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Niels der Schlangentöter

Schon die Art und Weise seiner Ankunft war sonderbar und erregend. Er kam über das Moor gegangen, in den ersten warmen Frühlingstagen, und er ging über Stellen, über die kein Mensch bisher zu gehen gewagt hatte. Manchmal verschwand er hinter den Schilfrändern oder in den niedrigen Birken, zuweilen mit einem Sprung, als trage der Boden ihn nicht und er versuche, sich auf eine feste Stelle zu retten. »Jetzt hat es ihn,« sagten die Leute vor den Haustüren des Dorfes, das zwischen Moor und Wald sich demütig eingenistet hatte. Aber jedesmal, wenn sie es gesagt hatten, mit einem leisen Schauer und einer verstohlenen Hoffnung auf etwas Grausiges, tauchte er wieder auf, machte sich an den Seiten seines Körpers etwas zu schaffen, wo er eine Art von Satteltaschen trug, die auch Körbe sein mochten, oder hielt auch den rechten Arm weit von sich gestreckt, als deute er auf eine ferne Stelle im Moor oder blicke angestrengt auf etwas, das er zwischen den Fingern halte.

Als er näher gekommen war, sahen die Leute, die ihre Morgenarbeit gänzlich vergessen hatten, daß er irgend etwas suchte und auf irgendeinem Fang begriffen war. Denn nur so konnte der ständige Wechsel seiner Richtung, das Spähende und dann plötzlich Zuspringende seiner Bewegungen, das Hantieren an seinen Satteltaschen gedeutet werden.

Vielleicht suche er Kiebitzeier, meinte eine der Frauen, denn die klagenden Vögel schwankten wie eine Wolke um die Gestalt des Mannes, und mitunter stieß ein einzelner Vogel wie ein Blitz auf ihn hinunter.

Nein, wahrscheinlich seien es Wasserflöhe, meinte ein Spaßvogel. Vielleicht sei er Angestellter bei einem Flohzirkus.

Aber der Gemeindevorsteher, dessen weißes Haar in der Sonne leuchtete, verzog keine Miene zu diesen Torheiten, nahm eine Prise aus seiner Birkendose und sagte dann ruhig und abschließend, daß dieser Mann Kreuzottern suche und vielleicht von der Regierung ausgeschickt sei, um ihrer Not ein Ende zu machen.

Darauf war ein bedrücktes und gleichzeitig gespanntes Schweigen, weil diese Möglichkeit sie im tiefsten Ernst anging und schwere Bilder aus ihrer Erinnerung plötzlich überschattend aufstiegen.

Indessen war der Mann auf dem Moore so nahe gekommen, daß sie etwas mehr von ihm ausmachen konnten. Sie sahen, daß er sehr groß und hager war und seine Kleidung nicht gerade zu der feinsten gehörte und ziemlich lose um ihn herumhing. An den Füßen trug er eine Art von Mokassins, die von Sumpfwasser ganz geschwärzt waren, und auf dem Kopf hatte er eine hohe, dunkle Pelzmütze, die alt und abgeschabt war, aber ihm ein fremdländisches und geheimnisvolles Aussehen gab. Aber es war auch zu sehen, daß seine Bewegungen, so schnell und tiergewandt sie während seines Suchens gewesen waren, nun ungeschickt und fast verlegen wurden, als er nach einem letzten spähenden Blick in die Runde gleichsam Abschied vom Moore nahm und auf die Dorfstraße zugeschritten kam.

»Guten Tag,« sagte er und nahm die seltsame Mütze ab. »Es ist euch wohl ein bißchen langweilig geworden, aber es hat auch gelohnt.«

Er hatte gute, ein wenig unsichere Augen in einem schweren Gesicht, und er sah alle der Reihe nach an, ob sie ihm den Übergang vom Schweigen des Moores zu den Gefahren einer Unterhaltung auch nicht zu schwer machen würden.

Ob es richtig sei, daß er Kreuzottern gefangen habe? Ja, das sei richtig, und er öffnete mit schneller und erleichterter Bereitwilligkeit den einen der Weidenkörbe, die er wie hohe, schmale Köcher an einem Ledergurt auf den Hüften trug.

Die Leute drängten sich heran und fuhren mit Gebärden des Grauens und Ekels zurück, denn unter dem zurückgeschlagenen Deckel lag eine scheußliche Wirrnis toter Schlangenleiber mit dem bösen Zickzackstreifen auf den kalt und schleimig erscheinenden Rücken.

»Dreiundzwanzig,« sagte der Mann wie eine Entschuldigung. »Es ist jetzt eine gute Zeit, wenn die Sonne wärmt und kein Wind geht.«

»Und hier sind die anderen,« setzte er bescheiden hinzu. Er öffnete den Deckel des anderen Korbes und neigte ihn etwas nach vorn, so daß die Leute die sich auflösenden und verschlingenden Körper der lebenden Ottern sehen konnten, und die flachen, bösen Köpfe, aus denen die Zungen haßvoll hervorstießen. »Zwölf,« sagte er, »die Porstbüsche sind zu hoch, und der Boden ist ja etwas unsicher.«

Die Frauen und Kinder schrien voller Entsetzen auf, und selbst die wenigen Männer – die meisten waren zur Pflanzarbeit im Walde – wurden bleich und traten zurück. Der Mann schloß schnell aber vorsichtig den Deckel und bog die Haselrute, die er mitgebracht hatte, ohne ersichtlichen Grund zwischen seinen Händen. Ja, es sei wohl nicht schön für sie, meinte er, und er habe von ihrem Unglück gehört.

Ob die Regierung ihn geschickt habe?

