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Zwölftes Kapitel. Der Prinz

Unter den Gästen, die ihren Wohnsitz in Tsingtau aufschlugen, war auch Prinz Kung. Er war durch Adoption der Enkel des berühmten Prinzen Kung, der unter der Kaiserin-Witwe als Senior des Kaiserhauses eine Zeitlang die Staatsgeschäfte leitete. Der alte Prinz Kung zeichnete sich durch große Sachlichkeit, Geschäftskenntnis und Unparteilichkeit aus. Die alte Kaiserin liebte ihn nicht. Zu oft war er ihren persönlichen Plänen entgegengetreten. Das war auch der Grund, weshalb der junge Prinz Kung, der neben dem Prinzen P'u Lun die meiste Aussicht hatte, zum Nachfolger des Kaisers Kuanghsü im Geheimen Rat bestimmt zu werden, von der Kaiserin-Witwe noch unmittelbar vor ihrem Tod abgelehnt worden war.

Er war eine stolze, gerade Natur, zu befehlen gewohnt, unzugänglich, aber auch unbestechlich. Er war einer der beiden Prinzen, die sich geweigert hatten, den Verzicht des Mandschuhauses auf den Thron zu unterzeichnen. Unter vielen Schwierigkeiten war er dann nach Tsingtau gekommen, nachdem er Schätze und Kostbarkeiten seines Hauses verkauft hatte, um Mittel zu bekommen zum Zweck der Wiederherstellung des alten Kaiserhauses. Diese Schätze gingen zum größten Teil als begehrte Sammelobjekte nach Amerika, und noch lange nachher bildete die Behauptung, ein Kunstgegenstand stamme aus dem Besitz des Prinzen Kung, eine ständige Empfehlung, mit der die Pekinger Händler ihre Waren im Preis zu steigern suchten.

Der Prinz ließ sich erst im tiefsten Geheimnis in einer abgelegenen Bierwirtschaft in Tsingtaus Umgebung nieder. Ein junger Mandschu, der mit ihm gekommen war, hatte sogar aus Vorsicht sich den Zopf abschneiden lassen. Er selbst hat sich nie dazu verstanden, sondern bis zuletzt einen breiten, schön gepflegten Zopf als Zeichen seiner Würde getragen. Später hat er in Tsingtau ein Haus gekauft. Dann ließ er seine Familie aus Peking kommen. Seine Mutter, schon alt, aber mit einem merkwürdig gepflegten und jugendfrischen Aussehen, war eine der strengen, tatkräftigen Frauen, von jener unheimlichen, rücksichtslosen Energie, von denen das Mandschuhaus außer der Kaiserin-Witwe auch noch andere Beispiele kannte. Sie beherrschte die Familie unbedingt. Seine Gattin war eine mongolische Prinzessin von ungemein zartem Liebreiz. Aber sie war schwer leidend. Die Strapazen der Reise und die ungeheuren Aufregungen der vergangenen Zeit, alle Angst, die sie ausgestanden hatte, alle Not, die sie erduldet, die eherne Strenge, mit der die Schwiegermutter sie umklammert hielt, hatten ihre Kraft gebrochen. In vollem Wahnsinn kam sie in Tsingtau an. Zunächst war ein häßlicher Schuppen für die Familie des Prinzen gemietet worden, bis das neugekaufte Haus beziehbar gemacht worden war. All die Entbehrungen und fremden Umgebungen hatten heftige maniakalische Ausbrüche bei ihr hervorgerufen. Als ich sie zum erstenmal zu Gesicht bekam, hatte die Familie, die sich solchen Ausbrüchen gegenüber nicht zu helfen wußte, sie mit dicken Stricken gefesselt. Ich band sie sofort los, und es gelang mir auch, sie zu beruhigen, sodaß sie endlich in Schlaf fiel. Aber der Prinz bat mich, die Nacht über in der Nähe zu bleiben, falls wieder etwas vorkomme. Das tat ich denn auch. Am nächsten Morgen brachte ich sie nach dem chinesischen Hospital, wo ich ihr eine Unterkunft hatte herrichten lassen. Dort legte sich nach und nach die Unruhe. Ganz allmählich kam aus der Nacht des Wahnsinns ihre ursprüngliche Art wieder hervor, und nun zeigte sie sich als ganz reizende Persönlichkeit. Eine gewisse Freiheit des Wesens, wie sie den mongolischen Frauen im Unterschied zu den Chinesinnen alten Stils zu eigen war, ermöglichte eine nähere Bekanntschaft, bei der sie sich nicht nur als klug und fein, sondern selbst als graziös humorvoll entwickelte. Sie war eine begabte Malerin. Noch jetzt bewahre ich einige ihrer Tuschbilder, die zart und flott gemalt sind, als werte Erinnerungen auf. Eine gewisse dunkle Schwermut lastete freilich immer auf ihr, wie eine Wolkenhülle, die sich bald senkte, bald hob. Zum Teil hing es mit ihrer körperlichen Krankheit zusammen, die vielleicht nicht unheilbar gewesen wäre, an der sie aber schließlich zugrunde ging, weil die Etikette der Familie ihr nicht erlaubte, sich einem kundigen, europäischen Arzt anzuvertrauen.

