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Elftes Kapitel. Die Alten in Tsingtau

Im Lauf der Jahre war zwischen Tsingtau und dem Hinterland einiger Verkehr entstanden. Die feindselige Stimmung, die bei der Besetzung Tsingtaus in China Platz gegriffen und jeden persönlichen Verkehr zwischen dem Provinzialgouverneur in Tsinanfu und dem deutschen Gouverneur in Tsingtau unmöglich gemacht hatte, war gewichen. Der chinesische Provinzialgouverneur Tschou Fu durchbrach den Bann und machte einen persönlichen Besuch in Tsingtau. Er ging dabei von der Voraussetzung aus, daß man auf beiden Seiten durch gegenseitiges Vertrauen und guten Willen mehr erreichen könne als durch Mißtrauen und Abschließung. Auf deutscher Seite wußte man zunächst nicht recht, wie man sich dieser neuen Situation gegenüber verhalten sollte. Die »Chinakenner« unter der Bevölkerung – das sind in der Regel Leute, die immer das Schlimmste prophezeien, um dann nachher sagen zu können: »Ich habe es ja vorausgesehen!«; denn wenn ihre Unkenrufe vergeblich waren, so denkt ja nachher kein Mensch mehr daran, und es sieht immer kundiger aus, wenn man pessimistisch ist – die Chinakenner also hatten zu verstehen gegeben, daß hinter der Reise eine gewisse Absicht liege, wenigstens moralisch Beschlag auf das Schutzgebiet zu legen. So war man besorgt. Andererseits ließ sich ein freundschaftlicher Besuch auch nicht ablehnen. So nahm man denn an – nicht ohne Anwendung geheimer Vorsichtsmaßregeln. Als der Gouverneur Tschou Fu kam, wußte er durch seine derbe Geradheit und seinen gesunden Humor bald die Luft von solchen Gedanken zu reinigen. Es entspann sich eine Art von freundnachbarlichem Verkehr zwischen Tsingtau und Tsinanfu.

Die beiden Kulturen kamen in Berührung. Natürlich gab es bei dem großen Abstand, den sie damals noch voneinander hatten, manche ergötzlichen Mißverständnisse.

Das öffentliche Leben im alten China spielte sich nur unter Männern ab. Frauen waren bei Gastmählern nicht anwesend. Höchstens, daß man öffentliche Sängerinnen zur Unterhaltung der Gäste kommen ließ. In Tsingtau waren die Damen viel zu gespannt auf die fremden Gäste, als daß sie sich hätten entgehen lassen mögen, sie in ihren goldgestickten, prächtigen Gewändern mit den pferdehufartigen Ärmelaufschlägen und den Zöpfen unter den von bunten Kristallknöpfen bekrönten Mandarinmützen zu sehen. So kam die moderne europäische Kleidung – die Herren im Frack, die Damen in großer Abendtoilette – mit der alten chinesischen Mandarinentracht in unmittelbare Berührung. Die chinesischen Herren in ihren prächtigen Gewändern und ihren harmonischen, geräumigen Bewegungen wirkten in der europäischen Gesellschaft recht imposant. Freilich kamen gelegentlich auch Mißverständnisse vor. In China herrschte die Sitte, daß man bei Tisch Becher und Schalen vor dem Gebrauch auswischt und auch die Eßstäbchen noch einmal zur Vorsicht reinigt. Aus alter Gewohnheit kam es da auch gelegentlich vor, daß einer der Herren das Weinglas mit dem Taschentuch auswischte. Die Hausfrau war entsetzt. Der Diener versicherte, das Glas sei rein. Sie befahl es herbeizubringen, und richtig, es war am Rand, wo der Gast es mit dem Taschentuch gereinigt hatte, recht trübe, sonst aber ganz tadellos. –

Es fehlte auch nicht an Mißverständnissen auf der anderen Seite. Zwei chinesische Gäste führten z. B. folgendes Gespräch: »Wie kommt es eigentlich, daß die fremden Damen heute abend so ganz anders gekleidet sind als sonst? Sieh nur hin, oberhalb der Brust quillt das Fleisch ringsherum bis zum Rücken heraus. Keinen Faden haben sie an, und von den Ärmeln sind auch nur noch kleine Reste vorhanden. Dabei ist der Rock so lang, daß er über einen Fuß auf dem Boden nachschleppt. Was hat das eigentlich für einen Sinn, daß sie am Oberkörper so nackt und am Unterkörper so verhüllt sind?« Der Nachbar, der früher im Ausland gewesen war, antwortete darauf: »Das tragen sie als Festkleid. Nur die höheren Stände sind berechtigt, sich so anzuziehen.« »Ach so«, war die Antwort. Dann wandte sich das Gespräch anderen Dingen zu.

Oder es traf sich einmal, daß gerade einige Damen aus Schanghai in einem befreundeten Hause zu Gast waren. Sie wollten die Gelegenheit, die chinesischen Würdenträger aus der Nähe zu sehen, nicht vorübergehen lassen, und so erklärten sie sich denn bereit, in der sonst nur aus Herren bestehenden Gesellschaft ein paar Violinstücke mit Klavierbegleitung vorzutragen. Sie spielten recht gut, und jedermann klatschte Beifall. Zum Schluß fragte dann einer der chinesischen Gäste: »Wieviel bezahlt ihr eigentlich solchen Mädchen für den Abend?«

Später als die Annäherung zu vertrauteren Beziehungen geführt hatte, wurden auch manche diplomatischen Kämpfe mit dem Sektglas in der Hand ausgefochten. Ein höherer chinesischer Beamter war berühmt durch seine Trinkfestigkeit und gefürchtet wegen der Rücksichtslosigkeit, mit der er durch dauerndes Zutrinken ein weniger leistungsfähiges Opfer erledigte. Ein japanischer Professor war ihm aber gewachsen. Er trank mit freundlichem Lächeln immer mit und ließ sich immer wieder – Sodawasser nachgießen. Schließlich nahm der alte Herr zwei Gläser zugleich und trank weiter. Das ging dann doch auch über seine Kraft. Bedenklich schwankend verließ er das Eßzimmer und sank in einen Polsterstuhl. Mit Spannung und Sorgen erwartete man eine Katastrophe. Allein das gibt es in China nicht. Im entscheidenden Augenblick kam ein Sekretär mit einem Telegramm und meldete, daß soeben die Tante Seiner Exzellenz verschieden sei. Schluchzend wurde darauf der alte Herr von zwei Dienern abgeführt, denn es ist Erfordernis der Pietät, bei einem derartigen Schlag zusammenzubrechen und nur auf Diener gestützt sich zu bewegen.