Nein, er wisse von keiner Regierung. Er habe am Kanal gearbeitet, und da man dort oft von dem Schlangendorf gesprochen habe, so habe er gekündigt und sei gekommen. Er werde ja auch gut bezahlt für jede Kreuzotter, und für die lebenden bekomme er ein schönes Geld. Er habe eine Art von Kontrakt gemacht mit einem Doktor, den er kenne. Und nachdem er sie wieder der Reihe nach angesehen hatte, gleichsam um sich zu vergewissern, ob es angebracht sei, davon zu sprechen, sagte er etwas leiser, daß sie nicht denken mußten, er tue es nur um des Geldes willen. Es sei vielmehr so, daß sie ihm etwas leid getan hätten, die Kinder besonders, von denen doch in den letzten Jahren eine so schreckliche Anzahl von den Schlangen getötet worden sei und die sich nun weder zu den Pilzen und Beeren des Waldes noch zu den Moosbeeren auf das Moor wagten. Und ohnedem könnten Kinder doch gar nicht froh sein.

»Fürchtest du dich denn nicht?« fragte der Gemeindevorsteher und hielt die Birkendose ein wenig in des Mannes Nähe, daß es nicht aufdringlich aber auch nicht unhöflich aussehe.

Der Mann dankte, indem er wieder seine Mütze abnahm. »Es ist so, daß ich mich nicht mehr viel zu fürchten brauche,« sagte er etwas rätselhaft. »Und ich habe es ein bißchen gelernt, oben in Sibirien.«

Ob er denn in Sibirien gewesen sei? fragten mehrere gleichzeitig und nicht ohne Mißtrauen in die Glaubwürdigkeit seiner Behauptung.

»Ja, drei Jahre,« erwiderte er. »In Gefangenschaft ... da habe ich es gelernt.«

Er bekam ein nervöses Zucken auf seiner linken Wange, und den Leuten schien es, als wollte er nicht gern mehr sprechen. Der Gemeindevorsteher lud ihn zu etwas Brot mit Speck ein, aber er dankte. Er habe alles mit und das Dorf sehe ja auch nicht so aus, als ob sie ohne Verlust für sich jeden Tag einen Gast bewirten könnten. Er fragte nur, wie es mit einer Behausung sei, denn er habe gedacht, bis zum Herbst zu bleiben, um sie etwas von den Schlangen zu befreien.

Damit war es nun schwierig, aber als man ihm etwas verlegen von den Unterständen erzählte, die noch aus der Kriegszeit und noch ganz wohnlich unweit des Dorfes am Fließ sich entlangzögen, war er es sehr zufrieden, versprach, sie anzusehen und entschuldigte sich dann, da er mit den Körben noch zur Kreisstadt müsse. Auf den Einwand, daß es drei Wegstunden seien, lächelte er höflich. Er habe dort oben auch laufen gelernt und seine Schuhe seien leicht.

Er fragte noch ein wenig nach dem Wege, nahm wieder höflich seine Mütze ab, was die Leute etwas verlegen machte, und ging dann geräuschlos mit langen, etwas hölzernen Schritten dem Walde zu. Eine Schar von Kindern folgte ihm noch einige Zeit, mit denen er ein leises und freundliches Gespräch beginnen wollte, aber es gelang ihm nicht, sie über das für sie Unerhörte und Unheimliche seiner Erscheinung hinwegzubringen, und bei dem ersten Rascheln in den Büschen stoben sie in jäher Angst auf den schützenden Weg zurück.

Das Dorf war ein Waldarbeiterdorf, das sich gleichsam hineingestohlen hatte zwischen das Brausen des Hochwaldes und das brütende Schweigen des Moores, sehr verlassen, sehr arm und sehr schweigsam geworden unter der ständigen Bedrückung großer und noch ungezähmter Natur. Die Männer arbeiteten in der Forst, die Frauen besorgten die kleinen Äcker, die Alten flochten Weidenkörbe und mühten sich ein wenig in den kleinen Torfstichen, die Kinder hatten eine Wegstunde bis zur Schule.

Aber trotz allem würden sie ihres kümmerlichen Lebens froh geworden sein wie überall an den Armutsstellen der Erde, wenn nicht seit einigen Jahren die große Plage über sie gekommen wäre. Immer war ihre Erde reich an Schlangen und Ungeziefer gewesen, aber mit einem Male war es so gekommen, als brüte diese Erde in einem bösen Rausch das Gift in unerschöpflichem Schoße aus, und nach einer Reihe von glühenden Sommern war jeder Busch verflucht, und die Schlangen kamen bis an die Schwelle der Häuser, in das Heu der Schuppen, in das Holz der Schauer und tief in Leben und Traum der Menschen. Alljährlich trug man Opfer auf den Friedhof, da Hilfe weit und alle versuchte Behandlung nur dem Aberglauben vergangener Zeiten gemäß war. Frauen gebaren zu früh, wenn unvermutet ein flaches, böses Haupt vor ihren Händen sich bäumte. Oder sie »versahen« sich. Und als auf dem Rücken eines Neugeborenen die Augen der Eltern einen gezackten rötlichen Streifen zu erblicken glaubten, erschien das Ganze als Untat von Dämonen, aus unerforschlichen Quellen entsteigend und nach unerforschlichem Willen bestimmt, sie zu vernichten wegen unbekannter Missetat.

So war es zu verstehen, daß das Auftauchen des Mannes mit der Pelzmütze eine große Stunde im Leben des Dorfes bedeutete. Wohl hatte der Staat getan, was er konnte, hatte Prämien ausgesetzt und für einige Zeit eine Gemeindeschwester zu Belehrung, Unterweisung und Hilfe in das Dorf geschickt. Aber weder der Staat noch die Frau in der weißen Haube waren jemals mit zwei Körben auf der Dorfstraße erschienen, in denen tot und lebendig das Gift begraben war. Eine Hoffnung war da, und das Seltsame, fast Unheimliche der Erscheinung des Jägers schien nur dem Unheimlichen seines Wildes gemäß zu sein.

Er hatte sich schnell in den verfallenen Höhlen des Krieges eingerichtet, hatte etwas Handwerkszeug, Gerät, Decken und Kleidung von seiner bisherigen Arbeitsstelle herbeigeschafft, schien in allem geschickt und geübt, schien weder Hindernis noch Müdigkeit zu kennen, und war wie ein lautloses Tier, in seiner Welt ohne Irrtum vertraut, als seien ihm in seinen Jahren der Gefangenschaft in fremdem Erdteil Quellen erschlossen worden, die das Abendland verschüttet und seit geraumer Zeit vergessen hatte.