Anfangs gab sich der Prinz viel mit politischen Plänen ab. Er wollte als getreuer Vasall dem jungen Kaiser wieder auf den Thron verhelfen. Vielleicht daß ihm dabei für sich eine ähnliche Rolle vorschwebte, wie sie seinerzeit sein Großvater inne gehabt. Das Tragische war nur, daß er zu diesem Zweck die vertrauten Dienste zweier Europäer benützte, die zugleich im Dienst von Yüan Schï K'ai standen, gegen den seine Anschläge gerichtet waren. So kann es nicht wundernehmen, daß alle seine Bemühungen scheiterten.

Auch sonst hatte er keinen guten Blick in der Auswahl seiner Werkzeuge. Sein Vermögensverwalter war ein pockennarbiger, hochgewachsener Mandschusklave, der ihn fürchterlich betrog. Dem Prinzen gehörten noch ungeheure Ländereien, von deren Pachterträgnissen er hätte glänzend leben können. Aber Jahr für Jahr verkaufte der Kämmerer davon große Teile auf eigene Rechnung, und den Ausfall an eingehenden Pachtzinsen wußte er dadurch zu verdecken, daß er bald Dürre, bald Überschwemmungen vorschob, die an dem Mißwachs schuldig seien, der den Eingang der Pacht in ihrem vollen Betrag unmöglich machte. In dem Pekinger Palast des Prinzen wurde auch an Büchern und Altertümern vor und nach dem großen Verkauf vieles entwendet. Als die Sache schließlich eine solche Ausdehnung annahm, daß der Prinz ihn zu entlassen gezwungen war, zündete er ihm aus Rache seinen Palast an, von dem ein großer Teil verbrannte. Dies war ja von jeher die Methode der Eunuchen im Kaiserpalast gewesen: wenn ihre Diebstähle entdeckt wurden, zündeten sie die Räume, in denen sie hauptsächlich gestohlen hatten, an, um eine reguläre Untersuchung unmöglich zu machen. So ist noch in letzter Zeit in Peking ein Teil des Kaiserpalastes abgebrannt worden, worauf der junge Kaiser mit den Eunuchen endgültig aufräumte.

Der politische Vertraute des Prinzen war ein Mann, der zwar viel Geld verbrauchte, aber sich schließlich auch nicht ganz zuverlässig zeigte. So war es kein Wunder, daß der Prinz die hohen chinesischen Beamten, die in Tsingtau waren, und von denen eine ganze Anzahl sich anfangs aus alter Anhänglichkeit an das Kaiserhaus um ihn geschart hatten, sich sehr bald entfremdete. Er hatte etwas Hochmütiges in seiner Natur. Wenn er mit einem sprach, so sah er ihm nicht in die Augen, sondern auf die Stirn. Wenn er befahl, streckte er gebieterisch den Finger aus und erwartete Gehorsam. Das waren Manieren, wie sie sich für einen kaiserlichen Prinzen in voller Macht seinen Untergebenen gegenüber schickten. Aber es war nicht die Art, wie ein armer Verbannter, der gefahrvolle Aufgaben zu erfüllen hatte, sich den guten Willen vollkommen unabhängiger Großwürdenträger gewinnen konnte. Nachdem es in dem Kriegsrat oft heftig zugegangen war, und nachdem ein Versuch, mit Hilfe des Generals Tschang Hsün, der damals in Südschantung stand, eine Wiederherstellungsaktion zu unternehmen, kläglich gescheitert war, zog sich einer um den anderen vom Prinzen zurück.

Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem er Abschied von mir nahm, um sich an die Front zu begeben. Ich hatte ihm abgeraten, aber er ließ sich nicht irre machen. »In Peking sehen wir uns wieder oder nie«, sagte er zuletzt noch. Er hatte schon in seinem und Tschang Hsüns Namen die Proklamationen ausfertigen lassen, und Tschang Hsün war schon ganz nahe daran gewesen, den entscheidenden Schritt zu tun. Da ließ Yüan Schï K'ai, der natürlich von allem was vorging, genau unterrichtet war, einfach die Bahnschienen auf der Strecke südlich von Tsinanfu ein wenig aufreißen, und Tschang Hsün, der sich durchschaut fühlte, blieb still. Der Prinz aber kehrte unverrichteter Dinge in sein Tsingtauer Asyl zurück.

Allmählich lernte er es, zurückhaltender zu werden. So ist denn der spätere Putsch, durch den Tschang Hsün nach dem Tode Yuan Schi K'ais in Peking die Monarchie für ein paar Tage wiederherstellte und der durch die Truppen von Tuan K'i Jui eben so rasch beendigt wurde, wie der Kapp-Putsch in Deutschland, nicht seiner Initiative entsprungen.

