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Mit Detlev von Liliencron durch Prag.

Am 11. Mai 1898 las Detlev von Liliencron zum erstenmal in Prag aus seinen Werken vor. Eine Vereinigung jugendlicher Literaten hatte den Dichter nach Prag geladen und seitdem hing Liliencron mit schwärmerischer Zuneigung an dieser alten und sehr schönen Stadt. Sie war ihm schon aus seiner Soldatenzeit her bekannt und so verlangte er von mir gleich bei unserm ersten Rundgang den großen Saal auf der Sophieninsel zu sehen, wo er als junger Offizier im Kriegsjahr 66 auf einem Billard übernachtet hatte. Von der Eigenart der Stadt war ihm keine Erinnerung geblieben; sie überraschte ihn durch ihre barocke Pracht und das slavisch-deutsche Milieu. Immer wieder rief er aus: »Prag ist schöner wie meine Lieblingsstadt Palermo!« (Aber gleichzeitig gestand er mir, niemals in Palermo gewesen zu sein.) In den Straßen erregte der kleine, laut redende Mann im hellen Überrock und schwarzem zerknitterten Filzhut Aufsehen; dazu trug viel seine Umgebung bei, denn die ersten zwei Tage wich »Jung-Prag« nicht von seinen Fersen. Es waren etwa zehn ganz junge Leute, die nicht den studentischen Kreisen angehörten und daher von der Presse und der Prager deutschen Gesellschaft nicht ernst genommen wurden. Sie schwärmten, schrieben Verse und standen mit dem Bürgertum auf Kriegsfuß. Mehrere davon sind jung an Jahren gestorben, andere verschollen oder haben die Kunst an den Nagel gehängt und bürgerliche Berufe ergriffen. Der Poesie treu geblieben bin nur ich und Margarete Beutler, die damals als Erzieherin in Karlsbad lebte. Auch Hugo Steiner, jetzt Professor an der Akademie für graphische Kunst in Leipzig und Bildhauer Karl Wilfert d. J. gehörten »Jung-Prag« an, das sein Hauptquartier im Café »Renaissance« hatte. Dort wurde der Beschluß gefaßt, Liliencron zu einer Vorlesung einzuladen; Walter Schulhof hatte diesen glücklichen Einfall, der Lillencrons Beziehungen zu Prag begründete. Walter Schulhof starb als Assistent am buchgewerblichen Museum in Leipzig, kaum einundzwanzig Jahre alt.

Wir hatten natürlich kein Geld und mußten daher, um die Mittel zur Durchführung unseres Planes aufzubringen, sammeln gehen. Dabei stellte es sich heraus, daß selbst Universitätsprofessoren den Namen Detlev Liliencrons nicht kannten. Um so mächtiger war der Eindruck seiner Vorlesung.

Spät in der Nacht fuhren wir nach Karolinental, einer Vorstadt Prags. Meine Eltern waren in jenem Jahre früher als sonst in die Villa »Wien« nach Bubentsch übersiedelt, um Liliencron unser Winterquartier zur Verfügung zu stellen. Ich brachte mehrere Tage in fieberhafter Erwartung zu; die Ankunft des Dichters hatte sich nämlich verzögert. Etliche Wochen vorher schlief Liliencron eine ganze Nacht hindurch mit dem rechten Schulterblatt auf einem scharfen Knopf. Trotz heftiger Schmerzen achtete er die kleine Wunde gering und so entstand eine Blutentzündung. Eine gefahrlose Operation zwang ihn, seine Reise nach Prag zu verschieben. Nun hatte er dennoch mit so großem Erfolge gelesen, war brausend gefeiert worden und wir fuhren mit dem »historischen Einspänner« heim. Es war immer die nämliche Droschke, die Liliencron bei all seinen Aufenthalten in der Moldaustadt benützte. Der ehrwürdige Schimmel brachte den Dichter auch stets zur Bahn. Darum nannte Liliencron bei seinem zweiten und dritten Besuch dieses schäbige Gefährt – er wollte um keinen Preis ein anderes benützen – scherzhaft »meinen historischen Einspänner«.

Nach dem Frühstück wollten wir verabredungsgemäß mit den Anderen zusammentreffen, aber auf der Straße begegnete uns ein Zug Infanterie und Liliencron drehte sich einfach um und marschierte mit den Soldaten. So kamen wir auf den Invalidenplatz und der Dichter sah dort mit großer Teilnahme den Übungen der Truppen zu. Dabei verlor er sich in Erinnerungen an seine Kriegsjahre. Die schmutzigen Exerzierblusen der Soldaten kritisierte er derb und schwärmte von den »herrlichen« weißen Waffenröcken von anno dazumal. Aus seinem Gedicht »Krieg und Friede« zitierte er die Zeilen:

Der Sommermorgen glänzte schön
Wie heute; glitzernd von den Höhn,
»Den ganzen Tag mit Sack und Pack«,
Brach nieder aus Verhau, Verhack,
Zum kühnsten Sturm, ein weißes Meer,
Des Feindes wundervolles Heer.

Liliencron hatte dieses Poem auch am Abend vorher gelesen, »um den Bundesgenossen des Deutschen Reiches seine Verehrung zu bezeugen«. Er erzählte dann von dem österreichischen Jägerleutnant, der ihn auf einem Hügel bei Skalitz (im Treffen von Nachod) in den Unterleib geschossen und wie er um ein Geringes zu den schwarzgelben Fahnen geschworen hätte, ehe er Preußischer Offizier wurde. »Mein österreichisches Unterleutnantspatent soll schon ausgestellt gewesen sein, denn ich wollte von Kindheit an Soldat werden und als Schleswig-Holsteiner war dies in Dänemark einfach unmöglich.«

Nur schwer vermochte ich Liliencron vom Exerzierplatz fortzubringen, er war in ausgelassenster Stimmung und auf dem Wege nach der Stadt suchte er sich die hübschesten Mädchen aus, um mit ihnen anzubandeln. Er lief hinter den Mädchen her und rief: »tschippi tschappi«; das sollte tschechisch sein. Die also Ausgezeichneten flüchteten natürlich vor der seltsamen Anknüpfung. Er aber war hoch zufrieden und triumphierte: »Wie schnell habe ich böhmisch erlernt«. Böhmisch und tschechisch wußte Liliencron von einander erst zu unterscheiden, nachdem wir über diese beiden gegensätzlichen Begriffe ein langes politisches Gespräch geführt hatten.

So kamen wir über den Graben auf den vom Landesmuseum gekrönten Wenzelsplatz, den Liliencron »die stolzeste Straße der Welt« nannte. Später standen wir auf dem Altstädterring vor der merkwürdigen Rathausuhr, die anno 1490 von Meister Hanusch verfertigt worden ist. Sie zeigt nach alter Art die Stunden von eins bis vierundzwanzig, den Sonnenaufgang und den Aufgang des Mondes, die Monate und den Tierkreis. Um die Mittagsstunde kräht ein Hahn, dann öffnen sich im Turm zwei Fensterchen und unter feierlichem Glockengeläute wandeln dort die zwölf Apostel vorbei, ihnen folgt grinsend der knochige Tod. Dieses Spielwerk war so recht nach dem Herzen Liliencrons. Ich erzählte ihm die Geschichte der Uhr und ihres Meisters, der der Sage nach von König Wenzel geblendet worden war, um kein ähnliches Werk mehr schaffen zu können. Der blinde Hanusch sann auf Rache, er bat noch einmal, in den Turm geführt zu werden, weil der Mechanismus der Uhr einer kleinen Sicherung bedürfe und zerstörte mit einem einzigen Handgriff die Arbeit seines Lebens. So standen die Räder Jahrhunderte lang still und verstaubten, bis in der Gegenwart ein Uhrmacher das alte Werk wieder in Bewegung setzte. Einst zog sich um den Turm eine schmale steinerne Galerie und von jener Balustrade führte am 21. Juni 1621 eine Brücke nach dem Blutgerüst, das auf dem Ringplatz aufgeschlagen war. Diesen schauerlichen Weg schritten die zum Tode verurteilten Anführer des böhmischen Aufstandes. Gespannt hörte Liliencron meinen Bericht mit an und sagte: »Das muß in den Poggfred«.

Um die Zeit, da auf dem Altstädter Markt die Blutbühne errichtet wurde, nach der verhängnisvollen Schlacht am Weißen Berge, verschwand auch vom Giebeldach der Teinkirche das Wahrzeichen der Hussiten, der große vergoldete Kelch. Dieses trotzige Symbol hatte König Georg von Podiebrad, der Deutschenhasser, an der Hauptpfarrkirche Prags anbringen lassen, nachdem er dort gekrönt worden war. Zu Mariae Himmelfahrt am Tein wird das Grabmal Tycho de Brahes gezeigt. Lange stand Liliencron vor dem roten Marmorbildnis des berühmten Astronomen und mühte sich, die Inschrift des Grabsteines zu entziffern: Anno Domini MDCI die XXIV. octobris obiit illistris er generosus Dnus. Tycho Brahe. Dnus. in Kundstrup, Praeses Uraniburgi et S. Sacrae Caesareae Majestatis Consiliarius, cujus ossa hic requiescunt. Wir sprachen auch vom Bischof Lucianus, der aus Italien nach Prag gekommen war, um zu den Hussiten überzutreten. In der Teinkirche beerdigt, holte man nach der Schlacht am Weißen Berge seine Gebeine aus der Gruft und verbrannte sie öffentlich auf einem Scheiterhaufen.

Bescheiden speisten wir im »Ungeld«, einem Gasthaus, das von altersher beim Volke diesen Namen führt, weil im Mittelalter das königliche Zollamt dort war. Es liegt im Teinhof, wo in uralter Zeit eine Burg der böhmischen Herzoge stand. Später unter den Przemysliden diente der Hof Angehörigen der Hansa zum Aufenthalt. Hier wohnten die deutschen Kaufleute, gelenkt von einem freigewählten Vogt, boten ihre Waren feil und das lebendige Treiben des Marktes schloß stets mit einer lauten Festlichkeit. Darum hieß der Platz auch laeta curia – der Freudenhof. Nach dem Essen rauchte Liliencron, trotzdem ich ihm davon abriet, eine Virginia. Er war bewegt von Erinnerungen an seine Jugend und erzählte, daß er dieses österreichische Kraut in der Bundesfestung Mainz schätzen gelernt hatte. Dabei kam er auf Franz Oppenheimers Studie zu sprechen, die kurz vorher erschienen war. Entrüstet erhob er dagegen Einsprache, daß er Drei-Pfennig-Zigarren rauche, um sich eine »Henry Clay« zu suggerieren.

Im Café »Corso« trafen wir die »Jung-Prager«, auch Hugo Salus fand sich ein. Wir alle statteten sodann der »Lese- und Redehalle« einen Besuch ab, wo sich Liliencron in das Gedenkbuch eintrug. Nachher staunte der Dichter über die schwarz-rot-goldenen Bänder der Studenten. »Das sind ja die Farben der Lützow'schen Jäger«, rief Liliencron aus. »Die großdeutsche Trikolore ist doch schwarz-weiß-rot, ich begreife so eine alte Symbolik nicht.« Erst als wir ihm die Entstehung der »Halle«, die im Sturmjahr 48 begründet wurde, schilderten, gab er sich zufrieden.

Einen mächtigen Eindruck machte auf Liliencron das Winkelwerk der Judenstadt. Damals schon begann die Spitzhacke der verunglückten »Assanierung« die geheimnisvolle Wirrnis der Gassen und Gäßchen zu lichten. Zwar war von den modernen Zinspalästen, die heute in breiter Zeile das einstige Ghetto durchqueren, noch nicht viel zu bemerken, aber von den dreihundert uralten Häusern waren bereits viele niedergelegt. Wir stiegen die Stufen zur Altneuschule herab, jener berühmten Synagoge, die als eine der ältesten Europas gilt. Im düstern Gebetraum zeigte man Liliencron die Thorarollen und die rotseidene Fahne, die von der Judenschaft bei der schwedischen Belagerung geführt worden war. Aus der nämlichen Zeit stammt auch der Turm auf dem israelitischen Rathause. Zur Belohnung und Auszeichnung für die anno 1648 mit Todesmut geleisteten Dienste der Juden bei der Verteidigung der Altstadt gegen die Schweden, erlaubte man dem jüdischen Magistrat, das Rathaus mit diesem Turm zu versehn. Lebhaft angeregt betrachtete Liliencron das Schlagwerk mit den doppelten Zifferblättern, dessen hebräische Ziffern und rückwärtsgehende Zeiger den Dichter höchlichst verwunderten. Als wir hierauf den alten jüdischen Friedhof durchstreiften, der erfüllt war von betäubendem Fliederduft, und vor dem Grabmal des hohen Rabbi Löw standen, sagte Liliencron: »Sie müssen mir mehr von diesem Volk berichten, das nicht leben und nicht sterben kann«. Ich erzählte ihm nun allerhand altböhmische Ghettosagen, wie sie in der Sammlung »Sipurim« niedergelegt sind, und Hugo Salus verschaffte ihm auch später dieses merkwürdige Buch. Am besten gefiel Liliencron die Historie vom »Golem«, den Rabbi Löw, in Zauberkünsten bewandert, aus Lehm geformt haben soll, just so wie der Schöpfer seinen Adam. So entstand die prächtige Ballade in der »Bunten Beute«, als bleibende Erinnerung an die Liebe des Dichters zu meiner Vaterstadt.

Prag, das alte sagenreiche,
Barg schon viele Menschenweisheit,
Barg schon viele Menschentorheit,
Auch den hohen Rabbi Löw.

Rabbi Löw war sehr zu Hause
In den Künsten, Wissenschaften,
Und besonders in der schwarzen,
In der schweren Kabbala.

So erschuf er einen Golem,
Einen holzgeschnitzten Menschen,
Tat belebend in den Mund ihm
Einen Zauberspruch: den Schem.

Unverdrossen, als sein Diener,
Muß der Golem fegen, kochen.
Kinder wiegen, Fenster putzen,
Stiefel wichsen und so fort.

Nur am Sabbath darf er rasten;
Nahm ihm dann der hohe Rabbi
Aus dem Mund den Zauberzettel,
Stand er stockstill augenblicks.

Einmal hat er es vergessen.
Einmal, was ist da geschehen:
Rasend wurde, dwatsch der Golem,
Ein Berserker ward der Kerl.

Bäume reißt er aus der Erde,
Häuser wuppt er in die Wolken,
Schleudert Menschen in die Lüfte,
Stülpt den Hradschin auf den Kopf.

Schon im Anzug war der Sabbath,
Alle Arbeit muß nun ruhen;
Alles flüchtet, schreit und zetert
Nach dem hohen Rabbi Löw.

Der erscheint; packt eben, eben
Noch den Tollhans am Schlafittchen,
Ist mit ihm bald oben, unten,
Bald auf Bergen, bald im Tal.

Wie ein Bändiger, der dem Pferde,
Das sich bäumt und wirft und schüttelt,
Einen Kappzaum legen möchte
Und nun mit ihm tanzen muß.

Hopsa, hopsa, was für Sprünge!
Aber endlich glückt's, er würgt ihn,
Zerrt den Schein ihm aus den Zähnen –
Und zerschmettert liegt der Kerl.

Nicht noch einmal hat der Rabbi
Einen Golem sich geschnitzelt,
Jede Lust war ihm vergangen:
Allzu klug ist leicht zu dumm.

Über die herrliche Karlsbrücke, deren vierzehn Granitpfeiler nun schon seit einem halben Jahrtausend umrauscht werden von den Fluten der Moldau, eilten wir der Kleinseite zu, um vom Laurenziberg Prag im Goldesglanz der scheidenden Sonne zu bewundern. Irgendwer aus der Gesellschaft hatte diesen glücklichen Einfall; denn der Blick von jener Höhe auf das alte Prag um die Stunde des sinkenden Tages ist unvergeßlich schön. So hasteten wir über die statuengeschmückte Brücke und vertrösteten Liliencron, der die Standbilder der Heiligen gründlich betrachten wollte, auf den nächsten Morgen. Nur vor den Bildnissen der drei Sklavenbefreier Johann v. Matha, Ivan und Felix de Valois verweilten wir ein Weilchen, um dem Dichter den vielbesungenen »Türken aus der Prager Bruck« vorzustellen. Diese volkstümliche Figur mit Turban und krummem Säbel bewacht jammernde Christensklaven und ein mächtiger Hund hilft ihm bei dieser grausamen Pflicht. Liliencron lachte herzlich über das barocke Kunstwerk und steckte dem Cerberus eine Pommeranze in den offenen Rachen. Dann setzten wir munter unseren Weg fort. Aus der palastreichen Kleinseite strebten wir der wälschen Gasse zu, wo die jüngere Linie der Fürsten Lobkowitz ihr Stammhaus hat. Der weite mit reicher Alpenflora gezierte Park des Palastes liegt auf dem Abhang des Laurenziberges. Zerbröckelte Mauern lugen dort aus dem Grün und sie sind eine Erinnerung an die Behausungen der persischen Teppichweber, die Kaiser Karl IV. 1370 aus dem Orient an seinen Prager Hof berief und auf dem Petrzin (Laurenziberg) ansiedelte. Plaudernd überwanden wir die beschwerliche Stiege und klommen den bildergeschmückten Passionsweg empor. Hier flammten schon in dunkler Vorzeit die heiligen Feuer der Slaven. Hier soll Libuscha die einstige Größe Prags weissagt haben. Auf dem Scheitel des Berges steht eine Wallfahrtskirche, die Herzog Boleslav an Stelle der heidnischen Opferstätte errichten ließ. Die vierzehn Kapellen des Kreuzweges tragen edellinige Fresken von der Hand Meister Führichs. Wir besichtigten auch die Hasenburg und die interessante Hungermauer, die in weitem Bogen den Bergesrücken überspannt. Dieses mächtige Schanzwerk stammt aus den Tagen der Luxemburger; es wurde errichtet, um in der Zeit arger Not dem Volke Arbeit zu geben. Liliencron guckte durch die Schießscharten der Karlsmauer nach den neueren Fortifikationen, die damals noch kein Zivilist betreten durfte. Die Pulvermagazine des Prager Armeekorps lagen dort und ihre Bewachung war eine äußerst strenge. Die einzelnen Posten wurden in den kleinen Forts die Nacht über eingeschlossen und den Schlüssel nahm der Wachkommandant in Verwahrung. Da schritt der Soldat einsam den Wall auf und ab, vor sich den gähnenden Abgrund und mußte alle fünf Minuten die gleichfalls eingeschlossenen Kameraden anrufen. Es war eine unheimliche Wache; stracená warta, »der verlorene Posten«, hieß dieses Kommando, das erst vor ganz kurzer Zeit aufgehoben wurde und in den Rekrutenliedern berichtet manche Strophe von dem schauerlichen Wachdienst dort oben. Das war etwas für den alten Soldaten Liliencron, am liebsten wäre er über die Hungermauer geklettert, um in eigener Person jenen romantischen Wachposten zu beziehen.

Nachher saßen wir unter blühenden Akazien beim Abendbrot und genossen den gottvollen Blick auf die Stadt. Silbern gleiste die Moldau, wie ein versteinertes Märchen grüßte im letzten Licht der Sonne die Königsburg, der majestätische Hradschin, zu uns empor. Von weit drüben, über die hundert Türme Prags hinweg, leuchtete rotviolett der Felsen von Vyschehrad mit der Zitadelle und den Ruinen des alten Herrschersitzes der Przemisliden. Die munteren Gespräche waren verstummt, wir saßen in tiefer Ergriffenheit. »Nie werde ich diesen Anblick je vergessen«, sagte Liliencron leise.

