Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Pan im Dorfe

Das Haus lag auf dem Uferhang über dem See. Um den See standen die Wälder, und über den Wäldern stand der Himmel. Es gab nichts außer diesen Dingen und dem Leben, das sie erfüllte. Keine Menschen und viel Schweigen. Nur wenn die Hirsche schrien oder der schmerzliche Ruf des Fischadlers über den Wäldern verging, schien es, als klage die Erde aus gefesseltem Schlaf, aber es wehte nur über sie hin, und nichts stieg aus ihr empor.

Es war vielleicht ein Ort für Liebende, die aus der Feindschaft des Lebens zu fliehen suchten, in das große Schweigen, das hinter der Liebe und vor dem Tode steht. Und es war vielleicht ein Ort für die wenigen, die die Frucht des Lebens gesammelt hatten: ein Ort für die Reifen, für die, die nach Gott riefen und für die, nach denen Gott rief. Aber es war kein Ort für die junge Frau, die der Förster an einem Herbstabend in dies Haus führte. Sie stand, während er die Tür öffnete, am Zaun des Gartens über dem Uferrand, zwischen den letzten Malven, die ihre Kelche bis an ihre Schultern hoben, zart und zerbrechlich, selbst einer letzten Blüte gleich, wandte das weiße Gesicht zurück und sah noch einmal über den See, von dessen nebligen Ufern der Reiher schrie. »Nun komm doch! Was ist da zu sehen?« sagte der Mann ungeduldig. Sie fröstelte zwischen ihren Schultern und hob die Hände um ein weniges vom Holz des Zaunes. Dann wandte sie sich, und hinter ihnen schloß sich die Tür.

Um die Mitternacht hob das Geflügel sich rauschend aus dem Schilf, und das Getier floh von der Tränke zum Dickicht zurück, weil ein Schrei aus dem Hause brach und wie ein sinnloser Vogel an die Wand des Schweigens stieß. Und alle Kreatur vernahm die Todesangst und raste davon, um nichts mehr zu hören als das leise Wehen der Wipfel und die Stimmen des Schlafes, die über dem Wasser sind.

Und von dieser Nacht an gab es wieder nichts als den Fall der Stunden, die in eine Schale tropften, Bogen der Sonne, der sich öffnete, und Bogen der Sterne, der ihn schloß.

Es war, als habe eine Hand sich schweigend auf Frau Sylvia gesenkt und habe sie ausgelöscht. Sie blieb kinderlos, und das Leid ihres Blutes, immer schwerer und langsamer von dunkler Decke tropfend, trieb sie mit leise gewandelter Stimme zu Pflanze und Tier, zum eben Geborenen, zum Pflegeverlangenden, zum Hilflosen, das aus dunkel aufgeschlagenen Augen um das Leben bat.

Im dritten Jahr ihres Erlöschens, am Sonnwendtage, vollendete sich das Schicksal. Es loderte auf gleich den Bränden des Wetterleuchtens hinter den Seen, tastete in die Todeskammern ihrer Seele, durchglühte sie, zeichnete sie, bestimmte die Frist ihrer Tage und ließ sie dann, unter Fluch und Segen, bis der Ring der Vollendung sich lautlos um sie schloß.

Am Abend dieses Tages, im fahlen Schein sich erhebender Wolkenwand, stand ein Zigeuner vor dem Zaun ihres Gartens, durch nichts über die traurige Wildheit seines Volkes erhoben als durch eine stille Beschattung seiner Seele, ein Gitter gleichsam, dessen eherne Unerbittlichkeit er hoffnungslos geprüft, hob die Geige ans Kinn und zog den Bogen feierlich über die tönenden Saiten. Er hielt nicht inne, als Frau Sylvia aus der Türe trat. Nur seine Finger glitten tiefer hinunter, von Saite zu Saite, daß es gleichsam ein Ruf aus den Wäldern war, von Rätseln umstanden, von Leid, und von dem Unsagbaren, das hinter der Rinde eines Baumes seufzt oder in dem Abendhauch einer Blüte, aber nicht in eines Menschen Wort oder Ton oder in seiner Gebärde. Und während, leise sich wandelnd, der Rhythmus seines Spieles zum feierlichen Schreiten heiligen Tanzes sich gliederte, wendete er sich wortlos, wiewohl die stummen Augen an Frau Sylvia haftenlassend, verließ den Garten, den Grasweg, das Ufergehölz, und versank mit tönender Spur im Walde. Und auf seiner tönenden Spur, die Hände vor der Brust, schritt Frau Sylvia, mit einem Gesicht, das weiß in der Dämmerung leuchtete, als rufe der Engel des Todes aus beschatteter Schlucht.