Die Erfahrungen des Exils hatten auf sein ganzes Wesen einen guten Einfluß. Er wurde einfacher, menschlicher, umgänglicher, ohne die Würde, die ihm angeboren war, zu verlieren. Etwas Geradliniges, Unkompliziertes hatte er an sich, das zwar der Fülle der Wirklichkeit nicht gewachsen war, das aber durch seine oft fast kindliche Unerfahrenheit manchmal beinahe rührend wirkte. Zum Teil lag das ja an der Weltfremdheit, mit der die Prinzen in den Palastmauern aufwuchsen, wo sie außer Eunuchen und Knechten niemand zu ihrem näheren Umgang hatten. Selbst der Citoyen Orléans unter den Mandschuprinzen, der Prinz P'u Lun, hat bis auf den heutigen Tag etwas von dieser Unbeholfenheit an sich, obwohl er es seit langem gewohnt ist, mit chinesischen Freunden jeder Art bis in die Morgenfrühe zusammen zu zechen, und mit Europäern der verschiedensten Klassen im Hotel Wagons Lits in Peking Brüderschaft zu trinken. Man konnte oft beobachten, daß die Prinzen in der Wahl ihres Umgangs wenig bedenklich waren. Nicht nur drängten sich allerlei chinesische Elemente an sie heran, die keineswegs immer zur guten Gesellschaft gehörten, sondern auch unter ihren fremden Freunden herrschte oft recht seltsame Mischung: offenbar fühlten sie den Schritt, den sie taten, um überhaupt auf einem Fuß der Gleichheit mit anderen Menschen zu verkehren, so groß, daß sie innerhalb dieser Masse keine weiteren Unterschiede mehr machten. Das hat sicher etwas Berechtigtes, nur konnte man oft bemerken, daß nicht nur der Sinn für bürgerliche Rangstufen ihnen erfreulicherweise vollkommen abhanden war, sondern auch das Gefühl für Qualitätsunterschiede oft mangelte. Das war ein Fehler, der sich rächte. Denn an Stelle der Unbequemen, aber Tüchtigen, zogen sie die bequemen Schmeichler an sich heran. Ich vergesse nie das große Vertrauen des Prinzen Kung, das er zeigte, als ich ihm mitteilte, daß einer seiner europäischen politischen Geheimagenten gleichzeitig im Dienst seines Todfeindes Yüan Schï K'ai stehe. »Das hat er mir selbst schon gesagt«, erwiderte er mit erhabener Ruhe. »Daran sehe ich, daß er mir unverbrüchlich treu ist, und Yüan Schï K'ai nur dient, um ihn zu täuschen.« – Was die Folgen dieses Vertrauens waren, wurde schon erwähnt.

Ich selbst habe im Verkehr mit dem Prinzen und seiner Familie nur Gutes und Angenehmes erlebt. Oft vertieften wir uns in ernstem Gespräch in den Buddhismus, der die eigentliche Religion des Mandschuhauses war, trotz der nach außen hin zur Schau getragenen Pflege des Konfuzianismus. Er erzählte mit Stolz, wie der Stamm der Mandschus seinen Namen bekommen habe von dem Schutzheiligen Mandschusri, jenem Bodhisatva, der mit dem Schwert der Erkenntnis die Nacht der Unwissenheit zerteilt und der ein Vorkämpfer aller derer ist, die aus Finsternis dem Licht entgegenstreben.

Einmal brachte er zu einem Besuch auch seine Flöte mit. Er ließ sich von mir einige europäische Sachen auf der Geige vorspielen. Ich suchte ihm den Geist der europäischen Musik in ihren höchsten Zielen klar zu machen. Damit war er sehr einverstanden. Er sagte, das sei auch der Sinn der eigentlichen hohen chinesischen Musik. Nun setzte er sich in eine Ecke und spielte auf der Flöte die Melodie, die seit uralten Zeiten am Ackerbautempel in Peking gespielt wird, wenn der Kaiser im Frühling mit eigener Hand den Pflug führt und die ersten Furchen zieht. Der Abend dunkelte. Innere Bilder traten hervor, und kosmische große Stimmungen zogen mit den ernsten und einfachen Flötentönen aus fernen Welten herüber. Diese Melodie wird wahrscheinlich vergessen werden; denn wer kümmert sich heute noch darum? Aber es bleibt eine wertvolle Erinnerung, noch einen letzten Blick in diese Welten getan zu haben.

Zuweilen erzählte er von den Bildern früherer Herrscher, die er im Kaiserpalast zu sehen Gelegenheit gehabt. Wie etwa der letzte Mingkaiser, der sich in den Wirren der Revolution und Invasion im Jahre 1642 aus Verzweiflung mit seinem getreuen Eunuchen an einer alten Zypresse auf dem Kohlenhügel erhängte, eigentlich Christ gewesen sei. Er selbst habe ein Bild von ihm gesehen, wie er vor dem Kreuze kniete. Oder traten die großen Herrscher des eigenen Geschlechts bildhaft aus seiner Erinnerung hervor, der große, hagere Kanghsi mit seinem dünnen, spitzen Kinnbart und seinen durchdringend scharfen Augen, der fette und prächtige Kienlung oder dessen Vorgänger Yungtschong, der in schimmernder Wehr sich abbilden ließ und unter seinem blinkenden Helm einen seltsam auf gezwirbelten Schnurrbart trug, der dem Prinzen eine innere Verwandtschaft dieses Herrschers mit Kaiser Wilhelm II. nahelegte. Von Kaiser Wilhelm war er immer ein großer Verehrer und war beglückt, als er einst ein eigenhändig unterschriebenes Bild als Antwort auf sein mandschurisches Sympathieschreiben aus Doorn zugesandt bekam.