Großes Erstaunen erregte bei den chinesischen Gästen, daß bei öffentlichen Zweckessen ein etwas sonderlicher Bürger Reden zu halten pflegte, deren Inhalt nicht immer im richtigen Verhältnis zu der aufgewandten Begeisterung stand. Sie wußten nicht, daß er in Tsingtau zu den unvermeidlichen Originalen gehörte, dauernd mit den Gerichten in Konflikt war und mit Methode seine exzentrische Gemütsart praktisch zu verwerten wußte. Geschadet hat er übrigens dem deutschen Ansehen nicht sehr, obwohl nicht alles, was er – oft auf einem Tisch stehend – mit großer Geste unter die Hörer schleuderte, für die Öffentlichkeit geeignet war. Im Osten werden solche Menschen mit Rücksicht betrachtet. So gehörte denn der Bürger zum dauernden Inventar der Kolonie. Er hat auch die Eroberung Tsingtaus überstanden. Spät erst wurde er von den japanischen Behörden ausgewiesen, weil er den japanischen Gouverneur von Tsingtau beim Kaiser von Japan verklagen wollte. Er wandte sich dann aufs religiöse Gebiet und wollte eine Vereinigung der verschiedenen Weltreligionen gründen.

Zu den merkwürdigen Erscheinungen der Kolonie gehörte ein aus der Mongolei importiertes Kamel, das als ganz kleines Füllen der Messe einer Truppenabteilung geschenkt worden war und dort lange Zeit bei Tisch herumgereicht wurde. Später wurde es zum Abschied von heimkehrenden Truppentransporten aufgezäumt, wobei es sich nach Art der Kamele ungebührlich benahm, bis es endlich groß und wild wurde und einer Dame, die künstliche Blumen auf dem Hut hatte und in einer Rikscha fuhr, durch die ganze Stadt nachlief, um ihren Hut abzuweiden. Darauf mußte es als Lastkamel im Laoschan dienen und wurde bei Kriegsausbruch geschlachtet, damit es nicht in die Hände der Feinde fiele.

Auf diese gemütlichen Zeiten in der kleinen Kolonie folgten andere, ernstere. Die chinesische Revolution erhob ihr Haupt. Tsingtau blieb ruhig, während überall im chinesischen Reich die Stürme tobten.

Ich vergesse nie den Augenblick, als ich in meinem Studierzimmer arbeitete und ein chinesischer Gast gemeldet wurde. Aufgeregt, mit verstörter Miene, trat einer meiner Bekannten ein. Ich hatte mich manchmal über taoistische Geheimlehren mit ihm unterhalten. Er war in Tsinanfu Unterrichtskommissar gewesen. Ich schätzte ihn wegen seiner ruhig starken Persönlichkeit und seiner gründlichen Beherrschung der chinesischen Literatur ungemein hoch und war erstaunt, ihn blaß und angegriffen zu sehen. Er war inzwischen Direktor des Arsenals in Schanghai geworden, hatte sich mit Mühe und Not vor den meuternden Soldaten gerettet und war mit seinem Sekretär, einem guten Freund von mir, nach Tsingtau geflüchtet. Die deutsche Verwaltung sah sich nun vor die gewichtige Frage gestellt, wie sie sich zu solchen Flüchtlingen verhalten wollte. Erfreulicherweise stellte man sich auf den richtigen Standpunkt, das Pachtgebiet offen zu halten für Angehörige aller Parteien, die Aufenthalt dort suchten und sich den Ordnungen des Ortes unterwarfen.

So kam für Tsingtau eine neue Zeit. Schon durch die Fühlung mit den chinesischen Beamten und mehr noch durch die Gründung der deutsch-chinesischen Hochschule war eine Grundlage gegeben für die Anknüpfung eines geistigen Austausches. Nachdem der erste Gast freundlich aufgenommen war, folgten ihm andere, und schließlich war das frühere Fischerdorf am Strande des Ostmeeres der Vereinigungspunkt der bedeutendsten Köpfe des alten chinesischen Reichs. Viele bauten sich an und behielten in Tsingtau dauernd ein Sommerquartier, auch nachdem sie sich mit der neuen Lage der Dinge befreundet hatten und sich an dem Aufbau der jungen Republik aktiv beteiligten. In Tsingtau wohnten damals Minister, Generalgouverneure, Gouverneure, höhere Beamte aller Art, Gelehrte und Großindustrielle, und die Wogen des chinesischen Geisteslebens schlugen an den bisher so verlassenen Strand. Es kam zu verschiedenartigen kulturellen und wissenschaftlichen Verbindungen. Regelmäßige Versammlungen in weiterem Kreise fanden statt in den Räumen des prächtig ausgestatteten Klubs der Gilde der Kaufleute aus den Provinzen am Yangtse, Gelehrte und Beamte aus allen Teilen des chinesischen Reiches waren da von der Mongolei und der Provinz Kansu fern im Westen bis nach der südlichsten Provinz Yünnan hin. Von überall her strömten die Träger geistiger Einflüsse zusammen. Außer den ständig in Tsingtau weilenden kamen für kürzere oder längere Zeit bedeutende Besucher durch, so daß man damals in Tsingtau Gelegenheit hatte, wie nirgends sonst in ganz China mit den Höhen der alten Kultur bekannt zu werden. Jene Tage des Zusammenseins von Gelehrten und Staatsmännern aller Richtungen erinnerten an manche solche Höhepunkte in der chinesischen Geschichte, da Gelehrte und Künstler sich trafen, wie z. B. die Zusammenkunft der Gelehrten beim Orchideenpavillon, die der Dichter Wang Hsi Tschï mit folgenden Worten schildert:

»Die Menschen sind zusammen einen Augenblick,
Der eine greift in sein Gemüt und redet,
Was ihn darin bewegt.
Ein andrer spricht in Bildern,
In dunklen Gleichnisworten
Von Dingen und Ideen jenseits der Körperwelt.
Doch sind sie auch verschieden in dem, was ihnen wichtig,
Der eine ruhig sinnend und jener rasch entschlossen:
Sie alle freuen doch sich des Zusammenseins,
Und was die Gegenwart gewährt, befriedigt
Und läßt des Alters Nahn vergessen.«

