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Siebzehntes Kapitel. Okkultismus und religiöse Strömungen

Das Aufwachen okkultistischer und religiöser Strömungen ist in seinem gegenwärtigen Umfang eine ganz neue Erscheinung in China. Wohl haben sich auch in den letzten Jahrzehnten unter dem Volk religiöse Strömungen gezeigt, die zur Bildung von Geheimsekten geführt haben. In diese Richtung gehört z. B. die christliche Bewegung der sogenannten Taipings oder die antichristliche der Boxer. Aber das waren halbbewußte Ausbrüche vulkanischer Art von verdrängten Komplexen, die auf diese Weise zu einer irrationalen Äußerung kamen. Wenn bei der Boxerbewegung auch einzelne Beamte, besonders unter den wenig gebildeten und primitiven Mandschus an die Bewegung geglaubt haben, so war und blieb das Ganze im wesentlichen eine lokal beschränkte Massenpsychose. Tiefere seelische Gebiete wurden nicht berührt. Daher war auch das rasche Abebben der Bewegung und ihr Umschlag in die neue Zeit möglich.

Die gebildeten Kreise in China waren stets sehr aufgeklärt und nüchtern. Die Form religiöser Bräuche hatte über die Bewegung der Gefühle gesiegt. Ein etwas steriler Agnostizismus war das Allgemeingut dieser Menschen. Man unterhielt sich wohl gelegentlich über Gespenstergeschichten. Man leugnete auch keineswegs die Möglichkeit okkulter Erscheinungen, die im Osten doch allzu zahlreich auftreten, um ignoriert werden zu können, besonders da Betrug als Gelderwerb auf diesem Gebiet nicht in Frage kommt. Aber man hatte sich mit diesen Dingen abgefunden. Man nahm an, daß, wie der Leib mit dem Tode nicht plötzlich verschwinde, sondern einem allmählichen Auflösungsprozeß anheimfalle, so auch der psychische Teil des Menschen den Tod eine Zeitlang überdauere, um sich im Lauf der Zeit ebenfalls aufzulösen, höchstens daß da, wo starke Geisteskraft die Elemente der Seele zusammenhalte, die Persönlichkeit auf einer ätherförmigen Basis mit der Möglichkeit der verschiedenen Stufen der Materialisation auf Kosten von lebendem Plasma sich längere Zeit erhalten könne. Solche Wesen seien dann Götter und Dämonen, die durch viele Jahrhunderte dauern können, solange sie innerhalb der lebendigen Menschen günstige Anknüpfungspunkte finden. Diese Anschauungen scheinen dem europäischen Beobachter in Widerspruch zu stehen mit der Lehre von Karma und Wiedergeburt, ferner mit der Lehre von den Höllen und Himmeln, in denen die abgeschiedenen Seelen sich aufhalten, und endlich mit der Ahnenverehrung, die doch augenscheinlich ein Weiterleben nach dem Tode voraussetzen. Aber das scheint nur dem Außenstehenden so. Diese Anschauungen gehen zwar höchstwahrscheinlich auf verschiedene Ursprünge zurück: die Jenseitslehre auf westasiatische, die Karmalehre auf indische und der Ahnenkult auf konfuzianische; aber das Leben geht über solche Widersprüche hinweg und vereinigt mit Leichtigkeit auch noch stärkere Widersprüche.

Menschsein ist für die chinesische Anschauung nur eine Daseinsform unter vielen. Der Mensch ist ebenso wie aus verschiedenen körperlichen, so auch aus verschiedenen seelischen Schichten zusammengesetzt. Werden diese verschiedenen Schichten beim Tode durch eine starke Kraft zusammengehalten, so dauert die Persönlichkeit auf einer höheren, weil feiner stofflichen Daseinsebene weiter. Sie wird zum Genius (Hsiän). Diese Genien bilden das taoistische Pantheon und zeigen sich je nach ihrer Kraft ihren Verehrern längere oder kürzere Zeit. Die taoistische Tradition kennt besonders acht solcher Genien, die, aus verschiedenen Zeiten stammend, eine sublime Gesellschaft bilden. Auch eine Frau ist darunter, die in Abwesenheit ihres Mannes vom Trank der Unsterblichkeit naschte und darauf strackwegs unter die Genien gelangte. Wichtig ist, daß diese Genien immer irgendwie körperlich gedacht sind. Sie können erscheinen und verschwinden und haben einen verklärten Leib. Die Gespenster sind ihr Gegensatz. Hier ist das Materielle unrein und wirkt für sie und andere als Qual. Sie sind die unerlösten Geister. Manche müssen einen Stellvertreter stellen, um von ihrer unseligen irdisch-unirdischen Stellung frei zu werden. Besonders die Geister der Ertrunkenen und der Erhängten sind gefährlich. Darum meidet man die Orte, wo es auf diese Weise spukt, denn gar häufig kommt es vor, daß durch Schreck oder List ein armer Mensch dazu bewogen wird, an dem Platz, wo ein Selbstmord begangen ist, sich zu erhängen. Diese unseligen Gespenster, die vom irdischen Leben nicht loskönnen, quälen und schrecken die Menschen, weil sie nichts anderes als Qual produzieren können.

Natürlich werden auch in China häufig Gespräche darüber geführt, ob es solche Gespenster gibt oder nicht. Eine Zeitlang erregte folgendes Ereignis großes Aufsehen: Ein chinesischer Dampfer war bei einem winterlichen Sturm in der Nähe von Schanghai untergegangen und die Mehrzahl der Passagiere und Mannschaften waren ertrunken. Ein Kaufmann, der mit seiner Frau ertrunken war, erschien seinem Sohn bei Nacht und sagte, daß er und seine Frau keine Ruhe fänden, solange nicht ihre Leichen, die sich noch immer in den Kabinen des Dampfers befänden, geborgen und bestattet seien. Er erzählte dann noch, wie entsetzlich die Ereignisse bei dem Untergang gewesen seien, und gab genau den Ort an, wo die Leichen sich befänden. Zum Zeichen, daß es keine Täuschung sei, bot er folgenden Beweis an. Der Sohn solle vor dem Pavillon im Garten eine weiße Leinwand ausbreiten und Punkt zwölf Uhr in der nächsten Nacht die Leinwand photographieren lassen. Der Sohn tat es, und richtig fanden sich auf der Platte die Umrisse einer weiblichen und einer männlichen Gestalt, die auf der Photographie wie dunkle Schatten auf hellem Hintergrund wirkten. Auch sollen die Leichen an dem bezeichneten Platz gefunden worden sein.