Sie standen auf dem Opferberg über dem See, von den blauen Wänden beglänzt, die aus den drohenden Räumen hinter den Horizonten aufglühten, jäh erlöschend und mit dumpfem Donner übereinanderbrechend. Das Spiel war verstummt. Sie sprachen kein Wort. Sie sahen einander nur an. Aber als ein Vogel zu ihren Häupten aus glühendem Wipfel sich klagend schwang, stürzten sie zusammen, entwurzelt von der Jähe des Schreies, und die flammende Nacht begrub sie im Heiligsten ihres Schoßes.

Als Frau Sylvia beim ersten Vogelruf ihr Haus wieder betrat, vom Regen überströmt, einer gepeitschten Blume gleich, schien alles Erlebnis flammender Stunden nichts als ein blasser Schein, an ihrem Antlitz haftend. Und doch war es das Antlitz eines anderen Menschen, weil ihre Augen die Augen eines anderen geworden waren, nachblutend unter der Spur, mit der Tod und Leben in sie hineingestiegen waren zu den verschlossenen Kammern des Leibes und der Seele.

Als die Wälder sich wieder begrünten, wurde das Kind geboren. Die Flüche des Mannes empfingen es, während das Blut der Mutter noch strömte und nicht zu stillen war, bis der Blick ihrer Augen in ein Inneres ging, aus dem keinem Auge wiederaufzutauchen bestimmt ist. Mit letzten Zeichen verlangte sie zu schreiben, und in einer seltsam verschlungenen Handschrift stand auf dem zerknitterten Blatt der Name »Silvestris«. Dann faltete sie die Hände über der Brust, legte die Füße zusammen und erlosch unter einem Lächeln, das langsam auf ihren erkaltenden Wangen gefror.

Man begrub sie, mit Widerstreben ihrem oft geäußerten Wunsche folgend, auf dem Opferberge. Über ihren ungefriedeten Hügel zog achtlos das Tier des Waldes, und die leuchtenden Wetter der Sonnwendnächte glitten Jahr um Jahr über das hölzerne Kreuz.

Als der Knabe seiner Glieder und seiner Wünsche gewisser zu werden begann, liebte er es, auf diesem eingesunkenen Hügel zu sitzen und mit seinen Händen über die wilden Blüten zu streichen, die ihn bedeckten. Über die noch ungeformte Schönheit seines Gesichtes lagerte sich immer bemerkbarer der dunkle Widerschein des schweren Blutes, aus dem er geblüht war.

Früh begann sich in seinem Leben abzuzeichnen, daß die Welt ihm eine Welt der Töne war, nicht des Lichtes oder der Farbe, der Enge oder Weite, der Zeit oder des Raumes. Es war nicht nur, daß er in früher Kindheit auf einem Lindenblatt in einer Art zu spielen vermochte, die den zufällig Lauschenden erschreckend das Herz berührte, nicht nur, daß er auf Weidenflöten und Birkenschalmeien die Klage eines fast gereiften Lebens erfand: sondern Umriß und Färbung seines Lebens wurden von Ton, von Klang und Melodie geformt und gewandelt, Tag und Abend, Sommer und Winter, Leid und Behagen, ja selbst die Dinge, in die er gestellt war, das Lebendige, das ihn umgab. Denn die Melodie der Seen war eine andere als die der Wälder, und unter diesen klang das Dunkel der Fichten anders zur Sonne hinauf als die beglänzte Gelöstheit der Birke. Die Spur der Rehe ertönte mit einer anderen Saite als der Flug der Schwäne. Und so mit den Menschen, so mit den Stunden, so mit den Sternen.