Nach seinem Namen befragt, gab er an, Niels zu heißen. Auf den Einwand, daß dies ein merkwürdiger und landfremder Name sei, erklärte er, zur Seite blickend, daß sein Vater vielleicht ein Schwede gewesen sei, früh verschollen. Vielleicht? Ob er es denn nicht genau wisse? Nein, in seiner Familie habe man nie etwas genau gewußt. Wieder war das Zucken auf seiner Wange erschienen, und es war klar gewesen, daß man nicht weiter fragen durfte.

Er duldete keine Begleitung auf seinen Gängen, wobei er sich nicht in den Schleier eines Geheimnisses hüllte, sondern erklärte, daß die ganze gespannte und ungeteilte Kraft eines Menschen zu dieser Jagd gehöre und keine Ablenkung vertrage. Doch richtete er es so ein, daß er allnächtlich, wenn er von der Kreisstadt heimkehrte, die Zahl seiner Beute mit Kreide an die Tür des Gemeindevorstehers schrieb, die Toten unter ein Kreuz, die Lebenden unter ein seltsames Zeichen, das einem Sterne glich. Mitunter waren die Zahlen klein und dann wie beschämt und verlegen hingemalt, oft aber waren sie von einer phantastischen Höhe, und dann konnte sich niemand einem leisen Grauen entziehen, wenn man die hagere Gestalt an den Rändern des Moores sah, wie sie spähend stillstand und im Sprunge sich vorwärtsschnellte, bis der ausgestreckte Arm irgendwie in die Ferne zu weisen schien, gleich dem Arm eines Zauberers, der ein fernes Opfer fesselte und beschwor.

An den Sonntagen, um die Abendzeit, wenn er von seiner Jagd heimgekehrt war, ging er unbeholfen, fast ein wenig ängstlich durch die Dorfstraße, sprach hin und wieder mit den Leuten, die vor ihren Türen saßen, und ließ seine scheuen Augen gleich einer Bitte über die Kinder gleiten, die ihm in gebührendem Abstande wie dem Rattenfänger der Sage folgten. Aber erst als er eines Abends am Ausgang des Dorfes sich auf den Grabenrand setzte, eine kleine Flöte aus der Tasche zog und auf ihr ein seltsam trauriges Lied zu spielen begann, schwand die große Scheu um ein weniges. Die Mutigsten kauerten sich auf der anderen Grabenböschung nieder, und als er aus Halmen und dünnen Zweigen merkwürdige Nester zu flechten begann, dazwischen auch Tier- und Menschengeschichten aus dem fernen Lande erzählte, umgab ihn bald ein atemloser Kreis von Lauschenden und wortlos Staunenden, und als die elterlichen Stimmen von ferne zum Schlafengehen riefen, trennten sie sich ungern und in dem Wunsche, die Woche möchte nur die Hälfte der Tage haben, damit der nächste Sonntag schneller herbeikäme. Niels ging mit einem leuchtenden Gesicht nach seiner Höhle zurück und saß noch lange bei dem schwelenden Docht, der in einer Flasche an Stelle einer Lampe brannte, mit Schnitzereien für die Kinder beschäftigt, kleinen Kirchen und seltsamen Vögeln aus Holz, die er im fremden Lande anzufertigen gelernt hatte.

Doch war dies eine schnell verwehende Freude in seinem aufblühenden Leben, denn am nächsten Sonntag, als er seine Schätze in den Jubel der Kinder gestreut hatte und, um dem Dank zu entgehen, seine kleine Flöte wieder hervorzog und ihr eine auf- und abschwankende Reihe seltsam eintöniger Melodien entlockte, verwandelte sich plötzlich sein Gesicht, wurde lauschend, hart, gespannt, die linke Hand glitt langsam, fast unmerklich vom schwarzen Holz der Flöte hinweg, indes die Rechte fortfuhr, den einschläfernden Wechsel zwischen zwei Tönen zu erzeugen, und dann hielt er die Schlange zwischen den Fingern, dicht unterhalb des Kopfes, so daß aus dem geöffneten Rachen die Giftzähne drohend leuchteten.

Dies war das Ende der Freundschaft zwischen Niels und den Kindern, und von diesem Abend ab sah man ihn nicht mehr auf der Dorfstraße, und seine Gestalt schien noch müder und hagerer, wenn sie in den Büschen des Waldrandes verschwand, die beiden Körbe an der Seite und die Haselrute in der Hand.

Im Dorfe aber begann man zu glauben, daß er ein Zauberer sei und daß es vielleicht nicht gut sei, ihm zu begegnen, ohne ein geweihtes Kreuz über dem Herzen.

An einem der Sonnwendabende, als es unter dem weißen Himmel nicht dunkel werden wollte, kam Niels aus der Stadt zurück und stand, um die Birken vor den verfallenen Schützengräben biegend, unvermutet vor einem dunkelhaarigen Mädchen, das groß und schön gewachsen war wie ein wilder Baum. Es saß auf einer der Schulterwehren, trug seidene Strümpfe, die etwas fleckig waren, und helle, ausgetretene Schuhe, und kaute an einem Grashalm.

Niels war so erschrocken, daß er sie lange Zeit anstarrte, ohne zu begreifen, wie das alles möglich sei. Als er dann an seine Pelzmütze griff und »Guten Abend« sagte, war es nach dem langen Schweigen so komisch, daß sie spöttisch lächelte. Natürlich erwiderte sie den Gruß nicht, sondern genoß mit unverborgenem Vergnügen seine Verlegenheit.

»Du bist also der Schlangentöter?« fragte sie endlich und schob den Grashalm in den anderen Mundwinkel.

Ja, das sei er.

»Komisch, wie du aussiehst ...«

Er hantierte ohne Zweck an seinen Weidenkörben herum, und sein schweres Gesicht war ganz blaß geworden.

»Und wer bist du?« fragte er nach einer Weile.

Sie sei aus dem Dorf. Woher denn sonst?

Aber er habe sie niemals gesehen?

Das sei auch nicht gut möglich gewesen, da sie vor zwei Tagen erst wieder nach Hause gekommen sei, aus dem Dienst in einer Stadt.

