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Fünfzehntes Kapitel. In Chinas Zaubergärten

Reisebilder

1.
Frühling am Westsee

Am Berge ragt die schlanke Felspagode,
Der Pavillon blickt zierlich in den See.
Des Wassers Fläche ist so glatt wie Spiegel,
Und Schäfchenwolken schweben in der Höh.

Schon streiten sich die frühen Oriolen
Um eines Baumes schlank gebogene Äste.
Die Schwalben fliegen emsig dort zum Hause
Und bauen an dem neuen Frühlingsneste.

Die bunten Blumen füllen Tal und Haine
Und durch die Wirrnis klingt's wie Zauberruf.
Das zarte Gras sproßt auf den Wiesenplanen,
Bedeckt nur eben erst der Rosse Huf.

O, unermüdlich muß in solchen Tagen
Ich wandeln an des Sees belebtem Rand.
Die Pappeln geben warme, weiche Schatten,
Darunter leuchtet weiß der Dämme Sand.

Po Kü I

»Oben ist die Himmelshalle, unten gibt es Schutschou und Hangtschou.« In diesem Sprichwort drückt sich der magische Reiz aus, den die Gegenden in der Nähe der Yangtsemündung in China zu allen Zeiten ausgeübt haben. Jedes Land hat seinen Zaubergarten, wo die Märchen und Sagen zu Hause sind, wo die Steine leben, und die Wasser reden, wo jeder Zoll der Erde eine Geschichte zu erzählen weiß. Nennt man das Wort, so hebt es tausend Erinnerungen und Stimmungen aus dem Unterbewußtsein empor, und wie eine Melodie umfängt es träumerisch den Sinn. So ist der Rhein der Sagenhort der Deutschen, und Neapel das Ziel der Sehnsucht Italiens. So wirken auf die Sinne in China die Laute Sutschou und Hangtschou. Eine weiche Luft umspinnt die Gedanken; Gedichte, Sagen und Märchen beginnen zu wogen, Zeiten der feinsten und höchsten Blüte tauchen auf. Die schönsten Mädchen sind dort zu Hause. Hier ist die Erde nicht knapp und streng. Milde spendet sie Nahrung, und das Leben ist frei von dem Drang der Arbeit ums tägliche Brot. Träumend liegt der Hirtenknabe auf dem breiten Rücken des Wasserbüffels, während in der Ferne eine Flöte aus dem schilfbewachsenen Ufer eines einsamen Sees herübertönt. Ich vergesse nie, mit welcher Leidenschaft der chinesische Dichter, der aus Europa zurückkehrte, den kleinen Felsenhügel begrüßt hat, der über die Reisfelder seines Heimatdorfes aufsteigt, wie er ausbrach beim Anblick der frühlingsgrünenden Felder. »Hier bin ich geworden. Hier ist die Erde und das Wasser, die meinen Leib bilden, und die mich einigen mit den vergangenen Geschlechtern der Väter!« So hätte ein Mann aus dem Norden nicht gesprochen. Hier lebt der Geist des Tschuangtse, der einst seinen berühmten Schmetterlingstraum geträumt.

In alten Sagen wird der Ursprung der Musik erzählt: Die östliche Musik ist entstanden aus der Klage über ein tragisches Schicksal, die westliche aus Heimweh, die nördliche aus dem Lied der Mädchen an die Schwalbe, die fortgeflogen. Die Musik des Südens aber entstand aus dem ersten Liebeslied, das das Mädchen vom Erdhügel, das der große Yü geminnt, gesungen hat, als sie auf ihren Geliebten wartete, der seine große Arbeit vollbrachte, um die Wasser auf Erden in ihre Bahnen zu leiten. Dieses Liebeslied ist bezeichnend für die zärtliche Stimmung, die über Gegend und Menschen liegt. Hier ist das Land, wo die gewaltigen Bilder einer starken Phantasie in die chinesische Poesie einströmten, ihre strenge Form zerbrachen und in dythirambischen Rhythmen sich ergossen. Hier ist das Land der stillen, hohen Mystik des Einswerdens mit Himmel und Erde, aber auch der radikalen Denker, die sich nicht scheuen, die Konsequenzen ihrer Gedanken zu ziehen, bis in ihre letzten Verzweigungen hinein. Die Menschen sind heiterer, freier, freundlicher als im Norden, aber vielleicht nicht so ernst und fest. Hier schenkt die Natur ihre Blumen und Früchte, Schönheit und Wohlstand sind hier zu Haus.

2.
Am Westsee bei Hangtschou

Im Juli.

Es ist eigentlich ein entsetzlicher Gedanke, ein häßliches Hotel im Schanghaier Mietskasernenstil hier an den Westsee zu setzen. Es ist nicht einmal das einzige. Diese Auswüchse moderner Fremdenindustrie wirken umso geschmackloser, als sie hier unmittelbar sich den Spuren einen hohen Kultur gegenüberfinden. Aber das ist das Los der Stadt am Ts'iänt'ang-Fluß, daß manche Stürme schon über sie hinweggefegt sind: erst der Mongolensturm, der der Märchenherrlichkeit der Sung ein Ende machte, dann der Mandschusturm, der hier eine Garnison der fremden Eroberer stationierte, dann die Revolution der Taipings, die fürchterlich hausten mit Sengen und Brennen, dann die Revolution von 1911, die mit der Mandschustadt ein Ende machte und an ihrer Stelle eine moderne Handelsniederlassung mit breiten modernen Straßen, mit Industrieausstellungen, Kinos und Jünglingsvereinen begründete, die Hotelgesellschaften ins Leben rief und gemeine Backsteinhäuser an den See stellte, wie das »allerneueste Hotel«, in dem uns die Rikschas nach einer beinahe einstündigen Regenfahrt abgesetzt haben. Ein Hotel zweiter Güte, in dem man das pseudoeuropäische Essen bekommt, das hier im Osten üblich ist, und wo Unreinlichkeit mit geschmackloser Einfachheit im Kampf liegt. Das soll nun der Westsee sein, dieses Paradies aller Sagen und Märchen? Es ist entsetzlich. Die Schornsteine der Fabriken dahinten sehen nicht schöner aus als die Schornsteine am Ufer des Rheins, die statt der alten Burgen sich neuerdings in seinen Fluten spiegeln.

Aber wenn man erst durch diese Kruste hindurchzusehen versteht, dann taucht das eigentliche Hangtschou und der eigentliche Westsee doch wieder auf, und man wird umweht von der Luft, die um die Hügel streicht und uns erzählt von Zeiten, die gewesen. Kleine Ruderboote fahren über den See. Ein Baldachin ist darüber gespannt. Man sitzt um einen kleinen Tisch, ißt Melonenkerne und trinkt Tee, während der Ruderer im Takte das Boot durch die flachen Wasser treibt.

Zwei Dichter waren es, die diesen Platz geschaffen: in der T'angzeit Po Kü I, der seine Reize entdeckte, und in der Sungzeit Su Tung P'o, der ein begeisterter Verehrer von Po Kü I war und den See durch einen Dammbau gestaltet und zugänglich gemacht hat. Maler und Dichter haben seitdem immer wieder hier ihren Aufenthalt genommen. Klöster und Pavillons, Pagoden und Gärten umgeben den See und füllen seine Inseln, und Steininschriften aus allen Zeiten verkünden sein Lob.