Den bewegten Tag beschlossen wir in einer tschechisch-jüdischen Singspielhalle. Liliencron hatte den Wunsch geäußert, einen Ort bodenständiger Volksbelustigung kennen zu lernen und so zog die ganze Gesellschaft mit ihm in »Kohnuvs Schantan«, wo sich der Dichter höchlich amüsierte, wiewohl er nicht ein Wort des Gebotenen verstand. Es kam auch ein Mann auf das Podium, ein Stegreifpoet, der die anwesenden Gäste mit witzigen Stachelreimen bedachte. Ich übersetzte Liliencron die auf ihn gemünzten Verse:

Ein kleiner dicker Herr sitzt hier
Und näselt wie ein Offizier,
War sicher einmal Militär,
Doch lange, lange ist es her.

Liliencron schickte dem »Kollegen« eine Schachtel Zigaretten auf die Bühne und dann verließen wir lachend das lärmende Lokal.

Auf dem Heimweg war der Dichter ziemlich wortkarg. Als ich ihm eine gute Nacht wünschte, sagte er: »Morgen will ich mit Ihnen allein durch die Stadt streifen«. Und so geschah es auch.

Frühzeitig schon traten wir die Wanderung an, unser Ziel galt dem stolzen Hradschin und der still verträumten Kleinseite. An diesem Tage gab sich Liliencron ganz anders wie bisher. Mir war er vordem im Verkehr oft wie ein Hauptmann außer Dienst erschienen, der auch künstlerische Interessen hat. Nun fühlte ich, daß ich einem großen Dichter die Pracht meiner Vaterstadt erschließen dürfe. Dinge, an denen das Auge eines gewöhnlichen Menschen achtlos vorbeigleitet, fesselten Liliencron, nichts entging ihm, was seltsam war oder schön. Eine steinerne Balustrade, ein eigenwillig geformtes Eisengitter, ein trotziger Dachgiebel forderten ebenso seine Beachtung heraus, wie das merkwürdige Gesicht irgend eines Passanten, und regten ihn zu Bemerkungen von verblüffend gegenständlicher Bildkraft an. Lange folgten wir einem Blinden, der sich mit Hilfe eines überlangen Stabes durch die Straßen tastete und schmetternd in ein Hifthorn stieß, um die Leute zum Ausweichen aufzufordern. Liliencron buchstabierte alle Firmenschilder und ich mutzte ihm die tschechischen Aufschriften übersetzen. »Eine jede fremde Sprache lockt mich wie ein Rätsel«, gestand der Dichter, »diese Aufschriften muß ich entziffern und wenn ich hier länger leben würde, müßte ich das Böhmische erlernen, sonst würde ich mich ganz gewiß unglücklich fühlen. Nichts ist mir schrecklicher als Unklarheit im äußern Leben.«

Nachdem wir die Höfe der ehrwürdigen Universität durchschritten hatten, standen wir ein Weilchen vor dem Denkmal des tapferen Plachy, der an der Spitze der Studentenschaft die Karlsbrücke gegen die Schweden verteidigte. Dann traten wir auf den Kreuzherrnplatz hinaus und der Dichter konnte sich nicht sattsehen an der Pracht dieses berühmten Prager Platzes, der umgeben ist von imposanten und denkwürdigen Gebäuden und oft der Schauplatz von rühmenswerten oder verwerflichen Kämpfen war. Hoch ragt die kuppelgekrönte Kirche und das Stift der Kreuzherren vom roten Stern. Ihm gegenüber der stolze Riesenbau des Clementinums mit dem figurenreichen Frontispiz der Jesuitenkirche. Trotzig steht der Altstädter Brückenturm und durch sein breites gotisches Tor grüßt die Silhouette der Königsburg über die Moldau herüber. Im Schatten des Turms erhebt sich das Erzbildnis Kaiser Karls. Angesichts seiner drei bedeutendsten Schöpfungen: der Universität, der steinernen Brücke und der Metropolitankirche, blickt der größte Förderer Prags im Krönungsornat, umgeben von den Gestalten der Freunde und Berater, geruhsam auf den Kreuzherrnplatz herab und hält in der Rechten den Stiftungsbrief der ältesten deutschen Hochschule. Ich wollte Liliencron auf einige der entzückenden Einzelheiten aufmerksam machen, die der Platz dem Beschauer bietet. Aber er sagte: »Lassen Sie mich selbst den Entdecker spielen, ich tue das so gern«. Und dann wies er belustigt auf die wunderlich verkürzten Statuen der Bischöfe, die wie großköpfige Gnomen von der Balustrade des Jesuitenkollegiums herunterschielen. Auch die weinlaubumrankte, rebengeschmückte Säule mit der Statuette des heiligen Wenzel fiel dem Dichter auf. Mehr noch allerdings freute sich Liliencron über das fromme Paar, den Mönch und die Nonne, die verliebt im Pfeiler des Brückenturmes miteinander kosen, unbekümmert um die endlose Schar der Passanten, die an ihnen vorüberströmen. Dieser Bildhauerscherz – er ist selbst erbgesessenen Pragern unbekannt – machte dem Gast viel Vergnügen und er war stolz auf seine Entdeckung.

Bevor wir die geräumige Brückenbahn betraten, verharrte der Dichter, überwältigt von dem unvergleichlichen Anblick des Hradschins, wortlos im Torbogen, und dann schritten wir durch die Statuenreihe der Heiligen der Kleinseite zu. Ich war außer Stande, Liliencron jeden einzelnen Namen aus dieser kleinen Armee frommer Männer und Frauen zu nennen und so mußte er sich mit dem begnügen, was ich wußte. Sehr interessierte ihn das kupferne Kreuz mit den Bildsäulen der Mutter Gottes und des Evangelisten Johannes. Die hebräischen Goldbuchstaben über dem Gekreuzigten sind aus der Geldbuße eines Juden um 1696 angefertigt worden, der sich geweigert haben soll, vor diesem Kruzifix den Hut zu ziehen. Die Inschrift lautet: Heiliger Gott! heiliger starker Gott! heiliger unsterblicher Gott! Ein anderer Bericht will wissen, daß jene hebräischen Lettern an den Mord des kleinen Judenknaben anknüpfen, der von seinem eigenen Vater getötet wurde, weil ihn die Jesuiten dem Glauben der Väter abspenstig machten. Papst Clemens sprach das Kind heilig und es wurde mit großem Gepränge zu Mariae Himmelfahrt am Tein bestattet. An früheren Zeiten besaß die Karlsbrücke keine andere Zierde als nur dieses Kreuz, ihm gegenüber war noch eine Bildsäule der Gerechtigkeit aufgestellt. Vor ihr pflegte man die zu Tode Verurteilten mit dem Schwerte hinzurichten und warf die Leichen einfach in die Fluten der Moldau. Dort verblutete auch der jüdische Kindesmörder, der es nicht hatte ertragen können, sein Liebstes zu verlieren.

Ich zeigte Liliencron auch die Stelle, wo Johann von Nepomuk der Sage nach auf Befehl des Königs Wenzeslaus in die Moldau gestürzt worden war, da er nicht offenbaren wollte, was die Königin ihm gebeichtet. Und nach dem Vorbau der vorletzten Pfeilerkante, die schon das Ufer der Insel Kampa berührt, wies ich den Gast – denn dort steht die rätselhafte Prunzliksäule – jene Statue eines geharnischten Ritters, zu deren Füßen der böhmische Löwe liegt. Das Volk erzählt, daß hier ein sagenhafter König sein Schwert in die Moldau versenkte und zur Zeit großer Bedrängnis werde diese, alle Feinde niedermetzelnde Waffe wieder erscheinen. Die Bildsäule ist sicher viel älter wie die greise Brücke selbst, vielleicht stellt sie einen Roland dar, als Wahrzeichen des Wasserrechtes. Jedenfalls aber verdient sie das Interesse der Kenner, und auch Richard Dehmel war vor ihrer Eigenart so frappiert, daß er mich bei seinem Besuch in Prag bat, ihm eine Abbildung dieses ehrwürdigen Kunstwerkes zu verschaffen.

Liliencron gab mir gleich am Abend nach seiner Vorlesung das Lesehonorar, es waren drei Hundertmarkscheine, in Verwahrung. »Der Vorsicht halber, damit ich nicht in Versuchung komme,« hatte er lächelnd geäußert. Nun da wir die Kleinseitner Brückentürme passierten und vor dem Laden eines Geldwechslers standen, bat er mich um einen der Scheine und ging ihn in österreichisches Geld Umtauschen. Nachher sagte er: »Das andere geben Sie mir erst auf dem Bahnhof. Ich brauche es für mein Töchterchen Abel, nur ihr zuliebe bin ich Voyageur en lyrique und ertrage die aufreibenden Strapazen des Vorlesens.« Und er sprach sehr liebevoll von seinem Kinde. Wir schrieben der kleinen Abel dann auch eine Ansichtskarte. Diese hübsche Episode scheint mir deshalb der Erwähnung wert, weil sie ein Beweis dafür ist, daß Liliencron durchaus nicht der leichtfertige Mensch war, wie ihn oberflächliche Biographen zu schildern liebten, und zu rechnen und zu sparen wußte.

Der Kleinseitner Ring wird beherrscht von der prunkvollen Niklaskirche, an der Hundert Jahre gebaut wurde und die ein Werk der beiden Dienzenhofer ist. Das Denkmal des Vater Radetzky schmückte damals noch den imposanten Platz und es stellte den letzten großen Feldherrn Österreichs dar, wie er von seinen Truppen auf den Schild erhoben wird. Liliencron besichtigte eingehend das wirkungsvolle Monument, das er eine »erzgeborene Ballade« nannte, auch interessierten ihn die vormärzlichen Uniformen der Krieger sehr. Die Majoratshäuser altböhmischer Herrengeschlechter mit den steinernen Lauben und den sgraffitogezierten Erkern blieben von Liliencron nicht unbeachtet. Und da er sich darüber daß verwunderte, warum eines dieser Häuser »Zum Montag« heißt, löste ich ihm das Rätsel mit der Erklärung, daß das Volk den Namen der Grafen von Montagne in den ersten Wochentag verballhornt hatte, und daß selbst die Tschechen » u montagu« sagen.

Dann umfing uns der stille Zauber des Waldsteinplatzes. Hier steht in unveränderter Gestalt der grandiose Palast, den der Friedländer von italienischen, deutschen und niederländischen Architekten errichten ließ. »Waren es auch nicht, wie Schiller erzählt, hundert Bürgerhäuser, die niedergerissen werden mußten, um Raum für das herzogliche Schloß Albrecht von Wallensteins zu schaffen, so haben doch mindestens zwanzig Gebäude und mehrere Gemeindebaustellen vordem den Ort bedeckt. Der Nachbarschaft des königlichen Hradschin würdig ist dieser Palast und er atmet den stolzen und wundersamen Geist seines Schöpfers. Hier war es, wo nachmals der gewaltige Feldherr des dreißigjährigen Krieges in seinem Privatleben einen mehr als fürstlichen Aufwand entfaltete, wo er sich mit einem Hofstaat von sechzig Pagen, vier Kammerherren, zwölf Rittern und Baronen und einer Leibwache umgab, und dreihundert der auserlesensten Pferde seine Stallungen füllten.« So las ich dem Dichter aus meinem Führer durch Prag vor, den ich bei Antritt unserer Wanderung vorsichtshalber in die Tasche gesteckt hatte, um den anstürmenden Fragen meines Gastes standhalten zu können. Liliencron ertrug lächelnd den kurzen Vortrag und fragte dann: »Steht in Ihrem Buche auch darüber, ob Schiller den Palast Wallensteins gesehen hat? In Eger war er, das weiß ich, aber ob er Prag besuchte, ist mir unbekannt. Es scheint mir wie ein Wunder, daß Friedrich Schiller seinen Tell schreiben konnte, ohne jemals die Schweiz betreten zu haben. Ich brauche immer die Wirklichkeit, um mich an ihr in die Welt der Träume zu tasten, mit ausgebreiteten Armen gehe ich ihr nach.« So sprach Liliencron, während wir durch das Tor des Waldsteinpalastes schritten. – Lange betrachtete Liliencron im Hauptsaal das riesenhafte Deckengemälde, das den Friedländer als Triumphator darstellt, auf dem römischen Siegeswagen, gezogen von vier Rossen. Hier in diesem wahrhaft fürstlichen Krönungssaal träumte sich der ehrgeizige Mann zum Könige der Böhmen. Und im astrologischen Kabinett wollte er herrisch den Gestirnen ihr Geheimnis entreißen. Die Werkstätte des Sterndeuters Seni darf nur mit besonderer Erlaubnis der gräflichen Familie betreten werden; so übersandte der Dichter seine Karte, auf der nichts weiter stand wie Detlev von Liliencron, Hauptmann a. D., und uns wurde der Eintritt selbst in die anderen, sonst streng verschlossenen Privatgemächer nicht verwehrt. Vor einem herrlich intarsierten Schreibtisch, dessen Schubladen Liliencron neugierig aufzog, überraschte uns der Graf, der gekommen war, um den Dichter zu sehen. Eine geheime Wendeltreppe führte uns aus dem Astrologium in die Tropfsteingrotte, wo der Herzog zu baden pflegte. In einem engen Gelaß steht daneben das Schlachtroß, das den Generalissimus bei Lützen durch Sturm und Tod getragen. Der Anblick des ausgestopften Pferdes berührte den Dichter peinlich, aus seinen Träumen riß ihn dieses Schaustück und er sagte: »Ein tapferes Pferd, das in der Schlacht war, ist fast wie ein Soldat, man stopft doch keine Helden aus und stellt sie unter einem Glassturz zur Schau. Man begräbt sie und schießt über ihrem Hügel Salut.«

Aber als der Dichter in der grandiosen Wallensteinhalle stand, verwehte schnell die kleine ästhetische Verstimmung. Auf jonischen Säulen wölbt sich der Baldachin der offenen Halle und wundervolle Fresken mit Szenen aus der Ilias und Odyssee flimmern ein wenig verblaßt von der Decke herab. Vom Garten her klingt das Plätschern der Fontäne, die aus erbeuteten Schwedenkanonen gegossen ist und lichte Göttergestalten leuchten in paradiesischer Nacktheit zwischen grünen Laubgängen hervor. Hier empfing Liliencron die tiefste Erinnerung an meine Vaterstadt, hier sprach er mir von seinem Traum, den er herrlich nannte und dessen Terzinen im allerletzten Poggfred-Kantus stehen sollten. Langsam durchschritten wir den blühenden Park, während Liliencron das Gemälde seines großen Traumes entwarf. »Dort –« und der Dichter wies nach der Halle, »sehe ich den Friedländer im Kreise seiner Offiziere tafeln. Hier vor der Fontäne tanzt ein Trupp gelber Mongolen in roten goldgestickten Gewändern und dort aus dem Raubtierzwinger tritt lauernd der Tod. Ich sah ihn gestern schon, als wir auf dem Altstädterring zur Rathausuhr emporblickten, im Turmfenster stehen und dem Geizhals die Sterbeglocke läuten. Mein Tod aber wird tanzen, mit einer Pfauenfeder in der Hand.«

So entstand die einzig schöne Vision im siebenundzwanzigsten Kantus des Poggfred und auch dem »Gott der Künstler«, der durch jenen Traum geht, verlieh Liliencron das Antlitz einer Prager Figur. Als wir den Palast verließen, begegnete uns nämlich ein schöner, weißbärtiger Mann. Das überaus würdige Antlitz, umrahmt von silbernen, tief auf die Schultern herabwallenden Locken, nahm Liliencron gefangen. »Wer ist das?« forschte der Dichter, da er sah, daß mich der Greis demütig grüßte.

»Es ist ein altes Schulmodell von der Prager Malerakademie, das dort »Kopf steht«, wie der Fachausdruck lautet, und nebenbei mit geradezu fürstlicher Grandezza bettelt«, gab ich Auskunft.

»Er kommt mir vor wie ein Gott der Künstler«, meinte Liliencron nachdenklich, »und daß er bettelt, bestärkt mich noch in diesem Glauben.«

Wir kamen spät zum Speisen; unter einem blühenden Kastanienbaum im Klostergarten der beschuhten Augustiner, deckte uns die hübsche Kellnerin den Tisch. »Gern möchte ich wissen«, sagte Liliencron während des Essens, »ob Schiller die Feldherrhalle gesehen hat«. Während seines Karlsbader Kuraufenthaltes im Sommer 1791 besuchte Friedrich Schiller Prag und war auch im Palaste Wallensteins; stundenlang wandelte er im großen Garten des Friedländers. Schiller weilte in Prag als Gast des bekannten Literaturpapstes und Universitätsprofessors August Gottlieb Meißner. Und dann erinnerte er sich voll Unmut eines »Jung-Pragers«, der Tags vorher den Dichter des Wallenstein einen »Blechkopf« genannt hatte. »Mich empört solch ein kindischer Hochmut; passen Sie auf, nicht ein einziger von den jungen Leuten, deren Gedichte ich vorgestern mit angehört habe, bleibt bei der Stange. Ich habe ihnen allen applaudiert aus Freundlichkeit, doch es ist nur Strohfeuer und wird bald verrauchen«. Liliencron hat recht behalten; die Schwärmer von einst sind treffliche Kaufleute geworden oder sehr pünktliche Beamte, und wenn sie mir begegnen, erröten sie vor dem Gedanken, einst Verse geschrieben zu haben.

Wir verließen nicht das Thomaskloster ohne vorher einen Blick in das ernstgestimmte Gotteshaus der Mönche geworfen zu haben, wo auf dem Hauptaltar zwei Bilder von Rubens aufgestellt sind. Auch waren wir im Kreuzgange des Klosters und standen vor dem Grabe der Engländerin Johanna Veston, die zu den Zeiten Rudolf II. als eine der edelsten Zierden des gelehrten Prag galt. Dann geleitete ich den Gast über die imposante Schloßstiege zum Hradschin empor. König Ferdinand I. hat diese »neue« Stiege erbaut und sie führt in den Bezirk der Hofburg. Voll majestätischer Würde liegt der Schloßplatz da, begrenzt vom barocken statuengeschmückten Gitterwerk des äußeren Burghofes, der erzbischöflichen Residenz und dem Schwarzenbergpalast. Zwischen den Kronen alter Bäume lugen die Häuser der Domherren hervor und die Denksäule der heiligen Jungfrau prunkt in der Mitte des Platzes. Die berühmte Maria Einsiedelterrasse an der Stiegenrampe ist abgeschlossen und war einst nur dem Hofe zugänglich. Aber dicht daneben von der Mauerbrüstung aus erfreuten wir uns an dem reizenden Blick auf die Stadt, die dort unten das Moldautal erfüllt und deren Häuser bis zu den fernen Bergen in schier endlosen Straßenreihen hinaufklettern. Zu unseren Füßen die eigenwillig gestalteten roten Dächer der Kleinseite, die moosgrüne Kuppel von St. Niklas und dahinter die hundert Türme und Knäufe des alten Prag, ein Bild, das jedermann bezaubern muß.

