Christoph Martin Wieland
Geschichte der Abderiten
Christoph Martin Wieland

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11. Kapitel

Etwas von den Abderitischen Philosophen, und wie Demokrit das Unglück hat, sich mit ein paar wohlgemeinten Worten in sehr schlimmen Kredit zu setzen.

Daß man sich aber gleichwohl nicht einbilde, als ob alle Abderiten ohne Ausnahme durch ein Gelübde oder durch ihren Bürgereid verbunden gewesen seien, nicht mehr Verstand zu haben als ihre Großmütter, Ammen und Ratsherren! Abdera, die Nebenbuhlerin von Athen, hatte auch Philosophen, das heißt, sie hatte Philosophen – wie sie Maler und Dichter hatte. Der berühmte Sophist Protagoras war ein Abderit gewesen, und hatte eine Menge Schüler hinterlassen, die ihrem Meister zwar nicht an Witz und Beredsamkeit gleich kamen, aber ihm dafür auch an Eigendünkel und Albernheit desto überlegener waren.

Diese Herren hatten sich eine bequeme Art von Philosophie zubereitet, vermittelst welcher sie ohne Mühe auf jede Frag' eine Antwort fanden, und von allem was unter und über der Sonne ist so geläufig schwatzten, daß – insoferne sie nur immer Abderiten zu Zuhörern hatten – die guten Zuhörer sich festiglich einbildeten, ihre Philosophen wüßten sehr viel mehr davon als sie selbst; wiewohl im Grunde der Unterschied nicht so groß war, daß ein vernünftiger Mann eine Feige darum gegeben hätte. Denn am Ende lief es doch immer darauf hinaus, daß der Abderitische Philosoph, etliche lange nichts bedeutende Wörter abgerechnet, gerade so viel von der Sache wußte, als derjenige unter allen Abderiten, der – am wenigsten davon zu wissen glaubte.

Die Philosophen, vermutlich weil sie es für zu klein hielten, in den Detail der Natur herab zu steigen, gaben sich mit lauter Aufgaben ab, die außerhalb der Grenzen des menschlichen Verstandes liegen. Bis in diese Region, dachten sie, folgt uns niemand, als – wer unsers gleichen ist; und was wir auch den Abderiten davon vorsagen, so sind wir wenigstens gewiß, daß uns niemand Lügen strafen kann.

Zum Beispiel, eine ihrer Lieblingsmaterien war die Frage: «Wie, warum, und woraus die Welt entstanden sei.»

«Sie ging aus einem Ei hervor», sagte Einer: «der Äther war das Weiße, das Chaos der Dotter, und die Nacht brütete es aus.»Um denjenigen Lesern, welche weder den Diogenes Laertius, noch des Deslandes oder Bruckers kritische Geschichte der Philosophie, noch die Kompendien des Herrn Formey oder D. Büschings, gelesen haben, irrige Vermutungen zu ersparen, erinnert der Verfasser, daß alle hier vorkommende Hypothesen sich eines sehr ehrwürdigen Altertums, und zum Teil einer Menge Verfechter und Anhänger rühmen können. Die Meinung unsers Demokrit ist die einzige, welche, vermutlich bloß weil sie die vernünftigste ist, keine Sekte gemacht hat.

«Sie ist aus Feuer und Wasser entstanden», sagte ein Andrer.

«Sie ist gar nicht entstanden», sprach der Dritte. «Alles war immer so wie es ist, und wird immer so bleiben wie es war.»

Diese Meinung fand in Abdera wegen ihrer Bequemlichkeit vielen Beifall. «Sie erklärt alles», sagten sie, «ohne daß man nötig hat, sich erst lange den Kopf zu zerbrechen.» «Es ist immer so gewesen», war die gewöhnliche Antwort eines Abderiten, wenn man ihn nach der Ursache oder dem Ursprung einer Sache fragte; und wer sich daran nicht ersättigen wollte, wurde für einen stumpfen Kopf angesehen.

«Was ihr Welt nennt», sagte der Vierte, «ist eigentlich eine ewige Reihe von Welten, die, wie die Häute einer Zwiebel, über einander liegen, und sich nach und nach ablösen.»

«Sehr deutlich gegeben», riefen die Abderiten, «sehr deutlich!» Sie glaubten den Philosophen verstanden zu haben, weil sie sehr gut wußten, was eine Zwiebel war.