Weshalb sie nicht im Dienst geblieben sei?

Ach ... so ... weil ihr die Arbeit nicht gepaßt habe.

Sie liebe die Arbeit nicht?

Nein, man bekomme nur rauhe Hände davon.

Niels versteckte unauffällig seine Hände auf dem Rücken und meinte bei sich in einer dumpfen Erkenntnis, daß er wohl besser täte, in seine Höhle zu gehen. Aber er konnte seine Augen nicht von ihrer Gestalt wenden, die wie ein Wunder in den Gängen seiner Unterwelt erschienen war.

Wie sie heiße?

Urte.

Das sei ein schöner Name, er klinge wie ein Moor.

Ja, schöner als Niels sei er sicherlich, der klinge wie ein Weißfisch.

Ja, sehr schön sei er ja nicht, aber die Kinder könnten ja nichts dafür, wie sie getauft würden. Und dann sagte er Gute Nacht.

Sie zog die Füße nicht an, als er an ihr vorüberging und sah über ihn hinweg in die Nebel über dem Fließ.

Sie solle dort nicht zu lange sitzen, sagte er noch, als er schon hinter der nächsten Schulterwehr war. Der Abendnebel sei nicht gut am schwarzen Wasser. Als keine Antwort kam, ging er weiter.

In seiner Höhle zündete er den Docht in der grünen Flasche an und saß dann auf seinem Lager, die Hände zwischen den Knien gefaltet und mit gebeugten Schultern. Ja, Niels war kein hervorragender Name, und seine Hände waren wie sibirische Bärenhände. Er verspürte keinen Hunger, rauchte eine Pfeife und sah den grauen Wolken nach. Ein großer Falter rauschte um das Licht, und die Stille war schwer und traurig wie in den Nächten seiner Gefangenschaft, zu denen die Fäden sich wieder wie allabendlich spannen.

Er ging noch einmal hinaus, um zu sehen, wie das Wetter am nächsten Morgen sein würde. Der Nebel stand weiß über den Erlenbüschen. Eine Rohrdommel rief drohend vom Moor, und der Wald lag finster unter den hohen Sternen. Auf der Schulterwehr saß nun niemand mehr, und er ging seufzend die Stufen wieder hinunter.

Niels hatte schlechte Fangtage, und ein paar Abende machte er einen Umweg und schlich sich von der anderen Seite in seinen Unterstand. Sein Herz klopfte, obwohl auf den Schulterwehren nichts zu sehen war. Doch glaubte er einmal zu erkennen, daß sein Schnitzmesser nicht an der alten Stelle lag, und er stand eine lange Zeit grübelnd davor, um sich zu erinnern, wie er es am Abend zuvor hingelegt hätte. Es blieb eine drückende Ungewißheit, und bevor er am nächsten Morgen zur Jagd ging, prägte er sich alle Einzelheiten seines Raumes auf das genaueste ein. Doch konnte er keine Veränderung mehr feststellen.

Nach einer Woche ließ er die Umwege sein, und als er den Graben entlang kam, saß Urte wieder auf der Schulterwehr. Er habe sich wohl den Weg abkürzen wollen?

Ja, er gehe mal so, mal so. Ob sie noch lange im Dorf bleiben werde? Vielleicht. Es sei zwar nichts los, aber es sei immer noch besser als hinter fremden Leuten die Dielen aufzuwischen. Ob sie nicht einmal auf die Kreuzotterjagd mitkommen könne?

»Nein,« sagte er schroff.

»Du willst deinen Zauber wohl nicht verraten?«

»Da ist kein Zauber dabei. Das ist dummes Gerede.«

»Danke schön.«

Nun war er wieder bestürzt und versuchte sich zu entschuldigen. Wie es denn in Sibirien gewesen sei? Ach ... so ... Ob auch Frauen dagewesen seien? Ja, ein paar. Wahrscheinlich sei ihm der Mund dort eingefroren und noch nicht aufgetaut. Er müsse sich ein paar Tage in die Sonne legen und den Mund aufmachen.

Er versuchte zu lächeln. Aber er fühlte sein Gesicht wie aus Holz. Er habe es immer ein bißchen schwer gehabt, da sei er nicht viel zum Sprechen gekommen.

»Dein Bruder ist ganz anders,« sagte sie plötzlich und sah ihm aufmerksam ins Gesicht.

Er wurde sehr bleich, und eine finstere Falte erschien auf seiner Stirn. »Was redest du da?« sagte er. »Ich ... ich habe keinen Bruder ...«

»Nun, vielleicht ist es ein Stiefbruder ... er ist sehr hübsch, und wir haben einmal die ganze Nacht getanzt ... Nachher hat die Polizei ihn wohl geholt, er muß etwas angestellt haben ... er hat viel von dir erzählt, denn dein Name stand gerade in der Zeitung damals, mit den Kreuzottern.«

»Ich habe viel Kummer mit ihm gehabt,« sagte Niels nun mit einer müden Bewegung, als lohne das Leugnen nicht mehr.

»Heinrich sagt, daß dein Vater ein Schiffszimmermann gewesen ist und daß du deshalb wohl aus Holz bist.« Sie lachte leise vor sich hin.

»Es ist nicht gut, so zu sprechen,« erwiderte Niels finster. »Aber es ist ihm immer alles zugefallen, und für mich blieb nicht viel übrig ... schon bei der Mutter war es so.«

»Sie muß ein fröhliches Leben gehabt haben,« meinte Urte.

»Sie hat nicht gut gelebt ... aber sie ist nun tot ... wir wollen nicht mehr davon sprechen ...«

Bald darauf sagte er Gute Nacht und verschwand mit müden Schritten in den Gräben. Er glich ein wenig einem verwundeten Tier, das im Schatten der Nacht seine Höhle sucht.