Durch das hohe Hauptportal an der Hofstiege vorbei, die einst zu den kaiserlichen Gemächern führte, traten wir in den zweiten Burghof ein und bewunderten dort den schönen Röhrenbrunnen, der gekrönt ist von einem Neptun und mit den zwölf Himmelszeichen geschmückt. Im dritten Hofe liegt jener Schloßflügel, in dem Kronprinz Rudolf als junger Truppenkommandant seine glücklichsten Jahre verlebt hat. Dort zu Füßen des Veitsdomes plätschert das Brünnlein mit dem kleinen Drachentöter, der das Entzücken aller Kunstkenner ist. Dieser zierliche Ritter Georg gilt als eines der ehrwürdigsten deutschen Gußwerke und Liliencron sagte in seine Betrachtungen versunken: »Wissen Sie, an wen mich dieser St. Jürgen hier erinnert? An Richard Dehmel. Etwas ist in seinem trotzigen Gesicht, das mich an meinen Freund Richard mahnt.« Und der Dichter fand Worte innigster Liebe für den Künstler und Genossen. Auch ich gab meiner Bewunderung für Dehmel Ausdruck, dessen »Verwandlungen der Venus« für mich eines der herrlichsten Bücher der Weltliteratur sind. Dennoch mochte ich Liliencron nicht verschweigen, daß ich ihn selbst über Dehmel stelle. Er aber sagte kopfschüttelnd: »Sie irren, Dehmel ist entschieden der größere und seine Verdienste um unser Schrifttum halte ich für unsterblich. Mein einziger Ruhmestitel wird es vielleicht bleiben, daß ich der Jugend Raum geschaffen habe, doch Dehmel ist die Vollendung.«

Während der Meister mit ehrlicher Bescheidenheit dem jüngeren Genossen den Vortritt gönnte, begann über unseren Häuptern die Domglocke zu dröhnen. »Das ist die Friedensglocke, die vom böhmischen Kapitol der Stadt dort unten den Feierabend kündet. Horchen Sie: ci–e–a! Wir wollen den Dreiklang zu Hause auf dem Klavier nachprüfen.« Dann umfing uns die hallende Dämmerung von St. Veit. Nur wenige Leute saßen im Gestühl oder knieten auf den Marmorfliesen. Von einer vergoldeten Kanzel herab predigte ein Mönch. Seine Worte fand ich im Poggfred wieder und auch die feierlichen Klänge der Domglocke, nur hatte der Dichter den ehernen Akkord in fis–a–d gewandelt.

Wenn ich des Heilands Liebeslehre höre.
So weiß ich, daß er den Geplagten sagt:
»Euch send ich meiner Pfingsten frohe Chöre.

Und wer es von den Erdgebietern wagt.
Für seinen Zweck durch mich euch zu mißbrauchen.
Der wird durch alle Höllen einst gejagt.

Und Christi Flammenfluch kann nie verrauchen!«
Das rief ehmals ein Priester in St. Veit.
Des gotische Türme in die Wolken tauchen.

Sankt Vitus, der Hradschin! Prags Herrlichkeit!
Eins aber ist noch herrlicher in Prag.
Der Wallenstein-Palast, o Sternenzelt!

Dort saß ich mal an einem Sommertag
Mit dem Genie und seinen Offizieren
An hoher offner Halle beim Gelag.

Im Garten vor uns, zwischen Pikenleren.
Tanzt ein Mongolentrupp in wildem Fluß,
Indessen wir erstaunlich pokulieren.

Da ballert plötzlich ein Kartaunenschuß;
Wie weggeblasen sind die Asiaten,
Und auf die Leere zeigt Oktavius.

Musik begleitet seufzende Kantaten,
Und seht: Da links, allein, tanzt nun der Tod.
He Seni! wie ist der hierher geraten?

Trübselig, maulhängend stampft der Despot,
Schwenkt hin und her der Schwager sein Gerippe,
Mit einem Ausdruck wie ein Idiot.

Und eine Pfauenfeder statt der Hippe,
Schlank, lang und schwank wie eine Gerte, hält
Er überm Kopf mit lässigem Gewippe.

Und seht: Ein alter schöner Mann gesellt
Sich zu ihm, ernsten Blicks, mit wilden Locken:
Der Gott der Künstler hat sich eingestellt.

Mit einem Teller tritt er unerschrocken
An unseren Tisch und sammelt Batzen ein.
Von Gast zu Gast, und hat zerlatschte Socken.

Und wieder poltert die Kartaune drein:
Die beiden schwinden. Und ein Siegesbogen
Zeigt seinen kühnen Wuchs aus Marmelstein.

Da kommt der Tod noch einmal angezogen
Und schwingt die Sense jetzt, mit Herrschermiene,
Und hat uns freundlich mitzugehn bewogen.

In seiner großen Nacht; Lichtbaldachine
Erfüllen sie mit siebenfarbigen Prächten
Da schliefen lächelnd feine Paladine,

Da schliefst auch Du, mein Richard, ob den Nächten,
Du, Richard Dehmel, der das Wort ersann,
Das uns gewachsen macht den Schicksalsmächten.

Und Dir zur Seite stand ein Rittersmann,
Sanctus Georgius, der am Bändel schleift
Das Ungetüm, der Hölle Guardian.

Hinter dem Dom reckt das Turmpaar der ältesten Kirche Prags, der Georgskirche, die Arme in den Himmel. Wir traten in den verlassenen Raum, die Altäre waren leer und Granitblöcke und Werkzeuge lagen verstreut auf dem Boden, die Kirche wurde restauriert und da es Feierabend war, hatten die Werkgesellen bereits die Arbeit verlassen. So tasteten wir uns unangefochten bis in die unterirdische Kripta und saßen schweigend dort auf steinernen Särgen. Das ist meine letzte Erinnerung an des Meisters ersten Besuch in Prag. Über die steinerne Schloßstiege, am Sankt Wenzelsweinberg vorbei, kehrten wir heim. Und nachdem wir noch auf dem Graben ein wenig den Abendkorso mit den eleganten Spaziergängern und den vielen schönen Mädchen, die Prag in so reichem Maße besitzt, betrachtet hatten, fuhren wir nach Karolinenthal zurück, wo sich Liliencron in sein Zimmer einschloß. Lange hörte ich ihn dort noch ruhelos auf und abgehen. Am nächsten Morgen früh zeitlich brachte ihn der humpelnde Droschkengaul nach dem Staatsbahnhof und noch vom Coupéfenster aus, als der Zug sich schon in Bewegung setzte, rief mir der Dichter zu: »Auf sicheres Wiederfinden im herrlichen Prag!«

Sechs lange Jahre sehnte sich Liliencron, Prag wiederzusehn. In seinen Briefen, und er hat oft an mich geschrieben, vergaß er nie. diese Stadt mit den Worten heftigster Neigung zu apostrophieren. Schon seine erste Karte, am Tage nach seiner Abreise, zeugt davon, wie wohl er sich im alten Prag gefühlt hatte:

L. Oskar Wiener.

Dehmel mag den grünen Karton so gerne, den ich in Prag kaufte. Er bittet Sie, ihm die Adr. des Kaufmannes zu schreiben. (Seine Adresse ist: Pankow bei Berlin, Parkstr. 25.) Kinder, wie entzückend wars bei Euch! Dank, Dank von Euerem Liliencron.

Berlin, 15. V. 1898.

Ich glaube heute noch, daß der »grüne Karton« nur eine fromme Ausrede war, die mich mit Richard Dehmel in Beziehungen bringen sollte, um mir von nutzen zu sein. Liliencron half gern, am liebsten dort, wo er keinen Eigennutz merkte, und so setzte er, fast gegen meinen Willen, auch bei seinem Verleger meinen Erstlingsband durch. Immer wieder fand der Dichter Worte herzhafter Ermutigung und tröstete mich, wenn ich in den Jahren ersten Ringens von Mißerfolgen berichtete, mit den eigenen traurigen Erfahrungen aus seiner Werdezeit:

»Ich denke vor allem, Sie lassen den Mut nicht sinken, das ist uns ja allen immer passiert, zuerst wohl ohne Ausnahme. Ich sandte sieben Jahre meine Ms. herum, ohne daß sie angenommen wurden … Sie beklagen sich, daß S. Ihnen noch immer nicht geantwortet hat. Denken Sie sich: Im Jahre 1887 hatte ich eine kleine Skizze an ein Journal (R. Bong) eingesandt. Und 1897 (ich hatte sie vollkommen vergessen) wurde sie erst in »Moderne Kunst« gedruckt. So hatte ich volle zehn Jahre warten müssen … Also Mut! Denken Sie daran, wie uns damals vor 14, 15 Jahren der Knüppel in den Weg gelegt wurde. Da wollte kein Mensch etwas von uns wissen. Das wenigstens ist doch jetzt anders geworden …«

Am 28. Juni 1898 schrieb er mir:

»… Anrede an mich natürlich: »Lieber Detlev«, bei dieser Gelegenheit bitte ich Sie und unsere Freunde in Prag, mich doch nicht mit »Meister« anzureden. Es ist für mich ein schreckliches Wort, weil ich die »Meisterschaft« noch lange, lange nicht verdient habe. Reden wir uns also an: »Lieber Freund«. So ist's am besten.«

Alt-Rahlstedt bei Hamburg, 17. 2. 04.

Mein alter, treuer Oskar Wiener, am 16. April lese ich im akad. Verein in Brünn. Bei Ihrem liebenswürdigen Gutsbesitzer (der mich so freundlichst eingeladen hat durch Sie szt.) kann ich leider diesmal nicht sein, weil ich gleich über Prag und Breslau weiter nach Hamburg reise. Nun wäre ich aber doch gar zu gern wenigstens 2 Tage in Ihrem herrlichen Prag. Darf ich diese 2 Tage, wie beim letzten Mal, bei Ihnen wohnen? Bitte um schleunigste Nachricht. Unser Hugo Salus ist so gütig, diesen Brief an Sie zu buxieren. Ich meine, auch wenn ich in Prag nicht »lese« (wies wohl sein wird), so möcht ich doch so gern nochmal Prag zwei Tage sehn.

Ihr Liliencron.

Hugo Salus setzte die Einladung des Dichters in der Concordia durch, und am 16. April brachte mir der Postbote folgendes Telegramm:

Komme Sonntag 3 Uhr Nachmittag von Brünn. Bitte mich wenn möglich allein empfangen.

So sah Liliencron nach sechs Jahren sein geliebtes Prag wieder.

Als Liliencron das für ihn vorbereitete Zimmer betrat, schien er etwas zu suchen. Endlich fragte er zögernd: »Wo sind meine Edelsteine?« Ich verstand anfangs nicht, was er meinte, denn das Zimmerchen war seit dem letzten Besuch des Dichters fast unverändert geblieben. Vor einem halben Jahrzehnt hatte er hier genächtigt, aber so war der geringste Gegenstand aus dieser Stube seinem Gedächtnis eingeprägt, daß er selbst die schmale Holztafel mit den schlecht nachgeahmten Juwelen vermißte. Sie hatten in ihrer übernatürlichen Größe und dem prahlerischen Schliff einen falschen Glanz verbreitet. Da sich ein kleiner Vetter als Liebhaber von Similisteinen bekannte, war ich froh gewesen, das greuliche Ding los zu werden. Jetzt bedauerte ich das, denn Liliencron schien aufrichtig betrübt, daß die gläsernen Juwelen verschwunden waren. »Schade, schade« sagte er »ich träumte davon, morgen früh im Glanze dieses fabelhaften Reichtums die Augen aufzuschlagen.«

Von dem ausgezeichneten Erinnerungsvermögen des Dichters überzeugte ich mich auch, als er mich mit der Frage überraschte, ob im gegenüberliegenden Hause Ferdinand Fiala noch mit Reit- und Equipagenpferden handle, ob Herr Frantischek Frolik noch sein Mehlgeschäft drüben habe und Herr Jerschabek den Fleischerladen. So hatte Liliencron durch sechs Jahre hindurch diese gleichgültigen Namen mit sich herumgetragen. Ich führte ihn an das Fenster und er stellte mit Bedauern fest, daß dort drüben neue Menschen ihren Geschäften nachgingen und neue Firmatafeln die alten verdrängt hatten.

Selbst dem grauhaarigen Kutscher mit der Pudelmütze auf dem Kopfe und dem schwankenden Schimmel vor dem Wagen, hatte der Dichter ein treues Andenken bewahrt, und nun verlangte er nach ihm, um zur Vorlesung zu fahren. In der Droschke sagte Liliencron: »Sie sollen sehn, wie gut ich jetzt lese«. Und so war es auch: die Art, mit der er seine Verse vortrug, hatte sich vollständig gewandelt. In souveräner Sicherheit beherrschte er das Wort, sprach sehr lebhaft und sein Gebärdenspiel unterstützte wirksam das Gelesene. Überhaupt erschien mir der Dichter in seinem Auftreten recht verändert. Das Künstlerzimmer war überfüllt mit Bewunderern, er aber bat, allein zu sein, und als ihn ein Journalist fragte, ob er auch noch Ungedrucktes zur Vorlesung bringen werde, blitzte Liliencron den Mann derb ab und sagte: »Ich kann nicht für jeden Vortrag etwas Neues dichten«. Der Schmock zog sich beleidigt zurück und hat am nächsten Tage die Begeisterung der Prager zu dämpfen gesucht. Allerdings ohne Erfolg, denn Liliencron wurde im Spiegelsaal am 17. April 1904 sehr gefeiert, der Applaus und die Zurufe wollten kein Ende nehmen. Ein schönes Mädchen wartete auf der Stiege und drückte wortlos und sehr rot dem Dichter einen Veilchenstrauß in die Hand. »Das war mein schönster Erfolg«, sagte Liliencron und barg die Blumen an der Brust.

An diesem Abend noch fand sich der Dichter mit den Veranstaltern im Vereinszimmer der Concordia zusammen. Es wurde anregend geplaudert, Hugo Salus brachte dem Gaste eine poetische Widmung dar und Friedrich Adler trug die Begrüßungsstrophen vor, die am Morgen schon in der »Bohemia« gestanden hatten. Liliencron war sehr erfreut. Eine Nummer des Blattes legte ich für ihn zurecht und er vertiefte sich, während das Gespräch um ihn weiter plätscherte, in die von aufrichtiger Verehrung eingegebenen Verse:

Wer Dich so ansieht, frisch und verwogen.
Der schüttelt den Kopf und hält's für Lug,
Daß sechzig über Dich weggezogen
Mit Wetterschein und Wolkenflug.
Wo wäre sie auch, die würdige Geste,
Die sich der Reife so schön vermählt.
Die Vorsicht, die Weisheit, die ehrenfeste,
Die ernsthaft Silben und Schritte zählt?
Du blickst nach dem Spiele liebelnder Falter,
Bläst Seifenkugeln keck in den Wind –
Ein andrer glaube den Büchern Dein Alter! –
Du bist ein Kind!

Und doch! Wie wunderlich schon verflochten
Ward Dir das Geschick in dieser Welt –
Mit den Waffen hast Du im Krieg gefochten
Und Dich mit dem Leben geschlagen als Held.
Du sahst die Braven sich drängen zur Krippe,
Beglückt und geborgen im sichern Verein,
Du sahest sie still und schürztest die Lippe
Und bliebest trotzig mit Dir allein.
Und ob sie Dich priesen, ob sie Dich schalten,
Was lag Dir, dem Freien, daran!
Du hast Deinen eigenen Kopf behalten,
Du bist ein Mann!

Ein Kind und ein Mann! Mit lachenden Sinnen
Schaust Du hinein in Leben und Zeit,
Nie müde, köstliche Mären zu spinnen
Und Farben zu schütten auf Freude und Leid.
Wie eine Quelle in lustigen Tänzen,
So hüpft Dein Vers von den Bergen zu Tal,
Und unter Deinem Griff erglänzen
Die Worte neu, wie geschliffener Stahl.
O, wie das tost und jauchzt und wettert,
Mit herbem Hauche das Herz durchweht,
So hell hat schon lang kein Ton geschmettert.
Du bist ein Poet!

Im Frühling bist Du zu uns gekommen,
Der immer neu sich zu grünen vermißt,
So sei denn mit Freuden aufgenommen,
Der selbst Du ein Kämpfer des Frühlings bist!
Wir sind hier ein wenig zu ernst geworden
Und bitter schwillt's auf des Herzens Grund –
Da singt Dein Sturmlied aus dem Norden
Die Seele uns wieder frei und gesund.
Du Alter, Du Junger, der Früchte getragen
Und der Du doch immer wieder erblühst –
Lab Dir ein froh Willkommen sagen.
Sei uns gegrüßt!

Aber bald drängte der sichtlich erschöpfte Liliencron zur Heimkehr. Man bat und suchte ihn noch ein Weilchen zurückzuhalten, aber er blieb fest, und nur ungern gab ihn die kleine Gesellschaft endlich frei. In der Straßenbahn legte er ein umfangreiches Packet neben sich, Briefe und Bücher, die beim Portier des Casinos für ihn abgegeben worden waren. Lächelnd wies er auf diesen Segen: »Erinnern Sie sich noch meines ersten Vortrages? Damals wartete nicht ein einziges Briefchen auf mich. Ja, so ändern sich die Zeiten. Die Autographensammler folgen mir von Stadt zu Stadt. Wenn man wenigstens eine Taxe einheben könnte, für diese lästigen Schreibereien«.

Zu Hause machte sichs Liliencron bequem, ich mußte ihm einen alten Kittel borgen, und er hing seinen schwarzen Salonrock sorgfältig über die Stuhllehne. Dann nahm er gleich unter Seufzen das Packet vor. Ich riet ihm, diese unerfreuliche Arbeit auf den nächsten Tag zu verschieben, er aber meinte: »Der Morgen gehört uns, Ihnen und mir und Hugo Salus, den wir besuchen müssen«.

Noch um Mitternacht saß der Dichter vor den Briefen, schrieb seinen Namen auf Photographien, war empört oder belustigt über die Form mancher Zuschrift und grollte, daß die meisten der »Herrschaften« kein Rückporto beigelegt hatten. Dabei verließ ihn sein Humor keinen Augenblick. Auf der bekannten Radierung von Krauskopf korrigierte er sein etwas zu groß geratenes Ohr mit einem kräftigen Bleistiftstrich und schrieb darunter: Liliencron mit den Elefantenohren. Aufrichtig erfreut las er das Schreiben dreier Kadettenschüler vor, die jeder ein Exemplar der Kriegsnovellen ihrem »großen Vorbild« gesandt hatten und um »einen tapfern Wahlspruch für das Soldatenleben« baten.

Plötzlich reichte er mir ein parfümiertes Briefchen über den Tisch. »Nehmen Sie das in Verwahrung und nach meinem Tode müssen Sie dieses Dokument veröffentlichen, damit man weiß, wie Liliencron als Sechzigjähriger noch geliebt worden ist.« Als ich zögerte, drängte er ungestüm: »Der Brief bleibt in Ihrer Verwahrung: heben Sie ihn gut auf, ich will es so«.

Verwundert schloß ich das Schreiben in mein Pult und erst jetzt nach Jahren habe ich es gelesen und setze es, dem Wunsche Liliencrons gehorchend, hierher. Der Brief ist aus einer böhmischen Provinzstadt datiert und am 17. April 1904 geschrieben worden.

Verehrter Herr Baron!

