Christoph Martin Wieland
Geschichte der Abderiten
Christoph Martin Wieland

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10. Kapitel

Seltsame Entwicklung dieses ganzen tragikomischen Possenspiels.

Aller Wahrscheinlichkeit nach würden die Frösche der Latona dieser Sicherheit noch lange genossen haben, wenn nicht zufälliger Weise im nächsten Sommer eine unendliche Menge Mäuse und Ratten von allen Farben auf einmal die Felder der unglücklichen Republik überschwemmt, und dadurch die ganz unschuldige und ungefähre Weissagung des Archons Onokradias unvermutet in Erfüllung gebracht hätte.

Von Fröschen und Mäusen zugleich aufgefressen zu werden, war für die armen Abderiten zu viel auf einmal. Die Sache wurde ernsthaft.

Die Gegenfröschler drangen nun ohne weiters auf die Notwendigkeit, den Vorschlag der Akademie unverzüglich ins Werk zu setzen.

Die Batrachosebisten schrieen: die gelben, grünen, blauen, roten, und flohfarbnen Mäuse, die in wenig Tagen die greulichste Verwüstung auf den Abderitischen Feldern angerichtet hätten, seien eine sichtbare Strafe der Gottlosigkeit der Batrachophagen, und augenscheinlich von Latonen unmittelbar abgeschickt, die Stadt, die sich des Schutzes der Göttin unwürdig gemacht habe, gänzlich zu verderben.

Vergebens bewies die Akademie, daß gelbe, grüne und flohfarbne Mäuse darum nicht mehr Mäuse seien als andre; daß es mit diesen Mäusen und Ratten ganz natürlich zugehe; daß man in den Jahrbüchern aller Völker ähnliche Beispiele finde; und daß es nunmehr, da besagte Mäuse entschlossen schienen den Abderiten ohnehin nichts andres zu essen übrig zu lassen, um so nötiger sei, sich des Schadens, welchen beiderlei gemeine Feinde der Republik verursachten, wenigstens an der eßbaren Hälfte derselben, nämlich an den Fröschen, zu erholen.

Vergebens schlug sich der Priester Pamphagus ins Mittel, indem er den Vorschlag tat, die Frösche künftig zu ordentlichen Opfertieren zu machen, und, nachdem der Kopf und die Eingeweide der Göttin geopfert worden, die Keulen als Opferfleisch zu ihren Ehren zu verzehren.

Das Volk, bestürzt über eine Landplage, die es sich nicht anders als unter dem Bilde eines Strafgerichts der erzürnten Götter denken konnte, und von den Häuptern der Froschpartei empört, lief in Rotten vor das Rathaus, und drohte kein Gebein von den Herren übrig zu lassen, wenn sie nicht auf der Stelle ein Mittel fänden die Stadt vom Verderben zu erretten.

Guter Rat war noch nie so teuer auf dem Rathause zu Abdera gewesen als jetzt. Die Ratsherren schwitzten Angstschweiß. Sie schlugen vor ihre Stirne; aber es hallte hohl zurück. Je mehr sie sich besannen, je weniger konnten sie finden was zu tun wäre. Das Volk wollte sich nicht abweisen lassen, und schwor, Fröschlern und Gegenfröschlern die Hälse zu brechen, wenn sie nicht Rat schafften.

Endlich fuhr der Archon Onokradias auf einmal wie begeistert von seinem Stuhl auf. – «Folgen Sie mir», sagte er zu den Ratsherren, und ging mit großen Schritten auf die marmorne Tribüne hinaus, die zu öffentlichen Anreden an das Volk bestimmt war. Seine Augen funkelten von einem ungewöhnlichen Glanz; er schien eines Hauptes länger als sonst, und seine ganze Gestalt hatte etwas majestätischers als man jemals an einem Abderiten gesehen hatte. Die Ratsherren folgten ihm stillschweigend und erwartungsvoll.