Manchmal, aber selten, kam er auch auf die Kaiserin-Witwe zu sprechen. Man merkte seinen Reden den an Furcht grenzenden Respekt an, den sie in ihrer Umgebung zu verbreiten wußte. Er erzählte von ihrer ungeheuren Leistungsfähigkeit, die es ihr ermöglichte, bis in ihr hohes Alter die Audienzen, in denen die wichtigsten Staatsangelegenheiten entschieden wurden, selbst mit großer Umsicht zu leiten. Dazu gehört ja schon rein körperlich eine ungeheure Frische, denn diese Audienzen fanden alle in früher Morgenstunde statt. Bei Tagesanbruch war stets alles beendet. In jenen dunklen Morgenstunden ist mancher wichtige Entschluß gefaßt worden, und mit der gewohnten Sicherheit des Herrschers hatte die alte Frau ihre Minister und Prinzen in der Hand. Der Prinz erzählte, wie sie gezittert, wenn sie etwa einen Bericht erstatten mußten. Denn alles mußte so vorgebracht werden, daß es eine Form hatte, in der es der Herrscherin angenehm war, sonst geriet sie leicht in Zorn, und sie war furchtbar in ihrem Zorn. Aber auf der anderen Seite durfte man sich in keinen Widerspruch verwickeln; denn ihr immer gegenwärtiges Gedächtnis wachte wie ein Adler. Wenn irgend eine Stelle im Bericht vorkam, die nicht ganz klar war, war sie sofort mit der Frage bei der Hand, wie dieser Punkt sich zu einer Behauptung verhalte, die der Berichterstatter etwa vor einem Jahre vorgebracht hatte. Wehe, wenn es ihm nicht gelang, jedes Bedenken sofort restlos aufzuklären!

Auf der anderen Seite hatte sie auch einen klaren Blick für das, was im Audienzraum vor sich ging. Wenn etwa ein alter, verdienter Würdenträger beim Knien Beschwerden hatte ? die Thronberichte wurden alle kniend vorgetragen ?, so bemerkte sie es und ließ ihn aufstehen. Ebenso aber konnte sie aus Bosheit einen, dem sie nicht wohlwollte, dadurch, daß sie ihn recht lange knien ließ, große Unannehmlichkeiten bereiten.

Auch über ihr Verhältnis zu dem bedauernswerten Kaiser erzählte er manches. Er sprach nicht über den Kaiser selbst. Er redete auch nicht davon, wie streng er im Sommerpalast (Wan Schou Schan) eine Zeitlang gefangen gehalten wurde. Es muß das furchtbar gewesen sein. Die Mauern, mit denen der Wohnraum des Kaisers in jenen Zeiten von Luft und Licht abgeschlossen war, sprechen deutlich genug für sich selbst. Vor der Tür lag auf einem Stein im Hof ein bloßes Schwert, und jeder, der irgendwie versuchen wollte, sich dem Kaiser zu nahen, war des Todes. Aber jene Schreckenszeiten gingen vorüber. Die alte Kaiserin genoß im Kreise der Ihren die Sommerwochen im Wan Schou Schan am Fuße der Westberge. Diesen Palast hatte sie sich aus den Trümmern und der Verwüstung, die die verbündeten Engländer und Franzosen auch über dieses Kunstwerk des Kaisers Kienlung gebracht hatten, wieder aufbauen lassen. Der Palast liegt am Abhang eines Hügels. Die Gebäude des hinteren Abhangs liegen noch in Trümmern und sind durch eine Mauer abgeschlossen. Sein Wahrzeichen ist die große, turmartige Terrasse, die von einem Buddhaheiligtum gekrönt ist, denn die Kaiserin war eine fromme Buddhistin. Von jener Terrasse hat man einen großen Rundblick über den K'unming-See, in dem der Palast sich spiegelt, und dessen verschiedene Arme von phantastischen Brücken überwölbt sind, während auf den Inselchen Heiligtümer und Teehäuschen stehen, mit Blumen und Grotten und künstlichen Felsen, wie sie bei den deutschen Lustschlössern des 18. Jahrhunderts auch bekannt sind.

Hier genoß die Fürstin der ländlichen Ruhe im Kreise ihrer Hofdamen, Eunuchen und Verwandten. Auf dem See wurden in prächtigen Booten Wasserfahrten gemacht, bei denen auch Scherz und Lachen nicht verbannt war. Die Zeiten einer gefährlichen Jugend lagen hinter ihr, und in milder Weisheit freute sie sich des Treibens ihrer Umgebung. Manchmal fuhr man auch zu dem Marmorschiff, einer entsetzlich häßlichen Attrappe, der Nachbildung eines europäischen Raddampfers, der zu einem Teehause umgestaltet war. Dieses Scheusal hat viel Geld gekostet. Die Kaiserin aber genoß es als Seltsamkeit, wie etwa die Tiger in ihrem zoologischen Garten. In dieser Form mochten ihr die europäischen Schiffe noch erträglich sein. Unschädlich zum mindesten waren sie.

Hier in dieser Landeinsamkeit, in die die Pagode des Nephritquellenberges und die Bauten in ihrer Nähe – freilich auch meist Trümmer aus schöneren Zeiten – herübergrüßten, ging sie ihren Liebhabereien nach. Sie hatte eine große Vorliebe für Uhren. Wer ihr eine Freude machen wollte, vermehrte die große Uhrensammlung, die sie allmählich zusammengebracht hatte. Ferner liebte sie die roten Äpfel, von denen sie immer ganze Berge in ihrer Umgebung hatte, und über alles die Päonien. Die duftende, große Baumpäonie ist ja die Königin unter den Blumen, gleich prächtig durch ihre Größe, ihren zarten Duft, ihre mannigfaltigen Farbentöne, die sich vom zarten Weiß und lichten Grün bis zum Lila und purpurnen Rot hinüberziehen. Beim Sommerpalast ist ein eigener Päonienhügel, auf dem Busch an Busch dieser köstlichen Blumen den Reigen des Jahres eröffnen.