Unter den vielen Menschen, die Ihnen gerade in jüngster Zeit mit soviel Begeisterung entgegen kamen, kann ich gar nicht hoffen, daß Sie sich noch ein wenig an mich erinnern, und an das minutenlange Gespräch nach Ihrem Vortrag hier, schon beim Weggehen, als alles zum Ausgang drängte. Ich wollte Ihnen so gern Brahms vorspielen, und wollte deshalb zu dem morgigen Tage nach Prag kommen. Und nun kann ich das nicht, da mein einziger kleiner Sohn erkrankt ist und ich nicht von ihm weg kann.

Seit Jahren, seit ich Ihre ersten Gedichte gelesen, habe ich mich glühend gesehnt, Sie kennen zu lernen. Mit einer Sehnsucht wie man sie nur für exceptionelle Menschen hat oder Ereignisse, von denen man bestimmt weiß, daß sie unsere ganze Kraft verbrauchen und verstehen würden.

Und wie ich las, daß Sie hierherkommen würden, so habe ich mir wochenlang den Kopf zerbrochen, wie ich es anstellen solle, um ohne zudringlich zu erscheinen, zu Ihnen zu gelangen. Und auf einmal existierten alle die Bedenken, die jeder gute Bürger vor einem außergewöhnlichen Schritt hat, auch für mich – gerade weil Sie es waren, zu dem ich wollte. Nun ist es mir aber dennoch ganz unmöglich Sie wieder gar so weit fortgehn zu lassen, ohne Ihnen das alles gesagt zu haben. Wenn es natürlich auch nur der verschwindendste Teil von dem Vielen ist, was ich sagen möchte. –

Worte sind so arm – gerade wenn man möchte, daß sie viel ausdrücken sollen – und wenn ich auch denken muß, daß alles, was ich sagen könnte nur ein verschwindender Klang für Sie ist, in der großen Symphonie der Begeisterung, die Sie umbraust. Und endlich – wenn Ich ganz aufrichtig und wahr sein will, so muß ich auch sagen, daß selbst das Wiedersehen mit Ihnen unter allerhand fremden oder bekannten Menschen bei einem Souper oder sonstwie nicht das ist, was ich mir erträumt habe. Und nun bitte – Sie der Dichter der Jugend – Sie junger Mensch denken Sie nicht unbescheiden und jung und menschlich von mir: so würde ich mirs träumen – Sie hier zu haben in meinem einsamen Haus auf der Höhe – weit draußen vor der Stadt, unten ringsum ist der Frühling – und ich müßte vergessen, daß Sie hier neben mir sitzen und würde Ihnen vorspielen stundenlang: Brahms, die Rhapsodien und Intermezzos, die herrlichen Händel-Variationen, dann Schumann die Romanzen und das A-moll-Conzert und das jauchzende Lied »Übern Garten durch die Lüfte«. –

Aber ich bin jung und so hoffe ich, Sie dennoch einmal wiederzusehn. Vielleicht bringen mich meine Reisen einmal zu Ihnen und Sie erinnern sich dann noch ein wenig an mich. Und nun vergessen Sie meine große Vermessenheit, Ihnen als ein ganz fremder Mensch, der ich Ihnen bin soviel zu sagen, solange zu schreiben. Verzeihen Sie mir!

*

Beim Morgenkaffee kamen wir auf die »Moderne« und ihre jüngste Richtung zu sprechen. »Das Wort: modern ist mir bis in die Seele verhaßt, ich finde es ekelhaft und die Neutöner verstehe ich nicht,« gestand Liliencron. »Selbst dem Rainer Maria Rilke, der ganz gewiß ein hervorragender Wortkünstler ist, vermag ich kaum zu folgen. Er kommt mir vor wie Kaiser Max auf der Marlinswand; immer rettet ihn im Augenblick großer Gefahr irgend ein Engel aus seiner lyrischen Verstiegenheit. Quälend empfinde ich aber Leute vom Schlage des Ernst Schur. Das, was diese Impressionisten für Verse ausgeben, sind nichts als Vorgefühle, die ein jeder anständige Lyriker haben muß, ehe er sich hinsetzt, sein Gedicht zu schreiben. Das gilt auch für Mombert. Doch schweigen wir davon; ich will mir lieber nochmals den Wallensteinpalast anschauen und den hebräischen Christus auf der Karlsbrücke.«

»Ich habe etwas Besonderes für Sie, Herr Baron, ein nordisches Motiv: Maria im Schnee – gehen wir auf den Jungmannsplatz.« Wie der tote Seitenarm eines breit dahinströmenden Flusses, so liegt dieser kleine einsame Fleck den verkehrsreichsten Straßen Prags dicht benachbart. Ein paar Häuser auf dem Wenzelsplatz haben ihre Höfe bis dicht an das Kloster vorgeschoben und die mächtigen Fenster der Maria-Schneekirche blicken nun neugierig über die Zinskasernen hinweg nach dem brausenden Leben dort drüben. Eben denkt man daran, die alte Kirche freizulegen. Ihre gewaltige Höhe steht in einem seltsamen Gegensatz zu der geringen Basis. Einst reichte sie bis zu dem massiven Tor, das eine Darstellung des Sündenfalles schmückt. Jetzt liegt zwischen Tor und Gotteshaus, wo sich ehemals das Kirchenschiff erstreckte, ein offener Hof. Von Blut und Aufruhr künden diese Mauern und in der Zeit der Hussitenwirren war die Kirche mehrmals der Schauplatz entsetzlicher Auftritte. Anno 1420 plünderte und zerstörte der Pöbel das schöne Kloster und metzelte die Mönche nieder. Die beiden Prager Städte, durch Wall und Graben geschieden, haßten einander und weil die Neustadt Johann von Selau als hussitischen Prediger bei der Kirche einsetzte, ließ ihn der gutkatholische Altstädter Rat gefangen nehmen und enthaupten. Da entbrannte zwischen der Altstädter und Neustädter Bürgerschaft ein heftiger Kampf. Von dem Turme der Maria-Schneekirche beschossen die Neustädter die Altstadt, wogegen die Altstädter auf dem nahen Turme des alten Gerichts ein Geschütz von schwerem Kaliber aufpflanzten, und den Mariaschnee-Turm zusammenschossen, wobei auch der vordere Teil der Kirche eingeäschert wurde. Zwei Jahrhunderte später wurde die Ruine den Franziskanern geschenkt und die mauerten den noch erhaltenen Teil der Kirche einfach zu, weil sie kein Geld hatten für weitläufige Bauten. Aber als das Passauer Kriegsvolk in Prag einrückte, wurden die Patres von hussitischen Fanatikern erschlagen. Eine Prozession böhmischer Protestanten mit Kreuz und Fahne zog damals an der Maria-Schneekirche vorbei. Da fiel ein Stein vom Dache mitten hinein in die Menge und brachte die erregten Gemüter zum Sieden. Der Pöbel drang in das Kloster ein und schlug die entsetzten Mönche tot. Das geschah knapp vor dem berühmten »Fenstersturz«. So liegt hier an dieser blutgetränkten Stätte die Wurzel zu jenem gewaltigen Religionskriege, den wir den Dreißigjährigen nennen.

Gespannt folgte Liliencron der kurzen historischen Vorlesung, die ich an der Hand meines »Führers« zum besten gab. »Nur ein einziger Steinwurf«, rief er, »und er hat ein Meer von Blut über ganz Deutschland gebracht. Von diesem Steinwurf muß ich im Poggfred berichten. Plane ich doch einen idealen Spaziergang und ein paar Ottaven darin sollen unserm gigantischen Prag gewidmet sein; denn mir ist, als wäre ich hier entschieden einmal geboren, so heimisch fühle ich mich in den alten Mauern.«

Als wir auf die Gasse traten, sagte Liliencron hastig: »Mittags machen wir unsern Besuch bei Salus, doch dann will ich mit Ihnen allein sein. Sie glauben gar nicht, wie die Menschenfurcht in mir nagt. Zu Hause in Alt-Rahlstedt lasse ich mich oft verleugnen und sehe aus dem Fenster den Abziehenden mit einem Gefühl des Triumphes nach. Ich mag keinen »Verkehr«, wie das schöne Wort lautet. Das Liebste sind mir die einsamen Spaziergänge – tagelang spreche ich kein Wort.«

Aus seinen Augen klagte unverhüllt die Angst vor den Menschen, so beeilte ich mich, ihn zu beruhigen: »Niemand soll sie stören, ich bürge dafür«. Durch die Ferdinandsstraße über den Franzensquai und die steinerne Brücke schlenderten wir langsam dem Palaste Wallensteins zu. Im Park, den der junge Frühling schüchtern geschmückt hatte, spielte der Aprilwind mit den ersten Blüten. Der Dichter nahm den Hut ab, und lief die Laubengänge entlang. Auf einmal rief er mich zu sich heran: »Bitte betrachten Sie nur diese kleine Diana; die ist entzückend«.

Ich fand Liliencron vor einer verwitterten Sandsteinfigur aus der Barockzeit. Die nackte Jägerin mit dem Halbmond im Haar, gestützt auf das Geweih einer Hirschkuh, war ganz grün von Moos und Flechtwerk. Die Sonne umschmeichelte die zarten Glieder der Göttin und verlieh ihr ein seltsam lebendiges Wesen. »Wenn ich reich wäre«, lächelte Liliencron melancholisch, »müßte mir ein bevorzugter Meister diese kleine Diana kopieren. Ein einziger Herbst und ein rauher Winter im Park zu Poggfred würde ihr dann schnell die nämliche Patina verleihen.«

Hinter dem Palaste Wallensteins liegt die Bruska und sie ist ebenfalls eine Schöpfung des Friedländers. Vor Zeiten stand in dieser Gegend ein altes Tor und von dort ließ der Herzog durch seine Soldaten aus militärischen Gründen den Bruskahohlweg zwischen die Felsen sprengen. Von hier führt die »alte Schloßstiege« auf den Hradschin; den Weg nahmen wir nun zur Hofburg.

Durch das Osttor in die Georgsgasse gelangt, zeigte ich Liliencron jenes denkwürdige Haus, in das die Räte Martinitz und Slawata flüchteten, nachdem ihre unfreiwillige Luftreise aus den Fenstern der Burg so glimpflich abgelaufen war. Gleich gegenüber liegt das einstige Oberstburggrafenamt, dessen düstere Gruppe von Gebäuden, mit den vier alten Türmen am Hirschgraben, ergreifende Erinnerungen birgt an die grausame Gerichtsbarkeit des Mittelalters. Auf dem Hofe gellten ehemals die Schmerzensschreie der Gefolterten, jetzt gackert dort behaglich das Hühnervolk und Taubenschwärme suchen sich dort ihr Futter. Ein großer schwarzer Kater pflegt friedlich sein Mittagsschläfchen just unter dem alten Nußbaum zu halten, der die Stelle bezeichnet, wo die Freifrau Zahradka von Eulenfels enthauptet wurde. Diese Gattenmörderin saß als letzter Gast zehn Jahre lang in der Daliborka, dem schauerlichen Gefängnisturm, und erst anno 1750 führte man sie zum Richtblock. Drei Jahrhunderte vorher ward hier vom Prager Landesgericht der Ritter Dalibor von Kozojed eingekerkert, weil er die Bauern des Leitmeritzer Kreises gegen den Adel aufgewiegelt hatte. In dem finstern Gewölbe harrte er nun Jahr um Jahr auf den Richterspruch, und weil ihn die Angst peinigte, das ewige Schweigen ringsum und die große Einsamkeit würden seinen Verstand zerstören, ließ er sich eine Geige kaufen, und bei unablässiger Übung brachte er es zu einer erstaunlichen Meisterschaft auf diesem Instrument. Die Chronisten berichten, daß sich der Hirschgraben zu jener Zeit allabendlich mit Zuhörern füllte, die dem Klagen der Violine lauschten. Ihr Schluchzen verstummte erst, als Dalibor unter dem Henkersbeil verblutet war, aber der Turm, wo er ein Menschenalter hindurch gefangen gesessen, heißt heute noch die Daliborka.

Voll Teilnahme betrachtete Liliencron die feuchten Zellen und Kammern, die oft so grausam gebaut sind, daß der Strafgefangene darin nur in hockender Stellung Platz finden konnte; auch das unterirdische Hungergewölbe musterten wir. Einen Stein warf der Dichter in die Tiefe, wo die zum Hungertode Verurteilten die letzten Lebensstunden verbringen mußten, nachdem sie den Leichnam ihres Vorgängers heraufgeholt hatten. Hallend fiel der Stein in den gähnenden Trichter, dessen schwarzer Mund stumm von namenlosem Jammer berichtet, und schweigsam verließen wir diesen Ort des Schreckens, um nach dem lustigen Goldmachergäßchen die Schritte zu lenken.

Es ist wirklich eine sehr lustige Gasse und wie aus einer Spielzeugschachtel aufgebaut. Die bunten Puppenhäuschen, deren größtes kaum vier Schritt im Geviert mißt, kleben an der Wallmauer des Hirschgrabens. In der wunderlichen Sackgasse wohnen jetzt arme Leute, aber die winzigen Zimmerchen, von denen immer nur eines ein ganzes Haus ausfüllen kann, sind peinlich sauber gehalten, und in den Fenstern, mehr wie zwei gibt es nie, blühen Pelargonien und Nelken. Kaiser Rudolf II., der den Stein der Weisen gesucht hat und die Quadratur des Zirkels, schwor auch auf die Goldmacherkunst. Mißtrauisch von Natur, soll er seine Alchimisten hier gefangen gehalten haben; ein jeder der Charlatane bekam solch ein Puppenhaus als Wohnung und Studio angewiesen, und alle standen unter strenger Bewachung, denn ein Landsknecht mit geschulterter Hellebarde schritt Tag und Nacht durch das merkwürdige Gäßchen. So meldet die Ortsgeschichte und sie erzählt auch ein Histörchen von den langhaarigen Käuzen, die in den Hütten der Goldmachergasse scharf behütet wurden und darin allerhand Mixturen in edles Metall verwandeln sollten. Ein ganzes Dutzend jener mittelalterlichen Abenteurer mag es gewesen sein, die eines Tages von den Landsknechten laut ihre Freilassung heischten. Nicht für immer wollten sie aus den winzigen Häusern des Gäßchens, nur um einen kurzen Spaziergang kämpften die Empörer, denn draußen lockte die goldene Sonne und in der Burgmauer nisteten schon die ersten Frühlingssänger. Als den rebellischen Goldmachern der Ausgang verweigert wurde, rauften sie sich die langen Assyrerbärte, zerschmetterten die Hexenkessel und Glasretorten und warfen die kostbarsten Chemikalien zornig aus ihren vergitterten Fenstern in den Hirschgraben. Dort jagten die adeligen Freunde des Kaisers, da konnte es nicht gut bewilligt werden, daß sich unter die erlauchte Gesellschaft solch ein ungehobeltes Alchimistenvolk mische. Die Goldmacher keiften und rumorten, aber in den Hirschgraben durften sie nicht. Da verschanzten sie sich hinter ihren Trotz und kein einziges Goldkörnchen ward mehr von den Wundermännern in die Hofkammer geliefert. Endlich erreichten sie ihren Willen; man führte alle in den Hirschgraben und hing sie in eisernen Käfigen in die Tannen. Dort verhungerten die Käuze elendiglich und recht geschah ihnen, denn ein Alchimist gehört ins stockfinstere Laboratorium und nicht in den lieben azurblauen Frühling.

»Das ist ja ein prächtiges Balladenmotiv«, rief Liliencron und lachte herzlich über das Gehörte. »Ich hätte große Lust ein Bänkel auf die widerspenstigen Goldmacher zu schreiben und ein Lied von der Geige des Dalibor. Aber ich kann Ihnen doch nicht all diese herrlichen Stoffe wegnehmen!« Ein scherzhafter Wettstreit entspann sich nun zwischen uns, denn jeder wollte zu Gunsten des andern großmütig verzichten. So schritten wir plaudernd an der Georgskirche vorbei, wo mich Liliencron erinnerte: »Wissen Sie noch wie wir bei meinem ersten Besuch auf den steinernen Särgen gesessen sind?« Ich entsann mich dessen genau, und auch der Meister verlor sich in Erinnerungen. Wir kamen bis zum Veitsdom, und wie vor sechs Jahren so staunte auch diesmal Liliencron die majestätische Kühnheit der Kathedrale an, die selten reich an Sehenswürdigkeiten ist. Die größte Bewunderung flößte dem Dichter das Monument des heiligen Johann von Nepomuk ein, das trotz seiner Mächtigkeit ganz aus Silber getrieben ist. Fast vierzig Zentner puren Silbers wurden für das gleißende Grabdenkmal verwendet, das nun einen märchenhaften Glanz um sich verbreitet. Auf dem Sarge kniet die Gestalt des Märtyrers, der mit dem Tode büßen mußte, weil er das Beichtgeheimnis standhaft gewahrt. Und von der Marmorbalustrade schimmern die Statuen der Weisheit, Verschwiegenheit, Stärke und Gerechtigkeit. All dies ist aus blankem Silber geformt, und am Nepomukfeste wird auf das Haupt des Heiligen noch eine goldene Krone mit fünf Diamantensternen gesetzt. Ringsherum hängen dreiundzwanzig silberne Ampeln und eine große goldene Lampe, und wenn sie angezündet sind, dann flimmert und funkelt es aus der versteckten Ecke neben dem Presbyterium, wo das Monument aufgestellt ist, gar feenhaft.

Währenddem wir vor dem prunkvollen Sarge flüsterten, begann uns zu Häupten die Domglocke den Mittag zu verkünden; da erinnerte sich Liliencron des versprochenen Besuches. Bei Hugo Salus war es sehr gemütlich und wir blieben lange in dem gastlichen Hause. Aber der Mensch entgeht seinem Schicksal nie, und so lauerte auch hier ein Autographenjäger auf seine Beute. Ein Oberleutnant hatte dem Prager Poeten einen Berg von Bildnissen Liliencrons anvertraut, und nun versah der Meister geduldig ein jedes dieser Porträts mit einer humorvollen Randbemerkung. Als Liliencron endlich Abschied nahm, begleitete uns die liebenswürdige Hausfrau bis zur Stiege und verhinderte so den Meister, an die Köchin ein großes Trinkgeld zu verschwenden. Das verdroß den Dichter sehr und er grollte: »Wenn ich auch arm bin und zu rechnen weiß, Trinkgelder gebe ich dennoch gern. Wenn Sie wieder zu Salus kommen, geben Sie dem Mädchen oben dieses für mich.« Und er drückte mir ein Fünfkronenstück in die Hand. Ich habe es abends vor dem Schlafengehn wieder in seine Hosentasche praktiziert, ohne daß er es merkte. Übrigens hatte Liliencron an diesem Tage oft noch Gelegenheit, dienende Geister zu beschenken.

Wir standen in der Heinrichsgasse, und ich war verlegen, was ich dem Gaste nun zeigen sollte. Zögernd sagte Liliencron: »Ich möchte böhmische Mädels sehn«. Anfangs begriff ich nicht recht, dann wies ich nach der Uhr auf dem Heinrichsturm und sagte: »Jetzt um fünf pflegen die Damen noch zu schlafen. Warten wir bis es dunkel wird.«

Aber der Dichter beharrte: »Abends traue ich mich nicht, wir könnten leicht erkannt werden«.

So führte ich Liliencron nach dem »blauen Löwen«. Dort hat sich der Dichter königlich amüsiert.