Eines Morgens saß dann ein Mann auf dem Grabenrand der Dorfstraße und kämmte vor einem kleinen Taschenspiegel sein blondes Haar mit einem Kamm, den er ab und zu ins Wasser des Grabens tauchte. Er pfiff laut und unbekümmert vor sich hin, säuberte seine schadhaften Schuhe mit der Innenseite seiner Jacke, zündete sorgfältig eine etwas gedrückte Zigarre an und schlenderte dann vergnügt die Straße entlang, wobei er den Rauch durch die Nase stieß und zwischen ein paar Zügen die Bruchstücke eines kunstvollen Marsches auf einer verstimmten Mundharmonika hören ließ. Er grüßte höflich, meinte, daß das Wetter sich halten werde und die Gegend schön sei und war am Ende der Straße so, als habe er sein Leben in diesem Dorfe verbracht und sei nun am Ende einer nicht zu langen Dienstzeit wieder heimgekehrt. Und auch den Leuten des Dorfes kam es so vor, und die Kinder jubelten, als er wie ein Hund zu bellen begann und alle Hunde des Dorfes in ein wütendes Gekläff ausbrachen über einen fremden Eindringling mit hoher, angriffslustiger Stimme, den sie nicht sehen konnten.

Die ganze Straße lachte, und als der Mann nach seinem Bruder fragte, den alle Zeitungen den Schlangentöter nannten, verwunderten sie sich laut, daß zwei Brüder so ungleich sein konnten, und wiesen ihm den Weg zu den Schützengräben, meinten aber, daß er ihn wohl nicht antreffen werde, da er sicherlich schon lange im Walde sei.

Aber der Mann winkte sorglos mit der Hand und zog mit einer Schar von Kindern davon, gleichwie ein Komet mit einem strahlenden Schweif.

Am Abend wurde die Tür des Unterstandes so heftig aufgestoßen, daß die kleine Flamme über der Flasche zu erlöschen drohte. »Hallo, Schlangentöter,« sagte Heinrich, der auf dem Bett seines Bruders lag und eine Pfeife seines Bruders rauchte. »Du bist ja verdammt stürmisch geworden ... sei gegrüßt, alter Knabe!«

Er winkte etwas nachlässig mit der Hand, ohne aufzustehen.

Niels stand wie ein Pfahl, und es war, als gefriere sein Gesicht in dem Lächeln des andern. »Du bist es,« sagte er nach einer Weile leise, und seine Hände falteten sich wie die eines Greises um den Griff seines Stockes.

»Ja, wer denn sonst? Hast du denn anderen Besuch erwartet, wie? Daß mir da keine Klagen vorkommen!«

Er lächelte auf eine verstohlene und wissende Weise, und Niels sah finster auf seine Lippen. Er haßte dieses Lächeln von Kind an, weil es dem Lächeln einer Dirne glich, eingegraben, kalt, an Zahlen denkend.

Er stellte die Weidenkörbe an den Lehmherd und fragte nun mit sparsamen Worten, weshalb er gekommen sei und ob er wieder keine Arbeit habe.

Ach, Arbeit, das sei nur mit Unterbrechungen zu ertragen – Niels blickte schnell nach seinen glatten Händen hin –, und er habe ein bißchen Sehnsucht nach ihm gehabt. Er wisse ja doch, daß Niels sich freue, wenn er auch anders tue. Und er werde ihm hier die Wirtschaft führen für einige Zeit, da er sich selbst ja doch nur um seine Schlangen kümmern könne. Wahrscheinlich verdiene er ein verdammtes Geld damit.

Niels war weit von einer Freude entfernt, aber er lud ihn zum Essen ein, spülte wie sonst das Geschirr und saß dann mit einer Pfeife auf dem Herde, während Heinrich sich wieder auf das Lager streckte und aus den Tiefen seines Rockes eine Zigarette hervorgrub.

»Du kannst hier nicht lange bleiben,« sagte er endlich. »Ich muß zurücklegen von dem, was ich verdiene, und es hört einmal auf, daß ich für dich sorge.«

Heinrich blies kunstvolle Ringe gegen die Decke, aus der die Erlentriebe wuchsen, und lächelte.

»Du bist jünger und hast es leichter mit den Menschen. Ich kann nicht mich und dich auf dem Rücken tragen.«

»Laß mich ein bißchen ausruhen, alter Junge,« sagte Heinrich, und sein Gesicht schien ohne Übergang alt und verbraucht. »Ich werde ja wieder gehen ...«

Niels wühlte mit einem Span in der kalten Asche herum und schwieg. »Du kennst wohl ein Mädchen hier aus dem Dorf?« fragte er nach einer Weile und verbrannte sich die Finger an der glühenden Asche seiner Pfeife.

Er kenne viele Mädchen, erwiderte Heinrich gedankenvoll.

Niels schlief neben dem Herde auf einem Schilflager, mit seinem russischen Mantel zugedeckt. Die Mäuse raschelten im Moos des Daches, und draußen riefen unablässig die Frösche. Es klang bedrückend, als ob viele Menschen im Schlafe sprächen.

»Du hast mir immer etwas viel weggenommen,« sagte Niels, als er das Licht schon lange gelöscht hatte. »Bei der Mutter, und in der Schule ... und auch sonst ...«

»Du warst zu schwerfällig, Niels. Man gab dir weniger, das ist die Sache. Du hattest immer die Hände zu.«

»Einmal macht jeder sie auf,« meinte Niels nach einer langen Weile. Aber es kam keine Antwort mehr, obwohl er den Atem anhielt, um zu lauschen.

Niels sah schlecht aus am Morgen, aber er rüstete sich wie sonst zu seinem Waldgang. Er legte sein Handwerkszeug zurecht und wies seinen Bruder an, sich am Ende der Gräben einen Unterstand einzurichten. Er müsse allein sein seit Sibirien, und was er dort an Raum zu wenig gehabt habe, brauche er jetzt zuviel.

Seine Frau werde es etwas beengt haben bei ihm, meinte Heinrich lächelnd. Aber Niels sah ihn finster an und schwieg.

Als sie sich in der Türe trennten, zeigte Niels auf das Grabenstück, das von seinem Unterstande und dem Dorfe fortlief. »Ich wünsche, daß du dich dort einrichtest,« sagte er ohne weitere Erklärung.

Heinrich sah an den Spuren, daß er ihn in das Unbetretene hinaus haben wollte, damit er nicht zwischen ihm und dem Dorfe wohne. Und er ahnte den Grund und lächelte.