Wie ein Wallfahrtsort hat der See seine Stationen. Jede Station der Andacht bietet neue Schönheit, und alle Jahreszeiten sind daran beteiligt, das Märchenkleid der acht Bilder dem heiligen See zu weben. Zu den acht Bildern sind dann später noch weitere getreten:

1. Bild. Im Frühling, wenn die hohen Weidenbäume ihr schüchternes Grün entfalten, dann kommen die gelben Oriolen und singen von Hoffnung und Schönheit. Ein leichter Hauch bewegt die Weidenzweige und kräuselt die Frühlingswasser.

2. Bild. Die Blumen drängen sich in buntem Gewühl um eine stille Bucht. Ein Pavillon ist in den See gebaut. Man sitzt und plaudert bei einer Kanne heißen Weines – denn hier ist Chinas Weinland –. Dann blickt man hinunter in das Wasser und sieht die Fische spielen.

3. Bild. Der lange Damm, den der Dichter Su Tung P'o gebaut, zieht durch den See. Der Frühlingsmorgen lockt. Noch liegt die Morgendämmerung über dem See, wenn man auf jenem Damme zwischen den Wassern dem Tag entgegengeht.

4. Bild. Der Abend naht. An der Südwand liegt in Felsen versteckt ein Kloster. Friedlich klingen die einzelnen Schläge der großen Tempelglocke über den See, der Seele rufend aus der Ewigkeit zur Ewigkeit.

5. Bild. Nun kommt der heiße Sommer und brütet über den gelben Wassern, aus deren Schlamm die Lotosblumen schlank und rein emporsteigen. Ein leichter Abendwind trägt den strengen, reinen Duft herüber. Die Lotosblumen in keuscher Reinheit sind nicht beschmutzt von dem Schlamm, aus dem sie hervorkommen. Sie dulden keine Annäherung, aber weithin senden sie ihre Schönheit aus: das Bild des Edlen, der vornehm bleibt auch noch im Schenken.

6. Bild. Herbstklarheit liegt in der Luft. Der See ist ein Spiegel, die Farben des Herbstes stehen bunt und erregen das Gefühl: Abschiedsstille und Ruhe des Sees, Fernblick und Ausblick.

7. Bild. Vom Ufer des Sees ziehen die Berge ins Land hinein. Zwei Gipfel lagern am Horizont, hoch aufragend mit einem Paß in der Mitte. Kommen die Wolken, so fangen sie sich hier im Paß, sie schlingen sich um die Felsen und haften fest, wechselnd und wandelnd sind sie gebannt.

8. Bild. Herbstmondnacht. Man muß sie erlebt haben in diesen milden südlichen Orten, wenn der Vollmond mit unwahrscheinlichem Glanz durch die Stille schwebt, ruhig träumend. Vor der Insel des Su Tung P'o stehen drei kleine Pagoden wie steinerne Laternen im Wasser. Zwischen ihnen, wie durch Zaubermacht herbeigezogen, ist das silberne Siegel des Mondes der dunklen Fläche aufgedrückt.

9. Bild. Hinten am hügeligen Ufer steigt der Donnergipfel bei einem Kloster empor. Dort stand lange Jahrhunderte die trotzige Pagode. Ihre Ziegel waren von Feuer, das sie zerstören sollte, rot gebrannt. Gestrüpp und Bäume wachsen auf ihrer Spitze. Raubvögel flatterten um sie her. Aber sie stand und schützte. Das Abendrot leuchtete vom Himmel und ließ die rote Pagode aufs neue erglühen.

10. Bild. Der Winter kommt. Er ist nicht streng in dieser Gegend. Die Schneeflocken, die des Nachts sich gesammelt und weiße Flocken niederwirbeln ließen, sind beim Anbruch des Morgens längst wieder aufgelöst. Auf der kurzen Brücke, die einst überdacht war von einem Pavillon, haben noch ein paar zarte Schneereste die Nacht überdauert und zerschmelzen funkelnd in der wiederkehrenden Sonne. –

Diese Bilder vom Westsee wurden von den Malern immer wieder gemalt, und tausend Lieder singen von ihnen. Es ist, als sei in ihnen die Landschaft mit ihrem wechselnden Leben in Licht und Jahreszeiten auf die Erde herabgeschwebt. Denn nirgends hat der Mensch so früh wie in China die Landschaft entdeckt als Natur, unabhängig vom Menschen und doch erfüllt mit einem stimmungsvollen starken Leben, das jeder fühlt, der sein eigenes Ich vergessen und hineinhören kann in den großen Zusammenklang von Himmel und Erde.

Dem Westsee folgten andere Seen und Plätze mit ihren Bildern. Von China wanderte dieses Schauen der Natur hinüber nach Japan, wo der Biwasee nun auch seine acht Bilder bekam, und die 38 oder 53 Ansichten der berühmten Landstraße, die durch Japan führt, von Meistern wie Hokusai oder Hiroshige in Holz geschnitten wurden.

Auch andere Dichter lebten in der Nähe des Sees. So der Sungdichter Lin P'u, der als Eremit auf einem Hügel beim See wohnte. Er heiratete nicht, denn die Pflaumenblüte war seine Geliebte, und die Kraniche, die sich um ihn drängten, waren seine Kinder. Unbekümmert um den Ruhm vertraute er seine Gedichte den spielenden Winden an, wenn er sie aufgeschrieben hatte. Seine Freunde fingen manche auf. Hier ist eines davon an seine Geliebte, die Pflaumenblüte.

Alle duft'gen Blumen sind zerflattert,
Du allein bist frisch und hold,
Und ich hab dich liebevollen Sinnes
In mein Gärtchen hergeholt.

Deiner feinen Zweige wirrer Schatten
Auf dem seichten Grunde schwebt,
Blüten duften, Mondesspiegelschwanken
In der Dämmerung heimlich lebt.

Schneeig weiße Reiher nahen spähend
Mit gesenkter Schwinge sich,
Wüßten es die zarten Schmetterlinge,
Grämten sie zu Tode sich.

Glücklich bin ich, daß dir zu gefallen
Ich dies Liedchen ausgedacht.
Nicht begehr ich Goldpokal und Zimbeln
In der selig stillen Nacht.

