gewalt und Ausbeutung ohne jede moralische Überlegenheit oder Schönheit. Aber was er brachte, war praktisch und einfach. Es mußte sich durchsetzen. Es ist auf die Dauer eine Unmöglichkeit, sich mit dem Handspinnrad gegen eine Dampfspinnerei zu wehren. Das kann aus innerer Begeisterung vielleicht eine Zeitlang gelingen, auf die Dauer ist es zum Mißerfolg notwendig verurteilt. Gewiß, China ist ein ungeheures Agrarland, und es wird noch sehr lange dauern, bis es durchindustrialisiert sein wird, aber für das Prinzipielle an der Sache kommt alles darauf an, was in den führenden Großstädten geschieht; denn für die Kulturgestaltung ist maßgebend nicht das flache Land, sondern der kleine Kreis der Elite der Intellektuellen, und diese rezipieren die westliche Kultur in vollen Zügen.

Hieraus ergaben sich nun, wie wir gesehen haben, bedeutende Umgestaltungen des gesamten geistigen Lebens. Im Tosen der Maschinen gelten andere Relationen als in der Naturverbundenheit einer auf Handarbeit und Ackerbau gegründeten Kultur. Die Folgen für China blieben auch nicht aus. Langsam und widerstrebend im Anfang, in immer beschleunigterem Tempo im Fortgang, bröckelte ein Stück nach dem andern ab von dem imponierenden Bau, den alte Meisterschaft errichtet hatte. Die Jugend stürzte sich mit einem wahren Heißhunger auf das Westliche. Man begann sich des Alten, Chinesischen in allen Dingen zu schämen. In der Kleidung nicht minder wie in der Weltanschauung galt das Westliche für erstrebenswerter. Die Grundgedanken der chinesischen Philosophie wurden ebenso beiseite gesetzt wie der Zopf oder die heimische Kleidung. Man ging europäisch gekleidet, gab die Sitten und Gewohnheiten des täglichen Lebens auf und machte sich die pragmatisch utilitaristische Philosophie Amerikas für den Hausgebrauch zurecht. Alles schien auf eine Vereinfachung und Erleichterung herauszukommen. Während man z. B. zur Meisterschaft in der chinesischen Schrift wohl ein Jahrzehnt angestrengter Arbeit gebraucht hatte, lernte sich das europäische Alphabet bequem in vierzehn Tagen. Ähnlich ging es bei so vielen Reformen. Die alten, in der Mitte mit einem viereckigen Loch zum Aufreihen an einer Schnur versehenen Kupfermünzen waren gutes, vollwertiges Geld. Aber es war unmodern, eine Münze zu haben, die man an Schnüren aufreihte, und die zudem einen so geringen Nennwert besaß. Man schmolz die Münzen ein und goß aus je fünf von ihnen moderne, undurchlöcherte Geldstücke zu dem Nennwert von zehn Stück der früheren Art. Man wurde reich wie Hans im Glück. Die Folge war natürlich, daß sich allmählich die ganzen Preise entsprechend verteuerten, wodurch die Lebenshaltung des Volkes um ebensoviel herabgedrückt wurde. Dieser Hergang ist nur ein typisches Beispiel für die Erlebnisse, die China bei der Mechanisierung des Lebens machte. Man hörte auf, die chinesische Kultur in ihrer Höhenlage zu besitzen und drohte ein Europäer zweiten Ranges zu werden. Denn einerseits war die Seite der europäischen Kultur, die im abgekürzten Verfahren einer Schnellpresse angeeignet werden konnte, eben doch nur die oberflächlichste Außenseite. Andererseits hatte man übersehen, daß zwar eine große Zahl begeisterter Lobredner auf die europäische Kultur als Schrittmacher und Agenten dieser Kultur in China tätig waren, daß darum aber doch die alten europäischen Kulturstaaten keineswegs gewillt waren, das neue China als vollberechtigtes Mitglied in die Kulturgemeinschaft des Westens aufzunehmen. Es gab manche Einzelpersönlichkeiten und einzelne Staaten, die zu höflich waren, das unumwunden auszusprechen; aber die Tatsache blieb bestehen, daß z. B. in politischer Hinsicht kein Mensch etwa aus der Reform Chinas die Konsequenz zog, China die Gerichtshoheit oder die Zollautonomie zuzugestehen. Man trieb zwar ein frivoles Spiel mit Versprechungen, aber im Grunde behandelte man China trotz alledem wie einen Negerstaat zweiter Güte; denn es gehört zur Struktur der europäischen Kulturpsyche, daß man zwar aus allen Kräften und mit allen Mitteln in außereuropäischen Ländern die Bedürfnisse der europäischen Kultur zu wecken sucht, aber bloß zum Zweck des besseren Absatzes. So war es durchaus erwünscht, wenn Negerhäuptlinge Zylinder trugen oder Chinesen Schildmützen, denn das gab einen guten Absatz der entsprechenden Waren. Aber man schätzte den Neger im Zylinderhut oder den Chinesen in der Schildmütze darum noch lange nicht als voll ein. Der Grund dafür war das imperialistische Gewaltprinzip, durch das Europa seine Herrschaft der ganzen Welt aufzwängte, und auf der anderen Seite der primitive Instinkt jedes Kulturkreises, das Andersartige als barbarisch zu verachten. So haben es schon die Griechen gemacht und nicht minder die Chinesen, als sie noch festgewurzelt in ihrer alten Kultur lebten.