Dieses Lächeln, wissend und verstohlen, war das letzte, was Niels in sein hartes Tagewerk mitnahm.

Er fing sehr wenig an diesem Tage. Seine Rute schlug oft vorbei, und bei dem Versuch, eine Otter lebend zu fangen, wäre er beinahe gebissen worden. Als er eine Dickung durchsucht hatte und sie wieder verlassen wollte, graute es ihm plötzlich vor dem offenen Wald, der erfüllt war mit Licht und Bewegung, und er stahl sich heimlich zurück und blieb unter dem Dach einer Fichte, den ganzen Tag, den schweren Kopf in die Hände gestützt und mit zweckloser Traurigkeit in Vergangenheit und Zukunft wie in einer Brandstätte wühlend.

Er ging nicht zur Stadt, kehrte früher heim, spähte von den Büschen des Waldrandes nach den Gräben und sah seinen Bruder unweit des Dorfes auf einem der niedrigen Hänge, von allen Kindern umgeben, die an seinen Lippen zu hängen schienen. Dann sah er ihn auf den Händen gehen und Kunststücke gleich einem Akrobaten vollführen, und der Jubel seiner Zuschauer erfüllte lärmend die stille Abendluft.

Lange Zeit stand Niels unbeweglich da, und als er schließlich in einem weiten Bogen nach seiner Höhle ging, war sein Gesicht finster wie ein Waldsee, aber ohne Haß, nur von einer hoffnungslosen Müdigkeit gleichsam getötet.

Am nächsten Abend, als er aus dem Wald zurückkehrte, saßen Heinrich und Urte schon auf der alten Schulterwehr. Es war zu spät, ihnen auszuweichen, und Heinrich winkte auch schon mit jener Handbewegung, die Niels immer an einen Schauspieler erinnerte, den er als Kind gesehen hatte.

»Ihr habt ja schon gute Freundschaft geschlossen,« sagte er, zwischen ihnen hindurchsehend.

»Sehr gute,« meinte Urte.

»Du bist müde,« sagte Heinrich gutmütig, »und ich habe natürlich kein Abendbrot gemacht. Wir haben so viel geschwatzt von unseren Erinnerungen.«

»Ich habe keinen Hunger,« erwiderte Niels steif. »Aber müde bin ich, das ist richtig ... Gute Nacht.«

Sie riefen ihm wohl noch etwas nach, aber er stolperte über eine Wurzel und hörte es nicht. Hatten sie nicht eben gelacht? Ja, er wäre ja auch beinahe gefallen. Das Wort von den Erinnerungen fraß sich langsam in seine Seele. Irgendwo war ein jäher, leiser Schmerz, und von dort sickerte es hinein, dorthin wo die Schmerzen wohnten. So würde es wohl gewesen sein, wenn die Kreuzotter gestern die Hand getroffen hätte. Er mußte stehen bleiben und sich an den Grabenrand lehnen. Der Korb an seiner rechten Seite schien ihm plötzlich schwer geworden, und es verlangte ihn, den Deckel zu öffnen und die kalte Grausamkeit der Köpfe zu betrachten, mit dem versteckten Funkeln in den gleitenden Augen. Aber dann ließ er es, weil er sich fürchtete. Und als das Licht in seinem Unterstand brannte, trug er die Körbe wieder hinaus und stellte sie an den Rand des Daches.

Es dauerte lange Zeit, bis Heinrich vorbeikam. Das Licht war schon gelöscht, und Niels lauschte atemlos, ob es nur ein Schritt sei.

Er konnte nicht schlafen, und um die Mitternacht verließ er sein Lager und schlich am Fließ entlang nach dem Ende der Gräben, wo seines Bruders Wohnung war. Er drückte sein Ohr an die Fugen der Erlenstämme, aus denen die Wände gezimmert waren, aber er hörte nur das Brausen seines Blutes und fühlte sein Gesicht brennen vor Scham. Ein Regenpfeifer kreiste über dem Moor, und sein heller, trauriger Ruf fiel aus dem Himmel gleichsam zerspaltend in die Nacht. »Niels ... Niels!« rief die Stimme. »Niels ... Niels!« Es war wie die Stimme eines Kindes, die durch alle Türen rief, ohne zu wissen, welche dunklen Geheimnisse sie zerriß. Niels kannte diesen Vogel seit seiner Kinderzeit. Er war mit einem fremden Jäger ein paar Tage auf das Moor gezogen und hatte seine Beute hinter ihm hergetragen. Der Jäger hatte ein Brennglas in einer Tasche seines Rucksackes gehabt, mit dem er, wenn er guter Laune war, aus trockenen Flechten um die Mittagszeit ein Feuer angezündet hatte. Die spiegelnde Linse hatte Niels krank gemacht. Sie war der Inbegriff aller Macht und Wunder für ihn gewesen. Und eines Nachts, in einem Krampf der Angst und der Seligkeit, hatte er sie heimlich entwendet. Da hatte der Vogel gerufen, und der Jäger hatte den Kopf gehoben. »Weißt du, was er ruft?« hatte er mit ganz wacher Stimme gefragt. »Niels ... Niels! ruft er, und es ist der Vogel, den Gott über die Welt schickt, wenn seine Engel schlafen ...« Da hatte Niels das Glas in das Feuer geworfen und war quer über das Moor davongestürzt. Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre er versunken. Und so floh Niels auch in dieser Stunde von dem Schlaf seines Bruders fort, sinnlos wie damals als Kind, und saß wieder vor dem Licht in seinem Unterstand, und seine Füße waren ihm schwer wie von Schlangengift.

Am Morgen, als er auf seinem ausgetretenen Pfade in den Wald kam, saß Urte auf einem Baumstumpf und sah ihm entgegen. »Heute komme ich mit,« sagte sie.

»Du tätest vielleicht besser, umzukehren,« erwiderte er, mit harten Augen auf sie niederblickend.

Aber sie stand kopfschüttelnd auf und strich ihren Rock glatt und wartete, daß er vorangehe.