«Schimäre!» sprach der Fünfte. «Es gibt freilich unzählige Welten; aber sie entstehen aus der ungefähren Bewegung unteilbarer Sonnenstäubchen, und es ist viel Glück, wenn, nach zehntausendmal tausend übel geratenen, endlich eine heraus kommt, die noch so leidlich vernünftig aussieht wie die unsrige.»

«Atomen geb ich zu», sprach der Sechste; «aber keine Bewegung von Ungefähr und ohne Richtung. Die Atomen sind nichts, oder sie haben bestimmte Kräfte und Eigenschaften, und, je nachdem sie einander ähnlich oder unähnlich sind, ziehen sie einander an, oder stoßen sich zurück. Daher machte der weise Empedokles (der Mann, der, um die wahre Beschaffenheit des Ätna zu erkundigen, sich weislich in den Schlund desselben hinein gestürzt haben soll) Haß und Liebe zu den ersten Ursachen aller Zusammensetzungen; und Empedokles hat recht.»

«Um Vergebung, meine Herren, ihr habt alle unrecht», sprach der Philosoph Sisamis. «In Ewigkeit wird weder aus euerm mystischen Ei, noch aus euerm Bündnis zwischen Feuer und Wasser, noch aus euern Atomen, noch aus euern Homöomerien, eine Welt heraus kommen, wenn ihr keinen Geist zu Hülfe nehmt. Die Welt ist (wie jedes andre Tier) eine Zusammensetzung von Materie und Geist. Der Geist ist es, der dem Stoffe Form gibt; beide sind von Ewigkeit her vereinigt: und, so wie einzelne Körper aufgelöst werden, so bald der Geist, der ihre Teile zusammen hielt, sich zurück zieht; so würde, wenn der allgemeine Weltgeist aufhören könnte das Ganze zu umfassen und zu beleben, Himmel und Erde im nämlichen Augenblick in einen einzigen, ungeheuern, gestaltlosen, finstern und toten Klumpen zusammen fallen.»

«Davor wolle Jupiter und Latona sein!» riefen die Abderiten, nicht ohne sich zu entsetzen, wie sie den Mann eine so fürchterliche Drohung ausstoßen hörten.

«Es hat keine Gefahr», sagte der Priester Strobylus: «so lange wir die Frösche der Latona in unsern Mauern haben, soll es der Weltgeist des Sisamis wohl bleiben lassen, solchen Unfug in der Welt anzurichten.»

«Meine Freunde», sprach der Achte, «der Weltgeist des weisen Sisamis ist mit den Atomen, Homöomerien, Zwiebeln und Eiern meiner Kollegen von gleichem Schlage. Einen Demiurg müssen wir annehmen, wenn wir eine Welt haben wollen: denn ein Gebäude setzt einen Baumeister oder wenigstens einen Zimmermeister voraus; und nichts macht sich von sich selbst, wie wir alle wissen.»

«Aber man spricht doch alle Tage: Dies wird schon von sich selbst kommen, oder von sich selbst gehen» – sagten die Abderiten.

«Man spricht wohl so», antwortete jener: «allein, wo habt ihr jemals gesehen, daß es wirklich so erfolgt wäre? Ich habe freilich unsre Archonten wohl tausendmal sagen hören: ‹Es wird sich schon geben! es wird schon kommen! dies oder jenes wird sich schon machen!› Aber wir hatten gut warten: es gab sich nicht, kam nicht, und machte sich nicht.»

«Nur allzu wahr, was die Werke unsrer Archonten betrifft; (sagte ein alter Schuhflicker, der für einen Mann von Einsicht beim Volke galt, und große Hoffnung hatte bei der nächsten Wahl Zunftmeister zu werden) aber mit den Werken der Natur, wie die Welt ist, mag es doch wohl anders bewandt sein. Warum sollte die Welt nicht eben so gut aus dem Chaos hervor wachsen können, wie ein Pilz aus der Erde wächst?»