Ich fuhr auf einem Boot vorbei an der kleinen Insel, die man das Herz des Sees nennt. Dort steht unter dichten Bäumen versteckt ein verlassener Tempel. Dann legte der Schiffer an bei den Lotosgärten von Su Tung P'o. Steinerne Brücken führen zu einem zierlichen Pavillon. Auf den Blättern liegen noch als blitzende Perlen die Regentropfen. Im See stehen drei kleine Pagoden und scheinen auf das Spiegelbild des Monds zu warten, das in ihrer Mitte in der Herbstnacht aufleuchtet. Am anderen Ufer birgt sich in dichtem Hain das buddhistische Kloster, von dem der Weg den stillen Hügel hinaufführt zu der Ruine der Donnerbergpagode. Viele Sagen ranken sich um den trotzigen Bau. Eine böse Fee, die weiße Schlange, liegt darunter gebannt und kann nicht den Menschen schaden, solange der heilige Stein sie gefangen hält. Früher stand auf der Pagode ein Wächterhäuschen. Sie überragte die Gipfel der Nähe, und der Blick zum Meer war frei. Dort konnte man von weitem schon die Seeräuber nahen sehen, die von Japan her der Küste zusteuerten. Durch Fanale wurde die Bevölkerung vor den Räubern gewarnt. Diesen aber war die Pagode leid. Sie beschlossen sie zu vernichten. Sie häuften bei Nacht und Nebel Reisigbüschel um sie an und warfen die Feuerfackel in das rings getürmte Holz. Hoch auf prasselten die Flammen. Tag und Nacht währte der Brand. Die grauen Ziegel der Pagode wurden rot von der Hitze, aber sie hielt stand. Trotzig blieben ihre leergebrannten roten Trümmer stehen. Aber kürzlich ist sie in sich zusammengestürzt. Uralte Schriften und Drucke sind aus ihrem Schutt hervorgezogen worden.

Abends, als der Tag verdämmerte, fuhr ich zurück. Die Pirole Su Tung P'os zwitscherten noch immer gelb leuchtend zwischen den dunklen Zweigen. Eine Brise kräuselte den See. Leuchtkäfer schwirrten durch die Luft. Vom fernen Ufer her blitzten die elektrischen Lichter von Hangtschou, und hoch am Himmel standen die Sterne. Und das alles spiegelte sich im See. –

Am anderen Morgen fuhr ich nach der Stadt und von dort nach dem Ts'iänt'ang-Fluß. Der Fluß ist berühmt durch die großen Springfluten, die mehrere Meter hoch wie eine steile Wand zur Zeit der Tagundnachtgleichen aus dem Meer heraufwandeln. Zehntausende sammeln sich alljährlich auf den Ufermauern, um dieses wunderbare Schauspiel zu sehen. Der Ts'iänt'ang ist ein breiter wasserreicher Fluß, wie er im Norden nicht zu finden ist. Fern am anderen Ufer sieht man liebliche Hügelketten. Boote und Dschunken fahren auf der weiten, glatten Fläche umher. Flußaufwärts kommt man zu einer großen, rotbemalten Pagode, die auf einem Hügel steht. Sie bietet einen wunderbaren Ausblick über den Ts'iänt'ang mit seinen in der Ferne verschwindenden Segeln. Weiter flußaufwärts tritt das Wu Yün Schan Gebirge an das Ufer. Tannen und Talgbäume, Lackbäume und Bambus bilden zu beiden Seiten des Wegs ein dichtes Gestrüpp. Auf der roten Erde des Hügels ist Tee angepflanzt. Was Tee ist, weiß man erst, wenn man in der Sommerhitze zur Zeit der Tee-Ernte hier oben Tee trinkt, der mit dem Wasser des Drachenbrunnens (Lung Tsing) zubereitet ist. Der Lungtsing-Tee ist in China ebenso berühmt wie in Deutschland der Rheinwein. In China trinkt man Tee aus grünen Blättern, die nur getrocknet sind. Er schmeckt zarter und weniger herb, als der nach Europa exportierte sogenannte rote Tee, der vor dem Trocknen noch eine Gärung durchmacht.

An der Donnerbergpagode kommt man vorüber auf dem Talweg, der nach dem See zurückführt. Wir fuhren nun zur sogenannten Kaiserinsel. Das ist eine Insel, auf der von früheren Zeiten her noch die Anlagen kaiserlicher Gärten und Sommerpaläste vorhanden sind. In der Bibliothek ist eines der wenigen Exemplare der vollständigen Sammlung der Meisterwerke der chinesischen Literatur aller Zeiten, die unter der Mandschudynastie zusammenkamen. Der Garten ist steil ansteigend mit Treppen und Felswegen. Auf der höchsten Höhe steht ein Aussichtspavillon. Dort tranken wir Tee und lasen chinesische Gedichte, die hier in ihrer Heimat lebendig werden und ganz andere Töne reden, als wenn sie nur aus der Ferne herüberklingen. Es wurde Nacht, und wir stiegen wieder in das Schiff. Wir kamen an einem Fischerboot vorüber, in dem ein Mann bitterlich weinte. Seine Frau war eben gestorben und lag tot vor ihm. Unser Schifflein trieb auf dem See durch Wolken und Sterne und durch die mancherlei dunklen Schatten, die aus den Tiefen des Wassers emporschauten. Ein Pferd wieherte. Ein Hund bellte hartnäckig irgendwo am Ufer. Aber das alles waren nur Pausen in der großen Stille, die ausgespannt war und die hörbar wurde durch den tiefen Ton einer Klosterglocke, deren einzelne Schläge in langen Pausen über das Wasser zitterten. Die Glocken werden in China nicht geläutet, sondern angeschlagen. Kein wirres Durcheinander streitender Klänge verschiedenen Temperaments beunruhigt das Ohr. Unser europäisches Kirchengeläute, dessen chaotische Wellen uns erheben, kommt dem östlichen Menschen aufdringlich und rücksichtslos vor. Die Abendglocke des Bergklosters hat nichts Dringendes, Drohendes, Überredendes. Sie sendet ihren tiefen vollen Klang durch den Abend. Dieser Ton ist eine Offenbarung, daß hinter allem Schein, hinter aller Vielheit, hinter allem Leid die eine große Ruhe wohnt. Dieser Ton ist wie ein Tor zu einer anderen Welt. Wer will, kann es betreten, wer nicht will, geht vorüber. Es ist da, nichts weiter. Der Ton verhallt, dann kommt das große Schweigen wieder. –

Sanft kommt die Ruhe nieder auf das Wasser,
Und zarter Nebel sinkt in jedes Tal.
In der Gebirge Falten aus den Hütten
Steigt Rauch empor. –

Des Abends bunte Farben ebben langsam,
Die Hügel stehen kahl und ernst am See.
Glatt legt die weiche Welle an das Boot sich
Und flüstert heimlich.

Da taucht hervor die stille Zauberinsel,
Und spiegelnd grüßt ihr Abbild aus dem See,
Drei kleine Türme stehn und halten Wache
Im Dämmerschein.

In schlanker Weiden feinen Hängezweigen
Verschwirrt allmählich der Zikaden Laut,
Aus dichtem Laube rufen Oriolen
Noch lange Zeit.

Und aus dem Dunkel blitzen tausend Funken
Hoch zwischen Wolken und am Horizont,
Sie tanzen auf den kleinen, glatten Wellen
Und fliegen weiter.