Sie sprachen kein Wort, aber es war ein guter Fangtag für Niels, und um die Mittagszeit zog er sogar die Flöte aus der Tasche und zeigte ihr, wie der Zauber über die Schlangen fiel und sie in seine Hände gab.

Sie war sehr still geworden, als sie auf einer trockenen Lichtung saßen und sein Mittagbrot teilten.

»Es waren so kleine Zahlen auf der Tür in den letzten Tagen,« sagte sie endlich. »War das Wetter nicht gut?«

»Es liegt an der Seele,« erwiderte Niels, an einen Baumstamm gelehnt und sie mit scheuen Augen umfangend. »Man muß seine ganze Seele haben, wenn man stärker sein will als das Tier. Das Tier ist immer ganz, und wenn der Mensch nicht ganz ist, ist er schwach und das Tier hat Gewalt über ihn. Wir hatten einen in Sibirien, der war ein Meister über die Schlangen. Aber in einer Nacht ging er mit dem Messer auf einen los, den er bei einem Mädchen fand. Wir brachten sie auseinander, und es blieb alles unter uns. Aber am nächsten Tage wurde er gebissen und starb. Es hatte die Ader getroffen ...«

»Man könnte Angst haben vor dir,« meinte sie mit einem schwachen Lächeln.

»Ich habe gespart,« sagte er nach einer Weile mit ganz veränderter Stimme. »Es könnte vielleicht reichen für zwei ... und wenn einer bei mir ist, braucht man nicht angst haben vor mir ...«

Nun lachte sie, ein verstecktes Lachen, tief in ihrer Kehle. »Das ist wohl ein Antrag?« fragte sie. »Ach, wie dumm du bist, wie schrecklich dumm! Er ist viel klüger.«

Er war bleich geworden und sah sie ohne Verständnis an. Sie drehte mit einem langen Grashalm sein Haar zusammen und summte leise vor sich hin.

»Was sind das für Erinnerungen, die du mit ihm hast?« fragte er finster.

Ein flimmernder Blick aus den Winkeln ihrer Augen fiel auf ihn. »Schöne,« erwiderte sie geheimnisvoll.

Er stand auf und schnallte den Gurt mit den Körben um seine Hüften. »Es würde wohl nichts schaden, sie auszuschütten auf dich,« sagte er, den Deckel des rechten Korbes fester schließend.

Es war zu sehen, daß sie blaß wurde, aber sie hörte nicht auf zu lächeln. »Weshalb bist du so dumm, Niels?« fragte sie leise.

Er stand über ihr, als trenne ihn nur eines Fadens Stärke vom Sturz oder von einer Gewalttat. »Wenn ich meine Hand einmal aufmache,« sagte er heiser, »will ich das Ganze. Keinen Bissen, um den sich die Hunde reißen.«

Er hörte ihr Lachen noch, als er schon tief im Walde war, aber es war ein böses Lachen, und er entfloh ihm. Er war so in dunkle Gedanken verstrickt, daß er erst um die Abendzeit merkte, daß er ihren Halm noch immer in den Haaren trug. Er riß ihn schonungslos heraus und sah, daß sein Haar, zu einem Gespinst verflochten, um den grünen Stengel lag. Und wiewohl sein einfacher Sinn keiner Symbolik zugänglich war, berührte ihn der Anblick doch mit einem leisen Frösteln, und er setzte den Fuß darauf, um alles hinunterzutreten in die Erde.

Ein paar Tage darauf wußte er, daß Urte in der Nacht bei seinem Bruder war.

Er ging nicht mehr in den Wald, sondern blieb auf seinem Lager. Nur einmal stand er auf, um nach den Körben zu sehen. Sein Gesicht war verfallen und gleichsam nackt und böse wie das eines alten Wolfes.

Als Heinrich zur Abendzeit kam, drehte er sich zur Wand. Ja, er sei krank, und der Bruder möchte doch morgen zur Stadt gehen und ihm Choleratropfen bringen. Es sei wieder ein Anfall wie in der Gefangenschaft.

Heinrich saß noch eine Weile auf dem Herd. »Es ist doch gut, daß ich da bin,« sagte er in einer unklaren Bedrückung. »Sonst würde sich keiner um dich kümmern ...«

»Ja, es ist sehr gut,« erwiderte Niels in seine Decke hinein. »Du kommst immer zur Zeit.«

»Wieso?«

»Manche Leute kommen immer zur Zeit. Sie brauchen nicht warten und bekommen den besten Platz.«

»Na, weißt du ... den besten Platz?«

»Ja, das stimmt wohl auch nicht. Der beste Platz ist unter der Erde, und bis dahin hast du ja wohl noch lange hin ...«

»Wie komisch du redest.«

»Ja, es ist auch ein komisches Gefühl, wenn du die Hände aufmachst und es ist nichts drin. Du kennst das wohl nicht? Mutter erzählte wohl, wenn sie mal freundlich war, daß ich als Kind nach der Sonne griff und dann langsam die Hände aufmachte. ›Wie dumm du aussahst, Niels,‹ pflegte sie zu sagen ... sie nannte ja immer die Dinge beim richtigen Namen ...«

Darauf sagte er nichts mehr, und der andere ging etwas zögernd hinaus.

Am nächsten Vormittag schlich Niels sich zu Heinrichs Unterstand und blieb dort eine Stunde lang lautlos, aber mit gespannter Behutsamkeit beschäftigt. Der Vogel rief wieder über dem Moor. Aber der Wind verwehte den Ruf, und er fiel nicht in des Mannes Seele.

Als Heinrich die Tropfen brachte, dämmerte es schon leise. Er schien ein wenig getrunken zu haben und schwatzte fröhlich von seinen Erlebnissen.

Niels lag auf seinem Lager, die Augen nach dem Holz der Decke gerichtet. »Du hast wohl große Schmerzen?« fragte Heinrich etwas beschämt.

»Ja,« sagte Niels laut, »ja, das habe ich ... geh nun, Bruder, und ... Gott sei mit dir!«

Er nahm die Hände nicht unter der Decke vor, und Heinrich, in der leisen Rührung des Rausches, blickte eine Weile auf ihn wie auf ein Kind hernieder. »Alter Junge,« sagte er, »der Teufel hole den Apotheker, wenn die Tropfen nicht helfen!«

Dann ging er hinaus.