Mit Vorliebe malte die Fürstin auch diese Lieblingsblumen. Sie wußte den Pinsel geschickt und flüssig zu führen. Ihre Gemälde schenkte sie dann, mit dem großen Kaiserlichen Stempel und einer Gedichtwidmung versehen, ihren bevorzugten Freunden. Später hatte sie zwei Maler in ihrem Dienst, die ihr diese Gemälde anfertigen mußten. So kommt es, daß der chinesische Kunstmarkt heute keineswegs arm ist an Gemälden der Kaiserin-Witwe, die alle den echten Stempel tragen.

Von anderen Künsten liebte sie besonders das Theater. In diese phantastische Welt der Helden und Feen flüchtete sie sich gern aus dem Lärm des Tages. Der Sommerpalast hatte seine eigene Theaterbühne, in der die berühmtesten Sänger der Hauptstadt ihre Vorführungen in wundervollen echten Seidengewändern alter Zeit aus kaiserlichem Besitz gaben.

Zu diesen Vorstellungen versammelte sich der ganze Hof. Auch der Kaiser durfte später, als der Grimm der Tante sich gelegt, mit zusehen. Aber er blieb auch inmitten dieser allgemeinen Fröhlichkeit der einsame Gefangene. Der Prinz erzählte, wie der Kaiser hereingetragen wurde in prächtiger Sänfte, ohne ein Wort zu sprechen, nur mit dem Finger zeigend, wohin er getragen sein wollte. So saß er da bei den Spielen. Die Hofsitte verbot es aufs strengste, seine Würde dadurch zu beeinträchtigen, daß jemand der Anwesenden ein Wort an ihn richtete. In ehrfurchtsvollem Abstand saßen sie abseits. Sofort, wenn das Spiel zu Ende war, verabschiedete er sich von seiner Tante und wurde darauf wieder hinweggetragen, stumm wie er gekommen war. »Die Kaiserin-Witwe«, fuhr der Prinz fort, »nahm es für ihre Person mit der Etikette nicht so genau, sie blieb noch sitzen und plauderte gemütlich mit diesem oder jenem, wie es sich gerade traf. Aber der Kaiser war von Ehrfurcht umgeben wie von einer Mauer.«

Man kann sich denken, wie diese Art einer glänzenden Vereinsamung auf den armen Gefangenen wirken mußte, und man kann verstehen, wie diese dauernden Demütigungen – denn er mußte ja wieder und wieder der gütigen Tante seine Dankbarkeit quittieren – zerrüttend auf seinen Geist wirkten, so daß er schließlich mit jener Grimasse aus dem Leben ging, mit der er Yuan Schï K'ai zum Köpfen empfahl. –

Aber man kann ebenso verstehen, wie in jener weltfremden Umgebung der Ritterspiele, die die Vergangenheit so lebendig erscheinen ließen, romantische Vorstellungen in den Köpfen der jungen Prinzen sich bildeten, die eine ganz andere Welt zeigten, als die harte, fremde Welt der Wirklichkeit, die immer wieder lästig sich meldete, bis sie schließlich den ganzen Märchentraum des Sommerpalastes mit kalter Hand zerriß.

Heute wird der Sommerpalast Wan Schou Schan, früher der verborgene Erholungsplatz des verborgenen Kaiserhofes, öffentlich den Fremden gegen Eintrittsgeld gezeigt, das an den verschiedenen Toren erhoben wird. Arme, abgezehrte Mandschus schleichen umher. Trinkgelder sind durch das Eintrittsgeld abgelöst, aber sie suchen doch noch ein paar Münzen zu erhaschen und erzählen dann mit gedämpfter Stimme von den Geheimnissen der Vergangenheit. Die Fremden aber laufen überall herum, gucken durch die staubigen Fensterscheiben in das Schlafgemach der Kaiserin, machen ihre Witze über die bronzenen Störche und lassen sich gegen Geld und gute Worte von den Dienern eines der Dachreiterchen aus glasiertem Ton stehlen, das von der Treppe aus erreichbar ist. Das nehmen sie dann sehr umständlich in die Tasche, froh des geraubten chinesischen Altertums, während die Diener ein neues aufs Dach setzen, das sie dann für den nächsten Fremden stehlen, der Sinn für Antiquitäten hat. Die Fremden steigen durch die Felsgrotten unter starkem Keuchen in die Höhe, trinken Tee auf der Terrasse beim Buddha und spucken die Schalen der Melonenkerne über die Mauer hinab. Sie lassen sich dann auf dem See spazieren fahren, trinken im Marmorschiff, dessen Pracht gebührend bewundert wird, eine zweite Tasse Tee und kaufen sich zum Schluß noch Andenken und Ansichtskarten.

Am Eingangstor des Sommerpalastes stand einst ein eherner Drache, der die heilige Pforte mit seinem Bruder zusammen bewachte. Er ist von seinem Postament heruntergefallen und hat die Beine gebrochen. So liegt er hilflos am Boden. Er kann nicht mehr schützen. Eine Dame stößt mit dem Sonnenschirm danach: »What an ugly beast« ... Sic transit gloria mundi. –