«Höret mich, ihr Männer von Abdera», sagte Onokradias mit einer Stimme die nicht die seinige war: «Jason, mein großer Stammvater, ist vom Sitz der Götter herab gestiegen, und gibt mir in diesem Augenblicke das Mittel ein, wodurch wir uns alle retten können. Gehet, jeder nach seinem Hause, packet alle eure Gerätschaften und Habseligkeiten zusammen, und morgen bei Sonnenaufgang stellet euch mit Weibern und Kindern, Pferden und Eseln, Rindern und Schafen, kurz mit Sack und Pack, vor dem Jasontempel ein. Von da wollen wir, mit dem goldnen Vliese an unsrer Spitze, ausziehen, diesen von den Göttern verachteten Mauern den Rücken wenden, und in den weiten Ebnen des fruchtbaren Macedoniens einen andern Wohnort suchen, bis der Zorn der Götter sich gelegt haben, und uns oder unsern Kindern wieder vergönnt sein wird, unter glücklichen Vorbedeutungen in das schöne Abdera zurück zu kehren. Die verderblichen Mäuse, wenn sie nichts mehr zu zehren finden, werden sich untereinander selbst auffressen, und was die Frösche betrifft – denen mag Latona gnädig sein! – Geht, meine Kinder, und macht euch fertig! Morgen, mit Aufgang der Sonne, werden alle unsre Drangsale ein Ende haben.»

Das ganze Volk jauchzte dem begeisterten Archon Beifall zu, und in einem Augenblick atmete wieder nur Eine Seele in allen Abderiten. Ihre leicht bewegliche Einbildungskraft stand auf einmal in voller Flamme. Neue Aussichten, neue Szenen von Glück und Freuden tanzten vor ihrer Stirne. Die weiten Ebnen des glücklichen Macedoniens lagen wie fruchtbare Paradiese vor ihren Augen ausgebreitet. Sie atmeten schon die mildern Lüfte, und sehnten sich mit unbeschreiblicher Ungeduld aus dem dicken froschsumpfigen Dunstkreise ihrer ekelhaften Vaterstadt heraus. Alles eilte sich zu einem Auszug zu rüsten, von welchem wenige Augenblicke zuvor kein Mensch sich hatte träumen lassen.

Am folgenden Morgen war das ganze Volk von Abdera reisefertig. Alles was sie von ihren Habseligkeiten nicht mitnehmen konnten, ließen sie ohne Bedauern in ihren Häusern zurück; so ungeduldig waren sie an einen Ort zu ziehen, wo sie weder von Fröschen noch Mäusen mehr geplagt werden würden.

Am vierten Morgen ihrer Auswanderung begegnete ihnen der König Kassander. Man hörte das Getöse ihres Zugs von weitem, und der Staub, den sie erregten, verfinsterte das Tageslicht. Kassander befahl den Seinigen Halt zu machen, und schickte jemand aus, sich zu erkundigen was es wäre.

«Gnädigster Herr», sagte der zurück kommende Abgeschickte, «es sind die Abderiten, die vor Fröschen und Mäusen nicht mehr in Abdera zu bleiben wußten, und einen andern Wohnplatz suchen.»

«Wenns dies ist, so sinds gewiß die Abderiten», sagte Kassander.

Indem erschien Onokradias an der Spitze einer Deputation von Ratsmännern und Bürgern, dem König ihr Anliegen vorzutragen.

Die Sache kam Kassandern und seinen Höflingen so lustig vor, daß sie sich, mit aller ihrer Höflichkeit, nicht enthalten konnten, den Abderiten überlaut ins Gesicht zu lachen; und die Abderiten, wie sie den ganzen Hof lachen sahen, hielten es für ihre Schuldigkeit mit zu lachen.

Kassander versprach ihnen seinen Schutz, und wies ihnen einen Ort an den Grenzen von Macedonien an, wo sie sich so lange aufhalten könnten, bis sie Mittel gefunden haben würden, mit den Fröschen und Mäusen ihres Vaterlandes einen billigen Vergleich zu treffen.