Das Haus zum »blauen Löwen« mit dem barocken Schild über der Toreinfahrt, ist längst vom Erdboden verschwunden, ja selbst die ganze Gasse, in der es stand, fiel der Spitzhacke der Assanierung zum Opfer, und heut erheben sich dort prunkvolle Zinshäuser. Ein gut Stück Altprager Romantik ist damit auf immer zerstört; und auch die Kneipe, die Liliencron mit seinem Besuch beehrte, war erfüllt von jener rätselhaften Stimmung. Schon flammten die Gaslaternen auf, da wir das greise Gebäude verließen. Der Dichter nahm mich unterm Arm und rezitierte:

»Auch saß ich sehr vergnügt im ›blauen Löwen‹
Die Wolken flitzten drüber hin wie Möwen«.

»Was sagen Sie zu dem Vers? er kommt in meinen Poggfred.«

Ich machte ein bedenkliches Gesicht: »Man wird Ihnen diesen Seitensprung vorwerfen, Herr Baron«, warnte ich, »schweigen Sie darüber«.

»Möglich«, gab er zu, »doch jetzt habe ich einen Wolfshunger und große Lust auf Kaviar und eine Flasche Pommery. Führen Sie mich in das vornehmste Restaurant. Bitte aber bestimmt in das vornehmste, das Prag aufzuweisen hat.«

So landeten wir im »blauen Stern«, wo Kaiser Wilhelm der Große anno 66 den Prager Frieden schloß. Behaglich ließen wir uns in einer Fensternische des Silbersaales nieder und Liliencron – ganz grand seigneur – klatschte in die Hände und machte seine Bestellungen. Durch die Spiegelscheibe winkte die mächtige Silhouette des Pulverturmes, und wir leerten das erste Spitzglas auf meine Vaterstadt und ihre Herrlichkeiten.

Eine kleine Episode soll hier nicht vergessen werden, weil sie die Wesensart Liliencrons beleuchtet. Der Dichter hatte nach sehr guten Zigarren gerufen, und als ihm der Kellner Zigarren zu zwei Kronen das Stück brachte, reichte er auch dem Garçon solch einen teuren Glimmstengel. Scherzhaft drohte er ihm mit dem Finger: »Aber nicht wieder in die Schachtel zurücklegen«.

Später sagte der Dichter: »Das mit dem Vers von vorhin habe ich mir überlegt; man könnte es mir wirklich verübeln, Sie haben Recht. Also nicht:

»Auch saß ich sehr vergnügt im ›blauen Löwen‹,
Wie Wolken flitzten drüber hin die Möwen;«

sondern:

»In Prag aß ich auch mal im ›Blauen Stern‹
Mit Oskar Wiener, einem Dichterherrn.«

Ein wenig angeheitert, aber mit viel Würde, verließen wir das vornehme Hotel. Auf dem Josefsplatz deutete der Meister nach einem Einspänner, der eben von Karolinenthal her mühselig dem Graben zuratterte. »Das ist ja mein historischer Droschkenkutscher«, rief Liliencron freudig überrascht; »also rinn in die Bude!« Und wir bestiegen eiligst den Rumpelkasten.

Vor dem Café Kaiser ließ ich halten. Dieses Caféhaus bleibt Tag und Nacht geöffnet. In den nämlichen Samtfauteuils, allwo sich nach Mitternacht die galante Welt zu räkeln pflegt, sitzen tagsüber harmlose Philister beim Kartenspiel. Wie auf einer Drehbühne ist es und die Bilder wechseln von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang. Jetzt in der Stunde des Wandels gähnten uns öde die leeren Säle an, und nur wenige Menschen saßen um die runden Marmortischchen. Der Wirt erschien und bot uns aus der Schnupftabakdose eine Prise. Eine überaus stattliche Dame, deren rotes Haar wie flüssiges Kupfer glühte und die sehr pompös ihr schwarzes Seidenkleid zu tragen verstand, war Liliencron aufgefallen. »Sie sieht wie eine Königin aus«, sagte er. Ich machte den Dichter mit »der Königin« bekannt, aber die Freundschaft währte nicht lange, denn Liliencron kam mit dem Mädchen, das ihn hochmütig behandelte, bald in Streit. Nachher ließ er unter die anwesenden Damen durch eine Blumenfrau Veilchensträuße verteilen. »Veilchen sind im April billig«, tröstete er sein nagendes Gewissen, »es ist geradezu praktisch im April Veilchen zu kaufen«. Die versammelten Schönheiten genehmigten huldvollst die zarte Aufmerksamkeit des Poeten; nur »die Königin« wies das Sträußchen zurück und sagte laut: ich trage nur Rosen. Doch ein spontan gespendeter Eiskaffee versöhnte sie wieder. Inzwischen harrte unten, ohne daß wir den Kutscher darum gebeten hätten, der alte Schimmel geduldig, und da Liliencron noch nicht nach Hause wollte, fuhren wir auf den Obstmarkt ins »weiße Kränzel«.

In einer jeden Großstadt gibt es Lokale, die eine verzweifelte Fröhlichkeit beherbergen. Das Lachen, das dort gelacht wird, kommt nie aus dem Herzen, es ist das krampfhafte Gelächter von Melancholikern, die ihren Weltschmerz hinter einer muntern Maske verbergen. Auch das weiße Kränzel in Prag scheint solch ein Hauptquartier sentimentaler Nachtschwärmer zu sein. Eine blinde Sängerin unterhält die Gäste mit dem Vortrag schwermütiger Volksweisen, sie wird begleitet von einem weißhaarigen Geiger, der wunderbar spielt. Das Publikum ist sehr gemischt: Studenten, Kommis, Dirnen und Soldaten kommen und gehn. Der lange lungenkranke Kellner wendet sich, wenn getanzt werden soll, an den Nächstbesten und verlangt von ihm, er möge die Tische heraustragen. Zu dieser ehrenvollen Aufgabe ward damals Liliencron ausersehn und er schleppte mit meiner und des Kellners Hilfe unverdrossen an dem schweren Eichentisch. Die blinde Sängerin griff zur Gitarre, der Alte nahm die Geige wieder vor, ein Schlapaak, wie der Schleifer hier zu Lande heißt, wurde angestimmt, und alles lief nach der Mitte des Zimmers, um sich im Kreise zu drehn.

Schon vordem hatte hier Liliencron eine Eroberung gemacht. Eine schwarzäugige Ruthenin wich nicht von seiner Seite; mit ihr schritt er nun auch zum Tanz. Als er an mir keuchend vorbeisauste, rief er: »Heut hab ich einen glücklichen Tag«. Ein Mann mit einem Korb voll Süßigkeiten und einem Leinenbeutel, der mit Lotterienummern gefüllt war, trat an den Dichter heran und Liliencron gewann mit dem ersten Griff in »grad und ungrad« eine Bonbonnière voll billiger Zuckerwaren. Die spendete er der Ruthenin und befestigte so die innigen Beziehungen zwischen sich und dem Mädchen aus der Polakei. Schließlich brüderten sich uns zwei Infanteristen an, und Liliencron lieh von dem einen das Bajonett und die blaue Mütze, um sich damit kriegerisch zu schmücken. Es kostete mich viele Überredungskünste, den Dichter aus dem weißen Kränzel fortzubringen. Mit rührender Treue hatte auf dem Obstmarkt unser Droschkenkutscher vier Stunden hindurch gewartet, nun wurde seine Ausdauer belohnt, und er brachte uns nach Karolinenthal. –

Der Vormittag war schon fast verstrichen, als wir Tags darauf in der Schloßhauptmannschaft die Karten zur Besichtigung der Hofburg lösten. Zuvor hatten wir die steile Spornergasse erklommen, wo sich in seltener Harmonie edellinige Barockbauten aneinander reihen, und namentlich die schön komponierten Toreinfahrten entzückten den Dichter. Bald tragen dort riesenhafte Neger, dank der strotzenden Fülle ihrer Armmuskeln, schwere Balustraden, bald wieder stützen steinerne Vögel, mächtige Adler, sanft geschwungene Balkone durch die Kraft ihrer Schwingen. Das monumentale Portal zum Palast des Fürsten Franz Thun von Hohenstein zwang uns, bewundernd zu verweilen, denn es ist von besonderer Schönheit und ein Werk des berühmten Italieners Lorago. Ich lenkte die Aufmerksamkeit Liliencrons auf den Hintertrakt dieses herrschaftlichen Hauses, der nach florentinischer Art mit Zeichnungen auf Kalk bedeckt und mit mehreren altertümlichen Giebeln versehen ist. Dieser ehrwürdige Rest eines der frühesten Prager Adelssitze hat einst auch dem Slavata von Chlum gehört, dem nämlichen Wilhelm von Slavata, den die empörten Stände zum Fenster der Königsburg hinauswarfen.

Bald blickten wir droben im Schlosse aus dem weltgeschichtlichen Fenster und schauten hinunter nach dem Obstgarten am Bergeshang. Der war verschwenderisch erfüllt von weißem Frühlingsblust und schmetterndem Vogelgesang; und aus der Blütenpracht ragten zwei kreuzgekrönte Pyramiden zur Erinnerung an den stürmischen Lenztag des Jahres 1618. Und Liliencron sah die alte Landstube angefüllt mit Männern, die laut durcheinander schrien, hörte die hochmütigen Reden der kaiserlichen Räte, und dann klirrte das dreiteilige Fenster. Die Herren in steifer spanischer Hoftracht vergaßen jegliche Grandezza, zappelten und wehrten sich und mußten dennoch hinab in die Tiefe. Kein Sträuben half, sie mußten hinab und ihr allzeit getreuer Schreiber Fabricius Platterus folgte ihnen. Ein unfreiwilliger Sprung von zwanzig Metern ist keine Kleinigkeit, aber der wackere Amtsschreiber tat ihn mit Lachen. An die vierzig Jahre hatte er schon alle Bittgesuche und untertänigsten Eingaben durch das nämliche Fenster verschwinden lassen. Was emsige Gänsekiele gekritzelt, mochte dort unten ruhig faulen; der einfachste Weg der Erledigung wars. Und nun würden die Herren Martinitz und Slavata weich fallen und er selbst nicht minder, er, der kaiserliche Ratsschreiber, Fabricius Platter, bewährt in Amt und Würden seit einem Menschenalter. So lohnt sich jede Mühe auf dieser Welt voll göttlicher Vorsehungen.

Um unser nächstes Ziel, das heilige Haus von Loretto zu erreichen, mußten wir an dem gebieterisch aufgerichteten Renaissancepalast vorbei, wo schon seit dreihundertfünfzig Jahren Tag und Nacht eine Ehrenwache auf und ab schreitet, weil dort die gefürsteten Erzbischöfe Böhmens residieren. Liliencron entdeckte über einem Seitenportal des imposanten Gebäudes eine köstliche Kartusche; das feiste Gesicht eines Pfäffleins ist dort als Maske angebracht, und ein Abglanz eben überstandener Tafelfreuden schimmert auf dem rundlichen Antlitz, das umrahmt ist von einer schön gefalteten Serviette. Der Architektenscherz amüsierte den Dichter sehr, und wir ergingen uns in kulturhistorischen Untersuchungen über das Alter des Tellertuchs.

Die Lorettokirche auf dem Hradschin ist der santa casa zu Loretto auf das genaueste nachgebildet. Aber trotz der barocken Fülle des mit Heiligen- und Engelstatuen verschwenderisch geschmückten Baues empfängt der Beschauer einen melancholischen Eindruck. Ein leiser Verfall ist über die ganze Pracht ausgebreitet und steigert noch den Reiz dieser verblaßten und zerbröckelten Herrlichkeit. Uralte Linden wiegen ihre Häupter im Hofe, der von Kreuzgängen umkreist wird. Mitten darin steht das heilige Haus mit dem berühmten Bildnis der Madonna, ein wuchtiger Würfel über und über bedeckt von Reliefs, die voll unbefangener Kindlichkeit Geschehnisse aus dem alten Testamente darstellen. Der stimmungsvolle Hof wird überragt von der Kirche zu Maria Geburt, in deren Gestühl Liliencron eine zeitlang schweigend saß, nachdem wir aus der Dunkelheit der Hofkapelle wieder ans Licht gestiegen waren. Dann wandelten wir durch die hallenden Kreuzgänge, betrachteten die Freskogemälde an den Wänden und blickten hinter die gläsernen Verschallungen, wo sehr bunte Holzstatuen von Heiligen in der Mittagssonne träumten.

Auf dem Turm überm Eingang begann verschlafen ein Glockenspiel seine schüchterne Melodie in den Mittag zu streuen. Es war, als ob sehr zarte Frauen dort oben singen würden. Zögernd verflatterte der hellstimmige Choral, und die ehrwürdigen Linden rauschten dazu. »In einer Mondnacht müßte man das erleben«, rief Liliencron schwärmerisch. »Doch was bedeutet das hier?« Und er wies durch die grüne Dämmerung nach einem Passionskapellchen, dessen schmaler Raum ganz erfüllt war vom puren Golde des Mittags. Aus einer klug angebrachten Lucke flutete helles Licht über eine Frauengestalt, die hoch aufgerichtet zu uns herabsah. »Welch seltsames Geschöpf und wie schön sie wäre ohne den abscheulichen Bart.«

Vor dem pfeilzerstochenen Abbild eines Märtyrers betete ein Mönch; den störte ich in seiner Andacht und er war froh, uns dies Denkmal standhafter Keuschheit zu enträtseln. Die Jungfrau in Purpur und blauem Samt ist eine Heilige aus Portugal, die Tochter eines Königs, der zu Oporto herrschte. Gott Vater hatte ihren wohlgestalteten Leib zu seiner Freude gebildet und da auch die Seele der Prinzessin frei von sündigen Gedanken war, entsetzte sich ihr Herz ob den Verführungskünsten der Männer. Denn alle stellten ihr nach, alle wollten sie besitzen, so engelsschön war ihr Antlitz und so üppig die Fülle ihres Körpers. Viele Freier wies sie ab, doch immer neue warben um die Gunst der Reinen, so daß sie ewig von der Liebesraserei der Männer bedroht war. Und weil sie sich ihrer nicht mehr zu erwehren wußte, und der alternde König seiner Tochter gebot, sie möge endlich einen Gemahl nehmen, flehte die bedrängte Jungfrau eines Abends die Mutter Gottes auf den Knien um Schutz an. Welch erlösendes Glücksgefühl am nächsten Morgen vor dem Spiegel! Über Nacht war der Dame im lieblichen Gesicht ein schwarzer Bart gewachsen, der ihr fast bis zu den Hüften reichte, ein überlanger, sehr stattlicher Bart und er befreite sie von den Nachstellungen der Höflinge – keiner begehrte ihrer mehr. So durfte die Prinzessin keusch bleiben ihr Leben lang und ist eine Heilige geworden.

Der Dichter sagte: »Diese altchristlichen Legenden muten mich an wie vollendete Kunstwerke. Seit meinen Kindertagen habe ich eine Schwäche für katholische Kirchen, nur dort vermochte ich mit ehrlicher Inbrunst zu beten. Unsere protestantischen Gotteshäuser sind so nüchtern und morden jegliche Schwärmerei. Hier schreitet man wie durch ein Märchen. Zauberhaft ist Prag, ich erlebe Wunder auf Wunder.« – Eben waren wir aus der santa casa nach dem Lorettoplatz hinausgetreten, und den Dichter überraschte der Anblick des kolossalen Majoratshauses der Grafen Czernin. – »Was bedeutet dort drüben jener grandiose Bau? sicher dient er einem Fürsten zum Wohnsitz.« Und als Liliencron bemerkte, daß er nur eine Artilleriekaserne vor sich habe, äußerte er erstaunt: »Wie merkwürdig reich an Wunderlichkeiten ist doch Ihre Stadt. Wo ein König residieren könnte, schnarchen plumpe Fahrkanoniere.«

Die schwerfällige Pracht des Palastes empfindet man nur vor seiner schier endlosen Fassade. Im Innern ist jeglicher Zierrat längst zerschmettert, die Franzosen mühten sich zwar vergeblich, den Prunkbau in die Luft zu sprengen, aber preußische Belagerungsgeschütze brachten ihm großen Schaden. Und als das Wappen derer von Czernin zerbrach, hauste durch ein Jahrhundert wüstes Volk in dem gewaltigen Majoratshaus und richtete sein Inneres kläglich zu; jetzt sind die freskogeschmückten Festsäle längst in Mannschaftszimmer umgewandelt. – Bevor wir die so anziehende Umgebung von Loretto verließen, lenkte ich die Aufmerksamkeit Liliencrons noch auf das schlichte Kapuzinerkloster im Hintergründe des Platzes. Das Mauerwerk des Kirchleins ist wie besäet mit Kanonenkugeln, wuchtigen Grüßen der Preußen, die, geführt vom Großen Fritz, vom Sandtor her und vom Strahow Einlaß in die Hauptstadt Böhmens forderten. Ein gemauerter Gang führt aus dem Kloster in das Lorettohaus, denn die Kapuziner sind seine Schirmherren. Erzbischof Berka von der Duba hat diese Kuttenträger nach Prag berufen, trotz des heftigen Widerspruchs der böhmischen Stände. Diesen hatte sich sogar Tycho de Brahe (seine Sternwarte stand in der Nähe) protestierend angeschlossen, weil er befürchtete, bei den astronomischen Beobachtungen durch das Geläute der Klosterglocke zur Nachtzeit empfindlich gestört zu werden. Aber die Verwahrungen gegen die fremden Mönche blieben erfolglos: das Kloster wurde gebaut und die Kirche, schmucklos, wie es die Ordensregel gebietet, »Maria, der Königin der Engel« geweiht. Nach der Schlacht am weißen Berge hielten hier der Bayernherzog Maximilian und Graf Bouquoy, der österreichische Generalissimus, die erste Danksagung für den erfochtenen Sieg.

Auch die altberühmte königliche Abtei der Prämonstratenser am Strahow besuchte Liliencron. Vom Pohorzeletzplatz her traten wir in das Stift, besichtigten seine mächtige Bibliothek und bewunderten in der Gemäldegalerie das Rosenkranzfest Albrecht Dürers. In der Stiftskirche standen wir dann vor dem Grabmal des Reitergenerals Pappenheim, der in der Schlacht bei Lützen gefallen ist, und vor dem Sarkophag des Königs Wladislaw. Gefesselt vom Bann all der Herrlichkeiten hatten wir ganz darauf vergessen, unsern äußern Adam durch ein Mittagessen zu stärken. Nun aber strebten wir durch den hohlen Weg, die Spornergasse und über die steinerne Brücke der Altstadt zu. Der Nachmittag war schon sehr vorgerückt, als wir endlich von den Anstrengungen und Beschwerden unserer Wanderschaft im gastlichen »Engel« Erholung fanden. Nachher verplauderten wir die Stunden vor Anbruch des Abends in einem schmucken Kaffeehaus am Graben.

Beim schwarzen Kaffee kam Liliencron auf seinen sechzigsten Geburtstag zu sprechen. Von diesem bevorstehenden Ereignis sprach er wie ein Schwärmer, der den herrlichsten Sonnenaufgang erwartet. Große Hoffnungen setzte er auf den Tag und sagte: »Wenn zehntausend Mark zusammenkommen, bin ich gerettet«. Ich erzählte dem Dichter, daß sich die Gemahlin Richard Dehmels auch an mich gewendet habe, und daß ich alles aufbieten werde, um in Prag mit Erfolg für die Nationalspende zu werben. Beseligt drückte mir Liliencron die Hand, doch sein Dank war übereilt: die Prager haben sich bei jener Gelegenheit nicht sehr angestrengt. Es kann ihnen dies allerdings nicht allzu arg verübelt werden, denn in meiner Vaterstadt geht ewig der Klingelbeutel umher.