Als ich von der Geschichte hörte, beschloß ich mit einigen chinesischen Freunden, der Sache näherzutreten. Wir ließen uns einen Abzug der Geisterphotographie kommen. Es war ein Klischeedruck, auf dem man tatsächlich zwei Schattenumrisse unterscheiden konnte, die aber nicht als beweisend angesehen werden konnten. Doch hieß es, daß man gegen Einsendung eines höheren Betrags auch eine einwandfreie direkte Photographie beziehen könne. Die Photographie kam an und war in der Tat sehr merkwürdig. Das Bild war vollkommen dunkel, nur wenn man es im hellen Sonnenschein von der Seite ansah, traten ähnlich wie auf den alten Daguerrotypien, nur viel schwächer, die Züge eines alten chinesischen Herrn zutage, die, wie einige Anwesende mit Schrecken bemerkten, tatsächlich dem Verstorbenen glichen. Es erhob sich nun eine erregte Diskussion über die Möglichkeiten eines solchen Vorgangs. Ich bat einen der jüngeren Herren zunächst einmal, den Tatbestand genau zu prüfen. Nun stellte es sich heraus, daß es sich einfach um die Aufnahme einer alten Photographie des Verstorbenen handelte, die vor der Aufnahme mit Tusche zugedeckt worden war. So stellte sich dieser frappante Fall, der selbst die Presse eine Zeitlang beschäftigt hatte, als Schwindel heraus. Ob die erste undeutliche Photographie echt war und die zweite nur hergestellt war, um über die Wahrheit hinaus noch einen Beweis zu erbringen, wurde nicht untersucht.

Neben diesen feinkörperlichen, immer zur Wirkung auf die Menschen bereiten und materialisationsfähigen Geistern und Dämonen, in deren Reihen sich übrigens auch außermenschliche, oft tierische Wesen finden, hat die Vorstellung des Jenseits sehr wohl Platz. Einerseits sind im Menschen mehrere physische Wesen vereinigt, die ursprünglich wohl irgendwie ähnliche Gebilde wie die griechische Schatten-, Hauch- und Körperseele sind. Andererseits ist das Jenseits in seiner gegenwärtigen Auffassung nur als Übergangszustand gedacht. Es ist nichts Körperliches, sondern nur ein Bewußtseinszustand. »Himmel und Hölle sind im Bewußtsein des Menschen.« Das ist ein immer wiederkehrender Satz der chinesischen Jenseitslehre. Deswegen kann es auch gelegentlich vorkommen, daß ein Mensch zu seinen Lebzeiten Himmel und Hölle durchwandert. Himmel und Hölle sind die psychischen Auswirkungen der Taten des Menschen in diesem Leben. Wenn durch den Aufenthalt im Himmel der Schatz der guten Werke »aufgebraucht« ist oder in der Hölle die Frevel abgebüßt sind, kommt die Seele in ihrer innersten Entelechie wieder zur Verkörperung. Die Seelen werden an das große Lebensrad geschleppt, wo sie das gelbe Wasser der Vergessenheit trinken. Dann werden sie in das Rad hineingestoßen. Es dreht sich knarrend. Sie verlieren das Bewußtsein und finden sich wiedergeboren auf der Erde. Ebensowohl wie es möglich ist, daß der Körper des Kindes sich im Mutterleib entwickelt, während die Seele noch im Jenseits weilt, ist es auf der anderen Seite, zu Beginn des Jenseitsstadiums, solange die Seele noch nach außen gewandt ist, möglich, daß sie ihren Hinterbliebenen erscheint, während sie im Jenseits wandert. Eine der ersten Stationen ist ja auch die Terrasse, von der aus die scheidenden Seelen noch einen Blick auf ihre Heimat tun können, ehe sie über den Fluß müssen.

Daß man an sein früheres Leben sich nicht mehr erinnert, kommt nur davon her, daß man aus den gelben Quellen getrunken. Manchen Menschen aber ist es vergönnt, einen plötzlichen Blick in frühere Daseinsstufen zu tun.