Ein fernes Kloster sendet durch die Stille
Von Zeit zu Zeit der Abendglocke Ton,
Wie durch der Seele ruhig dunkle Tiefen
Das Heimweh zieht. –

Am anderen Morgen fuhr ich mit Erwin Lang, dem Maler, nach der Kaiserinsel. Er wollte dort zeichnen. Bald fanden sich Zuschauerinnen ein. Sie gehörten zur Familie eines reichen Parsen, der auf der Insel eine Sommervilla hat. Die Mädchen waren am Ufer spazieren gegangen und wunderten sich über die fremden Gäste. Dem Maler sahen sie neugierig zu und zeigten große Lust, von ihm gemalt zu werden. Ein paar der Jüngeren waren neugierig wie die Fische, die älteren klug. Sie kicherten und kamen bald näher, als sie merkten, daß sich mit den Fremden auf chinesisch reden lasse.

Ich ließ den Maler bei seinen Nymphen und fuhr allein hinüber nach dem Herz des Sees. Zwischen den dichten Bäumen ist eben Raum für einen kleinen Tempelpavillon. Dort wird der Drachenkönig und die Wasserprinzessin des Westsees verehrt. Ein bellender Hund hält Wache. Er machte mir jedoch Platz, als er merkte, daß ich etwas von chinesischen Märchen weiß. Am Ufer saßen ein paar Fischer und angelten. – Nicht weit entfernt ist noch eine andere kleine Insel, auf der nur Weidenbäume stehen. Dort ist es am hellen Tag gespensterhaft. Die Insel ist umgeben von einem Sumpfgürtel, auf dem Strandläufer graben. Der Herr der Insel ist ein Adler, der als Boten zwei Elstern hat. Als ich gelandet, meldete mich die eine Elster durch lautes Schreien. Ich sah mich einen Augenblick um, aber da hörte ich rings umher im Sumpf zischen und brodeln, und der taubstumme Bootsmann gab mir durch Gebärden und unartikulierte Laute zu verstehen, daß ich rasch weiter müsse. Und schon begann der Boden samtartig zu schwanken. Ein paar Erdstufen führten in den kleinen Weidenkreis der inneren Insel. Nichts war da als in der Mitte ein zerbrochener Denkstein aus alter Zeit. Ringsum zwischen je drei Dachziegeln eingepflanzt waren eine Menge von Chrysanthemen, die herumstanden wie verzauberte Menschen. Einige große Gefäße mit allerlei Düngemitteln standen am Rand, aus denen sie regelmäßig gefüttert wurden. –

Zu den Erinnerungen des Westsees gehört auch der Tempel des Yüo Fe, der an seinem Grabe gebaut ist. Yüo Fe war ein treuer Feldherr der Sungdynastie, der sein Land schützen wollte vor den immer mehr herandrängenden Horden der Kintataren. Aber so tapfer er auch kämpfte, gegen ihn wurden Intrigen angesponnen durch den bösen Ts'in Kui und seine Frau, die Langzunge. So heimlich waren sie in ihren schwarzen Plänen, daß sie nicht zu reden wagten, sondern nur mit einem Eßstäbchen Zeichen in die Asche schrieben und immer sogleich wieder verwischten. So wurde denn durch ihren Verrat der tapfere Held Yüo Fe zu Tode gebracht. Aber die Vergeltung blieb nicht aus. Dem Helden wurde ein Tempel errichtet, in dem er heute Ehrungen genießt, die hinter den Ehrungen Kuantis, des Kriegsgottes, nicht zurückstehen. Besonders seit der Revolution wird er als nationaler Befreier von der Not der Tataren noch mehr gefeiert als zuvor. Vor seinem Tempel stehen gefesselt die eisernen Bilder von Ts'in Kui und der Langzunge, und jahrhundertelange Schmähung war ihr Teil. Erst seit dem Tempelneubau sind Tafeln angebracht, die sie vor Beschmutzungen schützen sollen. Ein merkwürdiges Zusammentreffen ist es, daß auch einige Opfer der Befreiungskämpfe, die zum Sturz der Mandschus führten, am Westsee ihre Ehrenhallen haben. Rührend hegt zwischen all diesen blutigen Helden aus alter und neuer Zeit das Grab der kleinen Su Siao Siao, einer zierlichen Sängerin aus der Zeit des großen Dichters Su Tung P'o. –

Die Stadt Hangtschou pflegt zwar die Erinnerung an den großen Yü, der bei der Ordnung der Gewässer im Reich auch hierher gekommen sei, aber sie sieht auf kein so hohes Alter zurück wie andere Städte. Auf wenige Jahrhunderte drängt sich ihre Blütezeit zusammen. Es ist die Stadt der Seide und des Tees. Auch einige ganz berühmte Fächergeschäfte sind in ihren engen Gassen. Ein uraltes Gebäude ist die Moschee, von der in manchen Märchen geredet wird. Durch die bunte Pforte tritt man in dunkle Räume, die ursprünglich wohl etwas Fremd-Geheimnisvolles für die Chinesen hatten. Alte Tafeln mit chinesischen Zeichen hängen unter hohem dunklem Dachgebälk: »Alle Wege führen zum selben Ziel.« »Ich bin der Eine Wahrhaftige, außer mir ist kein Zweiter.« –

Jetzt werden die Nebenräume zu Schulzwecken benützt, und modern gekleidete Knaben und Mädchen, die sich in den verborgenen Höfen tummeln, lassen kein Halbdunkel des Märchens mehr aufkommen.

Auf einem Hügel am Ende der heutigen Stadt lag die Akropolis. Eine große Zahl von Tempeln verwittern hier. Die Figuren zeigen die graziösen Formen der Sungzeit, aber die Zeit ist siegreich geblieben in ihrem leisen Zerstörungskampf gegen Menschenwerke. In China gibt es keine moderne Denkmalspflege. Man repariert nicht Jahr um Jahr die alten Gebäude, bis man schließlich nicht mehr weiß, was alt daran ist und was neu, sondern man baut sie fest und stark. Dann läßt man der Zeit ihr Recht, bis ein neues Geschlecht jeweils neue Tempel baut, wie etwa den Yüo-Fe-Tempel, der erst in den letzten Jahren aus den Trümmern vollkommen neu erstanden ist. Oben auf der Höhe hat man einen schönen Ausblick über die weite Ebene, in der die Stadt liegt, die durch die vielen, alten Bäume ein angenehmes gartenartiges Aussehen hat, dann hinüber nach dem Ts'iänt'ang-Fluß, der sich in mancherlei Buchten ins Meer ergießt, Auf der anderen Seite taucht hinter den Hügeln der Westsee noch einmal grüßend auf.

3.

Sutschou, im Mai.