Doch war es kein schwermütiges Kind. Es hatte keine Träne, es hatte kein Lachen, aber es hatte auch keinen selbstvergessenen Jubel. Je älter er wurde, desto seltsamer vertiefte sich in seinem Wesen etwas, das gleichsam eine Rückwandlung seiner Natur darstellte, insofern als seine seelische Verknüpfung mit dem, was Mensch hieß, mit zunehmender Erkenntnis und Erwachung nicht beglückend wuchs, sondern ohne Trauer sich verminderte. Geschah es – und es geschah nicht selten – daß Urte, die Magd, die ihn genährt und dem Leben erhalten hatte, weinte, so stand er schweigend vor der Seltsamkeit dieses Ereignisses, betrachtend, prüfend, spähend, aber weder eine seelische Verwirrung noch ein Mitleid erfüllten seine zuschauenden Augen.

Sein Vater war ihm ein Wolf, finster, böse und Unheil brütend in den Winkeln der Augen, wo die Seele lag. Wenn er ihn schlug, sah er ihn wortlos an, nur seine Augenbrauen zogen sich zusammen in der Vorstellung, wie schön es sein müßte, Steine in seinen Leib zu packen und ihn in den Brunnen stürzen zu hören.

Seltsam und von Urte mit abergläubischer Scheu betrachtet war die Liebe der Kreatur zu Silvestris. Er konnte einen verwelkten Feldblumenstrauß eine Nacht lang an seinem Herzen halten, und am Morgen lagen die Blüten in seiner Hand, als sei der Tau der Nacht soeben auf sie gefallen. »Du hast sie ins Wasser gestellt?« fragte sie mißtrauisch. »Ich habe sie in mein Blut gestellt,« erwiderte er ernsthaft. Das Kranke genas unter seiner Hand und seinem Atem, das Tote schien beglückt gestorben zu sein, das Lebendige in einer Glut des Lebens zu erglühen. Die jungen Schwalben saßen auf seiner Schulter, das Tier des Waldes nahm ihn in sein Spiel, die Drossel sang ihm antwortend entgegen wie einem Geliebten.

So spannen seine Jahre sich ab, an der goldnen Schnur der Elemente, die immer tiefer aus der Klarheit in das Geheimnis sich wand, die gleichmütig aus der Hand des Menschen fiel. Er schüttelte den Kopf zur Schule, zum Leben Jesu, zum Gewissen, zu einer Geburtstagsfeier. Und dann hob er sich auf, von seinem Blute geschleudert, mit fremden Augen und Lauten, und versank wie ein Stein im Walde, und nur die abendlichen Gründe hallten wider von der ergreifenden Klage seiner Flöte.

Als Silvestris in sein vierzehntes Jahr trieb, starb sein Vater auf eine gewaltsame Weise, und die Geschichte seines Todes erfüllte die Herzen der Menschen jener Landschaft auf lange Zeiten mit dem Grauen der Ahnung, die sich jeder Gewißheit entzog. Es war im Sommer, und schwere Gewitter standen Nacht für Nacht über den Wäldern, in die ihr blaues Licht hinunterfiel. Nun hatte der Förster in diesen Wochen öfter als sonst ein Stück Wild heimgebracht, und Silvestris hatte länger als sonst davor gestanden, mit behutsamer Hand die toten Augen öffnend und wieder schließend, wie er zu tun pflegte. Er weinte nicht, obwohl er in Tränen stand, nur die Flügel seiner Nase bebten wie bei einem Tier, und er sah seinen Vater an, so daß dieser die Hand an seine Büchse legte. Doch wurde kein Wort gesprochen.

An einem dieser Abende aber, als der Förster spät am offenen Fenster stand und nach dem Gewitter sah, erklang es zum erstenmal. Einen Büchsenschuß vom Hause schob sich eine Halbinsel weit in den See, auf der ein halbwüchsiger Wald gleich einer Mauer stand. Eine Fischerhütte lag dort, und auf den wenigen Schirmkiefern, die verzerrt hoch über die Dickung griffen, standen die Reiher zur Nacht. Von dort kam es, und als Urte aufschrie und das Kreuz schlug, fuhr der Förster sie böse an und sagte, es sei die Rohrdommel, die den Hals ins Wasser stecke, daß es klinge wie aus einem Gewölbe. Doch wußten sie beide, daß es nicht die Wahrheit sei.