Aber für Jung-China ergab sich daraus eine tiefgehende Enttäuschung, die sich gerade der bedeutendsten Köpfe am stärksten bemächtigte. Japan hatte seinerzeit vor denselben Problemen gestanden. Dort hatte man die Zähne zusammengebissen, die Schmach erduldet und still, aber zäh am Ausbau einer starken Kriegsmacht zu Wasser und zu Lande gearbeitet, mit der man dann durch einige wuchtige Schläge der Welt eine wenigstens äußerliche Achtung abnötigte und den anderen asiatischen Staaten gegenüber sich aufs hohe Pferd setzen konnte. Aber Japans Psyche bekam dadurch etwas Verkrampftes, und es hat dabei einen sehr schweren, am Mark des Lebens zehrenden Schaden erlitten.

China blieb vor diesem Schicksal bewahrt. Gerade noch in elfter Stunde, bevor es zum letzten, furchtbaren Schicksal geworden war, sich mit Leib und Seele an die mechanische Zivilisation zu verkaufen, ereignete sich das schreckliche Schauspiel des Zusammenbruchs dieser Zivilisation. Die europäische Kultur brach nicht zusammen wie etwa frühere Kulturen untergegangen waren durch allmähliche Versandung, Erstarrung, Vergröberung. Im Gegenteil: das Mechanische entwickelte sich zu immer subtilerer Feinheit und raffinierterer Wirksamkeit. – Nie sind so genial ausgedachte Zerstörungsmaschinen erfunden worden wie die, mit denen Europa im Weltkrieg sich selbst zerfleischte. – Was zusammenbrach war der tragende seelische Untergrund. Der Mensch Europas hatte die Herrschaft über die Maschine aus der Hand verloren und war ihr zum Opfer gefallen. Die Technik hatte sich übersteigert. Die Menschen verarmten in primitiven Seelenstimmungen fruchtlosen Hasses. So blieben die Kulturmittel erhalten – die Technik ist auch heute noch auf voller Höhe –, während die Kulturseele eine tödliche Wunde bekam.

Nichts hat China so sehr zur Selbstbesinnung gebracht auf seinem Gang nach dem Abgrund wie der Weltkrieg. Wo war jetzt die vielgerühmte Macht? Wozu diente der Reichtum und die Blüte der Technik? Und vor allem: was war aus dem Christentum geworden, das von den Missionaren doch immer als Seele dieser Kultur gerühmt worden war? –

Ungefähr gleichzeitig mit diesem Erwachen, das durch die Unwahrhaftigkeit, mit der China in Versailles um den Lohn seiner Bundesgenossenschaft gebracht worden war, noch besonders unsanft sich gestaltete, machten sich die Wirkungen der bolschewistischen Revolution geltend. Hier zeigte sich besonders deutlich, wie morsch die seelischen Grundlagen der europäischen bürgerlichen Kultur letzten Endes gewesen waren, da sie vor dem Terror einer verhältnismäßig kleinen Anzahl entschlossener Männer so vollständig zerbrachen. Das gab zu denken.