Der Himmel lag feuchtschwer über der Ebene, aber die gelben Rapsfelder zwischen dem frischen Grün leuchteten wie heller Sonnenschein. In der Nähe von Sutschou wird die Gegend hügelig. Wir stiegen aus dem Zug und gingen zunächst nach dem Tigerhügel, zu dem sich eine enge gepflasterte Vorstadtstraße hinzieht. Das Leben in diesen Straßen spielt sich weit mehr in der Öffentlichkeit ab als in dem zurückhaltenderen Norden, wo Mauern den Blick abhalten, ins Innere der Höfe zu dringen. Auch der Menschenschlag ist ein anderer. Der ganze Körperbau ist feiner, die Frauen haben runde, weiche Züge. Das Fußbinden, das man in Nordchina auf dem Land noch immer findet, wenn es auch wie der Zopf heute nur noch eine rückständige Bauernsitte geworden ist, ist hier nie verbreitet gewesen. So trifft man hier Frauen als Schifferinnen und selbst als Sänftenträgerinnen, was in Nordchina etwas ganz unerhörtes wäre. Schon Li Tai Po hat in seinen Gedichten über die Mädchen in Yüo ihre schneeweißen Füße bewundert und ihre verführerische Koketterie. Das ganze Leben spielt sich heiter und fröhlich ab. Hier ist das heitere China. Die große Harmonie des Lebens, die auch dem Armen seinen Anteil am Leben gibt und es ihm ermöglicht, den Augenblick zu genießen, ohne mit finsteren Mienen an die harte Zukunft zu denken oder neidische Blicke auf den reichen Nachbar zu werfen. Diese Heiterkeit befreit, man entdeckt plötzlich, daß das Leben nicht so furchtbar hart und ernst ist, und daß der weiche Wind unwiderleglich ist, der den Menschen die Falten von der Stirn glättet. Ein Zug Soldaten zieht unter Hörnerklang an uns vorüber. Sie sind zwar nicht ganz gleichförmig in der Uniform, und auch der gleiche Schritt und Tritt ist nicht sehr streng, aber man sieht ihnen den Eifer an, und die falschen Töne der voranschreitenden Hornisten feuern auch noch die kleinen sechzehn- oder siebzehnjährigen Rekruten an, die in den hinteren Reihen marschieren. Auch Polizisten stehen an den Ecken mit großen weißen Tuchplakaten auf der Brust, auf denen ausführliche Angaben über Zugehörigkeit, Standort, Nummer, Bezirk in Form eines amtlichen Erlasses geschrieben stehen. Aber sie stören nicht. Es ist immer ein glückliches Land, in dem die Polizisten nicht stören. Es gehört viel Weisheit dazu. Aber hier geht der Verkehr in ruhigen Bahnen, rücksichtsvoll heiter, wie er auch schon früher sich abspielte. Die Polizisten stehen da, weil sie als Zeichen der Kultur eines Landes unentbehrlich sind. Sie greifen gelegentlich helfend ein, aber unmerklich, milde.

Die Leute auf der Straße sitzen an ihrer Arbeit. Sie werfen auf die vorübergehenden Fremden wohl einen Blick, aber nicht aufdringlich oder lästig, dann wenden sie sich wieder der Arbeit zu. Nur einmal erregte der eine Freund, der mit uns war, starkes Aufsehen. Er war nämlich so ungeheuer lang, daß er den Leuten im oberen Stockwerk der niedrigen Häuschen zum Fenster hineinsehen konnte. Ein Schuster, der an seiner Arbeit saß, fiel vor Schreck von seinem Stühlchen, als er plötzlich das Gesicht eines Fremden vor sich sah. Wie er aber bemerkte, daß er es mit einem durchaus gutartigen Menschen zu tun hatte, beruhigte er sich bald und lachte über seinen jähen Schreck.

Der Verkehr der Leute untereinander ist harmlos und freundschaftlich. Ein Kaufmann steht unter den bunten Waren seines Ladens. Ein Nachbar kommt vorüber. Er hat sich auf dem Markt einen Fisch und ein wenig Gemüse gekauft. Vorsichtig vermeidet er die Pfützen der Straße. Er hält sich am Pfosten des Geländers, das den offenen Raum des Hauses von der Straße trennt, und beginnt eine kleine Unterhaltung. Man redet ein wenig und arbeitet weiter oder steckt sich auch wohl eine jener dünnen, langen Pfeifen an, die in ihren kleinen Metallköpfen Raum haben für Tabak zu zwei bis drei Zügen. Kinder sitzen an einer Ecke und spielen. Niemand tritt sie tot oder überfährt sie. Selbst der kleine Hund kann den Nahrungsüberrest, den er in einem Winkel gefunden, ungefährdet in Sicherheit bringen.

In Sutschou trifft man noch die Spuren der alten Kultur der Sungdynastie. Zu jener Zeit hatte das chinesische Geistesleben die zarte Feinheit der frühen Gotik. Der Buddhismus, der in den vorangehenden Jahrhunderten das chinesische Geistesleben erweicht und befruchtet hatte, war nun assimiliert. Er hatte wie die Luft, die man einatmet, die chinesische Seele durchdrungen und hatte sie weich und gefühlvoll gemacht. Vielleicht zu weich; denn lange hat die schöne Zeit ja nicht gedauert. Von Norden her drängten sich wilde Tataren heran, und der Herrscherhof mußte von Sutschou nach dem benachbarten Hangtschou übersiedeln. Das war im Jahr 1127. –

Der Tigerhügel zeigt noch die Fundamente eines kaiserlichen Schlosses, das in jenen Zeiten hier gestanden. Auf dem Gipfel ist eine große, ebene Felsplatte, rings umgeben von einem ringförmigen Hügelwall. Eine steile Felsplatte ist in der Höhe durch eine kühn geschwungene Brücke überwölbt. In der Tiefe steht ein grünes Wasser, der Schwerterteich genannt. In jenem Teich hat ein Ritter einst ein Schwert gefunden, mit dem er den Tiger, der in dieser Gegend schrecklich hauste, siegreich bekämpfte. Darum hat der Hügel noch seinen Namen von jenem Tiger.

Heute decken die Ruinen einer halbverfallenen Pagode die altberühmte Steile. Daneben steht ein Tempel der Kuanyin und ein anderer, dem Jadeherrn und Himmelsvater geweihter, ein Ziel für Pilger und Naturfreunde aus weitem Umkreis. Vor dem Tempel des Himmelsherrn ist eine Terrasse, von der aus sich ein großer Ausblick über dies alte Land auftut. Die Ebene liegt mit ihren Feldern und Hainen wie ein Garten ausgebreitet. Silberglänzende Wasserbänder durchziehen sie in jeder Richtung. Von Hangtschou her läuft der Kaiserkanal, der diese Gegend mit dem fernen Peking, weit im Norden, verbindet. Reger Bootsverkehr belebt die hundert Adern, die hier fast ganz die Landstraßen ersetzen. Man sieht die Dächer von Sutschou eng sich durcheinanderschieben, daraus ragt die siebenstöckige Pagode, das Wahrzeichen von Sutschou, hoch empor.

Die Hügel in der Runde haben alle ihre Namen und ihre Geschichte. Der vulkanische Kegel, der schroff aus der Ebene aufsteigt, ist der Löwenkopf, der langgestreckte Hügelzug ganz hinten, auf dessen Rücken uralte Grabhügel wie Hünengräber aufsteigen, ist der Siebensöhneberg. Weiterhin am Horizont liegt der Berg des Himmelsgewölbes, unser Reiseziel. Die Hügel sind zum Teil bewachsen und haben ihre Pagoden. Alles ist phantasievoll. Die Dächer sind lebendiger als im Norden. Ihre Ecken schwingen sich in steilen Bogen nach oben, während die nordchinesischen Bauten meist keine solchen übermäßigen Aufstülpungen der Dachwinkel kennen. Wir versuchen mit den Priestern des Tempels des Himmelsherrn ein Gespräch anzuknüpfen. Aber die Unterhaltung ist ziemlich einseitig. Sie verstehen zwar alles, was wir sagen, aber sie reden ruhig in ihrem Lokaldialekt weiter, der sehr stark vom Hochchinesischen abweicht und nur mit großer Anstrengung verstanden werden kann.