In einem der taoistischen Klöster des Laoschan hörte ich in der Abenddämmerung unter dem geheimnisvollen Kamelienbaum, in dem eine Blumenfee wohnt, eine Geschichte dieser Art. Der Abt ließ seine Zither verklingen, und durch die dunklen Zweige der Pinien blickte der hellere Himmel hindurch, während hinten die Felsen der Gipfel leise verglommen und ein prasselndes Reisigfeuer seinen Rauch zum Himmel sandte. Der Priester begann: Kürzlich war ein Mann hier, der wußte von seinem früheren Leben. Er war wegen eines bösen Lebenswandels in die Hölle gekommen und hatte dort lange Jahrhunderte schmachten müssen. Endlich sei die Zeit seiner Qual erfüllt gewesen. Er sei zum Lebensrad gekommen. Dort habe er eine Jacke aus dunklem Atlas bekommen, die ihm ausnehmend gut gefallen habe. Er habe sie angezogen, dann sei er in das Rad gestoßen worden. Ein Schwung – und er befand sich wieder auf der Erde. Seine Brüderchen und Schwesterchen seien klein und blind gewesen und haben gierig an der Mutter getrunken. Auch er habe sich hinzugemacht. Sie lagen auf dem Mist. Fliegen surrten umher und setzten sich ihnen auf die Augen. Aber all der Schmutz und Geruch, den er wohl empfand, war ihm nicht im mindesten unangenehm. Er wälzte sich wohlig in der weichen Masse. Nach einiger Zeit habe er ein hübsches dunkles Mädchen um die Ecke kommen sehen. Nach kurzem Beschnuppern habe sie ihm die Ehe versprochen. Mit der Zeit habe sie Kinder bekommen, einen ganzen Wurf auf einmal. Er merkte nun wohl, daß Frau und Kinder Schweine waren, aber auch das war ihm nicht unangenehm. Mit blinzendem Behagen verspeiste er einige der zarten, niedlichen Kleinen, worüber ihm seine Frau eine Szene machte. »Ja, so seltsam sind die Frauen,« habe er gedacht, »und dazu ist diese ein Schwein, was habe ich mich weiter um sie zu kümmern?« Damit ließ er sie im Stich und wandte sich anderen Dingen zu. Mit der Zeit kam er zu der Erkenntnis, daß er selber auch nichts Besseres war als ein Schwein. An sich habe er sich ziemlich leicht mit dieser Tatsache abgefunden; denn jedes Wesen hat vor allen Dingen die Liebe zum Leben und ist zufrieden damit, zu sein, was es ist. Aber eine tiefe Sorge habe sich seiner bemächtigt, als er bemerkte, wie die Menschen in der Umgebung, die er bisher kaum beachtet hatte, ein Auge auf ihn warfen. »Nun ist er fett genug!« hieß es eines Tages, man band ihm Hände und Füße zusammen, schlug ihm einen Haken ins Ohr und hob ihn an Ohr und Schwanz auf einen Wagen. Alles Schreien und Sträuben war vergeblich. Nun sei eine Zeit des Leids über ihn gekommen. Zusammengeworfen mit zahlreichen Unglücksgenossen, habe er unter den Qualen des Hungers und Durstes, der Erschütterung und der schmerzenden Fesseln eine lange Reise durchgemacht. Entsetzlich war der Markt, das Wehgeschrei der Unglücklichen, die von Weib und Kind hinweggerissen wurden einem qualvollen Tod entgegen. Schließlich sei die Reihe auch an ihn gekommen. Ein betäubender Schlag auf den Kopf, ein Stich, und er fühlte sein Blut rinnen. Dann aber sei erst das Entsetzlichste gekommen: die Hitze kochenden Wassers, in das man ihn warf, das Ausziehen der Haare, Ausweiden, Zerteilen. Alles habe er unter entsetzlichen Vernichtungsgefühlen erlebt. Dann sei er auf den Markt gekommen, und jedes Pfund Fleisch, das ihm abgeschnitten worden, habe er mit immer neuer Qual empfunden. Schließlich bei Sonnenuntergang habe eine alte Frau den letzten Rest Fleisch in ihren Korb getan, dann habe er das Bewußtsein verloren. Als er wieder zu sich kam, vernahm er die Stimme eines Richters, daß er nun genug gebüßt habe und wieder zurück dürfe auf die Erde. Sofort schleppte ihn eine Herde von Teufeln unter Grinsen und Toben davon. Er hatte nämlich inzwischen seine alte Gestalt wiederbekommen. Sie wollten ihm seine schwarze Atlasjacke nehmen. Aber er wollte sie ihnen nicht lassen. Schließlich begannen sie ihn zu zwicken und zu kneipen und ihm das Kleidungsstück in Fetzen vom Leib zu reißen. Je mehr er sich wehrte, desto heftiger zerrten sie. Zum Schluß hatte er nur noch einen Ärmel an. Da faßte er mit der letzten Kraft den Rand des Ärmels mit der Hand und sprach: »Ich gebe meine Jacke nicht her.« Aber schon hatte man ihn in das Rad gestoßen und gedreht. So kam er als Mensch wieder zur Welt. Aber an der einen Hand hatte er ein paar Finger, die sahen aus wie Schweineklauen. Auch hatte man vergessen, ihm von dem Wasser der Vergessenheit zu trinken zu geben; darum behielt er die Erinnerung an alle diese Vorgänge. Nie konnte er sie ohne Schauder und Tränen erzählen, und sein ganzes Leben lang hat er sich der Frömmigkeit und Heiligkeit beflissen.

Was nun den Ahnenkult anlangt, so bezieht sich der auf ein ganz anderes Gebiet. Die Begräbnissitten enthalten in ihrer heutigen Form freilich manches, was aus den bisher gezeichneten Anschauungsformen hervorgeht. In der chinesischen Kultur treffen so viele verschiedene Elemente zusammen, daß das nicht wunderbar ist. Aber im allgemeinen sind die Trauergebräuche und der Ahnenkult, so wie sie im Konfuzianismus sich herausgebildet haben, eine durchaus patriarchalische Einrichtung. Zu denken gibt, daß in alten Zeiten der Vertreter des verstorbenen Ahns bei den Opfermahlzeiten, der sogenannte Totenknabe, in der Regel der Enkel des Verstorbenen war. Das läßt darauf schließen, daß der Ahnenkult ursprünglich nicht mit einem dauernden Weiterleben der Ahnen im Jenseits, sondern mit einer in der Regel in der übernächsten Generation erfolgenden Wiederverkörperung rechnete. Gewiß wurden bei den höheren Ständen Ausnahmen gemacht. Durch den richtigen Dienst der Ahnen wurde diesen sozusagen Kraft zugeführt, ebenso wie sie ihre Hinterbliebenen segnen konnten, so daß eine längere persönliche Fortdauer möglich war. Aber nach einer gewissen Anzahl von Generationen wurden selbst die kaiserlichen Ahnentafeln entfernt. Nur der Urahn des Geschlechts und besonders verdienstvolle Väter der späteren Zeit wurden als Tsu (Urvater) bzw. Tsung (Stammesahn) dauernd verehrt. Konfuzius hat die alten Bräuche, die er übernommen hat, im wesentlichen anerkannt und in ein System gebracht. Sein Ziel war, die Grundpflicht der Kindesehrfurcht so auszugestalten, daß sie zur absoluten Pflicht wurde ganz unabhängig davon, ob die Eltern, die Träger dieser Ehrfurcht, lebten oder nicht. Dabei befleißigte er sich den Jenseitsvorstellungen gegenüber einer beachtenswerten Zurückhaltung. »Du kennst das Leben noch nicht, wie willst du den Tod verstehen«, antwortete er einem Jünger, der ihn nach dem Jenseits fragte. Auch über die Dauer der Persönlichkeit der Ahnen enthielt er sich einer positiven Äußerung. »Sage ich, sie haben Bewußtsein, so werden pietätvolle Söhne ihr alles preisgeben, um den Toten zu dienen. Sage ich, sie haben kein Bewußtsein, so werden rücksichtslose Söhne sich um ihre Verstorbenen überhaupt nicht mehr kümmern.« Deshalb war die Ungewißheit in diesen Dingen der Seelenzustand, der dem Meister als der richtigste erschien. Denn auf diese Weise wurde die Pflicht erfüllt unabhängig von äußeren Motiven, rein um der Pflicht willen.