Ich hatte mit einem engeren Kreis von Vertretern verschiedener geistiger Richtungen regelmäßige Zusammenkünfte. Man versammelte sich beim chinesischen Mahle mit seinen mannigfaltigen Genüssen, und auch an heißem Weine – der chinesische Reiswein wird heiß getrunken – fehlte es nicht. Und wir hatten trinkfeste Mitglieder in unserem Freundeskreis! Ein alter Mongolenfürst, der am Halse eine tiefe Hiebnarbe hatte und vieles erlebt hatte als Generalgouverneur der westlichen Provinzen Schensi und Kansu, ein freundlicher, starker und bedeutender Mann von ungemein gewichtigem Kaliber, zeigte die Größe seines Wesens auch im Trinken. Er trank nicht kleinlich. Beim Fingerspiel, durch das man gegenseitig sich zum Trinken verurteilen konnte, wenn man dem andern an geistiger Auffassung und Raschheit des Entschlusses überlegen war, war er nicht ängstlich aufs Siegen aus, wiewohl er alle übertraf. »Im einen Fall gewinne ich an Ansehen, im anderen einen Becher Wein, das ist auch nicht zu verachten«, pflegte er zu sagen. Wenn er gut aufgelegt war, erzählte er von seinen Erlebnissen unter den Mohammedanern im Westen und vom lebenden Buddha, dessen Einfluß jene Gegenden unterstanden. Da kamen manche geheimnisvoll rätselhafte Dinge zutage von der Macht des Zaubers in jenen Gegenden. Er war mit der Kaiserin-Witwe als Wagenlenker geflohen, als sie im Gewand einer chinesischen Bäuerin ihre Hauptstadt verließ, und konnte so manches erzählen von den Mühsalen und Abenteuern jener siegreichen Flucht. Noch immer stand er in Verbindung mit den Provinzen, deren Kohlen- und Mineralreichtum noch heute der Erschließung harrt. Einmal, als er in Stimmung war, versprach er, mir auch ein größeres Gebiet in jenen Provinzen zu schenken, wenn ich mich daran machen wolle, eine Expedition von Chinesen und Deutschen zusammenzubringen zu seiner Erschließung. Gar manchen Abend haben wir Luftschlösser gebaut. Aber schließlich kam der Krieg dazwischen und machte allen Plänen ein Ende.

Der schroffste Gegensatz zu ihm war ein magerer Gelehrter aus der Yangtsegegend, mit spitzen Fingern und langen Nägeln. Beim Fingerspiel wickelte er immer listig und zögernd die Finger auseinander wie eine Schnecke ihre Hörner ausstreckt, und lauernd pflegte er seine Zahlen immer erst dann zu nennen, wenn der andere längst fertig war. Zu seiner Entschuldigung muß gesagt werden, daß er sehr wenig Wein vertrug und immer zänkisch und giftig wurde, wenn er unter der Wirkung des Alkohols stand. Nachdem ich einmal die Geschichte erzählt hatte von den chinesischen Ärzten, die immer Laternen bei Nacht heraushängen für die Seelen der an ihrer Behandlung gestorbenen Patienten, und erwähnte, daß ein Mann einen Arzt nahm, bei dem nur eine Laterne hing, aber dann zu seinem Schrecken erfuhr, daß jener Arzt erst einen Tag praktiziert hatte, entstand allgemeine große Heiterkeit; denn die Geschichte gehört zu den bekannten Geschichten über chinesische Verhältnisse, die man nur in Europa, nicht in China kennt. Der magere Gast aber, der selber in seinen Mußestunden die ärztliche Kunst ausübte, wurde bitterböse, als einer ihn fragte, wieviele Geisterlampen er vor seinem Tor aufgehängt habe.

Ein früherer Minister des Kultus war in unserer Mitte, der sich durch seinen Humor auszeichnete. Auf der Grundlage eines tiefen Ernstes gab er sich wilder Ausgelassenheit hin. Er gehörte zu den verborgenen Heiligen. Solche Leute kommen in China in Wendezeiten, wenn ein Herrscherhaus gestürzt ist, vor. Man findet dann unter den Mönchen der Bergklöster frühere Prinzen und Hofbeamte, man findet unter Bettlern, ja Räubern Verzweifelte, die früher in der Armee als Offiziere standen, man findet als stille Gelehrte in dürftiger Hütte hohe Minister, man findet sie als ruhelos Wandernde, man findet sie als wilde Dichter oder Maler, die ihr Leid im Wein hinunterspülen. Man findet sie unter skurrilen Spaßmachern und Lebemännern, die ein Leben bewußt vergeuden, das seinen Sinn verloren hat. Zu diesen gehörte auch der Minister unserer Gesellschaft. Immer hatte er Witze bei der Hand, und im Trinken führte er unbedingt. Selten kam eine Zusammenkunft vor, an der er Anteil hatte, bei der nicht ein oder mehrere Opfer seiner Ermunterung erlagen. Er aber wurde immer lustiger und wilder. Er war berühmt wegen seiner schönen Handschrift. In ganz Peking kann man noch bunte Firmenschilder sehen, die er gemalt hat. Als Lohn nahm er kein Geld, sondern nur ein köstliches Mahl mit einer Sängerin. Noch als er fast erblindet war, schrieb er seine großen, zugvollen Gedichte auf Papierstreifen. Es gab viele Fälscher, die sich seines Namens bedienten, um ihre kümmerlichen Elaborate an den Mann zu bringen. Im äußersten Norden von China begegnete ich z. B. in einer Herberge solchen gefälschten Inschriften. Aber er lachte nur darüber, wenn er es hörte und sagte: »Wer mich kennt, wird nicht betrogen, und die anderen sind nichts Besseres wert.« Ich traf ihn einmal in ernster Stimmung. Es war, als die Japaner mit ihren 21 Forderungen während des Krieges den letzten Rest der Freiheit Chinas zu rauben schienen. Er brach in Tränen aus und weinte wie ein Kind. Ich suchte ihn zu trösten. Er aber wollte von nichts wissen: »Unsere Schuld ist es, daß es soweit gekommen ist, uns war es nicht gegeben, das Kaiserhaus zu schützen. Nun werfe ich mein Leben weg; denn es ist nichts mehr wert.« Als der Abend kam, da trank er heftig wie noch nie, und dröhnendes Lachen erfüllte die Halle, bis die letzte Kerze erlosch und die Gäste betrunken nach Hause schwankten.

Im Winter ist eine besondere Zeit der Geselligkeit in China. Man tut sich zusammen. Man plaudert, spielt Schach, betrachtet alte Bilder und Handschriften. Auch macht man wohl um die Wette improvisierte Gedichte. Man nennt diese Gesellschaften: »Versammlungen, um die Kälte zu schmelzen«. Sie dauern von der Wintersonnenwende bis zur Frühlingstagundnachtgleiche. Man kommt an jedem neunten Tag zusammen zum Mahl. Über ein solches Gastmahl finde ich in meinem Tagebuch folgende Notizen:

Wir waren zu acht, die Zahl der Unsterblichen in China. Es waren außer mir da: ein früherer Finanzminister und dessen Bruder, ein Arsenaldirektor (es war der Obengenannte), ein taoistischer Abt, ein Geomant, ein Kaufmann und ein Student. Der Abt ist schon über siebenzig Jahre alt und hat vier Generationen von Schülern in seinem Kloster T'aits'ingkung – einem sagenumwobenen Kloster am Abfall der Laoschanberge in das Meer – um sich versammelt. Dabei ist er noch frisch und rüstig und lebhaft im Geist. Sie leben einfach und streng vegetarisch im Kloster. Der Tag ist ausgefüllt mit Gottesdiensten und Lesen der heiligen Schriften. Außerdem spielt er auch das K'in, die alte chinesische Zither, mit ihren heimlich verschwebenden Zaubertönen. Als Abt hat er manchen Verkehr mit Besuchern des Klosters, Chinesen und Europäern. Er erzählte sehr drollig, wie kürzlich ein weitherziger englischer Missionar bei ihm gewesen sei, mit dem er stundenlang sich über die höchsten Fragen des Menschenlebens unterhalten habe. Der Missionar habe sich sehr gefreut, so viel Gemeinsames und Übereinstimmendes zu finden, und als sie mitten im schönsten Gespräch waren, habe er ihm plötzlich zehn Dollar schenken wollen. Zu seinem Bedauern habe er die nicht annehmen können; denn er könne wirklich mit dem Geld nichts anfangen. Für Kleidung und Nahrung sorge das Kloster, und sonstige Genüsse brauche er nicht. – In der letzten Zeit, als der Taoismus unter der Republik kirchlich organisiert werden mußte, haben sie ihn zum Vorsteher von Ostschantung gewählt. Er hat das Amt aber wieder niedergelegt. Es seien so viel weltliche Geschäfte dabei, die mit der Frömmigkeit gar nichts zu tun haben, und außerdem seien jüngere Leute genug vorhanden, die sich eine Ehre aus solchen Ämtern machen. – Wir sprachen über das Klosterleben: Die Hauptsache sei eine gottergebene Frömmigkeit, und daß man sein Leben gewissenhaft und gütig führe, dann ständen einem auch alle Heiligen mit ihren Wunderkräften schützend zur Seite. Er möchte im stillen gern, daß ich auch Taoist würde, und hat mir schon manche seiner kräftigsten und heiligsten Sutren, die er sonst vor jedem fremden Auge sorgfältig hütet, zum Lesen geliehen. Man ist enttäuscht von den Büchern. Es ist so viel Aberglauben darin, und das Beste, das sie haben, ist dem Buddhismus entlehnt. Aus diesen Büchern hat der Alte jedenfalls seine schlichte Frömmigkeit nicht erworben. Auf die mystische Meditation ist er nicht besonders gut zu sprechen. Sie nehme viel Zeit weg und führe leicht zu Selbstüberhebung. Auf alle Fälle entziehe sich das, was dadurch gewonnen werde, der Beurteilung durch andere. Über die inneren Fortschritte, die einer mache, könne er sich nur selber Rechenschaft geben.

Ein starker Gegensatz zu dem alten Mönch war der andere Taoist in unserem Kreis, der frühere Arsenaldirektor. Daß ein solcher Mann eine solche Stellung innehaben kann, ist nur in China möglich, und das Beste ist, er hat sie gut verwaltet. Er ist ein hochgebildeter Gelehrter, der in der ganzen chinesischen Literatur zu Haus ist wie nur wenige. Trotzdem er wie alle Gelehrten Konfuzianer ist, beschäftigt er sich viel mit taoistischer Meditation zur Pflege des Lebens, und wo er von jemand hört, der ihn in diesem Streben fördern kann, sucht er seine Bekanntschaft zu machen. Er hat eine Vorliebe für Berge und Steine. Ein Berg ist für die chinesische Anschauungsweise ein belebtes Wesen, das in der Stille schafft. Der Berg atmet Wolken und braut Regen; er bedeckt sich mit Gras und sprossenden Bäumen, und alles Lebende findet etwas bei ihm zu seinem Gebrauch. So ist er gütig im Spenden und doch still und alt. Die Generationen gehen dahin, jede holt sich, was sie braucht. Doch der Berg dauert. Darum hat schon Konfuzius gesagt: »Die Wissenden heben das Wasser, das ewig veränderliche; die Gütigen aber heben die Berge.« Der Laoschan bei Tsingtau ist nun so recht ein Berg für Taoisten. Hin und wieder an einer Stelle mit besonders schönem Ausblick kann man eine Steinbank finden oder ein in die Felsen gemeißeltes Epigramm, und wenn man näher zusieht, so stammt es von unserem Arsenaldirektor. Er redet übrigens nicht viel. Den ganzen Abend hat er kaum ein Wort gesprochen. Doch ist er mit seiner geistigen Anwesenheit bei allem dabei. Er ist eine starke Persönlichkeit mit kräftigem Willen. Trotzdem er ein feiner Stilist ist, schreibt er sehr wenig. Was er aber schreibt, muß so vollkommen sein, daß es sich auch vor der Nachwelt sehen lassen kann.

Wieder eine andere Persönlichkeit ist der frühere Finanzminister. Ein feines, ansprechendes Wesen vereinigt er mit ruhiger Klarheit des Blicks. Er hat in schwerer Zeit der neuen chinesischen Republik durch Abschluß der großen Anleihe einen wesentlichen Dienst geleistet und hat dabei unendlich schwierige Verhandlungen und viele Unannehmlichkeiten gehabt, von denen man ihm jedoch bei seiner feinen Zurückhaltung nicht das mindeste mehr anmerkt. Er besitzt bedeutende organisatorische Talente. Dafür, daß er sich von seiner einflußreichen Stellung in Tsingtaus friedliche Ruhe zurückgezogen hat, ist der Grund, daß er in Peking zu wenig vornehme Menschen an der Arbeit fand.

Sein jüngerer Bruder hat etwas überaus lebhaftes in seinem Wesen. Er ist geistreich und sprudelnd. Was er in einer halben Stunde an treffenden Bemerkungen produziert, davon könnte mancher andere seinen Bedarf für Jahre hinaus decken. Er zeigt ein lebhaftes Interesse für die neu auftauchenden Fragen und hat sich auch ziemlich viel mit dem Christentum beschäftigt.

Was den Geomanten anlangt, so muß man die Begriffe, die in Europa über chinesische Geomantie bestehen, sehr wesentlich richtig stellen, um ihm gerecht zu werden. Was ihn auszeichnet, ist ein scharfer Blick für landschaftlich fein abgestimmte Verhältnisse. Ich war dabei, wie er den Platz für ein Haus aussuchte. Auf den ersten Blick fand er die Stelle heraus, die in der ganzen Umgegend die geeignetste war, um das Haus der Landschaft harmonisch einzugliedern, und andererseits vom Haus eine abgeschlossene befriedigende Aussicht zu erlangen. Diese Kunst, in die Landschaft hineinzubauen, hat jene Höchstleistungen der Architektur erzeugt, die z. B. an den Kaisergräbern bei Peking die allgemeine Bewunderung der Kenner erregen. In diesem Eingehen auf die landschaftlichen Verhältnisse für die menschlichen Ansiedelungen liegt auch eine gewisse Wahrheit. Eine gesunde und ästhetisch befriedigende Lage schafft auf die Dauer Werte für die Bewohner eines Hauses, die darum nicht unterschätzt werden dürfen, weil man sie in unserem Maschinenzeitalter so oft mißachtet. Von dieser Kunst des Einfühlens in die Umgebung sind natürlich manche Auswüchse des Volksaberglaubens, wie sie sich als Wind- und Wasserlehre besonders in Südchina zuweilen finden, wohl zu unterscheiden. Unser Geomant stammt aus Setschuan und hat inmitten dieser großen Gebirgswelt seinen Blick von Jugend auf für landschaftliche Schönheit geschärft.