Nach Sutschou zurückgekehrt, begeben wir uns an einen der Kanäle, wo unser Diener ein Hausboot gemietet hatte. Diese Hausboote sind große, flachgebaute Boote, auf denen ein Aufbau von mehreren Räumen ist, in denen ein paar Freunde oder eine Familie gar wohl für einige Zeit hausen können. Da die Kanäle fast alle ohne Strömung sind – höchstens die Flut des Meeres, in die sie münden, macht sich geltend –, so lassen sie sich leicht durch Segeln oder Treideln von Land aus fortbewegen. Gelegentlich kann man sich auch von einem kleinen Dampfer eine Strecke ziehen lassen. Kein schöneres, fauleres, träumenderes Leben kann man führen, als wenn man auf einem solchen Hausboot in guter Gesellschaft, d. h. entweder allein oder mit wenigen verständigen Menschen zusammen, die stillen Kanäle durchträumt.

Das wissen selbst die fremden Kaufleute von Schanghai, die darum in der guten Jahreszeit häufig das »Weekend« auf dem Hausboot verbringen. Aber sie kennen das Leben nur vom Hörensagen. Sie kommen auch hier nicht los von sich selber. Statt an der Bar des Klubs trinken sie ihren Whisky auf dem Hausboot. Sie haben sich ihre North China Daily News mitgebracht und studieren aus Langeweile die Kurse. Der Boy ist natürlich auch mit und bereitet das Essen mit gewohnter Pünktlichkeit. Die Frau liegt auf einem Liegestuhl und schläft, die Kinder streiten, und der Mann gähnt heimlich hinter seiner Zeitung, wenn er nicht zur Abwechslung sich über irgend etwas aufregen kann oder einen Kuh prügeln, der seinen Zorn aus irgend einem Grund erregt. Arme Menschen, das Bild des fliegenden Holländers, von allem tragischen Reiz entkleidet. »Momentan gesättigte Raubtiere«, pflegte Ku Hung Ming seine englischen und amerikanischen Freunde dieser Art zu nennen. Der chinesische Schiffer weicht diesen Erscheinungen, die sich durch aufgezogene Nationalflaggen leicht unterscheiden lassen, gerne aus.

Unsere Fahrt auf dem Kanal war überaus anziehend. Die Sonne war herausgekommen, ein frischer Wind blähte die Segel, eine muntere chinesische Reisegesellschaft war an Bord. So ging es durch das weite Land. Unter hochgeschwungenen Brücken hindurch und zwischen frühlingsgrünen Bäumen hin, die die Ufer begleiteten. Ab und zu trat ein Hügel aus dem Wasser heran, von einem stillen Tempelhain umschattet, oder ein gewerbetätiger Marktflecken, dessen Häuser unmittelbar aus dem Wasser aufsteigen. Ruderboote fahren auf dem Kanal, um zu fischen. An ihren Rändern sitzen Reihen von Kormoranen. Sie sind zum Fischen abgerichtet und tragen einen Ring um den Hals, der sie verhindert, die gefangenen Fische zu schlucken. Sie kommen daher mit ihrer Beute zurück, die ihnen von den Fischern entnommen wird. Zum Schluß bekommen sie, nachdem der Ring entfernt ist, dann noch ihren Anteil, um sie munter und fleißig zu erhalten. Auch mit Netzen wird gefischt, zum Teil mit ganz großen, die die volle Breite des Kanals einnehmen. Andere Boote kamen uns entgegen. Da sie nicht mit dem Winde fahren konnten, wurden sie vom Ufer aus, das in der Regel hohe Dämme hat, getreidelt. Zwei, drei Männer zogen an langer Leine das Schiff, während eine Frau am Steuer stand und die Richtung gab.

Als der Abend sich niedersenkte, legten wir in der Nähe des K'iung Lung Schan (Berg des Himmelsgewölbes) an. Lachend und schwatzend begegneten uns Träger und Trägerinnen, die mit ihren Bergsänften uns zum Kloster hinauftragen wollten. Es war gerade Wallfahrtszeit, und sie kamen vom Bergkloster zurück, wohin sie reiche Pilger getragen hatten. Aber die schwere Arbeit lastete nicht auf ihrer Seele. Freundlich lachend boten sie sich an. Wir lehnten ab, doch unter Scherzen und Lachen gingen sie noch eine Strecke mit, falls einer seinen Entschluß bereue. Als sie merkten, daß wir entschlossen seien, trennten sie sich fröhlich und munter von uns und kehrten in ihr Dorf zurück.

Den Berg hinauf führt ein steiler gepflasterter Fußweg. Zwischen Gestrüpp und niedrigen Bäumen stiegen wir nach oben. Hallen zum Ausruhen und Steintafeln mit Inschriften stehen am Wege. Oben kommt man durch ein halbverfallenes Torgebäude in den Tempelbezirk. Die Sonne neigte sich dem Untergang zu. Wir stiegen, um den Sonnenuntergang zu sehen, noch auf die runde Graskuppe, die sich hinter dem Tempel ein paar hundert Fuß aufwölbt. Die ganzen Hänge des steilen Hügels sind bedeckt mit Blüten, meist roten Azaleen. Auf dem Gipfel ist ein Mauerwerk, das ursprünglich wohl ein Grab war, das später eingebrochen ist. Im Schein der untergehenden Sonne dehnte sich der T'ai Hu, einer der größten chinesischen Seen, mit seinen Inseln und Buchten in unabsehbare Ferne.