Im späteren Konfuzianismus finden wir einen ausgesprochenen Unglauben in diesen Dingen. Aber die Sitten sind so ausgestaltet, daß sie eine regelrechte Selbstsuggestion befördern. Durch Fasten und Meditieren über das Leben des Verstorbenen, indem man sich versenkt in sein Aussehen, seine Stimme, seine Gewohnheiten, seine Äußerungen wird die Stimmung des Sohnes so erregt, daß es oft fast zu Visionen und Auditionen kommt. Aber alles ist nur ein »Als ob«. Denn nirgends wird eine wirkliche Erscheinung postuliert. Zur Ausübung der Opfer mit dem nötigen Ernst genügt die lebendige Vorstellung, daß man sich als in Gegenwart der Hingeschiedenen befindet. Diese Religion des »Als ob« bezeichnet aufs bündigste den konfuzianischen Ahnenkult in seinem tiefsten Wesen.

Natürlich ist ohne weiteres klar, daß diese sozusagen schwebende Freiheit der Anschauung nichts für das Volk ist. Hier haben immer massivere Vorstellungen geherrscht, und der Mythus wurde auch von oben her gepflegt. Wo eine göttliche Kraft sich zeigte und im Interesse der Gesellschaft sich betätigte, fand sie öffentliche Anerkennung. Der neue Gott fand Aufnahme in die staatlichen Opferlisten. Es war genug, wenn der Mythus für die Führenden als durchsichtiger Schleier erkannt war. Die Menge fühlt sich nicht wohl auf den eisigen Gipfeln der Erkenntnis.

Freilich begnügte man sich nicht im Volk, die staatlich approbierten Götter auf diese Weise anzubeten. Man suchte persönlich nähere Verbindungen. Hier beginnt nun der Bereich der Geheimsekten und okkultistischen Bewegungen, die in unruhigen Zeiten immer da und dort aufflammten. Oft hatten sie stark politischen Hintergrund und wurden dann als staatsgefährlich mit strengen Maßregeln verfolgt. Oft waren sie der Zufluchtsort der Stillen im Land und wurden dann stets freundlich geduldet. Es ist ein Vorrecht des christlichen Europa und seiner westasiatischen Verwandten geblieben, auf dem Gebiet der Religion Kriege zu führen, vielleicht weil man die Religion hier viel zu massiv auffaßte und nichts wissen wollte von der sublimen geistigen Freiheit des Denkens, die im Osten schon immer zu Hause war.

In den letzten Jahrzehnten sind verschiedene Bewegungen religiöser Art im Volk entstanden, die eine Zeitlang die Gemüter erregten, aber schließlich auf harmlose Weise in den Betrieb des Lebens wieder übergingen. Die eine dieser Bewegungen hatte ihren Sitz hauptsächlich in der Mandschurei, sprang von dort aus aber auch auf Schantung über, das mit der Mandschurei in regen Wechselbeziehungen steht. Durch japanische Einflüsse wohl hatte sich der Dienst des Fuchsgottes ausgebreitet. Der Fuchs gilt in China schon seit langer Zeit als merkwürdiges Zwischenwesen. Er kann es durch Yogapraxis, die er übt, so weit bringen, daß er sich in menschliche Gestalt verwandeln kann. Aber die meisten Füchse sind keineswegs gute Wesen. Sie verwandeln sich mit Vorliebe in schöne Mädchen und berücken die Männer, die sie sich zum Opfer ausersehen haben. Keinem bekommt es gut, der sich mit solchen Füchsen in Mädchengestalt einläßt, denn während der Fuchs durch seinen Verkehr mit dem Menschen höhere Kräfte in sich aufnimmt, wird der Mensch heruntergezogen, geschwächt und seelisch beraubt. Schließlich können die Menschen dann zum Spielball dieser Halbwesen werden, die in sie fahren und mit verstellter Stimme allerlei Lästerungen durch ihren Mund ausstoßen. Das Neue an der Fuchsbewegung war, daß sich Volksteile fanden, die den »dritten Vater Fuchs« göttlich verehrten, der sich da und dort plötzlich als mächtig erwies, Krankheiten zu heilen und in allen Nöten des Lebens zu helfen. Man kann von dem »dritten Vater Fuchs« wirklich behaupten, daß er ein sonderbarer Heiliger ist, aber er tut seine Pflicht seinen gläubigen Anhängern gegenüber, die ihn darum auch gebührend ehren. Er wird auch nicht geradezu »Fuchs« von ihnen genannt. Vielleicht würde er das nicht schätzen, sondern man gibt ihm den Familiennamen »Hu«, der zwar mit dem Zeichen Hu = Fuchs in der Aussprache übereinstimmt, aber verschieden geschrieben wird.

Eine andere Bewegung, die großen Anklang namentlich in unteren Volksschichten fand, ist die Tsai Li Sekte. Tsai Li heißt eigentlich »innerhalb der Vernunftordnung«. Sie verehrten die Kuanyin und verzichteten mit ihrer Hilfe auf alle alkoholischen und narkotischen Stimulantien. Weder Tabak noch Opium ist erlaubt, und auch Wein in allen Formen wird gemieden. Die Vereinigung hat manchem armen Menschen geholfen, von der Macht der verderblichen Bindungen durch religiösen Glauben loszukommen.