Der Kaufmann ist seit vielen Jahren mit mir befreundet. Er ist eine offene, gerade Natur von ernstem Wahrheitsstreben, und obwohl er in einer Reihe von einflußreichen Beamtenstellen war, hat er stets sein gutes Gewissen höher bewertet als Geld und Gut.

Ein Repräsentant des jungen China ist der Student, der Neffe des Finanzministers, der unseren Kreis vollzählig machte. Trotz seiner Jugend hat er schon viel Schweres erlebt und hat dadurch an Ernst und Eigengewicht der individuellen Persönlichkeit gewonnen. Das Leben brachte ihm schon manche Probleme, die früher in China unbekannt waren.

Man sprach über die gegenwärtigen Zustände in China. Den Einbruch des Materialismus, der mit der Revolution in China stattgefunden hat, empfindet man als Macht der Finsternis.

»Was zunächst in die Erscheinung tritt«, sagte der Geomant, »ist ein Abendwerden, ein Sieg der negativen Kräfte. Gewiß wird immer dann, wenn die Zerstörungskräfte ihren Gipfel erreicht haben, ein neues Licht einsetzen, ähnlich wie um Mitternacht der neue Tag beginnt. In China aber bricht eben erst die Nacht an.«

»Die alten Juden«, warf ich ein, »hatten eine schöne Sitte. Sie begannen den Tag mit Sonnenuntergang. Das ist ein Symbol für ihr Zutrauen auf Gottes Kraft, der ihnen in allen Finsternissen und allen Weltuntergängen doch der Kommende blieb.« »Diese Ansicht verträgt sich auch mit unserem Buch der Wandlungen«, erwiderte der Geomant. »Der Abend ist der Gipfelpunkt der Kräfte des Finsteren. Von da an erschöpfen sie sich, je mehr ihre Wirkungen in die Erscheinung treten.« »Und der kommende Gott (Ju Lai)«, fügte der Student hinzu, »ist die höchste Bezeichnung, die wir im Buddhismus vom Wesen des Göttlichen kennen.«

Das Gespräch nahm seine Wendung von den chinesischen Verhältnissen zur allgemeinen Weltlage. Der Finanzminister fand, daß der Militarismus wie ein Vampyr alle Kräfte der Völker zu verschlingen drohe. »Das war das Große an Konfuzius, daß für ihn zur Ordnung der Staaten in erster Linie geistige Werte in Betracht kamen. Der Staat ist um des Volkes willen da, das ist der Grundsatz, dessen Befolgung oder Nichtbefolgung Blüte oder Untergang der Reiche bestimmt. In Europa besteht die Gefahr, daß infolge gegenseitiger Mißverständnisse das Militär, an sich ein Mittel zum Schutz des Staates, nicht nur die Kräfte des Staates aufsaugt, sondern daß die Menschen nur noch nach ihrer Leistungsfähigkeit für diesen Zweck eingeschätzt werden. Es wäre unheilvoll, wenn China in diesen Strudel hineingezogen würde, denn wenn die westlichen Völker infolge ihres Geldreichtums einen solchen Irrweg ohne großen Schaden eine Zeitlang gehen können, so läßt sich China nur retten durch äußerste Sparsamkeit in den Mitteln und höchstes Wichtignehmen der Menschen.«

Man kam auf die Zukunft zu sprechen. Der Abt erwähnte ein Buch, mit alten Prophezeiungen von der Art des Nostradamus. Es enthält merkwürdige Bilder mit beigefügten Gedichten in unregelmäßiger Reihenfolge. Es ist unmöglich, die Bedeutung der Bilder und Sprüche zu verstehen, ehe das Ereignis, auf das sie sich beziehen, eingetroffen ist. Ist es aber eingetroffen, so passen die Prophezeiungen in geradezu frappanter Weise. Doch ist die Reihenfolge der Bilder und Sprüche nicht zeitlich geordnet.

»Trotzdem darf man die Prophezeiungen nicht zu mechanisch auffassen«, warf hier der Geomant ein. »Im Zusammenwirken der Kräfte des Weltalls gibt es sozusagen Verknotungen, an denen sich krisenartig gewisse Richtungen für die Zukunft herausbilden. Wer die augenblicklich wirkenden Kräfte versteht, kann wohl solche Richtungen auch schon im voraus schauen. Aber die Richtungen sind nie bis ins einzelne bindend. Durch die menschliche Freiheit kann manches umgewandelt und verändert werden.«

Der Abt erzählte darauf, er habe Kunde von anderen Weissagungen, daß nächstens ein neues Reich auf Erden beginnen werde. Es werde verschieden sein von allen, die bisher dagewesen. Zum erstenmal werde es die ganze Erde umspannen und nicht beschränkt bleiben auf die eine Hälfte. Das Heil, das kommen solle, werde für alle sein. Es werde sich zeigen in der Liebe zu den Menschen, auch zu den geringen. Der es bringen werde, werde mit göttlicher Autorität umgeben sein, so daß die Leute ihm glauben werden ohne Kampf. Diese Hoffnung, in der wir alle einig waren, warf einen freundlichen Schein über den Fortgang des Gesprächs. »In unserer Zeit«, sagte der Geomant, »finden sich einzelne aus allen Kreisen und Ständen in der Wahrheit zusammen. Aber nur ganz in der Stille. Diese gemeinsame Wahrheit ist zunächst noch ein Geheimnis. Es muß erst der rechte Ausdruck dafür herausgearbeitet werden, ehe es für die Menschen in Betracht kommt.«

Scheinbar unvermittelt und doch im Gang unserer Gedanken fragte hier der Bruder des Finanzministers, ob das Christentum die Zukunftsreligion Chinas sein werde.