Doch wie gesagt, von diesen Dingen erzählte der Prinz selten und ungern. Die Erinnerung an jene fernen Tage, da Macht und Schönheit ihm das Leben schmückten, war ihm eher peinlich. Er war freiwillig in die Verbannung gegangen, weil er in dem China, das seinem Kaiser entrissen war, nicht länger leben wollte, da es aufgehört hatte, seine Heimat zu sein. Er war aus seinem herrlichen Palast am Fuß des Kohlenhügels, der zu den berühmtesten Denkmälern alter Zeit gehörte, ausgezogen. Er hatte seine Sommerwohnung in dem herrlichen Tempel Tsiä T'ai Sï in den Westbergen bei Peking aufgegeben. Er hatte sich von seinen Schätzen und seinen geliebten Büchern getrennt. Er war in Tsingtau in die leichtgebaute Sommervilla eines deutschen Hauptmanns gezogen, in der er mit seiner Familie nur aufs dürftigste unterkam. Ich erinnere mich noch der rührenden Freude, mit der er mir seinen neu angelegten Goldfischteich mit Springbrunnen zeigte, und der Versuche, das kümmerliche Gärtchen zu einem Park umzuwandeln. Er hatte mit der Zeit selbst seinen zweispännigen Glaswagen aufgeben müssen, weil ihm die Mittel fehlten. Er hat alles mit großer Selbstverständlichkeit getragen, ohne zu murren. Aber schwer blieb es doch, und die Hoffnung, eines Tages aus der Verbannung wieder heimzukehren, hat er während seines Tsingtauer Aufenthalts nie ganz preisgegeben.

Wie ernst es ihm mit seinem Entschluß war, das Exil auf sich zu nehmen, hat er beim Ausbruch des Weltkrieges bewiesen. Damals hatten die sämtlichen chinesischen Gäste ihr Asyl in Tsingtau aufgegeben, um sich teils ins Innere von China, teils nach den Fremdenniederlassungen von Schanghai und Tientsin zu begeben. Nur Prinz Kung blieb. Er wollte lieber die Belagerung Tsingtaus mit erleben, als nach China zurückkehren, solange es Republik war. Das war ziemlich unbedenklich, während nur europäische Mächte in den Krieg eingetreten waren, denn solange drohte Tsingtau kaum eine andere Gefahr, als etwa eine gelegentliche Beschießung von See aus. Nachdem die chinesischen Gäste den Platz schon alle verlassen hatten, kam er täglich zu mir, um mit mir über die Ereignisse auf dem europäischen Kriegsschauplatz zu reden. Er führte ein Kriegstagebuch und war fest von dem endlichen Sieg Deutschlands überzeugt. Einmal kamen wir auf Wunder und Zeichen zu sprechen. Er fragte, ob in Europa noch nicht das Erscheinen eines Kometen gemeldet sei. Denn ein solcher Krieg könne doch unmöglich ohne ein solches Vorzeichen am Himmel sein. Ich verneinte und suchte ihm zu erklären, daß man in Europa allgemein überzeugt sei, daß die Kometen Naturerscheinungen seien, die in keinerlei Zusammenhang mit den menschlichen Erlebnissen stehen (das Zeitalter der Astrologie war damals noch nicht über Europa gekommen). »Sonderbar«, sagte er. »Es müßte ein Komet kommen, und am Westhimmel müßte er stehen.« Auf diese Unterhaltung folgte eine längere Periode von sintflutartigen Regengüssen, und der Himmel war Tag und Nacht von dichtem Gewölk überzogen. Als eines Abends das Wetter wieder klar war, da stand im Westen tatsächlich ein Komet. Ich mußte an des Prinzen Vorhersage denken. Aber der hatte ihn auch entdeckt. Nach ein paar Tagen kam er abends zu mir. Er wies mit den Blicken an den Westhimmel. »Und wie nennt Ihr das?« fragte er ernst und bedeutend. »Das ist ein Komet«, war meine Antwort. »Und er steht im Westen, genau da, wo er stehen muß«, erwiderte er. Es wäre schwer gewesen, den Prinzen zu überzeugen, daß der Komet in keinerlei Zusammenhang mit den kriegerischen Ereignissen stehe. –

Als Japan in den Krieg eintrat, wurde er doch etwas bedenklich. Sein Haus war gerade nach See zu gelegen und einer Beschießung in erster Linie ausgesetzt. So war er denn sehr dankbar, daß ich ihm auf dem Gelände des chinesischen Roten Kreuzes eine Wohnung überließ. Da zog er mit seiner Familie ein und ließ nur einige Diener zur Bewachung in seiner Villa am Meer. Es kamen nun die ernsten Tage der Belagerung, die doch so reich an Erlebnissen waren, daß man trotz aller Gefahr und Not sie nicht entbehren möchte. Außer dem Prinzen war noch ein anderer Mandschu in Tsingtau geblieben, der mir sowohl bei der Führung des Roten Kreuzes, als später bei der Reorganisation der Schularbeit sehr wesentliche Dienste leistete. Wir drei kamen häufig zusammen. Meine wissenschaftliche Arbeit ruhte auch während der Beschießung nicht. Dabei fand ich die Unterstützung der beiden, die mir sehr wertvoll war. Der Prinz beschäftigte sich in seinen freien Stunden damit, an seinem Kriegstagebuch zu arbeiten und das chinesische Buch der Wandlungen aus einem alten Druck der Sungzeit abzuschreiben. Dieses Buch, an dem so manche Heilige der Vorzeit in ihren schwersten Stunden gearbeitet haben, half nun auch dem Mandschuprinzen über die schweren Stunden der Belagerung hinweg. Denn manchmal, wenn die Beschießung sehr heftig war, drohten seine Nerven doch stärker zu werden als sein Mut, und seine felsenfeste Überzeugung, daß Gebäude, auf denen die Flagge des Roten Kreuzes wehe, gegen jeden feindlichen Angriff sicher seien, begann zu wanken.