Die Not der Zeit hat nun in den letzten Jahren einen Boden geschaffen, auf dem ein neues Erwachen der religiösen Instinkte möglich wurde. Neuerdings zeigt sich, namentlich von der Westprovinz Setschuan ausgehend, eine ganz merkwürdige Belebung religiösen Empfindens, das den engen Kreis vereinzelter Sekten, auf die es lange beschränkt war, plötzlich flutartig durchbricht und weite Massen seinen Einflüssen unterwirft. Man fühlt sich versetzt in urtümliche Zeiten, da auch die religiöse Technik zu ganz neuem Leben erwacht. Es ist dabei merkwürdig, daß die Bewegung über die einzelnen religiösen Gemeinschaften überspringt. Religiöse Vereinigungen der fünf Religionen: Christentum, Islam, Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus, oder der sieben Religionen, wobei das Christentum im Protestantismus und Katholizismus geteilt ist und das Judentum noch dazukommt, sind nichts Seltenes. Als Mittel, um zur Berührung mit dem Göttlichen zu gelangen, dienen die alten, aus der Religionsgeschichte bekannten Methoden: Meditation, Ekstase mit Visionen und Auditionen, Orakelwesen, Hellsehen sowie die hypnotisch-spiritistischen Erscheinungen. Ein Vorgang, der eine Zeitlang besonders viel Aufsehen erregt hat, war die Verbreitung einer Weissagung, die am ersten des siebenten Monats, das heißt am 12. August 1923 von der allgemeinen Vereinigung aller Weltreligionen in Peking herausgegeben wurde. Es war darin für den fünfzehnten des achten Monats eine große Weltkatastrophe vorausgesagt, die aus folgenden Erscheinungen bestehen sollte: ein ungeheuer starkes Erdbeben, fünftägige Verfinsterung der Sonne und des Mondes, so daß eine große Finsternis auf Erden herrsche, Donnertosen, Sternfall, Flutwellen, Sturm und Schnee, Eis und Hagel und große Kälte. An den Folgen werde ein Drittel der Menschheit zugrunde gehen. Die Weissagung geht von der westlichen Provinz Chinas, Setschuan, aus. Der Ton ist der eines aufrichtigen Entsetzens und eines prophetischen Warnrufs, um zu retten, was sich retten läßt. Es werden sechzehn Maßregeln angegeben, um dem Unheil zu entgehen, die alle darauf hinauslaufen, einerseits sich mit Getränken zu versehen gegen den mit dem Erdbeben einsetzenden Wassermangel, andererseits mit Nahrung und warmer Kleidung gegen die Folgen der Kälte und des Hungers. Diese Ratschläge sind kein unmittelbarer Teil der Weissagung mehr, sondern entspringen vernünftigen Überlegungen angesichts der bevorstehenden Ereignisse. Die Weissagung in ihrer Mischung von ekstatischem Prophetenruf und freundlichem Rat hat ungeheuren Eindruck gemacht. Allenthalben wurden die gedruckten Blätter verteilt, und wie eine Epidemie verbreitete sich die Angst. Als nun vollends am 1. September das Erdbeben in Japan hereinbrach mit seinen unerhörten Schrecken, da schien es mit Händen zu greifen, daß das Weltende nahe. Andere religiöse Vereinigungen benützten die herrschende Stimmung, und so jagten sich die Prophezeiungen. Ein Blatt wurde verbreitet, auf dem eine Weissagung stand, die am 1. Neujahrstage in Schansi auf einem Stein gefunden worden sei. Darin werden außer großen Nöten in den letzten drei Monaten des gegenwärtigen Jahres auch noch zehn Plagen genannt, die über die Welt kommen sollen: die erste Plage ist, daß Wirren kommen werden über die ganze Welt. Die zweite Plage ist, daß im Osten und Westen Menschen Hungers sterben. Die dritte Plage ist, daß im Yangtsetal eine große Not entsteht. Die vierte Plage ist, daß in allen Provinzen sich Räuber erheben. Die fünfte Plage ist, daß den Menschen der Friede genommen wird. Die sechste Plage ist, daß Armut und Krankheit die Menschen bedrängen. Die siebente Plage ist, daß Speise vorhanden ist, aber keine Menschen mehr, sie zu essen. Die achte Plage ist, daß Kleider vorhanden sind, aber keine Menschen mehr, um sie anzuziehen. Die neunte Plage ist, daß Totengebeine umherliegen, aber keine Menschen mehr da sind, um sie zu beerdigen. Die zehnte Plage ist, daß es schwer sein wird, das Jahr des Schweins und der Ratte zu überstehen. (Das Jahr des Schweins und der Ratte war das Jahr 1923 und 1924.) Es wird dann weiter erwähnt, daß der dreiundzwanzigste des zehnten Monats (30. November) ein Unglückstag sein werde, und daß wilde Tiere auf Erden erscheinen werden, die die Menschen bedrängen. Wenn aber das neue Jahr komme, dann werden alle Menschen lachen, und wenn man sie fragt, warum sie lachen, so werden sie sagen: »Der neue Herr ist da, wir gehen ihm entgegen.« Dann kommt die große Zeit des Heils, und die Gläubigen werden sie erleben. Die Ungläubigen aber und die da übel tun, werden in große Not kommen. Wer Gutes tut, wird sein Leben erretten.

Eine andere Weissagung, die verbreitet wurde, sprach davon, daß in Nanking unter großem Donnern ein Stein zur Erde gefallen sei, auf dem die Weissagung von einer großen Not gestanden habe. Diese Weissagung sei ein Wort Buddhas. Sie enthält ebenfalls die Ankündigung von zehn großen Plagen, die von den oben erwähnten in manchen Punkten abweichen. Zauberzeichen werden angegeben, von denen man drei an die Tür des Hauses und drei an den Weihrauchkessel anbringen solle, während die drei letzten auf dem Leibe getragen werden sollen.

Eine ältere Weissagung aus dem Jahre 1890 ist beigefügt, die ebenfalls aus Setschuan stammt und eine Warnung des Kriegsgottes Kuanti enthält, der zu diesem Zweck persönlich auf die Erde herabgestiegen sei.

Auf den Straßen von Peking wurden diese Blätter offen in großen Mengen verteilt. In den Tempeln brannte den ganzen Tag der Weihrauch, und Gläubige eilten herbei, um durch ihre Gebete die Hilfe der Götter zu erlangen. Besonders wohlhabende ältere Damen gaben ziemlich viel Geld aus für den Druck und die Verbreitung dieser Weissagungen. Lebensmittel wurden eingekauft, und es geht die Sage, daß es selbst Europäer gegeben habe, die in der Stille sich mit Büchsenmilch versehen haben, wie das in der Weissagung als Ratschlag gegen den Wassermangel angegeben war. Schließlich nahm die Sache einen solchen Umfang an, daß das Einschreiten der Polizei nötig wurde. Ein aufklärender Erlaß wurde verbreitet und ebenso eine Abhandlung des Observatoriums. Am meisten aber trug zur Beruhigung der Gemüter der Umstand bei, daß der verhängnisvolle Tag vorüberging, ohne daß sich etwas Außerordentliches zeigte. Der Tag begann zwar trüb und düster, aber das Wetter klärte sich auf, und am Abend erstrahlte der Vollmond im schönsten Glanz, von einem regenbogenfarbigen Hof umgeben, so daß das Mittherbstfest zu seinem vollen Rechte kam.