»Sicher nicht in Form einer der jetzt bestehenden Kirchen«, erwiderte ich. »Diese Kirchen sind alle unter ganz bestimmten Verhältnissen entstanden. Keine hat als solche die ganze Wahrheit des Christentums. Es sind Notbauten, die nicht ohne weiteres in andere Himmelsstriche versetzt werden dürfen. Christus aber ist mehr als ein Kirchenhaupt, ist mehr als der Gründer einer Religion. Er ist der göttliche Repräsentant der Menschheit, die in ihm, als ihrem Haupt ein einheitliches Ganzes darstellt. Diese Menschheit ist von kosmischer Bedeutung, und sie wird sich sicher verwirklichen in China so gut wie in Europa.«

»Damit weist die Zukunft auf die Vergangenheit zurück«, sagte der Geomant. »Im Buch der Wandlungen ist von der großen Einheit die Rede, die aller Trennung vorausging und alle Trennung bewirkte. Einigung des Getrennten bedeutet Vollendung.«

Wir sprachen dann noch manches über dieses seltsame chinesische Buch, das soviele noch ungelöste Geheimnisse enthält. Der Student und der Abt waren unterdessen leise verschwunden, und die Zeit war schon weit vorgerückt, als der Arsenaldirektor lachend sich erhob und sagte: »Ein chinesisches Gastmahl pflegt eigentlich gar nicht so lange zu dauern.«

»Es war ja auch nur halbchinesisch«, bemerkte der Bruder des Finanzministers. »Die Speisen waren aus China und der Wein aus Deutschland.«

Leise rieselte der Schnee vom Himmel, als die Gäste sich zerstreut hatten. –

Diese Zusammenkünfte führten dann zur zwanglosen Begründung der sogenannten Konfuziusvereinigung, der außer mir eine große Anzahl der in Tsingtau befindlichen chinesischen Beamten angehörte. Gelder kamen zusammen. Man baute eine Bibliothek. Man brachte eine größere Anzahl wertvoller chinesischer Werke zusammen. Ein Versammlungsraum und eine Arbeitsstätte wurden damit verbunden. Der Gedanke war, dazu beizutragen, daß die Schätze der chinesischen Kultur, die damals äußerst gefährdet waren, auf die Zukunft gerettet würden. Anknüpfung und Zusammenarbeit auf geistigem Gebiet zwischen Ost und West sollten durch Übersetzungen, Vorträge, wissenschaftliche Veröffentlichungen bewirkt werden. Kantsche Schriften wurden ins Chinesische übersetzt, chinesische Klassiker wurden verdeutscht. Man hoffte, daß Tsingtau, das den Stürmen der chinesischen Revolution entnommen blieb, der geeignete Platz sein würde, wo zwischen Berg und Meer in beschaulicher Stille eine aufbauende Arbeit geleistet werden könnte. So waren denn die Hoffnungen der Beteiligten recht hoch gespannt, als man den Grundstein zu dem Gebäude legte, das im Laufe des Sommers 1914 seiner Vollendung entgegenging. Es kam dann freilich anders, als man es sich gedacht hatte. Der Krieg brach aus, als das Gebäude eben fertig war. Doch hat es die Beschießung unversehrt überdauert. In der Zeit des Krieges, da in Tsingtau Hunderte von deutschen Frauen und Kindern interniert waren, ist die Bibliothek dann sozusagen die Wohnstube der Tsingtauer deutschen Gemeinde geworden. Vorträge, Kinderfeste, Konzerte und Theateraufführungen sorgten dafür, daß die lange Wartezeit erträglich vorüberging und geistige Anregungen über die Trübsal der Jahre hinweghalfen. So hat der Bau dann doch noch einem Kulturwerk gedient und erwies sich als ein schönes Geschenk chinesischer Kultur an deutsche Internierte.

Noch ehe jene Wolken sich entluden, hatte ich einen seltsamen Traum. Ein alter Mann mit freundlichen Augen und weißem Bart kam zu mir auf Besuch. Er nannte sich »Berg Lao« und bot mir an, mich in die Geheimnisse der alten Berge einzuführen. Ich verneigte mich vor ihm und dankte. Da war er verschwunden, und ich wachte auf. Es war in jenen Tagen, daß der alte Generalgouverneur Tschou Fu, mit dessen Familie ich in freundschaftlichem Verkehr stand, mir einen Vorschlag machte. Er sagte: »Ihr Europäer arbeitet immer nur außen an der chinesischen Kultur herum. Keiner von Euch versteht ihren eigentlichen Sinn und wahre Tiefe. Das kommt davon, daß Ihr nie die richtigen chinesischen Gelehrten an der Hand habt. Die abgedankten Dorfschulmeister, die Ihr als Lehrer habt, verstehen selber bloß die äußere Schale. Da ist es kein Wunder, daß soviel törichtes Zeug bei Euch in Europa über China geredet wird. Wir wäre es, wenn ich Ihnen einen Lehrer verschaffte, der wirklich im chinesischen Geist gewurzelt ist, daß er Sie einführt in seine Tiefen. Sie können dann manches übersetzen und anderes selbst schreiben, damit China sich nicht dauernd in der Welt zu schämen braucht.« Natürlich war niemand erfreuter als ich. Man schrieb an den Gelehrten. Ich bereitete in unseren Gebäuden eine geeignete Wohnung für ihn. Nach ein paar Wochen kam er an mit seiner Familie. Er hieß Lao, seine Ahnen stammten aus der Gegend des Berges Lao, von dem die Familie noch ihren Namen hatte, und er glich aufs Haar dem Greis, der mich im Traum besucht hatte. Nun ging es an die Arbeit. Manches wurde übersetzt, vieles gelesen, tägliche Gespräche führten in die Tiefen des Baus der chinesischen Kultur. Meister Lao schlug mir vor, ob ich nicht das Buch der Wandlungen übersetzen wolle. Es sei zwar nicht leicht, aber keineswegs so unverständlich, wie man es in der Regel hinstelle. Tatsache sei nur, daß in letzter Zeit die lebendige Tradition nahezu am Erlöschen sei. Er habe jedoch einen Lehrer gehabt, der noch ganz in der alten Überlieferung gestanden habe. Die Familie war mit den Nachkommen des Konfuzius nahe verwandt. Er besaß ein Bündel der heiligen Schafgarbenstengel vom Grab des Konfuzius, und er verstand noch die auch in China fast unbekannt gewordene Kunst, mit ihrer Hilfe ein Orakel auszuarbeiten. So wurde denn auch dieses Buch durchgenommen. Wir taten genaue Arbeit. Er erklärte den Text auf chinesisch, und ich machte mir meine Notizen. Dann übersetzte ich den Text für mich ins Deutsche. Darauf übersetzte ich ohne Buch meinen deutschen Text ins Chinesische zurück, und er verglich, ob ich in allen Punkten das Richtige getroffen. Dann wurde der deutsche Text noch stilisiert und in seinen Einzelheiten besprochen. Ich habe ihn dann noch drei- bis viermal umgearbeitet und die wichtigsten Kommentare beigefügt. So wuchs diese Übersetzung heran. Aber ehe sie vollendet war, kam der Krieg, und mit den anderen Gelehrten kehrte mein verehrter Meister Lao in das Innere von China zurück. Die Übersetzung blieb nun unvollendet liegen. Schon befürchtete ich, daß das Werk nicht zu Ende geführt werden könnte, da bekam ich einen unerwarteten Brief von ihm, ob ich nicht Wohnung für ihn habe; er wolle wieder nach Tsingtau kommen und das Buch der Wandlungen mit mir zusammen fertigmachen. Man kann sich meine Freude denken, als er nun wirklich kam, und die Arbeit auch wirklich ihre Vollendung erreichte. Ich ging später auf Urlaub nach Deutschland. Der alte Meister starb während meiner Abwesenheit, nachdem er sein Vermächtnis in meine Hand gelegt hatte.