«Meister Pfriem», versetzte der Philosoph, «zum Zunftmeister soll Er meine und aller meiner Vettern Stimme haben; aber keine Einwürfe gegen mein System, wenn ich bitten darf! Die Pilze wachsen freilich von selbst aus der Erde hervor, weil – weil – weil sie Pilze sind: aber eine Welt wächst nicht von selbst, weil sie kein Pilz ist. Versteht Er mich nun, Meister Pfriem

Alle Anwesende lachten von Herzen, daß Meister Pfriem so abgeführt war. «Die Welt ist kein Pilz; dies ist klar wie Tageslicht», riefen die Abderiten; «da ist nichts einzuwenden, Meister Pfriem!» –

«Verzweifelt!» murmelte der künftige Zunftmeister: «aber so geht es, wenn man sich mit den Herren abgibt, welche beweisen können, daß der Schnee weiß ist.»

«Schwarz ist, wolltet Ihr sagen, Nachbar.»

«Ich weiß, was ich gesagt habe und was ich sagen wollte», antwortete Meister Pfriem; «und ich wünsche nur, daß die Republik –»

«Vergess' Er die vierzehn Stimmen nicht, die ich Ihm verschaffe, Meister Pfriem!» rief der Philosoph. –

«Wohl, wohl! alles wohl! Aber Demiurg – das klingt mir bald so wie Demagog; und ich will weder Demagogen noch Demiurgen haben: ich bin für die Freiheit; und wer ein guter Abderit ist, der schwinge seinen Hut und folge mir!»

Und hiermit ging Meister Pfriem davon, (denn der Leser merkt von selbst, daß alles dies in einer Halle von Abdera gesprochen wurde) und einige müßige Tölpel, die ihn allerwegen zu begleiten pflegten, folgten ihm.

Aber der Philosoph, ohne zu tun als ob er es gewahr werde, fuhr fort: «Ohne einen Baumeister, einen Demiurg, oder wie ihr ihn nennen wollt, läßt sich vernünftiger Weise keine Welt bauen. Aber, merket wohl, es kam auf den Demiurg an, ob und wie er bauen wollte; und laßt sehen wie er es anfing. Stellt euch die Materie als einen ungeheuern Klumpen von vollkommen dichtem Kristall vor; und den Demiurg, wie er mit einem großen Hammer von Diamant diesen Klumpen auf Einen Schlag in so viele unendlich kleine Stückchen zerschmettert, daß sie durch den leeren Raum viele Millionen Kubikmeilen herum stieben. Natürlicher Weise brachen sich diese unendlich kleinen Stückchen Kristall auf verschiedene Art; und indem sie, mit der ganzen Heftigkeit der Bewegung, die ihnen der Schlag mit dem diamantenen Hammer gab, auf tausendfache Art wider einander fuhren, und sich unter einander auf allen Seiten stießen, schlugen und rieben, so entstand daraus notwendig eine unzählige Menge Körperchen von allerlei regelmäßigen und unregelmäßigen Figuren: dreieckige, viereckige, achteckige, vieleckige und runde. Aus den runden wurde Wasser und Luft, welche nichts anders als verdünntes Wasser ist; aus den dreieckigen Feuer; aus den übrigen die Erde; und aus diesen vier Elementen setzt die Natur, wie ihr wißt, alle Körper in der Welt zusammen.»

«Das ist wunderbar, sehr wunderbar! aber es begreift sich doch», sagten die Abderiten. «Ein Klumpen Kristall, ein diamantener Hammer, und ein Demiurg, der den Kristall so meisterhaft in Stücken schlägt, daß aus den Splittern, ohne seine weitere Bemühung, eine Welt entsteht! In der Tat die scharfsinnigste Hypothese, die man sehen kann, und gleichwohl so simpel, daß man dächte, man hätte sie alle Augenblicke selbst erfinden können!»

«Ich erkläre mittelst dieser so simpeln Voraussetzung alle mögliche Wirkungen der Natur», – sagte der Philosoph mit selbstzufriednem Lächeln.