»Feudal wars in dem Königsstift am Strahow,« meinte später Liliencron, »man bekam Lust, selbst solch eine Kutte anzulegen. Dieser Reichtum dort an Bildern und Manuskripten und diese Bücher. Wenn man eine Bibliothek besitzt, dann soll sie genau so aussehn. Das Deckengewölbe des Saales mit aparten Fresken bedeckt und die Folianten in geschnitzte und schwer vergoldete Eichenschränke geordnet. Anders wollte ich keine Bücherei haben. Ich dulde deshalb auch nur wenig Bücher in meinem Hause und es hat mich darum auch so wunderlich berührt, als mir unser Hugo Steiner vor Jahren ein eigenes Exlibris schenken wollte. Ich bin zu arm für eine Bibliothek. Widersprechen Sie nicht; die Last von Büchern, die mir tagtäglich in die Stube flutet, rühre ich kaum an; einem alten Fräulein, bei dem ich früher als Junggeselle wohnte, schenke ich den Kram. Die liest alles und befreit mich so von der zudringlichen Druckerschwärze.« – –

Ich führte den Dichter in das Bräuhaus »u Butzku«, wo eine tschechische Singspielgesellschaft ihr Wesen trieb, denn Liliencron wollte das Volk sich vergnügen sehn. Gleich bei unserm Eintritt erlebte er eine Überraschung: ein stämmiges Frauenzimmer gröhlte vom Podium her seine »Musik kommt«, natürlich in slawischer Mundart und sehr frei übertragen. Doch Liliencron erkannte an der Melodie sein populäres Gedicht und lachte vergnügt: »Wenn die Leute hier wüßten, daß der Poet mitten unter ihnen sitzt; hoffentlich verraten wir uns nicht.«

Seine Sorge war überflüssig, sicher hatte keiner dieser Werkgesellen und Lohndiener jemals den Namen Detlev Liliencron auch nur nennen gehört. Aber sein Poem summten alle behaglich mit und die dicke Bretteldiva mußte es sogar wiederholen.

Wir befanden uns in einem schmalen, sehr langen Gelaß, das oben durch eine blau-gelbdrappierte Bühne abgeschlossen war. Eine schäbige Würde breitete sich hier über alle Dinge, selbst die frechsten Zoten wurden wie edles Obst genossen. Selten lachte wer, man schmunzelte kaum und betrug sich zum lieben Nachbar ausgesucht höflich. Im Saale machte der Herr Direktor die Honneurs, er kam auch an unsern Tisch und ehrte uns durch eine deutsche Ansprache, was keiner in der Nähe Übel nahm. Der Direktor, ein Mann von auffallender Größe, in fadenscheinigem Gesellschaftsanzug, mit einer falschen Goldkette und drei Riesenbrillanten an der Hemdbrust, behandelte sein Publikum sehr herablassend und gönnerhaft. Das Bier, das ihm die Gäste aus ihren Gläsern reichten, empfing dieser Künstler, als ob er ihnen dadurch ein Geschenk erweisen würde, und wenn er einem der Leute die beringte Hand hinhielt, so geschah es mit der Geste eines Fürsten. Dabei wich keinen Augenblick das ironische Lächeln aus dem rasierten Antlitz. Auch als sich der Herr Direktor auf die Erde legte, um der Sängerin unter die Röcke zu sehn, geschah es mit unerschütterlicher Würde. Aus den geschminkten Gesichtern der Mädchen, die tonlos ihre Lieder plärrten, klagte die Not, und das hochmütige Grinsen des Komikers war eine dürftige Maske. Aber die Handwerker und Kutscher an den Tischen merkten nichts davon, sie saßen andächtig wie in einem Kunsttempel und taten schweigend lange Züge aus den Steinkrügen.

Der Direktor, als tschechischer Musikant verkleidet, besang dann seine Erlebnisse im Orient, und nach jeder Strophe blies er in eine Papiertrompete, daß die Fensterscheiben klirrten. Den Kehrreim habe ich mir gemerkt:

Der Sultan sitzt melancholisch
Im ersten Stock,
Trinkt Englischbitter
Und ißt Gänseleber.

Welcher deutsche Volkssänger hätte den Mut, seinen Hörern solch eine Albernheit zu bieten? Ich übersetzte Liliencron diesen reizvollen Kehrreim und er war so erheitert davon, daß er die Kellnerin heranwinkte und ihr austrug, dem Künstler eine Flasche Wein auf die Bühne zu reichen. »Wir führen keinen Wein«, stotterte sie verlegen – »dann verschaffen Sie sich ihn irgendwo«, entschied der Dichter.

Als das Fräulein die sorgsam in Seidenpapier eingewickelte Flasche auf das Podium stellte, empfing der Künstler diese Huldigung mit der Miene eines Triumphators, dem die Vasallen ihren Tribut überreichen. Er verneigte sich majestätisch und sprach: »Gestatten Sie, daß ich den Wein meiner kranken Gemahlin bringe«. Liliencron war gerührt. Aber später gestand ihm die niedliche Kellnerin, sie habe die Flasche sofort wieder in die Weinstube zurücktragen müssen, denn das bare Geld sei dem Künstler lieber gewesen.

Inmitten dieser Banalitäten überraschte uns plötzlich und unvermutet ein künstlerisches Ereignis. Auf die Bühne stürzte, einer rasenden Bacchantin gleich, ein Weib. Der pompöse Körper der Frau war bedeckt mit einem silbernen Schuppengewand; das schillerte einen erlogenen Prunk vor, glänzte und warf bei jeder Bewegung tausend Reflexe in den Saal. Und sie flötete, zwitscherte und schwatzte und war anzusehn, wie ein Traumbild aus einer schwülen Mondnacht. Mit verbuhlten Augen blickte sie um sich: das unverhüllte Laster lockte darin und verruchte Begierden. Raubtierlüste und unbewußte Kindlichkeit stritten um ihren lachenden Mund, der viel zu rot war.

»Das ist die silberne Sphinx«, flüsterte Liliencron, »die neue Sphinx, nicht die antike, die einen Tierleib hatte und ein menschliches Haupt. Hier ist es umgekehrt, blicken Sie den Kopf dieser Frau an; zeigt er nicht eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Physiognomie eines Schweines? Und dazu der prachtvolle Menschenleib. – Solch ein Motiv dürfen Sie sich nicht entgehn lassen. Sie schreiben das Gedicht, ich rechne darauf, und schicken es mir zu meinem sechzigsten Geburtstag. Die Hand bitte, daß Sie Ihr Wort halten.« Ich habe mein Versprechen eingelöst, und der Dichter dankte mir mit ein paar lieben Zeilen; jenes Gedicht aber, zu dem der Meister Pate gestanden, will ich hierher setzen als ein Zeichen dankbaren Gedenkens an den Unvergeßlichen.

Die neue Sphinx.

Immer sind meine Träume rein
Wie ein Garten im Sonnenschein,
Mit bunten Beeten, mit Taxushecken,
Mit Rosenlauben in stillen Ecken;
Von allen Zweigen sickert der Duft
Und hundert Lieder sind in der Lust.
Aber gestern in der Nacht
Hat mir ein Traum Entsetzen gebracht –;
War ein böses und garstiges Bild,
Das meine Seele gefangen hielt.

Ich ging, und wußt nicht wo und wann.
Ich hatte Narrenkleider an,
Ich hatte ein häßlich Affengesicht
Und in den Händen trug ich ein Licht;
Und vor mir her trieb ich ein Schwein,
All meine Sehnsucht sollte es sein.
All meine Sucht, und all meine Gier –
Dieses abscheuliche Borstentier!
Ich wollt es fangen, ich wollt es fassen,
Und durfte dabei mein Licht nicht lassen,
Und arge Angst hat mich gequält,
Daß nur kein Wind mein Licht entseelt.

Und vor mir her – hojhoh! – der Spuk,
Bald zeilengrad und bald im Bug,
Und immerzu in irrem Lauf,
Im Trippeltrab, bergab – bergauf –
Schnellbeinig eine feiste Sau,
Und hatte Brüste einer Frau,
Und um den Hals ein buntes Band,
Und lachte gierig und galant.

Dies Lachen hab ich schon gehört,
Dies Lachen hat mich oft empört,
Dies Lachen hat mein Herz verbrannt,
Als es in erster Blüte stand. –
Wer nimmt von mir die tiefe Schmach?
Das Laster lacht und zieht mich nach,
Und zieht mich mit und ist kein Trug;
Ich folge willig diesem Spuk,
Und immerzu und wie im Bann
– Und Frauenaugen sehn mich an.

Die silberne Sphinx war die letzte Darbietung. Nachdem der »Kapellmeister« auf dem greulich verstimmten Klavier dann noch einen Marsch getrommelt hatte, verließen die Gäste mit der Miene befriedigter Sehnsucht und still den Schenkraum. Wir blieben sitzen, um zuzusehn, wie die Tageslosung unter die Künstler verteilt wurde. Es waren sieben Kronen in der Kassa, und da die Gesellschaft fünf Mitglieder zählte, entschied der Direktor: Ihr bekommt jeder eine Krone und ich behalte zwei. Darüber große Empörung unter dem Personal. Alles murrte und begann zu schimpfen, am gemeinsten benahm sich die silberne Sphinx, die ihrem Chef vor die Füße spuckte, ihn einen weißhaarigen Gauner nannte. Längst war alle Würde gewichen von dem Antlitz des Mannes mit den drei Riesenbrillanten auf der Hemdbrust, und wir flüchteten hastig aus diesem Tempel der zehnten Muse.

Nahe dem Porzitsch kehrten wir noch in einem winzigen Café ein und nahmen an dem einzigen Tisch, der fast die ganze Stube ausfüllte, Platz. Kaum hatten wir es uns bequem gemacht, trat die Singspielgesellschaft, bei der wir zu Gaste gewesen, ins Zimmer, grüßte und setzte sich bescheiden an das andere Ende der Tafel. Nur die silberne Sphinx näherte sich uns eroberungssüchtig, aber der Meister sagte bedächtig: »Wir wollen uns den künstlerischen Eindruck von vorhin nicht zerstören lassen; ich hasse es, Erlebnisse, die wie ein Traum waren, durch die Wirklichkeit korrigiert zu sehn.«

So zahlten wir unseren Sliwowitz und fanden schief gegenüber im nämlichen Gäßchen ein Kaffeehaus, dessen drei runde Tische malerisch um ein zerbrochenes Billard gruppiert waren. Zwei einsame junge Damen schienen uns erwartet zu haben, so erfreut waren sie von unserem Eintritt. Liliencron schloß schnell mit ihnen eine herzliche Freundschaft, nannte die Mädchen Mine und Stine und fragte, ob sie sein Gedicht »Betrunken« gelesen hätten. Später sagte er: »Ich nehme Euch nach Hamburg mit, Ihr dauert mich, weil Ihr gar so häßlich und klein seid wie Mäuse.«

Da wir wieder auf dem Porzitsch waren, lockte schwermütige Musik Liliencron nochmals in ein Nachtlokal, wo ein buckliger Mensch virtuos die Zither spielte, und ein Fräulein mit strohgelbem Haar gellend zu den Witzen ihres Kavaliers lachte. Endlich sagte Liliencron: »Es ist spät geworden und ich muß morgen früh aus dem Bette. Gehen wir schlafen.«

Der nämliche Droschkenkutscher, der meinen Gast vor sechs Jahren nach dem Staatsbahnhof gebracht, holte am nächsten Morgen den Dichter zur Abreise. Liliencron trug mir noch auf, an die Heldin seines Romans »Mit dem linken Ellenbogen« ein Telegramm aufzugeben und reichte mir aus dem Fenster seines Abteiles einen Zettel, auf dem die Worte standen:

An Fräulein Kuisei
Inhaberin des Restaurants Lucullus
Charlottenburg
Schlüterstr. 3.

Ich komme heute nachmittag vor.

Detlev.

Als der Zug aus der verrußten Halle fuhr, rief mir der Dichter zu: »Heißen Dank! Ich war glücklich in Ihrem herrlichen, unvergleichlichen Prag. Denken Sie an das Gedicht!«

*

Alt-Rahlstedt bei Hamburg, 7.5.04.

Noch einmal, mein lieber alter Oskar Wiener, muß ich Ihnen auch von hier aus meinen innigsten Dank sagen für Ihre Güte und Gastfreundschaft in Prag. Es sind mir unvergeßliche Stunden gewesen! Ich habe mir wieder für 10 Pfg. ein Sparbüchslein angeschafft: Pfennig für Pfennig hübsch zu einer Reise nach Prag etwa in 5 bis 10 Jahren. Und dann müssen Sie in dieser märchenhaften Stadt in jeder Weise mein Gast sein. Und einmal auch im »Blauen Stern« (meinetwegen auch im »Blauen Löwen«). Und dazu sammle ich jetzt schon. Möge es uns dereinst glücken!

Poggfred in zwei Teilen bekommen Sie von mir (Sch. u. L.) im Juni zugesandt. In meinem jetzigen, in der Tat allerletzten, 25. Poggfred-Cantus schrieb ich in diesen Tagen 4 » Prag«-Ottave Rime. Denn diese wundervolle, wunderbare, märchen- und sagendurchlebte Stadt hats mir für alle Zeiten angetan. Ich schrieb: Maria im Schnee – und die 351 Edelleute mit ihren ältestgeborenen Söhnen, die unterm Beil vorm Rathaus starben. Bitte: Als volle Ballade möcht ich den hebräischen Christus schreiben. Hätten Sie zufällig den Stoff gedruckt, so bäte ich darum.

Und bitte: Wird Slavata (Martinitz und Slavata) nicht gesprochen: Slávata? Ists auch richtig so geschrieben. Ist die Cedille richtig auf dem ersten »á«? Und noch eins: Wie heißt »Leb wohl« (Adieu, Grüß Gott, p. p. p.) auf tschechisch? Es dürften auch nur 2 Silben (oder zwei einsilbige Wörter) sein, mit dem Ton (wie »Leb wohl«) auf der 2. Silbe. Gibt es das? Ja? Dann schreiben Sie mir recht deutlich diese beiden Silben (ober diese zwei einsilbigen Wörter).

Vielen herzlichen Dank den Ihrigen, der lieben Frau Mutter. Ich schlief so schön in Ihrem Hause.

Ihr Detlev Liliencron.

*

A. R. b. Hbg., 11. 6. 04. Vielen, vielen Dank, mein Oskar Wiener für Ihren lieben Brief und für Ihr ganz ausgezeichnetes, tiefes Gedicht, dessen Ursprung ich ja kenne. Wie wundervoll wärs, wenn Sie nach Seedorf in Holstein kämen auf ein paar Wochen. Dann würden Sie natürlich einige Tage bei uns sein in Alt-Rahlstedt. Vielleicht lese ich in Aussig, Karlsbad und Dresden im Herbst oder Winter vor. Und dann käme ich sicher wieder auf zwei Tage nach unserem alten Praha.

Ihr alt- und treuergebener
Detlev Liliencron.

*

Alt-Rahlstedt bei Hamburg, 14. Mai 1904.

Mein teurer Poet Wiener, Dank für Ihren so lieben, interessanten Brief! Der neue Poggfred wird mir eben gebracht. Ich schicke Ihnen ihn (mit einer herzlichen Widmung) morgen. Ich denke noch soviel an Sie und Prag. Ich schrieb Ihnen von meinem Sparbüchschen. Und dann komme ich mal wieder nach Prag. Und lade Sie ganz ein. Und wir bummeln dann wieder durch die alten Straßen. Und essen im »Blauen Stern«. Meine herzlichen Empfehlungen den lieben Ihren. – Na zdar! für heute. Ihr

Liliencron.

*

Alt-Rahlstedt bei Hamburg, den 14. 9. 4.

Den ganzen Sommer hatte ich auf meinen lieben Freund Oskar Wiener gewartet. Leider vergebens.

Nun komme ich wahrscheinlich noch eher zu Ihnen als Sie zu mir. Hören Sie weshalb, mein lieber, herrlicher Oskar Wiener:

Es ist so gut wie gewiß, daß ich – ich lese am 7. Nov. bestimmt in Dresden – am 8. Nov. in Aussig lese, und am 9. in Karlsbad. In Karlsbad bleibe ich dann auf Einladung von Porges bis zum 12. November. An diesem Tage möchte ich dann unendlich gern noch mal nach Prag, wenn ich da noch mal am 12. oder 13. lesen könnte. Am 15. Nov. früh – der Zug geht Punkt 6 Uhr von Prag ab – in einer Tour nach Hamburg (Alt-Rahlstedt). So daß ich also am 15. Abends wieder hier wäre. Nun aber könnte ich nur kommen, wenn ich die zwei Nächte in Ihrem lieben Hause wohnen dürfte und wenn ich in Prag lesen könnt. Bitte setzen Sie sich deshalb schon jetzt in Verbindung mit den Herren der Bohemia und mit Herrn Leo Egerer, Prag, Bergmannsgasse 3. Mit Herrn Leo Egerer würde ich mich auch selbst in Verbindung setzen, sowie Aussig und Karlsbad sicher sind. Warten Sie nur bitte meinen nächsten Brief noch ab. Die anl. vier Freimarken bitte ich zu nehmen. Ich kann sie hier nicht verwerten.

Ich habe den 25. Poggfred-Cantus geschrieben. Ich schicke ihn Ihnen in 3-4 Wochen (gedruckt). Darin kommt viel von Prag vor! In Prag sind Sie die beiden Tage mein Gast. Wir essen auch mal – Sie sind immer mein Gast – im Blauen Stern. Und dann bummeln wir wieder durch Prag, Sie und ich. Übrigens hat Paul Leppin einen ganz wundervollen Aufsatz über mich zu meinem Geburtstag geschrieben! Himmel, welch Freude hatte ich! Also meinen nächsten Brief noch abwarten.

Ihr alter L.

Viele Grüße Ihrem lieben Hause.

*

(Telegramm.)

Ankomme Freitag 1 Uhr 10 bitte bestimmt allein erwarten.
Liliencron.