In jener Zeit kamen auch manche Besucher von auswärts zu vorübergehendem Besuch nach Tsingtau. K'ang Yu We war einmal einige Tage da, um mit den monarchistisch Gesinnten unter den früheren Beamten die Lage zu besprechen. Ku Hung Ming kam häufig für kürzere oder längere Zeit, immer plötzlich auftauchend wie ein Meteor, immer voll Geist und Laune, schimpfend und fluchend auf die neue Zeit, die Revolution und die Fremden, die an allem Schuld seien. Daneben gab er Überblicke über chinesische Kultur, tiefste Einblicke in die Lebensweisheit der Heiligen, phantasievolle Bilder von geistigen Bewegungen und Literaturprodukten der alten Zeit, dann wieder oberflächliche Parallelisierungen von chinesischen und europäischen Menschen und Zeiten. Dann kam die üble Laune wieder. Er war unzufrieden mit allem. Es gibt keinen Menschen, den er nicht beschimpft hätte. Dadurch hat er vieles verdorben. Auch die Pläne für die Wiederaufrichtung der Monarchie, die damals im geheimen geschmiedet wurden, sind gescheitert an kleinlichen Streitereien und Rechthabereien. Ku Hung Ming wollte durchaus Außenminister werden und hat dadurch viel böses Blut gemacht. Die besonneneren Elemente wandten sich immer entschiedener von der Konspiration ab. Manche machten ihren Frieden mit Yüan Schï K'ai oder der Republik, und schließlich verlief die ganze Bewegung im Abenteuerlichen. –

Auch von Europa kamen bedeutende Männer nach Tsingtau. Derjenige, auf den die chinesische Kultur den tiefsten Eindruck gemacht hat, war Graf Keyserling. Auf seinen Wunsch brachte ich ihn zusammen mit einer ganzen Reihe von bedeutenden Persönlichkeiten. Teils höhere Beamte, teils Gelehrte waren versammelt. Die Mehrzahl waren Konfuzianer; Taoisten und Buddhisten waren ebenfalls vertreten. Graf Keyserling hat in seinem Reisetagebuch seine Eindrücke von diesem Mahl berichtet. Ich möchte hier nur hinzufügen, daß ich selten mit solcher Freude den Dolmetscher gespielt habe. Während so oft das Zusammensein von Europäern und Chinesen kaum über freundschaftliches Zutrinken oder die alleroberflächlichsten konventionellen Gespräche hinausgeht, war hier, dank der fast medialen geistigen Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit des Grafen, im Augenblick der Kontakt hergestellt, und die Unterhaltung bewegte sich in wesentlichen Dingen. Die Chinesen waren vom Grafen Keyserling entschieden beeindruckt. Noch Jahre später hat mich der Präsident Hsü Schï Tsch'ang, der damals in Tsingtau auch bei Tisch war, nach ihm gefragt. Sie hatten von ihm den Eindruck eines bedeutenden, sehr lebendigen Mannes, dem es Ernst sei, wirklich von der chinesischen Kultur zu lernen. Von allen Seiten kamen sie ihm entgegen. Denn nichts öffnet in China die Herzen so, wie die aufrichtige Absicht einer gegenseitigen Verständigung. Freilich mit ihrem tiefsten und letzten Wissen gehen sie nicht leicht heraus. Eine gewisse Scheu hält sie stets davon zurück. Man redet nur von dem allgemein Zugänglichen; wer den Blick hat, wird das Tiefere aus dem Sein und der Persönlichkeit von selbst entnehmen. Aus der alten chinesischen Geschichte werden manche Beispiele davon erzählt, daß zwei Menschen einander nur zu sehen brauchen, und eine Weile beieinander zu sein, um sich in den tiefsten Prinzipien zu verstehen.

Graf Keyserling saß, nachdem die Gesellschaft sich zerstreut hatte, noch bei mir und sprach über sein Erleben. Er hatte einen tiefen Eindruck bekommen von der ruhigen Klarheit der alten Herren und der letzten Einfachheit und Großzügigkeit ihres Wesens. Aber worin er den Westen überlegen glaubte, das war die Vitalität, die Nervenkraft und Lebendigkeit. Er hatte den Eindruck, als wäre das chinesische Wesen westlicher Lebendigkeit nicht ganz gewachsen. Ich sagte ihm, daß ich nur wünsche, daß er Ku Hung Ming kennen lernen möchte, der an Vitalität und Nervenausdauer hinter keinem Europäer zurückstehe. Wie es der Zufall wohl fügt, so klopfte es in diesem Moment an, und Ku Hung Ming trat ein, um sich für die Nacht anzumelden. Er hatte noch nicht das frugale Abendessen, das er sich bestellt hatte, fertig, da war das Feuer der Unterhaltung schon eröffnet, und wirklich, der Graf hatte einen Menschen gefunden, der ihm an Vitalität gewachsen war. Die Unterhaltung sprühte förmlich Funken, infolge der gegenseitigen Induktion. Wenn der Graf das Wort ergriffen hatte, konnte Ku Hung Ming es kaum abwarten, bis er selbst an die Reihe kam. Dann redete er und schrieb: chinesisch, französisch, deutsch, englisch, alles durcheinander. Die ganze Weltgeschichte und Gottes Schöpfungsplan, die Seele des Fernen Ostens und die Raubtiernatur des Westens, alles was der östliche Prophet auf Herz und Gewissen hatte, dessen entledigte er sich dem Grafen gegenüber. Endlich waren die Getränke zu Ende. Der Morgen schien dämmernd durch die Fenster herein. Der Boden war fußhoch bedeckt mit Zetteln, die mit chinesischen und europäischen Sprüchen, Andeutungen, Bonmots und Zitaten vollgeschrieben waren. Ku Hung Ming stand auf und ging zu Bett, und Graf Keyserling bekannte, daß hier tatsächlich ein Chinese von vollgültiger Lebendigkeit ihm gegenüber gestanden habe. –