Fragen wir, wie solche Weissagungen zustande kommen, so bekommen wir den besten Eindruck von der Sache, wenn wir uns das Tun und Treiben in einem solchen Religionsbund näher ansehen. Ich wähle zu diesem Zweck die Gesellschaft Tao Yüan (Akademie des Weltgesetzes), in der die fünf Religionen vereinigt sind. Merkwürdig ist übrigens, daß als Vertreter der christlichen Religion der Apostel Johannes verehrt wird. Dieser Gesellschaft gehören sehr viele frühere Beamte an, und ihre Statuten sind mit wahrhaft bürokratischer Genauigkeit ausgearbeitet. Der Wille der Götter wird hier auf zweierlei Weise erforscht: durch die Planchette und durch Meditation; auch Materialisationserscheinungen kommen vor. Die Offenbarung durch die Planchette geht auf folgende Weise vor sich. Im ganzen sind vier Leute daran beteiligt, zwei, die die Planchette handhaben, einer, der liest, und einer, der die Worte aufschreibt. Ehe die Handhabung beginnt, wird auf dem Altar des Heiligen, von dem man Auskunft erbittet, Weihrauch angezündet. Die Mitwirkenden knien der Reihe nach nieder und verbrennen ein Stück gelbes Papier, das in einen Kessel geworfen wird, aus dem die zusammenhängende Asche, nachdem es verbrannt ist, noch leise glimmend plötzlich mit drehender Bewegung aufsteigt bis an die Decke des Zimmers. Dieses Aufsteigen der verbrannten Papiere, das einen merkwürdigen Eindruck macht, gilt als Zeichen, daß der Geist sich genaht hat. Auf dem Altar steht ein großes flaches Gefäß, das mit feinem Sand gefüllt ist. Die beiden Planchettenschreiber ergreifen nun jeder mit einer Hand einen geglätteten Baumast, von dem in der Mitte ein kleinerer Zweig nach unten heraussteht. Der Gott schreibt zunächst sein Monogramm. In dem von mir beobachteten Falle bestand es darin, daß von der Mitte aus eine sehr regelmäßige Spirale in engen Windungen über die ganze Fläche gezogen wurde, die am äußeren Rande wieder umkehrte und nach innen ging. Es gibt jedoch verschiedene derartige Monogramme. Der höchste Gott z. B. hat ein lateinisches G. Nachdem der Gott seine Anwesenheit bekundet, geht das Schreiben los. Die Zeichen schreiben sich sozusagen wie von selbst, und es macht durchaus den Eindruck, daß es sich nicht um einen bewußten Vorgang bei den Beteiligten handelt. Es wäre auch gar nicht leicht, daß zwei Menschen, die jeder mit einer Hand den Ast anfassen, so geschickt oft recht komplizierte Zeichen schreiben. Bewußter Betrug ist um so mehr ausgeschlossen, als es sich nicht um eine Vorstellung für die Öffentlichkeit handelt und in der Regel gerade die Schüler, die neu in die Gesellschaft eingetreten sind, für diese Zwecke verwendet werden. Die Zeichen werden ohne Absatz geschrieben. Jedes Zeichen wird vom Leser laut vorgelesen, durch einen Kreis wird dann die Richtigkeit bestätigt. Wird, was zuweilen vorkommt, das Zeichen nicht richtig erkannt, so bleibt der Kreis aus, und das Zeichen schreibt sich von neuem. Ist das Zeichen bestätigt, so wird es aufgeschrieben. Darauf wird der Sand wieder geglättet, und das nächste Zeichen folgt nach.

Im allgemeinen kann man sagen, daß die Geister ziemlich redselig sind, daß aber der Inhalt ihrer Offenbarungen sich meist auf etwas vage moralische Ermahnungen beschränkt; doch werden auch Einzelereignisse vorausgesagt. So sollte z. B. angeblich unsere Ankunft schon vorher bekanntgegeben worden sein. Wie sich die beteiligten Kreise diese Geisterschrift vorstellen, geht am besten aus dem beigegebenen Holzschnitt hervor, der nach einem Holzschnitt aus einem alten chinesischen Werk geschnitten ist. Auf den Weihrauchwolken schweben die Götter heran. Auf der Abbildung ist es Kuanyin, die Göttin der Barmherzigkeit, die durch den Zauberer Lü Tsu ihre Offenbarungen vermitteln läßt. Dieser lenkt durch die magische Kraft seines Pferdehaarwedels den Stift der Planchette. Kuanyin hat in ihrem Gefolge ein dienendes Mädchen und den Knaben, der ihre Befehle ausrichtet. Sie spendet mit einem Weidenzweige Gnade, während der Knabe ihre Vase mit heiligem Weihwasser hält. Der Zauberer Lü Tsu, kenntlich an dem magischen Schwert, das er auf dem Rücken trägt, hat im Gefolge den Geist des Weidenbaums, der ihm zu Diensten ist. Im einzelnen ist der dargestellte Vorgang ziemlich genau derselbe wie der jetzt noch übliche.

Bereitwillig wurden uns auch die übrigen Säle gezeigt. In einem, dem Saal des Lü Tsu, trafen wir verschiedene Mitglieder, die in embryonaler Stellung, d. h. mit angezogenen Armen und Beinen hockend, in tiefer Selbsthypnose der Meditation pflegten. Sie waren so hingenommen, daß sie unsere Anwesenheit gar nicht bemerkten. Hinter den Altären sind vielfach lebensgroße photographische Bilder aufgehängt. Es wurde uns mitgeteilt, daß diese Bilder dadurch entstanden seien, daß nach Befehl des Gottes bei Nacht an einem bestimmten Ort einfach eine Platte exponiert worden sei. Bei der Entwicklung der Platte sei dann das Bild herausgekommen. Der Eindruck, den die Bilder machen, ist keineswegs göttlich, sondern zeigt den merkwürdig starren, fast erschreckenden Gesichtsausdruck, der sich zuweilen auf den Photographien von Materialisationen in Europa findet.