*

Ich hatte Not, meinen Schrecken zu verbergen, so verändert fand ich den Dichter seit unserer letzten Begegnung. Ergriffen blickte ich in das liebe Gesicht; es war gealtert, ein müder Zug lag um den Mund und aus den blauen Augen klagte nervöse Unrast. Liliencron sah besorgt um sich, ob kein Fremder mit zum Empfang gekommen war, und atmete wie befreit auf, als er merkte, daß ich ihn allein erwarte. »Sie haben also doch das Geheimnis gewahrt?« forschte er. »niemand weiß, daß ich heute schon hier bin. Also haben wir einen ganzen Tag für uns, der muß ausgenützt werden! Nachher bin ich die Beute meiner Verehrer. Ist unser historischer Droschkengaul da?«

Im Wagen überraschte mich Liliencron mit dem Entschluß: »Sobald ich ein wenig restauriert bin, gehen wir Wohnung suchen. Ich will verschwinden aus den teutschen Bezirken, wo die jungen Tichter Jagd auf mich machen. Mein Abend ist bedroht von Bewunderung und Hurrageschrei. Der Ekel schüttelt mich, wenn ich daran denke, wie diese Leute begeistert tun. Sehn Sie, zu meinem sechzigsten Geburtstag hat sogar Gerhart Hauptmann ein Gedicht gemacht, aber als ich ihm nach dem Erfolg seines ersten Dramas neidlos einen herzlichen Brief schrieb, würdigte er mich keiner Antwort. So sind alle! Ich will verschwinden; hier in Prag bin ich nur wenigen bekannt und vor diesen werde ich mich zu schützen wissen. Und die hunderttausend Anderen verstehn kein deutsches Wort, haben gewiß meinen Namen niemals nennen gehört. Welch ein Glück, in solch einer Stadt zu wohnen als ein vornehmer Fremder, unbehelligt von den Nachbarn – unbeobachtet. Dabei stützt mich das Gefühl, daß ich hier schon einmal gelebt habe, in der Barockzeit vielleicht, aber beileibe nicht als Dichter, eher als Feldhauptmann des Friedländers. Das war ein Künstler!«

Bei uns zu Hause gönnte sich Liliencron kaum Zeit zum Essen. »Wir gehn Wohnung suchen«, sagte er zu meiner Mutter.

Ich nahm seinen Eifer nicht ernst, aber mit erregter Hartnäckigkeit blieb er bei seinem Entschluß und so strebten wir eilends der Kleinseite zu. Von nichts anderem wollte der Dichter auf dem langem Wege sprechen. Hundert Fragen stellte er, die alle seinem Plan entsprossen waren, sich in Prag anzusiedeln. So begann ich selbst an die Ernsthaftigkeit dieser Absicht zu glauben, wiewohl mir doch von früher her bekannt war, wie leidenschaftlich oft Liliencron Augenblickseingebungen nachzuhängen pflegte. »Was kosten«, fragte er, »zwei Zimmer; Aussicht: über Gärten hinweg nach dem Hradschin?« Das wußte ich nun nicht, meinte aber, daß für eine vierköpfige Familie zwei Stuben doch gar zu bescheiden wären. Liliencron sah mich wie aus einem Traum erwachend an: »Natürlich, die Baronin muß ihr eigenes Zimmer haben und die Kinder auch eins, und dann ist auch noch ein Eßraum von nöten. Ich wohne abgeschlossen in der Mansarde. Bekommt man solch ein Haus ganz für sich und ist die Miete nicht zu teuer?«

Darüber wußte ich keine Auskunft und schlug vor, an der Belvederelehne und am Fuße des Laurenziberges Umschau zu halten. Liliencron schüttelte den Kopf: »Nur im Bannkreis der Königsburg mag ich wohnen. Im April, da wir die alte Schloßstiege heraufkamen, fiel mir ein starkgegiebeltes Gartenhäuschen auf, das phantastisch über die Mauer des Sankt Wenzels-Weinberges lugte. Dorthin wollen wir.«

Zu Füßen der Hofburg, im Park des Fürsten Fürstenberg und im Garten des gräflich Palfyschen Palastes stehn unbenutzt ein paar kleinere Gebäude, die recht wohnlich anmuten. Mit echt vornehmer Zwecklosigkeit halten sie sich dort hinter Buschwerk und Bäumen verborgen und sind wahrhaftig verlockend genug für so manchen Menschen von Feingefühl und Geschmack, der die Wirrnis in den Mietkasernen haßt. Solch ein Gartenhaus, hier unbewohnt, dem Verfall preisgegeben, könnte einen armen Künstler beglücken; unbelästigt von lärmender Nachbarschaft dürfte er da den ersehnten Frieden wiederfinden und Schaffenskraft zu neuen Werken. Indessen dienen die zierlichen Räume als Rumpelkammern, und die Kreuzspinne webt geruhsam ihre Netze über Gießkannen, Rechen und Harken. Wie ich es erwartet hatte, erhielten wir den hochmütigen Bescheid: Hier wird nicht vermietet. Und kleinlaut und enttäuscht flüchteten wir in das Kaffee Radetzky.

Durch diesen Mißerfolg bedrückt, und brutal aus der hoffnungsvollen Stimmung gerissen, hing Liliencron düsteren Bildern nach: »Keiner glaubt mir, wie oft ich mich jetzt ermüdet fühle«, klagte er und begann von seinem nahen Tod zu sprechen. »Plötzlich werde ich sterben und bald. Meine Hoffnung bleibt, der Kaiser nimmt den kleinen Wulff in sein Kadettenkorps. Früher dachte ich daran, den Sohn zum Kaufherrn zu erziehn. Ich empfinde darin wie Knut Hamsun; Sie kennen doch dessen Roman »Erde«. Der Handelsstand ist der einzige positive Beruf. Werte tauschen, Güter umsetzen, als friedlicher Eroberer viel Geld verdienen – welch ein Gefühl der Befriedigung muß das geben. Nun, mein Sohn wird auch ein guter Soldat, ich möchte ihm aber ein besseres Los gönnen.«

Auf meine Widerrede, daß er ja selbst ein begeisterter Kriegsmann war, entgegnete der Dichter trüb: »Gewiß, ich habe den Tod oft in Versuchung gebracht, allein er wollte mich nicht. Doch jetzt greift er nach mir und bald bin ich gewesen«.

Um Liliencron auf andere Gedanken zu bringen, schlug ich einen Spaziergang nach dem »Goldenen Brünnel« vor. Dort wäre vielleicht noch eine passende Wohnung zu finden, und wenn nicht, so müßte ihn sicher der unvergeßlich schöne Rundblick über die Stadt mit dem vergeblichen Weg aussöhnen. Liliencron hatte das Gesicht eines Kindes, das an seinem Spielzeug keinen Gefallen mehr findet, als er mir nach dem nahen Ziele folgte. »Haben wir noch weit zu laufen«, fragte er zögernd, da wir auf dem winzigen Fünfkirchenplatz an der einladenden Bank, die dort unter einer Linde steht, vorbeigingen. »Nur noch ein paar Schritte«, sagte ich ermutigend und dann nahm uns ein Gäßchen von wahrhaft orientalischer Enge auf. Dieses führte nicht weit, denn unser Weg wurde gehemmt von einem düster ragenden Gebäude, das der Straße ein jähes Ende bereitete und mit seinen Schatten alles in unfreundliche Finsternis hüllte.

Hier herrschte Schmutz und Ungeruch und ich hatte Mühe, den widerstrebenden Dichter weiterzubringen. Wir tasteten uns durch die schwarze Toreinfahrt und in dem schmalen Höfchen wies ich auf den Rohrkasten, der dort armselig in einem Winkel kauert: Das ist der berühmte goldene Brunnen, von dem die Chronisten Wunder erzählen. Jetzt trinkt das Bettelvolk dieser Mietskaserne gedankenlos sein Zauberwasser, aber einst haben die Alchimisten Kaiser Rudolfs mit Inbrunst diese kostbare Flüssigkeit geschöpft. Selbst Tycho de Brahe hätte dafür die Hand ins Feuer gelegt, daß unser Brunnen hier goldhältiges Wasser berge und auch der gekrönte Träumer in der Königsburg glaubte an das Mirakel.

Liliencron fing das Wasser in der hohlen Hand auf und ließ die Tropfen nachdenklich zur Erde fallen. Dann klommen wir die halsbrecherischen Stufen empor, die unter unsern Tritten ächzten wie verwunschene Seelen im Fegefeuer. Die vernachlässigte Wendeltreppe führte an proletarischen Wohnungen vorbei, aus deren Fenstern neugierig Weiber blickten; auf Pawlatschen und gedeckten Gängen tummelten sich schlecht gekleidete Kinder und alles starrte vor Unrat und predigte Elend. »Wohin führen Sie mich?« sagte Liliencron unwillig, als die Stiegen zu Ende gingen und uns ein neuer Hof, dem früheren ähnlich, aufnahm.

»Durch Häßlichkeit zur Schönheit«, gab ich Auskunft und schritt weiter. Wieder kletterten wir neue Stufen empor; drei solcher Höfe voll melancholischer Armseligkeit mußten überwunden werden, drei Häuser gab es da, von denen eins immer auf der Schulter des andern stand. Dann kamen wir ins Freie.

Ganz unerwartet tat sich jetzt das große Wunder auf und ein Anblick von hinreißender Pracht überraschte Liliencron. Unten flutete das Häusermeer Prags. Die Abendsonne hatte ihre festlichen Flammen entzündet und die Fenster in den langen Häuserreihen leuchteten wie bei einer Illumination Hundert Türme tauchten ihre Knäufe in den blassen Himmel, über die breite Moldau spannten die Brücken stolz ihre Bögen und die Berge rings lagen im letzten Glanz. Dicht zu unsern Füßen breitete die altertümliche Kleinseite ihre Arme um den Hradschin. Aus dem Schatten tauchten die phantastisch geformten roten Ziegeldächer auf und mitten darin schwamm die moosgrüne Kuppel der Niklaskirche gleich einer überirdischen Insel. Die späten Lichter des Abends spielten um die entlaubten Linden eines weiten Parks, dessen reizvolles Viereck in der Tiefe zum Greifen nahe vor uns lag. Hinter uns reckte die Königsburg ihre Mauern, die Türme des Domes langten gebieterisch in die Wolken, wie die Kulisse einer gewaltigen Ballade war das Ganze.

Wortlos stand Liliencron und genoß das zauberhafte Bild. Dies verschwenderisch prunkende Naturgemälde brachte des Dichters Schönheitssinn in erregte Bewegung. Als er sich satt gesehn hatte an der Pracht, lief er mit jugendlicher Behendigkeit die schier endlosen Stufen herunter, so daß ich ihm kaum zu folgen vermochte und schmetterte: »Heute wollen wir einmal kräftig bummeln!«

Alle Schwermut war aus Liliencrons Herzen gewichen, die Augen leuchteten ihm vor Unternehmungslust. Ich sah niemals einen Mann in diesen Jahren sich so schnell aus todestrauriger Befangenheit zu kindlichem Frohsinn emporschwingen.

Die Kleinseite ist der stillste Stadtteil Prags. Das hat sich seit dem Umsturz der politischen Verhältnisse sehr verändert: Jetzt geht es auf der Kleinseite recht lebhaft zu. Dort gibt es noch Plätze, wo Gras zwischen den Pflastersteinen sprießt und namentlich am Abend machen manche Straßen den Eindruck, als ob sie einer friedlichen Landstadt von sehr ehrwürdigem Alter angehören würden. Es scheint auch nirgends so viel Greise zu geben wie just auf der Kleinseite und weil alte Leute gern die Hände in den Schoß legen und ihnen eine überhastete Eile fremd ist, bekommt der ganze Stadtteil den Charakter einer sanften Beschaulichkeit und es ist sonderbar still in den Straßen. Diese vornehme Ruhe paßt so recht zu den Palästen, die dort der Adel einst gebaut hat, und zu den erstaunlich vielen Kirchen. In diese gedämpfte Atmosphäre würdiger Staatsbeamten, geistlicher Herren und adeliger Haushofmeister, die wie betupft sind mit grauer Farbe, greift bunt das Leben der Garnison. Man trifft hier viel Militär auf der Kleinseite, Generäle, mit grünen Federhüten, und gemeine Infanteristen.

»Ich möchte eine Soldatenschenke sehn,« entschloß sich Liliencron. Nach der »Marianka«, wo täglich die »Bereitschaft« Ordnung machen muß, weil Kanoniere mit Landwehrleuten dort um die Mädchen raufen, war es zu weit und so brachte ich den Dichter unter die Lauben des Ringplatzes zur »Großmutter«.

In der verräucherten Wirtschaftsstube, die an Größe einem Tanzsaal glich, saßen schweigsam ein paar Unteroffiziere beim Kartenspiel. Sonst war nur noch ein stämmiges Weib da, lehnte müßig in der dunklen Toreinfahrt und gähnte laut. » Fanda na šancu« stellte ich sie Liliencron vor und die Schanzenfanni lächelte gelangweilt. Sie war berühmt durch ihre Vorliebe für das zweifarbige Tuch, aber nur den »Elfern« schenkte sie ihre vielbegehrte Neigung, andere Soldaten fanden verschlossene Türen bei dieser galanten Dame. Doch dem elften Regiment pflegte sie mit glühender Beharrlichkeit bis ins Sommerlager zu folgen und war nicht einmal durch Steinwürfe aus dem Manövergelände zu verscheuchen. Zivilisten strafte die Schanzenfanni mit Verachtung und auch der Dichter hatte kein Glück bei ihr.

»Hier ist's ungemütlich«, erkannte Liliencron, »ich möchte Musik hören, am liebsten einen böhmischen Dudelsackpfeifer, solch einen Gevatter Schwanda, wie er in Ihrer Tanzballade gezeichnet ist.«

Damit konnte ich dem Dichter nun nicht aufwarten, denn der sagenhafte Vorstadtsänger Schwanda dudák ließ vor rund drei Jahrhunderten seine Sackpfeife in den Prager Schenken erschallen. Doch von einer unverfälschten Harfenistin wußte ich und die Alte kannte viele tschechische Volksweisen und Schelmenlieder. So kamen wir in die »Drei Eicheln« auf dem wälschen Platz, der jetzt Neumarkt heißt.

Das war ein Wirtshaus so recht nach dem Geschmack Liliencrons. Man saß da wie bei einem Kleinbürger in der »guten Stube«. Geräumig war das Zimmer, und der Hausrat von leuchtender Sauberkeit. Ein Kanapee aus der Biedermeierzeit, eine Kuckucksuhr, Mullgardinen und an der Wand zwei verblaßte Kupferstiche: Die Altersstufen (vom Kindlein bis zum Greis) und die Himmelsleiter neben der Stiege die zur Hölle führt. Auf dem Sofa schlief ein rostroter Kater und in einem großen Vogelbauer schnäbelte ein Turteltaubenpaar. Liliencron war entzückt, entzückt von der Gastlichkeit der Stube, die nichts wirtshausmäßiges hatte, entzückt von der behäbigen Schenkin, die sich mit Hausfraueneifer in der Küche zu schaffen machte, und entzückt von der alten Harfenspielerin, die sofort in die Saiten griff, da wir ein Lied verlangten. Es waren ein paar Gäste da; bescheiden tranken sie ihr Bier und lauschten mit uns dem merkwürdig klaren Gesang der Greisin. In die schwermütigen Weisen mischte sich das Gekicher der Turteltauben und der knarrende Kuckucksruf der Uhr.

Als Liliencron Hunger bekam und scherzhaft nach der Speisekarte rief, erfuhr er, daß nur Bierkäsel und kalte Wurst zu haben wären. Wie er darüber laut seinen Unmut äußerte, da geschah etwas Wunderbares: Ein Mann vom Nebentisch erhob sich und humpelte eilfertig aus der Stube. Und bald stand vor Liliencron eine Schüssel voll Prager Schinken, den der gefällige Nachbar in einem nahen Selchwarengeschäft geholt hatte. Der ungewohnte Vorgang machte den Dichter staunen. »Wie köstlich«, rief er, »ein Gast bedient den andern, das ist noch nicht dagewesen«. Wir spendeten dem Veteranen eine Flasche Bier und er erzählte seine Erlebnisse bei Königgrätz, denn anno 66 hatte er als Unterjäger dort gefochten. Das fesselte nun Liliencron sehr und mit Bedauern sah er den Invaliden Abschied nehmen, als vor dem nahen Generalkommando der Zapfenstreich geblasen wurde. Auch die andern Gäste gingen nachher bald heim, und nun spielte und sang die Harfenistin ausschließlich für uns. Schon wollten auch wir aufbrechen, da trat eine Matrone, gefolgt von einer jungen hübschen Person, ins Zimmer. So blieben wir noch und gerieten bald mit den beiden Frauen ins plaudern. Es war Mutter und Tochter und die ehrwürdig aussehende Frau suchte für ihr Töchterchen einen Liebhaber.

»Es soll etwas Solides sein, nichts von heute auf morgen; denn ich halte auf Anstand und gute Sitten«, sagte sie. »Das muß ich, denn mein Mann ist kaiserlicher Amtsdiener und wir besitzen sogar ein Teilhaus. Die beste Erziehung hat man der Mizzi angedeihn lassen, sie kann deutsch und spricht französisch wie eine Prinzessin. Und gar Klavier sollten Sie sie spielen hören. Einen hohen Beamten hätte sie heiraten können, einen Mann wie ein Bild so schön, und ist die Frau eines ganz gewöhnlichen Feldwebels geworden; aber das kommt davon, wenn man seinen Eltern nicht folgt. Was haben wir gebeten und gezankt; nun hat sie der rohe Mensch mit dem Säbel geschlagen aus Eifersucht. Zeig mal die blauen Flecken Mizzi! Welch eine Herzlosigkeit, solch ein schönes Weiberl zu prügeln; sie ist ihm auch gestern durchgebrannt und ich will ihr bei einem älteren Herrn jetzt einen Posten verschaffen. Sie kann alles, möchten Sie sie nicht zu sich nehmen, Herr Baron?«

Diese Frage galt Liliencron, der der redseligen Alten Bewunderung einflößte, seitdem sie gehört hatte, daß ich ihn mit Baron ansprach. Der Dichter verhandelte nun scheinbar ernsthaft mit den beiden Frauen, fragte nach den Küchenkenntnissen der blonden Mizzi und genoß ihre Feuerblicke mit Behagen. »Zu Neujahr bekommen Sie ein grünes Seidenkleid, das wird herrlich zu Ihrem Rotblond passen; täglich wünsche ich grüne Erbsen als Fleischbeilage, das ist mein Lieblingsgemüse«.

Es war spät geworden, als wir endlich schlafen gingen.

Ein verregneter Novembermorgen. Weiße Nebel lagerten über den Wiesen im Baumgarten, aber selbst der unfreundliche Spätherbsttag vermochte nicht, die Schönheiten des großen Parkes ganz zu verwischen. Durch die einsamen Promenadenanlagen und den freundlichen Villenort Bubentsch gelangten wir zum Sandtor. Verwundert blickt dieses letzte der Prager Stadttore in die neue, völlig verwandelte Umgebung. Unser Weg galt dem Lustschloß der Königin Anna, dem Belvedere, dessen malachitgrünes Kupferdach edellinig durch die kahlen Bäume schimmerte. Die Gemahlin Ferdinands I. sehnte sich krank nach ihrer wälschen Heimat. Fröstelnd empfand sie den starren Prunk der Kaiserburg und trauerte um die sonnige Heiterkeit ihrer Kindertage. Sie mit dem Schicksal auszusöhnen, ist dies zierliche Lustschlößchen entstanden und von Ferabosco di Lagno getreu jenem Palazzo nachgebildet, das die italienische Prinzessin nur ungern verließ, um eine Kaiserin zu werden. Ein breiter Balkon umkreist das ganze Gebäude, wird von sehr schlanken Marmorsäulen getragen, und die Felder über den Kapitälen sind mit Darstellungen aus der Heroenzeit Altgriechenlands geschmückt. In diesem parkumhegten Schlößchen mühte sich die königliche Frau, ihr Heimweh zu verwinden. Später saß dort Kaiser Rudolf an sternenklaren Nächten und beobachtete in Gesellschaft Tycho de Brahes die Gestirne. Dort soll der Monarch auch die Spaniolin Rahel, die Tochter seines jüdischen Antiquars, verborgen gehalten haben. Dort endlich schloß er sich grollend ein, um den Festesjubel nicht zu hören, als sein Bruder Matthias im Veitsdom gekrönt wurde. Nachher entwürdigte man das kleine Märchenschloß zu einem Laboratorium der Artillerie, bis eine einsichtsvollere Zeit seinen Kunstwert neu entdeckte. Die »Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde« nahm sich des Belvederes an und rettete es so vor dem gänzlichen Verfall. Jetzt sind die Wände mit Freskomalereien bedeckt, mit Darbietungen aus der Geschichte Österreichs. Ein einarmiger Invalide erläuterte uns diese recht mittelmäßigen Historienbilder.