Von dieser Zeit an weiß man wenig mehr als nichts von den Abderiten und ihren Begebenheiten. Doch ist so viel gewiß, daß sie einige Jahre nach dieser seltsamen Auswanderung (deren historische Gewißheit durch das Zeugnis des von Justinus in einen Auszug gebrachten Geschichtschreibers Trogus Pompejus B. 15. k. 2. außer allem Zweifel gesetzt wird) wieder nach Abdera zurück zogen. Allem Vermuten nach müssen sie die Ratten in ihren Köpfen, die sonst immer mehr Spuk darin gemacht hatten als alle Ratten und Frösche in ihrer Stadt und Landschaft, in Macedonien zurück gelassen haben. Denn von dieser Epoke an sagt die Geschichte weiter nichts von ihnen, als daß sie, unter dem Schutze der Macedonischen Könige und der Römer, verschiedene Jahrhunderte durch ein stilles und geruhiges Leben geführt, und, da sie weder witziger noch dümmer gewesen als andre Municipalen ihres gleichen, den Geschichtschreibern keine Gelegenheit gegeben weder Böses noch Gutes von ihnen zu sagen.

Um übrigens unsern geneigten Lesern eine vollkommne Probe unsrer Aufrichtigkeit zu geben, wollen wir ihnen unverhalten lassen, daß – wofern der ältere Plinius und sein aufgestellter Gewährsmann Varro hierin Glauben verdienten – Abdera nicht die einzige Stadt in der Welt gewesen wäre, die von so unansehnlichen Feinden, als Frösche und Mäuse sind, ihren natürlichen Einwohnern abgejagt wurde. Denn Varro soll nicht nur einer Stadt in Spanien erwähnen, die von Kaninchen, und einer andern, die von Maulwürfen zerstört worden, sondern auch einer Stadt in Gallien, deren Einwohner, wie die Abderiten, den Fröschen hätten weichen müssen. Allein, da Plinius weder die Stadt, welcher dies Unglück begegnet sein soll, mit Namen nennt, noch ausdrücklich sagt, aus welchem von den unzähligen Werken des gelehrten Varro er diese Anekdote genommen habe: so glauben wir der Ehrerbietung, die man diesem großen Manne schuldig ist, nicht zu nahe zu treten, wenn wir vermuten, daß sein Gedächtnis (auf dessen Treue er sich nicht selten zu viel verließ) ihm für Thracien Gallien untergeschoben habe; und daß die Stadt, von welcher beim Varro die Rede war, keine andre gewesen als unser Abdera selbst.

Und hiermit sei denn der Gipfel auf das Denkmal gesetzt, welches wir dieser einst so berühmten und nun schon so viele Jahrhunderte lang wieder vergeßnen Republik zu errichten ohne Zweifel von einem für ihren Ruhm sorgenden Dämon angetrieben worden: nicht ohne Hoffnung, daß es, ungeachtet es aus so leichten Materialien, als die seltsamen Launen und jovialischen Narrheiten der Abderiten, zusammen gesetzt ist, so lange dauern werde, bis unsre Nation den glücklichen Zeitpunkt erreicht haben wird, wo diese Geschichte niemand mehr angehen, niemand mehr unterhalten, niemand mehr verdrießlich und niemand mehr aufgeräumt machen wird; mit Einem Worte, wo die Abderiten niemand mehr ähnlich sehen, und also ihre Begebenheiten eben so unverständlich sein werden, als uns Geschichten aus einem andern Planeten sein würden; ein Zeitpunkt, der nicht mehr weit entfernt sein kann, wenn die Knaben der ersten Generation des neunzehnten Jahrhunderts nur um eben so viel weiser sein werden, als die Knaben im letzten Viertel des achtzehnten sich weiser als die Männer des vorher gehenden dünken – oder wenn alle die Erziehungsbücher, womit wir seit zwanzig Jahren so reichlich beschenkt worden sind und täglich noch beschenkt werden, nur den zwanzigsten Teil der herrlichen Wirkungen tun, die uns die wohlmeinenden Verfasser hoffen lassen.


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