Als es das zweitemal erklang, kniete Urte, weiß wie ein Tuch, vor ihrem Schemel, und der Förster warf das Fenster zu, daß eine Scheibe zerbrach und die Scherben klirrend auf die Dielen sprangen. Silvestris war nicht im Zimmer.

Das Ausmaß der Pausen zwischen den Schreien war von tödlicher Qual. Sie dauerten, gleichsam von einer teuflischen Berechnung diktiert, so lange, bis das zitternde Zutrauen sich schüchtern hervorwagte, es würde das letztemal gewesen sein, aber auf der andern Seite auch nur so lange, wie ein Rest des Grauens in der Seele blieb, so daß wohl die Türen zu den Kammern des Furchtbaren leise zufielen, aber der Hauch ihres Wehens noch kalt durch den Raum ging.

Der Schrei selbst aber entzog sich aller Beschreibung, geschweige denn einer Deutung oder Erklärung. Es konnte der Laut eines Menschen wie eines Tieres sein, eines Vogels wie eines Kindes. Er war wortlos und gleichsam tonlos, ja selbst ohne Körper und Gestalt. Man konnte nicht mehr von ihm sagen, als daß etwas Hohles und Klagendes, aber auch etwas Rufendes und Drohendes ihn erfüllte. Er stieg empor und sank, und nach einem kurzen Schweigen folgte ein Nachklang, zwei gleichschwebende Töne, die wie zwei Hände sich öffneten, ohne sich zu schließen, so daß sie über dem See standen, oder am Waldrand, oder vor der zerbrochenen Fensterscheibe und man unachtsam gegen sie stoßen konnte wie gegen die Hände eines Ertrunkenen im dunklen Schilf. Man konnte nicht mehr sagen, als daß der Schrei wie Blut war, das gen Himmel schrie.

Als es nicht mehr getragen werden konnte, nahm der Förster die Pistole und verließ das Haus. Noch zweimal schrie es, und dann verstummte es. Die blauen Feuer schossen lautlos über die Erde, und der Wald rauschte in der windlosen Nacht. Der Suchende kam zurück, mit einem verstörten Gesicht, in dem zu lesen stand, daß er nicht gefunden hatte.

Von da ab schrie es fast jede Nacht.

Es begann, wenn die Nachtblumen zu duften anfingen, wenn der Tagesschlaf aus den Wäldern rief und man die Erde atmen hörte. Es begann auch, wenn sich der Förster in der Dickung verborgen hatte, um des Mörders habhaft zu werden. Denn der Schrei war ein Mörder. Man sah ihn nicht, man kannte ihn nicht. Aber der kalte Atem seines bösen Mundes hob sich irgendwo aus der bergenden Erde, der finstere Glanz seiner Augen durchspähte alle Winkel der Häuser und ihrer Menschen, er mordete ihr Wachen und ihren Schlaf, den Blick ihrer Augen und den Atem ihres Mundes. Er klopfte an die geschlossenen Fensterläden und fragte, weshalb man ihn nicht einlasse. Er stahl sich in die Zweige des Eschenbaumes am Giebel und strich mit suchenden Händen leise über das graue Holz. Er war in der Stille und im Sturm, im Schlag des Perpendikels und im Klopfen des Totenwurmes, der seine dunklen Gänge durch das Holz der Wände zog. Er war in den Regentropfen, die auf das Fensterbrett fielen, im Ruf einer fernen Stimme, im Schweigen, das ihm lastend folgte. Er war ein Mörder, und er trank das Blut der Lebendigen.