Niels warf lautlos die Decke zurück und sah ihm aus dem Fenster nach. Er sah, daß er stehenblieb und nach dem Dorfe hinübersah. Als er sich endlich nach der Richtung seines Unterstandes wandte, lag das alte Lächeln wieder um seine Lippen, das wissende, verstohlene Lächeln eines Mannes, der zu einem heimlichen Mahle geht.

In dem Gesicht des Lauschenden aber spiegelte dieses Lächeln sich als ein verzerrter Widerschein.

Als die Nacht am tiefsten war, kniete Niels an dem Unterstand seines Bruders und hatte das Ohr an eine Fuge zwischen den Stämmen gepreßt, bis er die Laute ihrer Seligkeit vernahm. Sein Gesicht war grau wie verwesendes Holz, und sein Herz schlug so, daß ihm schien, als riesele der Sand aus der Erde des Daches bei jedem Schlage in den von ihrer Liebe erfüllten Raum.

Dann streifte er den Lederhandschuh über seine rechte Hand und öffnete den Deckel des Korbes. Er fühlte die kalten Leiber als einen kaum merklichen Schauer, wie sie durch seine Hand in die Fuge glitten und lautlos im Unterirdischen verschwanden. Er zählte sie, kalt und rechnend nun, wie man Münzen zählt. Seine Hand zitterte nicht mehr, und seine Augen waren spähend und behutsam wie auf der Jagd.

Aber dann, bei der dreiundzwanzigsten Bewegung, zerriß die Nacht unter einem Vogelruf, und der Ruf schlug wie ein tönender Blitz in die Kammer seines Herzens. Er erklang ganz hoch, gleichsam zwischen den Sternen, als halte Gott den Vogel noch richtungweisend in seiner Hand, und schoß dann hernieder ins Bodenlose, durch die Fugen zwischen den Sternen, unaufhaltsam, unbeirrbar, bis in das rote Blut, das in der Herzkammer des Mannes sich atemlos drängte. »Niels ... Niels!« rief die Vogelstimme, und noch einmal: »Niels ... Niels!«, als verwehe sie hinter den Nebeln des Moores.

Für eines Vogelrufes Länge blieb die Hand gelähmt im Korbe, und als es vorüber war, war es zu spät.

Niels zog den Arm langsam heraus und schloß den Deckel des Korbes. Es schien ihm, als seien seine Finger schon schwer, und er nahm die andere Hand zur Hilfe. Dann saß er eine Weile mit leeren Augen, aus denen der Glanz des Lebens nach innen sich zurückzuziehen schien wie durch einen Sprung in einem Glase. »Es ist gut, daß mich niemand sieht,« dachte er ganz ruhig. »Sie würden wieder lachen über mein Gesicht.«

Über dem Moor erschien ein heller Streifen, und ein leiser Wind tastete einmal über die Spitzen der Gräser. Niels nahm den Korb, zog die Flöte aus der Tasche und klopfte leise an die Tür des Unterstandes.

»Bruder,« sagte er, »ich bin es, Niels. Du darfst nicht aufstehen, aber ich muß hineinkommen und etwas Licht machen. Es sind viele Kreuzottern in deinem Haus, und du mußt ganz ruhig liegen.«

Er hörte etwas wie einen leisen Schrei, aber dann blies schon die Flöte, die seltsam steigende und fallende Melodie, die wie Sprechen im Schlaf war oder wie Klage eines verendenden Tieres. Sie hörte nicht auf, bis er die Zahl wieder erreicht hatte, in die der Vogelruf gefallen war. Und während der ganzen Zeit hatte er dem Lager den Rücken gewendet.

»Du kannst nun ruhig schlafen, Bruder,« sagte er. »Es ist nun keine Gefahr mehr ...«

Es war ihm schwer, bis zum Fließ zu kommen, aber er würde von dort weit hinaussehen können, bis auf das Moor und vielleicht bis Sibirien.

Er legte den Korb unter seinen Kopf, und wenn das schmerzende Blut einmal stiller war, konnte er das Gleiten der Körper an dem harten Geflecht hören. Ein bißchen hatte er doch geholfen, und vielleicht würden sie wieder in den Wald gehen können. Sie hatten sich gefürchtet vor ihm, natürlich, aber nun würden sie doch gut von ihm sprechen. Auch etwas Schnitzwerk war noch in seinem Unterstand.

Es brannte nun schon bis zum Herzen. Jeder Pulsschlag trieb eine Welle von glühendem Blei in die Herzkammer hinein. Es war doch schlimmer, als er gedacht hatte. Viel Qual konnte in einem Körper sein. »Es war gut, daß ich nicht hingesehen habe,« dachte er noch. »Wahrscheinlich ist sie sehr schön.«

Dann fielen seine Gedanken auseinander wie Steine in einem sich lösenden Gewölbe, und stürzten tief ins Bodenlose. Dort unten mußten sie irgendwo aufschlagen, denn es dröhnte wie sich überschlagendes Echo in einem dumpfen Schacht. Glänzende Splitter schossen wie Funken durch erblindende Nacht ... das Kinderbett und die Lampe auf dem Tisch ... der Mann in Sibirien mit den beiden bläulichen Punkten in seinen Adern ... das Brennglas, das ins Feuer stürzte ...

Er öffnete noch einmal weit die Augen. Der Morgenhimmel warf sich hinein wie in wehrlose Brunnen, mit dem Bilde eines Vogels, der hoch durch den weißen Raum segelte. »Niels ... Niels!« rief eine helle Stimme, von der der Morgenwind die Trauer abgewischt zu haben schien.

Da lächelte Niels und schloß die Augen, und es war, als schließe er mit dieser Bewegung den Morgenhimmel und das Bild des Vogels und seinen hellen Ruf in sich hinein, um es mitzunehmen in ein dunkles Haus, dessen Türen sich nun nicht mehr öffnen würden.

Und dann wehten nur noch die Gräser um seine weiße Stirn.

*


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