Rußland gab dann mit etwas lauter Geste seine Bereitwilligkeit zur Anerkennung Chinas als gleichberechtigter Macht zu erkennen. Deutschland hatte in aller Stille diese Anerkennung schon vorher vollzogen, und die ruhig überlegene Politik, die von deutscher Seite in Peking getrieben wird, zieht zum beiderseitigen Vorteil die Konsequenzen aus der neuen Stellung. Was die Politik Rußlands anlangt, so zeigt sie sich China gegenüber von ihren Sowjetprinzipien aus, d. h. sie erkennt die Berechtigung Chinas, seine Angelegenheiten selbst zu ordnen, an und unterstützt China moralisch in seinem Kampf gegen die Brutalität des Imperialismus des Westens. China hat die dargebotene Hand Rußlands ohne große Begeisterung angenommen. Die ungeduldige Art, mit der Rußland, mit dem Säbel in der Faust, seine Vergünstigungen anbot, hat die Verhandlungen eher verzögert als beschleunigt. Aber heute wird der Rückhalt, den man an Rußland hat, in China dankbar empfunden.

Was Chinas Stellung zum Westen anlangt, so ist es auf dem Wege der Rezeption der europäischen mechanischen Kultur schon zu weit vorgeschritten, als daß ein Zurück noch möglich wäre. Man will die Vorteile der Maschinenindustrie. Damit muß man aber auch den Kapitalismus und die Proletarisierung und Entwurzelung der Fabrikarbeiterbevölkerung bejahen. Mehr noch, der kommende Verkehr, die Ausnützung der Bodenschätze, die Industrialisierung weiter Gebiete wird ihre Konsequenzen für die Struktur der chinesischen Gesellschaft nicht vermeiden lassen. Der Organismus des konfuzianischen Familienstaates löst sich mit Notwendigkeit auf. Atomisierung der Gesellschaft wird eintreten.

Man ist in China nicht gewillt, durch alle Phasen des kapitalistischen Industrialismus, der so viel Not über Europa gebracht hat, in derselben Weise hindurchzugehen, wie Europa das mußte. Man hat die Gunst der zeitlichen Situation. Seit es ein bolschewistisches Rußland gibt, ist eine so grauenhafte Entmenschlichung des Proletariats, wie sie Europa im 19. Jahrhundert gesehen hat, moralisch nicht mehr möglich. Auch steht der Arbeiter in China der Ausbeutung durch das Unternehmertum nicht so wehrlos gegenüber, wie das in Europa beim unvorhergesehenen Hereinbrechen der Maschinen und ihrer Folgen der Fall gewesen war. China hat aus seiner Vergangenheit die Fähigkeit ererbt, sich zu organisieren. Die Kaufmanns- und Handwerkergilden der Städte sind etwas, was noch durchaus lebensvoll ist. Diese Organisationen sind eine Frucht der auf Familienzusammenschluß beruhenden dörflichen Verwaltungsorganisation. Sie bilden den Keim für eine gewerkschaftliche Organisation der Arbeiterschaft. Dazu kommt, daß die Arbeiter in China nicht wehrlos und verlassen in einem dumpfen Elend ringen müssen. Sie finden Leitung, Unterstützung und moralische Förderung durch die Studenten, deren Solidaritätsgefühl mit dem kämpfenden Proletariat so stark ist, daß sie mit ihm Schulter an Schulter stehen.

Für alle diese Aufgaben finden sich Lösungen im Geist der alten chinesischen Tradition. Je mehr man skeptisch geworden ist gegenüber dem alleinseligmachenden Evangelium Europas, desto mehr besinnt man sich auf das Gute, das die eigene Vergangenheit gezeitigt hat, und greift darauf zurück. Die Vertreter Jung-Chinas haben die Riesenaufgabe auf sich genommen, sachlich zu untersuchen und zu prüfen, was vom Eigenen, was vom Fremden gut und brauchbar ist, und sich zu einer neuen Kultursynthese zusammenschmelzen läßt.