«Nicht ein Wespennest», rief ein Neunter, Dämonax genannt, der den Behauptungen seiner Mitbrüder bisher mit stillschweigender Verachtung zugehört hatte. «Es gehören andre Kräfte und Anstalten dazu, ein so großes, so schönes, so wundervolles Werk, als dieses Weltgebäude ist, zustande zu bringen. Nur ein höchst vollkommner Verstand konnte den Plan davon erfinden; wiewohl ich gern gestehe, daß zur Ausführung geringere Werkmeister hinlänglich waren. Er überließ sie verschiedenen Klassen der subalternen Götter, wies einer jeden Klasse ihren besondern Kreis an, in welchem sie arbeitet, und begnügte sich, die allgemeine Aufsicht über das Ganze zu führen. Es ist lächerlich, den Ursprung der Weltkörper, des Erdbodens, der Pflanzen, der Tiere, und alles dessen, was in Luft und Wasser ist, aus Atomen oder Sympathien oder ungefährer Bewegung, oder einem einzigen Hammerschlag erklären zu wollen. Geister sind es, welche in den Elementen herrschen, die Sphären des Himmels drehen, die organischen Körper bilden, das Frühlingsgewand der Natur mit Blumen sticken, und die Früchte des Herbstes in ihren Schoß ausgießen. Kann etwas faßlicher und angenehmer sein als diese Theorie? Sie erklärt alles; sie leitet jede Wirkung aus einer ihr angemessenen Ursache ab; und durch sie begreift man die, in jedem andern System unerklärbare, Kunst der Natur eben so leicht, als man begreift, wie Zeuxis oder Parrhasius mit ein wenig gefärbter Erde eine bezaubernde Landschaft oder ein Bad der Diana erschaffen kann.»

«Was für eine schöne Sache es um die Philosophie ist!» sagten die Abderiten. «Alles, was man daran aussetzen möchte, ist, daß einem unter so viel feinen Theorien die Wahl sauer wird.»

Indessen machte doch der Pythagoräer, der alles durch Geister bewerkstelligte, das meiste Glück. Die Poeten, die Maler, und alle übrige Schutzverwandten der Musen, mit dem sämtlichen Frauenzimmer von Abdera an ihrer Spitze, erklärten sich für – die Geister; doch unter der Bedingung, daß es ihnen erlaubt sein müsse, sie in so angenehme Gestalten, als jedem gefällig sei, einzukleiden.

«Ich bin nie ein besonderer Freund der Philosophie gewesen, (sagte der Priester Strobylus) und aus Ursache! Aber weil doch die Abderiten ihr Grübeln über das Wie und Warum der Dinge nun einmal nicht lassen können: so habe ich gegen die Physik des Dämonax noch immer am wenigsten einzuwenden; unter den gehörigen Einschränkungen verträgt sie sich noch so ziemlich mit –»

«O, sie verträgt sich mit allem in der Welt», sagte Dämonax; «das ist eben die Schönheit davon!»

Endlich nahm Demokrit das Wort: «Soll ich euch, lieben Freunde, nach allen den feinen und kurzweiligen Sachen, die ihr bereits gehört habt, nun auch meine geringe Meinung sagen? Wenn es euch etwa wirklich darum zu tun sein sollte, die Beschaffenheit der Dinge, die euch umgeben, kennen zu lernen, so deucht mich ihr nehmt einen ungeheuern Umweg. Die Welt ist sehr groß; und von dem Standorte, woraus wir in sie hinein gucken, nach ihren vornehmsten Provinzen und Hauptstädten, ist es so weit, daß ich nicht wohl begreife, wie sich einer von uns einfallen lassen kann, die Karte eines Landes aufzunehmen, wovon ihm (sein angebornes Dörfchen ausgenommen) alles übrige, ja sogar die Grenzen unbekannt sind. Ich dächte, ehe wir Kosmogonien und Kosmologien träumten, setzten wir uns hin und beobachteten, zum Beispiel, den Ursprung einer Spinnewebe; und dies so lange, bis wir so viel davon heraus gebracht hätten, als fünf Menschensinne, mit Verstand angestrengt, daran entdecken können. Ihr werdet zu tun finden, das könnt ihr mir auf mein Wort glauben. Aber dafür werdet ihr auch erfahren, daß euch diese einzige Spinnewebe mehr Aufschluß über das große System der Natur, und würdigere Begriffe von seinem Urheber geben wird, als alle die feinen Weltsysteme, die ihr zwischen Wachen und Schlaf aus eurem eignen Gehirn heraus gesponnen habt.»

Demokrit meinte dies im ganzen Ernst; aber die Philosophen von Abdera glaubten, daß er ihrer spotten wolle. «Er versteht nichts von der Pneumatik», sagte der eine. «Von der Physik noch weniger», sagte der andere. «Er ist ein Zweifler – er glaubt keine Grundtriebe – keinen Weltgeist – keinen Demiurg – keinen Gott!» – sagte der dritte, vierte, fünfte, sechste und siebente. «Man sollte solche Leute gar nicht im gemeinen Wesen dulden», sagte der Priester Strobylus.


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