Aber auch die schönen Tage von Tsingtau gingen vorüber. Lange schon hatte sich der Horizont verdunkelt. Endlich brach der Krieg herein. Wie ein Posaunenstoß fuhr es durch die Luft, und all das blühende Leben stob auseinander. Eben hatte der greise Erzieher des jungen chinesischen Kaisers einen Besuch in Tsingtau gemacht und war mit einigen Freunden in das märchenumsponnene Laoschangebirge gefahren, da schlug wie ein Blitz die Verkündung des Belagerungszustandes ein. Mit Mühe gelang es mir, die Herren, die auf offener Landstraße aufgehalten worden waren, freizubekommen und sicher auf die Bahn zu bringen, die sie nach Peking zurücknahm. Als der Krieg in Europa erklärt wurde, begann zwar schon die Flucht der ängstlicheren Gemüter. Aber die besonneneren Elemente blieben. Man traute Deutschland zu, daß es Tsingtau würde halten können. Mehrere Freunde unter den Chinesen warnten aber schon damals vor Japan, das nur abwarte, ehe es den Krieg erkläre. Schließlich kam auch die japanische Kriegserklärung. Nun war kein Halten mehr. Auch das Gouvernement sprach den Wunsch aus, daß die chinesischen Gäste, soweit sie eine Belagerung nicht mitzumachen wünschten, sich in geschütztere Regionen begeben. Der Andrang nach der Bahn war unbeschreiblich. Ich richtete mit meinen Freunden eine Filiale des chinesischen Roten Kreuzes ein, zu der auch die deutsche Regierung ihre Zustimmung gab. Die erste Tätigkeit dieser Organisation bestand darin, den Nichtkombattanten zu sicherem Abzug zu verhelfen. Das war nicht immer ganz leicht, denn einzelne Polizisten hatten den Kopf verloren und requirierten alles, was ihnen an Wagen, Autos, Fahrrädern auf der Straße begegnete, und als sie Arbeiter für die Festungswerke beschaffen sollten, begannen sie aufzugreifen, wen sie des Weges kommen sahen. Da aber die höheren deutschen Beamten voll guten Willens waren, so gelang es ohne große Schwierigkeit, unfreiwillig Aufgegriffene wieder loszubekommen. Natürlich steigerten diese Ereignisse die Panik noch mehr. Doch gelang es dank dem verständnisvollen Zusammenwirken der in Betracht kommenden Stellen, alle Abwanderer in Sicherheit zu bringen. Besonders schlimm war, als in den ersten Tagen des Kriegs sintflutartige Monsunregen einsetzten, die bald die Bahnlinie überschwemmten und beschädigten, so daß der Verkehr über Land eingestellt werden mußte. Ein reicher Schanghaier bestellte dann unter allseitigem Einverständnis der kriegführenden Mächte einen chinesischen Dampfer für sich und seine Familie. Er hatte auch die Erlaubnis gegeben, daß sonst noch einige Chinesen mitgenommen werden sollten. Ein unglaubliches Gedränge war die Folge. Kaum hatte der Dampfer angelegt, war er schon von Tausenden von Passagieren besetzt. Szenen von namenloser Aufregung kamen vor. Ein Kaufmann stand an Bord, aber sein Gepäck konnte von den Trägern nicht durch das Gewühl geschafft werden. Er sah es vor Augen, aber er konnte es nicht bekommen. Er schrie, befahl, drohte, nichts half. Schließlich sprang er fortwährend wohl drei bis vier Fuß in die Höhe. Ich habe nie einen Menschen in solcher Ekstase gesehen. Als dann der Besitzer des Schiffs mit seiner Familie ankam, war es so voll, daß es mir nur mit größter Mühe gelang, ihm noch einen Platz zu verschaffen. Endlich war auch dieses letzte Schiff fort und in Sicherheit. –

Unter den Flüchtlingen befanden sich merkwürdige Gestalten. Besonders ist mir noch in Erinnerung ein gewisser Hung Schu Tsu. Er war des Mords an dem Führer der Südpartei der Republikaner, Sung Kiao Jen, beschuldigt und hatte sich nach Tsingtau geflüchtet. Er war ein fetter, schwerer Mann. Er hatte sofort das Haus eines Beamten gekauft, weil er sich darin sicherer fühlte. Aber er war das Bild des von Furien gepeinigten bösen Gewissens. Keinem konnte er in die Augen sehen. Die trockene Zunge beleckte fortwährend die ausgedörrten Lippen in vergebenem Bemühen sie anzufeuchten. Er war in steter Furcht ausgewiesen zu werden, denn dann war er des Todes. Die Kriegsfurcht erwies sich aber schließlich doch als stärker. Er kam auch zu mir, daß ich ihm eine Fahrkarte besorgen sollte. Ich fragte ihn, ob er sich nicht doch in Tsingtau sicherer fühle. Er verneinte und sagte, er sei für alle Fälle gerüstet. Er hatte sich nämlich von einem deutschen Arzt ein Zeugnis ausstellen lassen, daß er nicht geköpft werden könne, da er eine große Geschwulst am Halse habe. Schließlich hat ihn aber doch sein Schicksal erreicht. Der Sohn des Ermordeten hat ihn aufgegriffen. Es wurde ihm dann der Prozeß gemacht, und trotz des ärztlichen Zeugnisses wurde er zum Tode durch den Strang verurteilt. Das bekam ihm aber nicht gut, denn richtig ging dabei der Kopf ab, und der Leib fiel schwer zur Erde. Für das chinesische Gefühl bedeutete das eine große juristische Schwierigkeit, denn die Trennung des Kopfes vom Leib gilt wegen der unangenehmen Folgen im Jenseits als härtere Strafe wie einfaches Hängen. Die Familie soll die Sache anhängig gemacht haben, und es heißt, sie habe Schadenersatz bekommen, und man habe den Kopf nachträglich wieder angenäht. –

Wie ein wirrer Traum gingen jene Tage vorüber. Nur wenige Freunde waren zurückgeblieben: Prinz Kung und Kao T'iän Yüan, der mir die ganze Zeit des Krieges über bei der Verwaltung des Roten Kreuzes und der Fortführung der chinesischen Schule treu zur Seite stand. Es war ein eigentümlicher Gegensatz, wie auf das Gewühl eine Totenstille folgte, die nur unterbrochen war durch das Dröhnen der Geschütze, das unheimlich durch die leeren Straßen hallte. Auch nachdem die Schrecken der Beschießung vorüber waren und Tsingtau von den Japanern erobert war, kam das alte Leben nicht wieder. Einige der Gelehrten blieben wohl wohnen, andere kamen zu kurzem Sommeraufenthalt. Aber es war eine andere Zeit. Die Alten von Tsingtau waren zerstoben in alle Winde.


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