Denn freilich: des Geschickes Mächte sind stärker als selbst das Rote Kreuz. Das hat sich im Kriege ja auch in Europa gezeigt. So ereignete es sich gegen Ende der Belagerung, daß auch unsere Häuser unter Feuer genommen wurden. Ein Glück nur, daß die japanischen Granaten meist Blindgänger waren. Sonst wäre heute keiner von uns mehr am Leben. Als auch das Haus, in dem Prinz Kung wohnte, einige Volltreffer bekam, da war er nicht mehr zu halten. Über Nacht war er mit seiner ganzen Familie weg. Er nahm Zuflucht in einem Hause, das dem General Tschang Hsün gehörte. Aber auch da sollte er nicht zur Ruhe kommen. Kaum war er eingezogen, da zerstörte eine einschlagende Granate die eine ganze Wand des Hauses. Doch kam er glücklicherweise auch hier mit dem Schrecken davon. Er hat sich nachher mit seinen zwei Söhnen bei den Ruinen photographieren lassen und hat auch einige der Granatsplitter mit eingravierten Inschriften versehen lassen und zur Erinnerung aufbewahrt.

Nach der Eroberung Tsingtaus durch die Japaner trieb sich vieles mehr als zweifelhaftes Gesindel in Tsingtau herum. Nur durch eherne Strenge haben die japanischen Behörden ernstliche Plünderungen zu verhindern gewußt. Es ist selbstverständlich, daß auch der Prinz, der sich verborgen hielt, damals in ziemlicher Gefahr schwebte. Ein früherer mohammedanischer Altertumshändler, der auch zu den zweifelhaften Elementen gehörte, kam kurz nach der Einnahme Tsingtaus zu mir und erkundigte sich angelegentlich nach der Wohnung des Prinzen. »Wenn ich seine Wohnung kenne, vermag ich ihn besser zu schützen, es sind jetzt allerhand Menschen hier, die ihm nach dem Leben trachten.« Ich durchschaute ihn sofort. Es war auf einen Erpressungsversuch größeren Stils abgesehen. Daher verriet ich die Wohnung des Prinzen nicht. Erst später, als die Japaner ihm eine Schutzwache gestellt hatten, teilte ich dem Mohammedaner die näheren Umstände mit. Aber er lächelte nur sauersüß: »Da braucht er ja meinen Schutz nicht mehr«, und verschwand. –

Die Japaner haben sich dem Prinzen gegenüber äußerst entgegenkommend bewiesen. Er konnte in sein Haus am Meer wieder einziehen und bekam eine dauernde Schutzwache gestellt. Merkwürdig: soviel war er während der Belagerung in Tsingtau herumgezogen. Überall hatten ihn die Schrecken des Krieges verfolgt. Als er schließlich in sein eigenes Haus zurückkam, da war es vollkommen unversehrt. Kein Mensch hätte es für möglich gehalten.

Es muß übrigens zu seiner Ehre gesagt sein, daß er sich auch jetzt noch seiner deutschen Freunde nicht schämte. Wenn er sich auch aus Klugheitsgründen einige Zurückhaltung auferlegen mußte, so fuhr er dennoch fort sie zu besuchen und hielt den ganzen Krieg über die Beziehungen aufrecht.

Zeitweise war er in ziemlicher Geldverlegenheit. Er hatte unmittelbar vor Ausbruch des Krieges seine ganzen Juwelen einer deutschen Firma zum Verkauf übergeben und blieb natürlich während des ganzen Krieges vollkommen ohne Nachricht über den Verbleib derselben. Aus seinen chinesischen Besitzungen kam auch immer weniger, so daß er es oft nicht leicht hatte. Die Japaner boten ihm verschiedene Erwerbsmöglichkeiten an – nicht auf sehr taktvolle Weise allerdings. Darum verzichtete er darauf. Das erste Angebot war, er solle die Opiumpacht übernehmen. Das war ein vorzügliches Geschäft und brachte etwas ein. Aber Prinz Kung, der zur Zeit seiner Macht der Vorsitzende der Behörde für Unterdrückung des Opiums gewesen war, und der in dieser Stellung sich stets streng und unbestechlich gezeigt hatte, wies das Angebot der Japaner zurück: »Ich bin ein kaiserlicher Prinz. Zu meinem Bedauern bin ich nicht imstande, unter den gegenwärtigen Umständen irgendetwas für das chinesische Volk zu tun. Aber so sehr werde ich mich nie erniedrigen, daß ich mein Leben friste durch ein Gewerbe, das das chinesische Volk zugrunde richtet.« Der Chinese, der später das Geschäft in Pacht übernahm, ist vielfacher Millionär geworden.

Nachher wurde ihm noch einmal angeboten, die Fäkalienabfuhr von Tsingtau – auch ein recht einträgliches Gewerbe – zu besorgen. Aber auch dieses Angebot lehnte er lächelnd ab.

Dennoch harrte er in Tsingtau aus, nicht nur während des ganzen Krieges, sondern solange die Japaner den Platz innehatten. Erst als Tsingtau an China zurückgegeben wurde, ging er weg und ließ sich in Port Arthur nieder, wo er sich noch jetzt befindet.