Nachher durchstreiften wir den weitläufigen Kaisergarten. Ferdinand I. hat ihn angelegt und der Park galt als einer der berühmtesten Gärten von ganz Europa. Hier hat zum erstenmale im Abendlande die Tulpe geblüht, die der kaiserliche Gesandte Busbek aus Konstantinopel mitbrachte und die seltene Zwiebel seinem Monarchen verehrte. Eine Fontäne aus echter Goldbronze, die heute noch vor dem Lustschloß der Königin Anna ihre Wässer springen läßt, ist von Rudolf errichtet worden; ebenso das prachtvolle Ballhaus, wo einst die Damen und die Herren der Hofgesellschaft Ball spielten und wo jetzt Fahrkanoniere das Heu für die Pferde einlagern. Der Löwenzwinger des Kaisergartens dagegen ist längst beseitigt, und nur die Handschuhballade erinnert noch an ihn, denn hier soll sich jene, von Friedrich Schiller erzählte, ritterstolze Begebenheit zugetragen haben.

Über die »Staubbrücke« gelangten wir in die Hofburg und zum Dom. Da Liliencron vom Weg erschöpft nach einem Glas Pilsner verlangte, führte ich ihn in die »Vikarka«, diese anheimelnde Schenke im Bereich des Schlosses, die seit altersher so gern von allen Fremden aufgesucht wird. Zwei Stuben gibt es in der Wirtschaft, eine dient den weltlichen Gästen zum Aufenthalt, in der andern pflegen die jungen Geistlichen zu speisen. Es war kein Plätzchen mehr zu haben in der Laienstube und so durften wir uns an der weißgedeckten Tafel der Pfarrherren niederlassen. Als es ans Zahlen ging, entstand zwischen Liliencron und mir ein scherzhafter Wettstreit, wer von uns beiden die kleine Zeche begleichen dürfe. Und weil wir darüber nicht einig wurden, rief Liliencron die schmucke Kellnerin zum Richter auf. Das Mädchen entschied, ohne lange zu überlegen: »Der alte Papa soll zahlen«.

Daß er ein alter Papa genannt worden, verdroß den Dichter sehr und seine Laune blieb getrübt. Mißmutig schwieg er während der Fahrt nach der Altstadt, wo wir im »Goldenen Engel« unser Mittagsbrot einnahmen. Je näher die Stunde seiner Vorlesung heranrückte, desto unwirscher wurde Liliencron. Tags vorher hatte er sich bei Hugo Salus brieflich zu Tische angesagt. Ungelegen war ihm am Morgen die telegraphische Absage gekommen: Mein Mann bei Entbindung. Mittag leider unmöglich. – Nun zog der Dichter wieder die Depesche hervor und bedauerte: »Bei Salus wäre es sicher schöner gewesen und gemütlicher wie hier im Engel.«

Mit gerunzelter Stirn erwartete dann Liliencron die Herren der »Lese- und Redehalle« in der Karolinenthaler Wohnung. Voll nervöser Ungeduld sah er auf die Gasse, trommelte an die Fensterscheiben und seufzte: »Wenns nur schon vorüber wäre. Diese lyrischen Geschäftsreisen habe ich gründlich satt.«

Endlich hielt ein eleganter Fiaker vor dem Hause. Zwei junge Leute mit schwarz-rot-goldener Tricolore traten ins Zimmer, um Liliencron abzuholen. Die Fahrt ging zuerst nach dem Gebäude der Halle, wo der Dichter feierlich vom gesamten Ausschuß im Vorstandszimmer empfangen wurde. Als ihm die Studenten das Gedenkbuch überreichten und um seine Inschrift baten, sagte Liliencron: »Mein Namen muß schon irgendwo im Buche stehn«. Man blätterte vergebens, da half der Dichter nach: »Es war am 12. Mai 1898; ich weiß den Tag genau«. Und er behielt recht.

Nach rascher Fahrt erreichten wir dann das Kasino. Schmeichelreden, Verbeugungen, hundertfältiges Händeschütteln: und der Vortrag begann. Der Spiegelsaal war überfüllt, die Aufnahme Liliencrons nur um einen unmerklichen Grad kühler wie vor sieben Monaten. Während die Jugend dröhnend applaudierte, sagte ein Herr neben mir: Wenn Liliencron keine Zähne hat, soll er sich falsche einsetzen lassen. Ich strafte den Vorlauten mit einem verächtlichen Blick, aber andere nickten beifällig zu seiner Rede. Ein Journalist meinte: Selbst der berühmteste Mann sollte nach so kurzer Zeit nicht wieder bei uns lesen dürfen. Und ein Professor gestand: Ich bin nur den Studenten zuliebe gekommen. Doch der Meister merkte nichts von all diesen Unfreundlichkeiten und freute sich des Beifalls.

Der Abend vereinigte die Studentenschaft mit den Deutsch-Prager Kunstkreisen zu einem Kommers. Den Dichter begrüßte zunächst der Obmann der Halle und Liliencron antwortete mit ein paar schlichten Worten. Nun geriet alles in Bewegung, es regnete Komplimente, jeder wollte ein Wort des berühmten Mannes erhaschen, jeder mit ihm reden. Die Studenten brachten Ansichtskarten zur Unterschrift, und bald herrschte solch ein Gedränge um Liliencron, daß er kaum etwas zu essen vermochte. Angsterfüllt sah ich seine Augen auf mich gerichtet, die Stirnader schwoll ihm drohend an. Als die jungen Leute gar zu singen begannen, raunte mir der Dichter hastig zu: »Wie kommen wir unbemerkt von hier fort?«

»Sie gehen zuerst und vermeiden es Abschied zu nehmen«, flüsterte ich, »niemand wird vermuten, daß Sie nicht wiederkehren, denn ich bleibe einstweilen ruhig sitzen. Erwarten Sie mich bitte im Stiegenhaus.«

In einer Fensternische beim »Prinzen« auf dem Altstädter Ring, mit dem malerischen Ausblick nach der Rathausuhr, speisten wir am nächsten Tage und eilten dann verabredungsgemäß zum Palais Clam-Gallas, wo Liliencron schon von einem Herrn Dozenten ungeduldig erwartet wurde, den er am Abend vorher kennen gelernt hatte.

Das fraglos schönste Privathotel des erbgesessenen böhmischen Adels hat den Grafen Wenzel Gallas zum Erbauer. Der berühmte Architekt Fischer von Erlach schuf dieses Meisterwerk in den Jahren 1712 bis 19, und der Prachtbau ist eine Sehenswürdigkeit des an imposanten Palästen so reichen Prag. Der große Bildhauer Matthias Braun schmückte das Prunkgebäude verschwenderisch mit Statuen und Reliefs; leider ist die Wirkung der majestätischen Fassade arg geschmälert durch die enge Gasse und die dicht an den Palast sich herandrängenden Nachbarhäuser. Graf Gallas plante zwar, die lästigen Häuser der Umgebung aufzukaufen und abzutragen, um so dem achtungsgebietenden Gebäude einen würdigen Prospekt zu geben, aber er starb als Vizekönig von Neapel, fern von Prag, bald nachdem der Palast vollendet war. So sind die Schönheiten des Clam-Gallasschen Palastes bis auf den heutigen Tag wie versteckt und der fürstliche Bau schläft einen Dornröschenschlaf, bis ihn spätere Generationen vielleicht von dem Heckenwerk der schmalen Straße befreien.

Da wir das interessante Bauwerk verließen, wir hatten auch sein Inneres besichtigt, stand schon ein Fiaker für Liliencron bereit. In flinker Fahrt erreichten wir die Kleinseite, wo der Zweispänner vor dem Familienhaus des Grafen Nostiz hielt. Die kostbare Gemäldegalerie wurde flüchtig betrachtet und dann rasch wieder der Wagen bestiegen. Ein kurzer Besuch des Waldsteingartens, ein Blick in die Halle Wallensteins unterbrach die Weiterfahrt. Es war eine Besichtigung im Schnellzugstempo und gar nicht nach dem Geschmack des Dichters; selbst im Veitsdom verweilten wir nur einen Moment. Jetzt hatte Liliencron diese Hetzjagd satt, er weigerte sich, wieder in den Wagen zu klettern und schlug einen Spaziergang vor. So kamen wir in den Hirschgraben. Dort hielt Kaiser Rudolf II. ein Wildgehege, und die Türme und Ringmauern der Burg geben bis auf den heutigen Tag der romantischen Schlucht ein mittelalterliches Gepräge. Die Fenster des Kaiserschlosses blicken in die Tiefe, man sieht die malerische Silhouette des fürsterzbischöflichen Palastes und die Häuser einiger Domherren, man sieht die Türme der Kathedrale, das phantastische Dachwerk des Ursulinenklosters, das längst zu einer Kaserne geworden ist.

Da wir das anziehende Bild betrachteten und dem Glockenspiel der Lorettokirche lauschten, sagte Liliencron plötzlich: »Ich bin müde und will heim«. Und ehe sich der verblüffte Herr Dozent recht zu fassen vermochte, war er verabschiedet.

»Es war abscheulich«, wetterte ihm der Dichter nach, »wie habe ich mich nach unserem Droschkenkutscher mit der Pudelmütze gesehnt und seinem lahmen Gaul; der paßt zwischen das greise Gemäuer. Fesch ist ein Wiener Fiaker nur auf der Ringstraße oder im Prater, hier auf der Kleinseite hat er nichts zu suchen – kommen Sie in den blauen Stern, dort will ich meinen Ärger mit Bordeaux hinunterspülen. Sie sind mein Gast, keine Widerrede.«

Im Silbersaal des vornehmen Hotels funkelten bereits die elektrischen Ampeln, als wir uns an einem Ecktischchen niederließen. Lautlos auf Gummisohlen glitt die Bedienung über die Teppiche, der Raum war gesättigt von Wohlbehagen und sorglosem Reichtum, allein die gute Laune wollte sich bei Liliencron nicht wieder einfinden. Die Gespräche, die er führte, blieben düster und durchweht von hoffnungsloser Schwermut.

Vergebens mühte ich mich, ihm die finstern Gedanken auszureden; er blieb dabei: »Plötzlich werde ich hingerafft werden. Ich bin vollblütig und ein Schlagfluß ist mir sicher. Aber das Eine müssen Sie mir versprechen«, fuhr er fort, »mit Handschlag versprechen: wenn ich tot bin, schildern Sie unsere Streifzüge durch Prag. Sie beschreiben alles, man soll wissen, wie glücklich ich mich hier gefühlt habe.«

Ich suchte den Meister von der Idee abzubringen, sagte, daß ihm sicher noch ein langes Leben beschieden sei, und er oft noch nach Prag kommen würde. Meine Zögerung brachte Liliencron in Harnisch. »Schlagen Sie ein, ich rechne damit und es beruhigt mich. Denn eine Ahnung sagt mir. ich sehe Ihre herrliche Stadt nie wieder.«

Noch immer zauderte ich, seltsam berührt durch dieses Gespräch, und bat zu bedenken, daß es die Leute mir zum Vorwurf machen würden, ich wolle im Schatten eines Großen mein bescheidenes Schäfchen scheeren.

»Kein Mensch wird es Ihnen zum Vorwurf machen, daß Sie mit mir im »blauen Löwen« waren. Herrgott im Himmel, wie schön haben wir gebummelt! Nicht eher lasse ich locker, bis Sie mir versprechen, nach meinem Tode ein kleines Buch zu schreiben; »Liliencron in Prag« soll es heißen und alles muß darin stehn, alles, was wir zusammen erlebt haben. Und nun schlagen Sie ein, die rechte Hand bitte – nicht die linke.«

So verpfändete ich, bedrängt durch Liliencrons aufgeregtes Wesen, mein Wort.

In den geschliffenen Gläsern funkelte der edelste Wein, doch Frau Melancholie hatte ihre Schleier um uns gebreitet und nur zögernd schleppte sich das Gespräch weiter. Es war auch noch gar nicht spät, als Liliencron das Zeichen zum Aufbruch gab. Wir gingen zu Fuß nach Karolinental. Das ist die stillste Vorstadt von Prag. Bald nach 10 Uhr verlöschen dort die elektrischen Monde, Glühbirnen flammen vereinzelt auf, und durch die öden Gassen donnern nur noch in rasender Hast die Straßenbahnwagen der Remise zu. Sonst liegt der Ort wie ausgestorben da, kein Laden ist offen, kaum ein Fenster erleuchtet. Umso heftiger wurden wir von einem hellen Lichtschein angelockt, der durch eine breite Glastür in die Finsternis quoll. Hinter den Auslagscheiben sangen junge Mädchen ein Bauernlied. Sechs schmucke Plättmamsellen waren es und sie zogen rastlos Kragen um Kragen durch die rollende Dampfwalze. Schob die eine ein Wäschestück unter den Stahlzylinder, dann griff die andere fingerflink darnach, warf mit einem Ruck den Leib zurück und zog den Hemdenkragen langsam an sich. Ihre drallen Arme waren in steter Bewegung, und wenn sie sich zurückbog, hüpften ihr die vollen Brüste. Liliencron sagte: »So ist das Leben. Während andere sich zum Schlafe rüsten oder längst schon sorglos schnarchen, mühen sich die Ärmsten bis tief in die Nacht um einen Bettel. Und doch, wie anmutig erscheint dieses Bildchen einem müßigen Zuschauer. Die Mädels singen und kichern bei der Sklavenarbeit, als ob sie auf einem Feste wären.«

Ich wollte weitergehn, aber der Dichter hielt mich am Ärmel fest und bat: »Bleiben wir noch, es ist so hübsch zuzusehn und erinnert mich daran, wie ich vor Jahren auf Westerland mit einem Freunde auch solch ein paar flotte Waschermadeln zum Tanz holte.«

Und Liliencron klopfte an die Fensterscheibe. Nun wuchs noch das Gelächter, kräftiger fetzte der Singsang ein, und verliebte Blicke lockten, bis ein altes Weib zornig auf die Gasse gestürzt kam und uns verscheuchte. – – –

Früh am nächsten Morgen nahm Liliencron Abschied von Prag. Die Dämmerung graute noch, als er seine Lieblingsdroschke bestieg. Im Wagen erinnerte er mich an mein Versprechen. »Vergessen Sie nicht, Ihr Wort einzulösen.«

Lachend erwiderte ich: »Kein Jahr wird vergehn, und es zieht Sie neuerdings nach Prag. Ich kenne ihr Herz.«

»Wenn ich am Leben bin, so komme ich«, sagte der Dichter und wir schüttelten uns die Hände. – Ich habe Liliencron nie wiedergesehn.

Bis zu dem unvermutet jähen Hinscheiden des Meisters hoffte ich, daß ihn der Weg doch noch einmal in meine Vaterstadt führen würde. Jahr um Jahr zeigte er seinen Besuch an. Anno 1905 schrieb er:

Alt-Rahlstedt bei Hamburg, 18. 6. 5.

Das muß ich sagen, lieber Oskar Wiener, das ist ein ganz einziges Buch: Ihr: »Das hat die liebe Liebe getan«. Es gibt darin einige Gedichte, die überhaupt noch nicht auf Erden gewesen sind und nie wieder werden auf Erden entstehen können. Einzig! Z. B. Menuett, Bella Donna, der Totenschädel.

»Und rollte einst, in junger Glut,
Durch seine Schläfen warmes Blut,
Jetzt ist er still und traurig.
Ich stecke ihm zwei Rosen wohl
In seine beiden Augen hohl.
Dann blickt er nicht so schaurig.

Nur ganz weniges hätte vielleicht fehlen können. Im Ganzen: ein entzückendes Werk, das seinen Weg machen muß. Wenn nur diese gräßliche Überfülle nicht wäre!

Schreiben Sie mir sz. eine Karte, wenn Sie – seis auch nur die Hälfte von dem Kanka-Preis verliehn erhalten haben.

Nächstes Jahr komme ich sicher nach unserm lieben Prag, worauf sich jetzt schon unendlich freut

Ihr alter Liliencron,
mit herzlichen Grüßen an Ihre lieben Eltern.

So war sein Wille, aber das von ihm so bewunderte Prag hat er niemals mehr wieder betreten. Nun ist der große Künstler in die Unsterblichkeit eingezogen, und ich löse jetzt das ihm verpfändete Wort ein. So entstand diese kleine Schrift; sie ist gleich erfüllt von der Liebe zu dem Dichter Detlev Liliencron, wie für die Stadt, in der ich geboren bin. Wenn ich hier auch Einiges von mir selbst gesagt habe, so ist das nur dort geschehn, wo es die Sachlage forderte und wo es unvermeidlich war. Das Lob, das mir Liliencron als einem Dichter gespendet, lehne ich ab. Ich weiß sehr wohl, daß der Meister verschwenderisch gern lobte und schnell fortgerissen ward von seiner Begeisterungsfähigkeit. Seine Hingabe an Prag aber und seine Schwärmerei für diese wahrhaft schöne Stadt waren echt und aus andächtiger Poetenseele kamen Liliencron die Worte:

In Prag bin ich entschieden mal geboren
Vielleicht vor tausend Jahren, wer kanns wissen,
So ist mein Herz der alten Stabt verschworen;
Dort möcht ich immer meine Fahnen hissen.
Palerm und Ripen gehn mir nicht verloren.
Die waren auch von je mir Leckerbissen.
In Prag aß ich auch mal im Blauen Stern
Mit Oskar Wiener, einem Dichterherrn.

Du mußt es sehn, wenn sich der volle Mond
In seinen Gassen, Sätzchen eingefangen.
Wenn im Barock er auf den Kirchen thront.
Wenn seine Lichter den Hradschin umprangen.
Den silbernen Sarg Sankt Nepomuks umfangen
Wenn er in Waldsteins großer Halle wohnt.
Viel hundert Sagen singen und Geschichten,
Ganz Praha ist ein Goldnetz von Gedichten.

Vorm Rathaus fand ich eine See von Blut:
Dreihunderteinundfünfzig Edelleute
Mit jedem ersten Sohn von ihrer Brut
Verstummten hier, dem Rachebeil zur Beute.
Versickert längst, versunken ist die Flut,
Doch sah mein geistig Auge sie noch heute.
Der Winterkönig floh futsch, futsch, futsch, floh.
Bis er im Haag beim Brettspiel saß heilfroh.

Ich sah ein Kirchlein auch: »Maria im Schnee«
(Die heilige Jungfrau, nordisch, tief verschneit):
In einen Prozessionszug fällt, o weh,
Ein Stein. Tumult. Ade Besonnenheit.
Bautz: Martinitz und Slawata. Herrje!
Der dreißigjährige Krieg steht schlachtbereit.
Ein Steinwurf nur, ein einziger Steinwurf nur.
Praha, na zdar! Dir gilt mein Liebesschwur.

*


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