Außer der Planchette manifestieren sich die Geister auch sehr häufig durch Medien. Das betreffende Medium fällt in Bewußtlosigkeit und redet mit fremder Stimme Dinge, an die es sich nach seinem Wiedererwachen nicht mehr erinnert. Diese Vorgänge scheinen zuweilen außerordentlich eindrucksvoll zu sein. Ein modern historisch gebildeter Gelehrter äußerte sich vollkommen ablehnend über die Möglichkeit von Geisterkundgebungen. Als ich ihn nach einigen Wochen wieder sprach, sagte er, er sei nunmehr doch geneigt, die Möglichkeit solcher Manifestationen anzunehmen. Nach dem Tod seiner Mutter habe er an einem weiblichen Familienmitglied diesen Vorgang in so eindrucksvoller Weise erlebt, daß er durchaus den Eindruck gewonnen habe, mit seiner verstorbenen Mutter in Kontakt zu sein. Nicht nur die Stimme und der Gesichtsausdruck, sondern auch die ganze Art der Mitteilung sei so intim gewesen, daß nur er sie in vollem Umfang habe verstehen können. Selbstverständlich ist auch in diesem Fall bewußter Betrug vollkommen ausgeschlossen. Überhaupt vollziehen sich all diese Erscheinungen in China sozusagen natürlicher als in Europa, wo doch sehr häufig ein geheimer Kampf zwischen dem Medium und dem entlarvenden Professor geführt zu werden pflegt, was natürlich von vornherein die ganze Situation verfälscht.

Diese Vereinigung hält sich immerhin auf einer gewissen geistigen Höhe, und wirkt auch durch caritative Betätigung – auf Befehl des höchsten Gottes hat sie z. B. einen Verein des roten Hakenkreuzes Das Hakenkreuz oder die Svastika ist seit alter Zeit schon im Buddhismus als Abzeichen verwendet worden. Man hat dieses Symbol gewählt, um gleichzeitig die Annäherung an das Christentum und den Unterschied vom Roten Kreuz zu betonen. begründet.

Neben den vielen mehr oder weniger abergläubischen Gesellschaften, die in gegenwärtiger Zeit in großer Zahl wie Pilze aus der Erde hervorsprießen, gibt es auch noch einen Verein, der sich in wissenschaftlicher Weise mit den Problemen von Sinn und Leben abgibt und die systematische Pflege des inneren Lebens sowie die gesunde Gestaltung des sozialen Zusammenlebens der Menschheit zum Ziele hat. Der Begründer ist aus ganz einfachen Verhältnissen in Setschuan hervorgegangen. Er ist kein Gelehrter oder Beamter gewesen, sondern hat durch ein entscheidendes inneres Erleben die tiefsten Einblicke in die wesentlichen Gebiete des Menschen getan. Um die Anschauungen dieses Kreises zu zeigen, der allen Religionen mit vollem Verständnis gegenübersteht, sei hier ein Abschnitt aus der grundlegenden Lehre vom dreifachen Ich wiedergegeben. Es ist bemerkenswert, wie sehr diese Ausführungen mit dem Tiefsten in allen idealistischen Lebensanschauungen übereinstimmen, wie gewisse Anklänge an die Mystik des Paulus und Johannes sich finden, aber ebenso die tiefsten Anschauungen des Buddhismus nicht minder als die des Taoismus und Konfuzianismus ihre Bestätigung in diesen Ausführungen gewinnen.

Die Lehre vom dreifachen Ich

Das erste Ich ist ein unechtes Ich, das zweite Ich ist das echte Ich, das dritte Ich ist das göttliche Ich innerhalb des echten Ichs. Der Natur nach ist das erste Ich der sterbliche Leib, das zweite Ich ist die Seele, das dritte Ich ist das wahre geistige Wesen. Genauer ausgedrückt: das erste Ich ist eine Vereinigung der vier Grundelemente (Wasser, Erde, Feuer, Luft), das zweite Ich ist der Uranfang, das dritte Ich ist die transzendentale Entelechie, die allen Wesen gemeinsam angehört. Wenn der Mensch das allen Wesen gemeinsam zugrunde liegende Ich findet, dann erst ist er das große Ich. Von diesem großen Ich gilt: Der Himmel mag untergehen, so gehe ich doch nicht unter, die Erde mag vernichtet werden, so werde ich doch nicht vernichtet. Der Höchste sagt mit Beziehung auf dieses Ich: Erst war mein Geist da, dann kam der Himmel in Existenz. Weil Sakyamuni vermöge dieses dritten Ichs seine Lehre verkündet hat, darum ward er zum Lehrer der Götter und Menschen. Kungtse verkündete sein Wort vermöge dieses dritten Ichs. Darum bewährte er sich als Vorbild und Meister unzähliger Generationen. Wenn ein Mensch, der die Wahrheit sucht, nicht dieses dritte Ich findet, so bringt er nicht nur in diesem Leben die Vollendung der Arbeit nicht zustande, sondern selbst während eines tausendfachen Lebens in allen Weltperioden bringt er es nicht fertig. Wenn es einem also wirklich darum zu tun ist, im großen sein Leben zu pflegen, so muß man sich Mühe geben mit Beziehung auf das dritte Ich.

Alle die sogenannten Helden und großen Staatsmänner der Weltgeschichte, wenn sie auch noch so große Werke vollbracht und mit ihrem Ruhm die Welt erfüllt haben, sind doch nicht über das unechte Ich herausgekommen und haben vom wahren Ich nichts erkannt. Die Gläubigen und Anhänger der verschiedenen Religionen haben zwar das echte Ich erkannt, aber nur unvollkommen das allumfassende göttliche Ich innerhalb des echten Ichs. Diese Heiligen sind noch nicht so weit, daß sie von sich sagen könnten, sie seien so groß, daß nichts sie umfassen kann, und so klein, daß nichts sie zerteilen kann. Wenn aber dieses Himmel und Erde umfassende göttliche Ich selbst den Heiligen noch verborgen und unzugänglich ist, wo ist es dann? Meister K'ung sagt: Wer die Menschen durch die Kraft des inneren Wesens lenkt, der gleicht dem Nordstern, der an seiner Stelle weilt, und alle Sterne umkreisen ihn. Dieser Nordstern, den alle Sterne umkreisen: das ist das allgegenwärtige göttliche Ich, das nichts tut und doch nichts ungetan läßt, der wahre Herr der Welt und der Menschen.