Fragen wir nun, was Europa ihnen für ihre Lage zu bieten hat. Wir reden nicht vom Technischen. Das ist heute keine Frage mehr. Das ist auch nicht mehr europäisches Sondergut. Die Revolution, die heute von Tokio bis Fez gegen Europas Übermacht im Gange ist, stützt sich durchaus auf europäische Technik. Diese Technik würde wohl auch – wenn nicht schon heute, so doch sicher in zwanzig Jahren – Besitztum der Menschheit bleiben, auch wenn die europäische Rasse aus der Kulturarbeit der Menschheit ausschalten würde. Aber für unsere Fragestellung handelt es sich um etwas Tieferes. Wir sind der Überzeugung, daß Europa die übrigen intelligenten Rassen als vollkommen gleichberechtigte Glieder der Völkergesellschaft wird zulassen müssen, also seine bisherige praktische Alleinherrschaft verlieren wird. Worum es sich für uns handelt, das ist die Frage: Besitzt Europa in seiner Kultur geistige Kräfte, die ihm eigentümlich sind, und die für die anderen Rassen von ähnlichem Wert sein können bei der künftigen Gestaltung der Menschheit, wie es der tiefste Gehalt chinesischer Lebensweisheit für uns ist?

Wenn wir die Entwicklung des europäischen Geistes in Beziehung auf die voraussichtliche Gestaltung der Menschheitskultur betrachten, so zeigen sich in der Tat gewisse Erscheinungen, denen wir ohne Selbstüberhebung diese Bedeutung zugestehen dürfen. Was den Weg anlangt, auf dem die Menschheit gegenwärtig sich befindet, so werden wir ohne Bedenken die Richtung erkennen, daß die Zeit der besonderen, raumgebundenen Kulturen ihrem Ende entgegengeht. Diese Kulturen lösten in der Vergangenheit einander ab, sie durchliefen die Stufen der Kindheit, der Reife, der Vergreisung, um bei ihrem Absterben ihr Erbe neuaufwachsenden Kulturpflanzen zu hinterlassen. In dieser Beziehung sind die Möglichkeiten erschöpft. Das Urgestein der verschiedenen alten Kulturrichtungen hat sich vollkommen zerrieben. Seine Trümmer liegen umher. Der Siegeszug der Maschinentechnik gibt jedoch eine universale Grundlage für jede künftig mögliche Kultur. Die neue Kultur wird sozusagen eine Kultur zweiter Stufe werden, deren Elemente nicht mehr Naturprodukte, sondern Kulturprodukte sind: ein Oberbau über sämtlichen bisherigen Kulturen.

Damit hängt zusammen eine immer weitergehende Verselbständigung des einzelnen. Die naturhaften Bindungen des Individuums durch spontan gewachsene Gruppen treten immer mehr zurück. Die Organisation der Gesellschaft wird immer mehr bewußt, rationalisiert, frei werden. Träger der Kulturseele wird künftig nicht mehr die Gruppe, sondern der einzelne sein. Dies verträgt sich sehr wohl mit dem Erstarken eines bewußten Nationalismus, wie er sich heute im Sowjetgedanken ebenso zeigt wie im Faszismus.

Hierin liegt nun eine große Gefahr. Eine materialistische Zertrümmerung der bodenständigen und überindividuellen Kulturen würde eine Atomisierung der Menschheit herbeiführen, die aus dem Menschengeschlecht im besten Falle eine Maschine machen würde. Wir kämen damit tatsächlich nicht nur dem Untergang des Abendlandes, sondern dem Untergang der Menschheit bedenklich nahe.