Die Kunde von ihm lief weit über die Wälder hinaus, und lange vor dem Licht der ersten Sterne standen Menschen von weither am Ufer des Sees, um seiner zu warten. Der Förster, wiewohl er keine Liebe genoß, fand Unerschrockene, die mit ihm in die Dickung drangen oder sich lange vor Abend in ihr verbargen. Es war umsonst. Der Schrei erklang, aber der Mörder blieb im Dunkel.

In diesen Wochen entstellte das Gefühl des Försters zu Silvestris sich zu glühendem Haß. Da war kein Anlaß und keine Ursache, außer daß der schweigende Blick des Knaben ihm unablässig folgte. Es lag kein Ausdruck in diesem Blick als eine Erwartung, die zwischen Lässigkeit und einer leisen Spannung die ruhige Mitte hielt. Nichts weiter. Kein Spott und keine Trauer, keinerlei Teilnahme als etwa für ein Holz, das man auf den See geworfen und das man beobachtet, ob die Wellen es zum Ufer tragen werden oder nicht.

Aber der Blick fraß sich wie eine Marter in das verstörte Gesicht. Er träufelte ein dumpfes Gift in alle Poren, das sich langsam und unerbittlich tiefer fraß, bis zu der Stelle, wo jäh die Erkenntnis aufschoß: »Er weiß es ... er allein weiß es ... er allein kennt ihn ...« Keine Beobachtung, kein Spähen, kein Lauern half zu den Gründen dieser Erkenntnis zurück. Da war kein Anhalt, kein Beweis. Nichts war, nicht der Schatten eines Etwas. Aber die Erkenntnis blieb. Und aus ihr gebar sich der Haß. Er schlug das Kind, stumm, mit zusammengebissenen Zähnen. Aber der Blick blieb, auch während der Züchtigung.

Und dann kam der letzte Tag. Der Förster hatte ein Stück Rehwild geschossen, und in dem dumpfen Gefühl seines Hasses überkam es ihn, daß er Silvestris zwang, ihm beim Aufbrechen des Tieres zu helfen. Es gelang ihm nichts weiter, als daß er die geballten Hände des Knaben einmal in den noch warmen Leib des Tieres hineinzwang, daß sie sich rot färbten. Dann stieß das Kind ihm die entstellten Hände ins Gesicht und jagte über das Feld in den Wald hinein.

Aus der fallenden Nacht erklang dann wieder der Schrei, und es erschien allen, die ihn an diesem Abend hörten, als sei er furchtbarer gewesen als je zuvor, in seiner Klage wie in seiner Wildheit.

Der Förster kam nicht heim. Man fand ihn unter einer der verzerrten Kiefern, mit grauen und weitgeöffneten Augen zu den Wipfeln emporblickend, als suche er dort den Schrei und den Mörder. In seinem Herzen war der Dolch vergraben, mit dem er das Wild aufzubrechen pflegte.

Als man die Leiche in das Haus trug, stand Silvestris von der Schwelle auf und trat zur Seite, das weiße Antlitz mit sorgfältiger Neugier verfolgend. Drinnen blieb er dann lange vor dem Toten, und sein unbewegter Blick fragte nichts anderes als die Frage seiner Kindheit: »Was tust du?« Erst als der Abend dämmerte und Urte den Raum verließ, um eine Kerze anzuzünden, beugte er sich zu dem erloschenen Gesicht, öffnete behutsam die Augenlider, die Urte zugedrückt hatte, wie er es mit dem toten Getier tat, und sah aufmerksam, fast spähend in die verschütteten Brunnen. Als Urte entsetzt aufschrie, schüttelte er mißbilligend den Kopf, beugte sich noch tiefer und sagte dann leise: »Alles ist dort begraben, was er getötet hat ... alles ... auch er selbst.« Dann ging er achtlos hinaus.

Man hat nie gewußt, wer es getan hatte. Es fand sich keine Spur, kein Anhalt, kein Verdacht, keine Bezichtigung. Niemals mehr schrie es über den See. Es war, als habe die Erde lautlos alles in sich hineingetrunken, das Blut, den Mörder, den Schrei. Und als habe Gott mit seiner Hand darüber hingestrichen wie über ein empörtes Wasser und nun gehöre alles der Ewigkeit an.