In der großen Wissenschaft heißt es, sie bestehe in der Herausläuterung des ursprünglich lauteren Wesens: das ist die Arbeit am unechten Ich, um aus dem unechten Ich das echte herauszubringen. Wenn ferner die Liebe zu den Menschen genannt wird, so ist das die Arbeit am echten Ich, um die Selbstsucht zu vernichten und alle Wesen als einen großen Leib zu erkennen. Das Ziel im höchsten Guten setzen endlich bedeutet die Arbeit am allgegenwärtigen göttlichen Ich. Darum heißt es: das höchste Gute.

Alle Werke der Heiligen und Weisen, die Jahrtausende dauern, beruhen auf diesem dritten Ich und sind in Übereinstimmung mit ihm, aber ebenso ist in den Werken der Kunst, die die Menschen wirklich zu erbauen vermögen, im geheimen dieses dritte Ich mit enthalten.

Woher kommt nun das unechte, echte und über echt und unecht erhabene göttliche Ich? Hier liegt ein Weltgeheimnis: Das unechte Ich ist aus Fleisch und Blut der Eltern entstanden, das echte Ich kommt von den Samenmonaden, die sich beim Hervortreten von Himmel und Erde gebildet haben. Das große allgegenwärtige Ich ist ohne Anfang da, aus sich selbst bestehend, ewig bestehend, es ist das große Geheimnis, von dem der Höchste spricht, daß es vor Grundlegung der Welt schon lebte und nach Untergang der Welt noch nicht alt wird, das man nicht nennen kann und nur notdürftig als Sinn bezeichnet. Was diesen Sinn anlangt, so ist er so geheimnisvoll, daß er alles Denken übersteigt. Der Name des Sinns, d. h. seine Offenbarung ist aus dem großen allumfassenden Ich hervorgegangen. Aus dem Uranfang sind die beiden polaren Kräfte des Lichten und Schattigen entstanden, die sich in die Ideen auseinandergefaltet haben, die aller Dinge Samen enthalten. Indem nun das Lichte und das Schattige sich entfalten und Himmel und Erde bilden, Sonne, Mond und alle Sterne hervortreten, erhalten die Samenmonaden aller Wesen die Kräfte des Lichten und des Schattigen von Himmel und Erde und die Samen- und Blütenkräfte von Sonne und Mond. Die reinen und guten bilden die Samenmonaden der himmlischen Geister, die unreinen und gemischten bilden die Samenmonaden der irdischen Geister. Alle diese Samenmonaden werden, wenn sie in den Mutterleib eintreten, verhaftet in die Gewalt der irdischen Kräfte und verdunkelt durch das Begehren nach äußeren Dingen, so daß sie den Gesetzen der empirischen Welt mit ihren fünf Wandelzuständen und Schicksalsgesetzen nicht entrinnen können und in den Kreislauf der Geburten eintreten.

In dieser Welt des Schicksals besteht auch für die Monaden der himmlischen Geister, wenn sie sich nicht bilden und bewahren, die Gefahr, sich in irdische Geister zu verwandeln, während umgekehrt auch die Geister, die von unten her sind, wenn sie die Wahrheit hören und zur Besinnung kommen, sich zu himmlischen Geistern entwickeln können. Nur die höchsten Menschen, die Samenmonaden aus den höchsten Himmelssphären sind, die zehn Dinge sofort erkennen, wenn sie ein Ding hören, die das Herz erkennen und das Wesen schauen, fallen ewig nicht in die Tiefe.

Wenn man die Wahrheit verkündet, ist es nicht leicht, die Menschen dazu zu bringen, daß sie hören und verstehen. Aber heute ist die Zeit herbeigekommen, daß der große Sinn sich weit erschließt, da haben himmlische und irdische Naturen die Möglichkeit, zum großen Uranfang zurückzukehren und sich ans Ufer des Sinnes aus dem Meer des Wahns zu retten. Nur ist es natürlich für die irdischen Samenmonaden äußerst schwer: denn jede Samenmonade hat ihre besondere uranfängliche Konstitution. Wenn daher die irdischen Monaden, die von unten her sind, den Sinn erlangen wollen, so müssen sie durch tausendfältige Erlebnisse geschliffen und gebrochen werden, um diese uranfängliche Konstitution umändern zu können, sonst können sie unmöglich den Sinn erlangen. Aber diese uranfängliche Konstitution ist nicht leicht zu ändern, denn die Samenmonade ist das eigentlich wirkende Wesen, und dieses eigentlich wirkende Wesen zu opfern, ist etwas sehr Schweres. Man braucht ja nicht einmal das eigentliche innerste Wesen zu erwähnen: selbst das geringste äußere Gut, das man bei der Geburt nicht mitbringt und beim Sterben nicht mitnimmt, ist nicht leicht zu opfern. Wieviel weniger leicht ist es, die uranfängliche Konstitution zu ändern, so daß aus dem fleischlichen Leib ein geistiger wird.

Aber nun ist eine neue Zeit gekommen, in der alle Wesen die Möglichkeit der Rettung haben. Was früher selbst dem größten Heiligen nicht möglich war – denn auch alle geheimen Wunderkräfte führen noch nicht aus dem Kreis des zweiten Ichs und damit dem Bereich der Schicksalsmächte heraus – das ist heute dem möglich, der das dritte Ich erkannt hat. Was jenseits von Geburt und Verwesung in uns lebt, das ist das dritte Ich. Himmel und Erde werden vergehen, aber ich vergehe nicht: das bezieht sich auf das dritte Ich. Darum ist der Edle so groß, daß die ganze Welt ihn nicht fassen kann, und auf der anderen Seite so klein, daß nichts auf der Welt ihn zerteilen kann: auch das bezieht sich auf das dritte Ich.


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