Ich habe dieses Schicksal ausführlicher geschildert, weil es charakteristisch ist für das ganze kaiserliche Haus. Eine alte Zeit nimmt Abschied. Unwiederbringlich sind ihre Tage dahin. Es mußte so sein. Teils die allgemeinen Zeitverhältnisse, teils die besonderen Umstände eines landfremden Herrscherhauses haben dazu mitgewirkt. China ist heute nicht mehr eine religiös fundierte Monarchie, bei der die Nationalität des Herrscherhauses keine Rolle spielt, wenn es nur den Auftrag des Himmels hat und diesen Auftrag durch eine gute und gerechte Regierung treu bewahrt. China ist heute eine nationale Republik, zu deren Grundsätzen es einerseits gehört, daß kein Fremder sich in die Regierung mischen darf, und andererseits, daß jeder chinesische Bürger ein Recht hat, sich an der Regierung in seiner Stellung zu beteiligen.

Das Merkwürdige ist nur die Art des Übergangs. Wenn früher ein Herrscherhaus den Auftrag des Himmels und die Zuneigung des Volkes verloren hatte, so war, wenn das Maß seiner Sünden voll war, eine Revolution ausgebrochen, die sich durch ihren Erfolg als gottgewollt erwies. Das neue Herrscherhaus hatte das alte beseitigt, und eine neue Ära begann. Je größer die geistige Gewalt war, die hinter diesen Änderungen stand, desto größer war ihre Wirkung auch in die Zukunft hinein. Dynastien, die von wahrhaft großen und guten Männern begründet waren, dauerten länger – namentlich, wenn ab und zu der Geist des Ahns in einem Enkel aufs neue sich regte als solche, die nur eine Folge des momentanen Kriegsglücks waren. Mit dem Aufkommen der Mandschuherrschaft ging es seltsam. Das Herrscherhaus der Ming hatte seine Ursprungskräfte aufgebraucht während der langen und ausschweifenden Regierung des Kaisers Wanli. Ein paar schwache, wenn auch gutmütige Herrscher waren gefolgt, die den Fall nicht mehr aufhalten konnten. Aufstände brachen aus. Der letzte Kaiser ging zugrunde. Die Mandschus waren sozusagen als seine Hilfsvölker gekommen und besetzten im Kampf gegen den Aufruhr den leergewordenen Herrscherthron. So vollzog sich der Übergang von einer Dynastie zur anderen viel milder als gewöhnlich. Eben dieses Schicksal ward nun auch der Mandschudynastie zuteil. Die Kaiserin-Witwe hatte während ihrer langen Regierung zwar die nachwirkende Kraft der Verdienste der ersten Herrscher, eines Kanghsi und Kienlung, etwas stark beansprucht. Aber jene Verdienste waren besonders groß gewesen, und andererseits war die Regierung der alten Frau doch nicht nur negativ zu bewerten. So war denn zur Zeit der Revolution der Schatz der guten Werke noch nicht ganz aufgebraucht. Darum wurde auch das Los der Dynastie ein milderes. Der Kaiser verzichtete auf die Ausübung der Regierung, aber er blieb Kaiser mit allen Zeichen seines Ranges und mit einem ansehnlichen Jahreseinkommen aus den Kassen der Republik.

Doch die Verhältnisse erwiesen sich schließlich als stärker. Die öffentlichen Kassen waren leer, so blieb denn mehr und mehr auch die kaiserliche Apanage im Rückstand, bis sie schließlich ganz ausblieb. Der Kaiser selbst ist ein geistig aufgeweckter, junger Mann, der unter der Leitung eines auch in chinesischer Hinsicht feingebildeten englischen Lehrers durchaus moderne Ideen hat ? oft sehr zum Schreck der alten Herren bei Hof und der älteren Prinzessinnen mit ihren konservativen Anschauungen.

Nicht nur, daß er die Tempel seiner Ahnen auf dem Fahrrad besuchte und auch beim Sommerpalast seine Radübungen machte: er griff auch ganz energisch mit allerlei Reformmaßnahmen durch. Wie schon erwähnt, entließ er mit einem Schlage die Eunuchen trotz des energischen Widerstandes aller kaiserlichen Tanten. Tagelang saßen die Ausgewiesenen mit ihren Habseligkeiten vor den Toren des Palastes, ehe sie abzogen. Ferner schickte er kurz nach seiner Verheiratung die überflüssigen jungen Palastdamen zu ihren Eltern zurück, um ihnen Gelegenheit zu geben, sich anderweitig zu verheiraten. Schließlich betraute er seinen englischen Lehrer mit der Reorganisation der Verwaltung des kaiserlichen Sommerpalastes.

Aber die Zeit war abgelaufen. Üble Vorzeichen meldeten sich. Es kamen Brände vor ? in einer Nacht drei, die für das Herrscherhaus ungünstig gedeutet wurden. Immer größer wurde die Finanznot. Immer neue Schätze mußten verkauft werden. Schon wurden murrende Stimmen laut, die unzufrieden waren, daß diese doch nicht rein persönlichen Besitzstücke ins Ausland gingen.

Da vollendete der christliche General das Drama. Als er die Macht in den Händen hatte, trieb er rücksichtslos den jungen Kaiser und seine Familie aus dem Palast ihrer Ahnen heraus. Was nun werden wird, ist ungewiß. Aber das eine zeigt sich in allen diesen Vorgängen, daß auch hier ein Stück alter Zeit mit all ihren Fehlern und Mängeln, aber ebenso auch mit ihrem Schönen und Edlen unwiederbringlich in die Vergangenheit hinübergleitet.


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