Allein in diesem Stück zeigt sich das Providentielle in der Entwicklung des Westens. Als Griechenland sich durch seine überlegene Bewaffnungstechnik vom persischen Orient löste, begann Europa eigene Wege zu gehen, die immer aufs neue durch Machtentfaltung von der orientalischen Art zu sein, losgelöst wurden. Der Mensch trat in der griechischen Philosophie mit dem freien Geist des Titanen der übermächtigen Natur gegenüber und lauschte ihr – und ob er darüber von ihr zermalmt worden wäre – ein Geheimnis um das andere ab. Diese Haltung schuf ihm seine Selbständigkeit der Natur gegenüber, wie sie die Menschheit nirgends sonst besessen hatte. Wohl kam dadurch der verhängnisvolle Bruch zwischen Natur und Geist in die menschliche Brust, aber mit ihm zugleich die Freiheit der Menschenseele gegenüber der ganzen Welt.

Ins Religiöse gewandt hat Jesus von Nazareth diese neue Stellung des Menschen ausgesprochen mit dem Wort: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, daß er seine Seele wieder löse?« Jesus zertrümmerte die sämtlichen Bindungen übergreifender irdisch vergänglicher Kulturgebilde. Er nahm der Familie ihre wesentliche Bedeutung: »Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist mein nicht wert.« Er schob den Staat als für die höchsten Fragen bedeutungslos beiseite: »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist (nämlich den wertlosen Mammon, mit dem er die Menschen an sein Bild zu fesseln sucht), und Gott, was Gottes ist (nämlich die Seele, die er gebildet hat)«. Er löst den Menschen von allen Kulturbindungen des Besitzes, der Macht, der Kunst und wie immer die Kulturwerte heißen mögen. Wie sehr er vollends auf religiösem Gebiet revolutionär war, und nicht nur die Kirche mit zornigem Hohn aufhob, sondern auch in aller kindlichen Einfalt den richtenden Gott der Gerechtigkeit, der irgendwo draußen im Weltall sitzt, vom Thron stieß, das hat sich dadurch am deutlichsten gezeigt, daß er deshalb hingerichtet wurde unter einträchtigem Zusammenwirken der Verteidiger von Thron und Altar.

Wohl verkündigte er das Reich Gottes. Aber das Reich Gottes ist für ihn nicht von »dieser« Welt. Es ist aber auch nichts »Jenseitiges«, sondern »siehe, das Reich Gottes ist in euch«. Indem Jesus den Menschen ganz frei macht von allen Einzelerscheinungen des Lebens, und dabei doch das Leben bejahte, hat er die innere Haltung des Menschen geschaffen, die allein imstande ist, dem Menschen der ganzen äußeren Natur und Kultur gegenüber die absolut souveräne Stellung zu geben, wie sie für den Menschen der Zukunft, den universalen und doch zutiefst einsamen Menschen, nötig sein wird, damit er nicht erdrückt wird von der Wucht des Stoffes, den er beherrschen muß.

Natürlich mußte diese Freiheit zunächst mißverstanden werden. Alle die Kulturgüter, die Jesus, wenn nicht verneinte, so doch ihres unbedingten Wertes entkleidete, wurden christianisiert und in dieser Form geduldet. Aber trotz alledem sind alle originalen Geister Europas, welche der Menschheit neue Aussichten eröffneten, irgendwie auf diesem Wege teils bewußt, teils unbewußt weitergegangen. Alles, was in dem europäischen Geist zutiefst von Wert ist, liegt in der Richtung dieser autonomen Freiheit des Menschen, der das Göttliche in sich selbst erlebt.

Fassen wir zusammen! Indem die Menschheit sich loslöst von den zeitlich und räumlich bedingten Bindungen, braucht sie zwei Dinge: Das tiefe Eindringen in das eigene Unterbewußte, bis von hier aus der Weg frei wird zu allem Lebendigen, das in mystischer Einheitsschau intuitiv erlebt wird. Dies ist das Gut des Ostens. Auf der anderen Seite braucht sie die letzte Intensivierung des autonomen Individuums, bis es die Kraft gewinnt, dem ganzen Druck der Außenwelt gewachsen zu sein. Dies ist das Gut des Westens. Auf diesem Boden treffen sich Ost und West als einander unentbehrliche Geschwister.


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