*

Das Schicksal des Knaben entschied sich gleich dem Schicksal eines toten Dinges, das auf einem fremden Weg verloren und in einer fremden Gemarkung gefunden und geteilt wird. Da war niemand, der gesagt hätte, es sei sein, und nun, nach dem Tode des Försters und der Verödung des Hauses, offenbarte sich erst das nicht Gewußte, daß Silvestris keinem Menschen angehöre, ja daß er vielmehr darüber hinaus niemals einen Platz im Kreise jenes Lebens besessen habe, daß er dem Walde angehöre oder den Feldern oder den Nächten oder den Tieren, daß er im Draußen gelebt habe, fremder als ein lang vergessener Gegenstand in einer dunklen und nun geöffneten Truhe.

Es war, als würfele man um ihn, und das am wenigsten arme der verlorenen Dörfer zwischen den Seen erwarb ihn oder erbarmte sich seiner und gedachte ihn als Hirten für die geringe Herde der Bauern und Kätner zu verwerten. Es machte einige Mühe, seiner habhaft zu werden, doch fügte er sich ohne den erwarteten Widerstand und begann sein Amt, als habe sein Leben im Wachen und Traum nie etwas anderes enthalten als ein Tun, an dem Könige wie Bettler gleichermaßen seit Beginn der Welt Genügen und Freude gefunden hatten.

Doch eignete ihm ein Besonderes in Sein und Gebärde, das ihn über das niedere Amt erhob und zuzeiten die Augen des ganzen Dorfes in einem Gefühl scheuer und ahnungsvoller Andacht auf ihn sammelte, dessen letzte Wellen, kaum merklich, bis an den Rand des Hasses und an den der Anbetung reichten. Nicht daß er es jemals sah und eine Bewußtheit seines Tuns daraus entnahm, um es noch einmal zu sehen und die Freude eines beherrschten Spiels zu kosten. Man konnte von seinen Augen nur sagen, daß sie aufgeschlagen waren, nicht daß sie sahen. Es geschah, daß sie sich an einer Wolke entzündeten, um die Abendzeit, wenn er heimkehrte und die Dorfstraße beglänzt war vom rötlichen Schein des letzten Gewölkes. Dann konnte er stehen bleiben, auf seinen Stab gestützt, als ertrinke er lautlos und unbewegt in dem feierlichen Glanz, der über der Erde brannte. Bis eine rauhe Stimme ihn hart an seine Pflicht gemahnte. Oder es geschah ihm beim Anblick eines Kranichzuges oder wenn ein Feld im Winde lebendig war. Aber nicht beim Anblick eines Menschen. Er sah sie an wie eine Wand, in der man eine Türe sucht und von der man sich wieder wendet, ein wenig ratlos, aber mit der Gefaßtheit, die sich vor dem Unmöglichen erzeugt. Den Rohen und Stumpfen galt er als beschränkt, den Satten als harmlos und wunderlich, den Zarten als ein scheu zu sehendes Wunder, den Sehnsüchtigen als ein Gefäß voll unermeßlicher Gnade und Geheimnisse. Denn wenn auch der Sommer und die Grenzräume seiner Zeit ihn den Menschen entzogen und nur der Abend des Dorfes sich mitunter mit der Süße seiner Töne schwer tropfend erfüllte, so schloß die winterliche Enge ihn wider Willen in die Häuser der Menschen und unter ihre Augen, und es war niemand in solcher Starre, daß er das Blühen dieses Leibes und dieser Seele hätte nicht achten können.

Er saß an allen Winterfeuern des Dorfes, von Woche zu Woche wechselnd, in seltsames Schnitzwerk meist still versunken, das einen Baum darstellte oder ein Tier, einen Erdwicht oder eine fremde Spukgestalt. Sein Antlitz, vom Feuer überglänzt, war von dem Widerschein der Welt still bestrahlt, in die er hinabgestiegen war, und wenn er aufblickte, zum Klang der Spinnlieder oder zur Stille, die mitunter im Raume stand, glich er einem schönen, stummen Tier, das vom Rand eines großen Waldes halb fragend und halb achtlos auf die Felder der Menschen blickt, wo seltsame Dinge geschehen und große Gebärden das Nichts rollend und spielerisch zu bewegen scheinen wie einen glänzenden Stein. Er lächelte nicht, noch urteilte oder verachtete er. Er sah zu und er lauschte, und dann wandte er sich schweigend in die dunklen Gründe seines Atems, ein Unterirdischer, der von beglänzter Lichtung in das Geflecht der Wurzeln kehrt.