Die Dunkelheit war hereingebrochen, als wir im Tempelkloster wieder anlangten. Dieses Kloster wird von etwa zwanzig Taoistenmönchen bewohnt. Es ist ein großer Komplex von Gebäuden und Höfen. Die Pilger, die in der Frühlingszeit von weit herum im Land hierher kommen, pflegen meist auch die Nacht oben auf dem Berg zu verbringen. Mit uns gleichzeitig waren über siebenhundert Menschen dort, und es war noch immer übriger Raum da. Ein Mönch erwartete uns am Tor. Er führte uns durch lange Gänge und steile Treppen, vorüber an gespenstig dunklen Götterwohnungen und weiten Hallen voll fröhlich schmausender Pilger, in einen stillen, abgelegenen Saal. Ein Feuer brannte auf dem Boden von Steinplatten. Ein Tempeldiener machte Wasser für uns heiß. Ein paar Kerzen brannten auf dem Tisch, aber ihr schwacher Schein kämpfte vergeblich gegen das Dunkel des weiten Raumes. Wir wuschen uns und gingen an die Bereitung des Abendessens. Die Nachricht von unserer Ankunft hatte sich unterdessen unter den Pilgern verbreitet. In dichtem Gedränge kamen sie heran, um uns zu beobachten. Auch die Mönche zeigten viel Interesse für die fremden Gäste. Wir suchten eine Unterhaltung zu führen. Viel kam nicht dabei heraus. Sie erzählten, daß der Tempel dem Nephritherrn, der den Himmel beherrsche, geweiht sei. Meditationen und fromme Übungen waren nicht Brauch. Der Tempel gehörte mehr zu denen, in welchen der Gottesdienst nach festem Ritus abgehalten wird, und der im übrigen als Absteigequartier für Wallfahrer dient. Zuletzt kam auch noch der Abt. Er war recht aufgeklärt und interessierte sich lebhaft für den Kognak und die Zigarren, die wir mitgebracht hatten. Aber ein richtiger Europäer hat immer noch eine Überraschung für einen armen, alten Chinesen. Einer von uns hatte eine elektrische Taschenlampe bei sich. Die holte er geheimnisvoll aus der Tasche hervor und Heß sie in dem dunklen Raum aufblitzen. Die Pilger staunten, und auch der Abt bewunderte. Nun wurde ihm ausführlich erklärt, wie man ein solches Ding handhaben müsse. Endlich durfte er auch ein paarmal knipsen. Die Batterie erschöpfte sich allmählich und die Lampe hörte auf zu imponieren. Nun verabschiedete sich der Abt, und mit der gelassensten Miene der Welt holte er aus seinem Ärmel eine vorzügliche Taschenlampe hervor. Die Pilger wichen scheu vor der blendenden Helligkeit zur Seite, und freundlich grüßend, verschwand der Abt durch die aufleuchtenden Gänge nach seiner Zelle. –

Mein Reisegenosse war wütend, wollte dem Abt nachstürzen, der ihm seine Taschenlampe gestohlen. Mühsam hielt ich ihn zurück. Da war auch noch die Taschenlampe. Der Abt hatte seine eigene bei sich gehabt, die weit heller war, und wir hatten ihm mit unserem bescheidenen Lämpchen einen Zauber vormachen wollen! Wir müssen ihm vorgekommen sein wie Neger, die sich mit ihren Zylinderhüten brüsten. Auch den Pilgern gegenüber hatte er gesiegt. Diese zogen sich allmählich zurück, und es ward stille in dem weiten Raum.

Nun konnten wir darangehen, nach einem Ruhelager zu suchen, Bettzeug hatten wir mitgebracht. Aber in der Halle stand nur eine einzige Bettstelle, auf der wir unsere Küchengeräte ausgebreitet hatten. Zur Hinterwand führte ein verstecktes Pförtchen in einen geheimnisvollen schwarzen Gang hinaus. Eine steile Treppe ging nach oben. Wir gingen hinauf und fanden Tür an Tür eine Reihe öder Gemächer, in denen zum Teil altes Gerümpel lag, zum Teil Bettstellen umherstanden. Die Finsternis verhinderte, das ganze Gewirr von Zimmern und Kammern zu unterscheiden, das wie in einem unheimlichen Traum sich durcheinanderschob. Wir suchten ein paar der besten Kammern aus, und da wir müde waren, schliefen wir bald ein. Ich hatte nicht lange geschlafen, da führte mich der Traum zurück in die dunkle Halle. Zwei Priester in weitem Gewand saßen an unserem Tisch und tranken. Der eine schnitt aus einem Stück Papier eine runde Scheibe und hängte sie an die Wand. Der andere fragte: »Wo sind die Fremden mit dem Taschenlicht?« Mein Freund stand stolz auf und sprach in militärischem Ton »Hier«. »Dann leuchte einmal.« Er ließ seine Laterne aufleuchten, die aber bald erlosch. Nun begann die weiße Scheibe zu strahlen, und man entdeckte, daß sie der Mond war, der im Zimmer hing. Ganz deutlich konnte man das Marmorschloß sehen und den Kassiabaum daneben. Ein Lachen ertönte, und die Mondfee kam herbeigeschwebt. Sie mußte nun tanzen, und alle Pilger lachten und freuten sich ihrer Schönheit. Da schwebte der Mond wieder an den Himmel empor. Der Freund, der einen Kakianzug und Tropenhelm trug, wurde immer länger, bis er über den ganzen Berg hinausragte und an den Mond anstieß. Der Priester aber und sein Genosse kletterten an ihm wie an einer Leiter empor, gingen auf das Schloß im Monde zu und verschwanden mit der Mondfee in seinen Gemächern. Der Freund aber begann laut zu brüllen, so daß die Pilger angstvoll zerstoben und ich erwachte. Er schnarchte allerdings recht deutlich nebenan.

Am anderen Morgen drang die Kühle vor Sonnenaufgang ganz empfindlich durch die dünnen Bretterwände, und im Schimmer der aufgehenden Sonne machten wir uns einen Begriff von der Lage der Räume, in denen wir geschlafen. Über die Dächer der Tempelgebäude hinweg sah man hinaus ins sonnenfrische Land. Nach dem Frühstück sahen wir uns in den Tempelhallen um. Die Priester, die meistens Opiumraucher waren, schliefen noch. Wir hinterließen eine angemessene Bezahlung für unsere Beherbergung und gingen weiter.

Unten am Berg stand ein altes Männchen vor einem Tisch, auf dem er ein holzgeschnitztes Götterbildchen und einige Opfergefäße aufgebaut hatte. Er konnte den Leuten die Zukunft sagen. Das Götterbild hatte keine Beine mehr und war auch ziemlich wurmzerfressen. Aber die Schnitzerei war nicht schlecht. Ich wollte es kaufen und fragte den Mann, was die kleine Holzplastik koste. »Mindestens zwei Dollar«, war die Antwort. Er hatte wohl absichtlich eine märchenhaft hohe Summe genannt. Als er aber darauf die zwei Dollar vor sich auf dem Tisch liegen sah, erschrak er und kämpfte einen harten, aber kurzen Kampf. Nein, er wollte den Gott doch nicht verkaufen. Dann atmete er, von seinem Entschluß erleichtert, auf. Der arme Alte kannte dennoch Dinge, die ihm wichtiger waren als das Geld.

Die Rückfahrt nach Sutschou ging rasch. Wir kamen an einigen Polizeidschunken vorüber, großen, hübsch gebauten Hausbooten, die meisten vorn mit einer kleinen Kanone, die jedoch mehr zum Schrecken als zum Treffen eingerichtet schien. Es herrschte übrigens vollkommene Ruhe und Ordnung auf dem Kanal. Unter der neuen Brücke in Sutschou stiegen wir aus.

Ein Gang durch das bienenemsige Getriebe der Straßen bot Bilder, wie sie in chinesischen Städten nicht ungewöhnlich sind. Aber doch hatten wir einige Begegnisse, die den feinen alten Geist der Sungzeit zeigten. Die Geschäfte sind nach der Straße zu bei Tag nur durch ein Geländer getrennt. Am Eingang stehen zwei hölzerne Pfosten, die in der Regel durch ein holzgeschnitztes, vergoldetes Löwenornament abgeschlossen sind. Nur an einem einzigen ziemlich kleinen Laden waren auf den Pfosten statt der Löwen ein Paar menschliche Figuren, behaglich kauernd und die Eintretenden freundlich angrinsend. Ein reizendes Stück Kleinkunst, nicht höher als eine Handlänge. Der Ladenbesitzer wußte diese Erbstücke zu schätzen. Liebevoll streichelte er sie, als er darauf angeredet wurde, und erzählte, daß sie schon seit mehreren Generationen hier am Eingang stehen.

In Sutschou ist auch die Musik zu Hause. Die Sängerinnen von Sutschou sind in ganz China berühmt. Die Geigen haben hier einen sanften, violaähnlichen Ton, nicht den schrillen, näselnden, den man sonst so häufig hören kann. An der Pagode in Sutschou hatte ich auch das Erlebnis mit dem Blinden, das schon oben erwähnt ist.

Der Abend dämmerte, und in den engen Straßen bei der hohen Pagode schob sich geschäftig die Menge. Sänften wurden in raschem Schritt vorbeigetragen. Elegante junge Damen mit ihren Dienerinnen trippelten zögernd des Wegs und erfüllten wie Blumen die Luft mit süßen Gerüchen. Geschäftsleute, mit verschlossenen Gesichtern rechnend, Arbeiter, ihren Tagesverdienst besprechend, jeder ging seines Wegs. Die fliegenden Garküchen entsandten Rauch und Ölgeruch und waren umdrängt von Eßbegierigen. Die Holzladen wurden vor den Türen und Fenstern der Geschäfte befestigt. Auf der Bank in einem Torweg saßen ein paar Freunde und plauderten, während sie aus ihren dünnen Pfeifen rauchten. Droben in dem Sonnenstaub der Höhe kreisten Vögel um die Grasbüschel, die auf den Dachrändern der Pagode wuchsen. Die Glöckchen an den Ecken der Pagode wurden leise vom Wind bewegt. Es war der Augenblick, wo der Tag noch einmal sich regt, um in die Dämmerung zu versinken. Und Frühling klang durch den Rest des Tages. Ein Ton: Mitten im Straßengewühl ein feiner, süßer Ton. Einige horchten einen Augenblick auf, andere rannten weiter. Aber der Frühlingston kam näher. Ganz deutlich drang er durch den Straßenlärm wie ein schimmernder goldener Faden. Eine Melodie ertönte von einer süßen Wehmut, die im Frühling schon den Herbst ahnen ließ und fast schmerzhaft schön war. Ein Blinder spielte auf einer kleinen chinesischen Geige seine weichen Töne. Und wo er vorbeikam, hörten die Menschen auf von Geld zu reden, die Kinder hielten inne in ihren Spielen, und der müde Wanderer stand einen Augenblick still. So quoll das Lied vom Frühling wie Zauberton aus der Geige des Blinden. Sein Blick war nach innen gekehrt, er nahm keine Gaben, er spielte und ging weiter. Langsam ging das Lied in der Ferne der Straße unter. Da war es Nacht geworden, und die Welt war auf einmal wieder wirklich mit drängenden Menschen und düsteren Häusern, und nur hoch droben klangen noch die Glöckchen der Pagode.

In der Stadt ist auch ein Garten, einer jener alten chinesischen Zaubergärten, wo man wie in einem Labyrinth zwischen Teichen, Felsen, Pavillons und Hainen wandelt, und jeder Schritt ein neues Bild dem Auge öffnet. Früher war Einsamkeit um den Garten. Er lag außerhalb der Stadttore. Jetzt ist in seiner Nachbarschaft der Bahnhof und häßliche Herbergen für durchreisende Gäste. Wir fuhren mit der Bahn wieder nach Schanghai zurück. Nachdem wir von den Schönheiten Chinas einen Eindruck bekommen hatten, grinste uns hier wieder alle Häßlichkeit Europas an. Man spricht manchmal von der Fremdenfeindlichkeit der Chinesen. Die Chinesen sind gar nicht »fremdenfeindlich«. Sie wehren sich nur, in den Schlamm hineingezerrt zu werden, der vom Westen aus die Welt zu ersticken droht. Aber wie gut könnte man es verstehen, wenn die Chinesen fremdenfeindlich wären. Wenn man nach dem Erlebnis des alten China zurückkehrt in den häßlichen Lärm der Großstadt, wo die Sikhpolizisten in englischen Diensten streng und erhaben dastehen wie schauerliche Maschinenmenschen und den Chinesen täglich ihre Knechtschaft vor Augen führen, wenn sie mit ihren Stöcken einen armen Rikschakuli schlagen oder einem schwerkeuchenden Träger einen Tritt geben, damit das Auto des reichen Fremden ohne Aufenthalt weiterrasen kann, so ergreift einen oft ein starker Grimm. Nicht gegen die armen schwarzen Sikhs, die ja auch Sklaven sind, sondern gegen die Menschenmaschine, das Ungeheuer, das sich der Menschen bedient, um die Menschheit zu vernichten. –

Aber China wird nicht sterben. Es besitzt die Kraft, sich zu retten vor der »weißen Gefahr«. Es finden sich auch Menschen, die die Fähigkeit besitzen, die europäische Kultur in ihrem Wesen zu verstehen und sie zu trennen von jenen Äußerungen des Häßlichen an ihr. In Schanghai fand ich eine Einladung in ein chinesisches Gasthaus vor. Es war ein unscheinbares Gebäude in einer abgelegenen Nebenstraße. Kein Lärm, kein Gewühl drang hierher. An den Wänden hingen Sprüche auf roten Wandrollen: Gedichte von Stammgästen, die hier in vertrautem Freundeskreis angenehme Stunden verlebt hatten. Es waren gute Namen unter den Künstlern, die diese Andenken hinterließen. Ein kleiner Kreis traf sich bei einem ausgesuchten Mahl: Künstler und Gelehrte. Ein alter Herr sprach von der Unverständlichkeit der modernen europäischen Kunst. Der Maler Tsch'en Schï Tsong, das Haupt der modernen Maler Chinas Er ist inzwischen gestorben. Seine Bilder und Zeichnungen sind in China schon zu sehr begehrten Sammlungsgegenständen geworden., gab nun mit ein paar Sätzen einen Überblick über die modernen künstlerischen Richtungen und ihre Tendenzen und traf in seiner ruhigen und selbstverständlichen Art allen diesen Richtungen gegenüber wirklich das Zentrale. Er hat selbst in der chinesischen Kunst etwas von diesem neuen Geist zum Ausdruck gebracht; nicht in äußerer Nachahmung der Formensprache oder in vergeblichen Versuchen einer halbverstandenen Öltechnik, sondern vollkommen frei, vom Boden der chinesischen Tuschetechnik aus, nimmt er die Anregungen der französischen Künstler auf und schafft daraus eine neue nationalchinesische Kunst, die, weil sie Kunst ist, doch zugleich allgemein verständlich sich ausspricht. Diese Unterhaltung in dem stillen Winkel von Schanghai zeigt, daß auch im modernen Weltgetriebe Inseln sind, wo leise und stark der Geschmack der Sungzeit noch heute zu Wort kommt.


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