Aber wenn man ihn bat, dann spielte er. Und in diesen Stunden war es, daß die Seele des Dorfes sich langsam, fast tropfend mit dem zu erfüllen begann, was den Raum zwischen Haß und Anbetung durchschreitet. Zunächst war es nicht mehr als eine dumpfe Ahnung, von einem leisen Grauen durchtränkt. Denn der dort am Feuer saß, zurückgelehnt, mit weitgeöffneten Augen, und die Töne auf sie niederfallen ließ, war ein anderer, ein Dunkler und ein Fremdling. Nicht aus einer anderen Gemeinde oder aus einem andern Land, sondern weiter fort, viel weiter, wo man gut tat, sich zu fürchten, und es doch nicht konnte, weil es zog und lockte mit unendlicher Gewalt. Man konnte das Kreuz schlagen, aber es war zu nichts nütze. Man konnte fluchen, aber der Fluch zerbrach und zersplitterte an diesen Tönen. Man mußte sie auslöschen aus Dorf und Leben, oder mußte sich hineinstürzen in ihren Abgrund.

Denn an diesen Abenden offenbarte sich allen sichtbar, daß die Frauen sinnlos wurden in dem Spiel des Knaben. Es war wie eine Wiederholung des Blutes, aus dem er gesprossen war, und über den Saiten seiner Geige schienen die blauen Wetter zu leuchten, die über seinen keimenden Augen gestanden hatten. Er sah sie nicht, wie er das andere nicht sah. Ließ er den Bogen sinken, so glitten seine Augen wohl langsam durch die ihm zugewandten Gesichter, als blicke er in das monderfüllte Laub der Bäume, ein wenig träumend und ein wenig forschend, aber gleich fern dem Lächeln wie der Trauer. Dann nickte er ihnen zu und ging hinaus zu seiner Schlafstelle, und hinter ihm blieb das bedrückte Schweigen, als habe ein stilles Tier für immer den Raum verlassen, um in einsame Wälder zu gehen und dort zu sterben.

In jedem Jahr begann Silvestris mit den Bäumen zu blühen. Als er in das siebzehnte Jahr ging, stand die Zeit unermeßlich herrlich über der stillen Walderde. Schon im Mai waren die Nächte so warm, daß die Herde draußen bleiben konnte, und Silvestris baute sich am Rande des wirren Bauernwaldes aus Moos und Zweigen eine Schlafhütte. Der Duft der Linden lag wie ein Gewölbe über ihm, und in der Frühe saß das Eichkätzchen auf seiner Schwelle. Das Gras wuchs von Nacht zu Nacht unter dem Licht des zunehmenden Mondes, und eine Stunde nach Mitternacht begann der Kuckuck schon zu rufen, trunken von der Seligkeit der Welt. Über den Seen rollten die leisen Gewitter der Ferne, und tief in der Nacht scholl vom Hügel die Hirtenflöte, und ihre schmerzlichen Töne spannen ein silbernes Netz um die Dörfer im Nebel, wo die Menschen noch lange vor ihren Türen saßen, in einem ungewohnten Schweigen und einer Unruhe voll, die mehr als die Unruhe der Jahreszeit war und ihres damit verbundenen Blutes.

»Man müßte es ihm verbieten,« sagte der Pfarrer, der am offenen Fenster stand. »Es betört die Menschen und ihn ...« Er sah die liebenden Paare länger als sonst unter dem Holunder der Kirchhofsmauer stehen, und seine weißen Haare wußten nach einem strengen Leben nichts mehr von dem Atem der blühenden Erde, der alle Kreatur umfängt und durchleuchtet und durchschmerzt. Aber es war nichts zu verbieten. Denn als er am nächsten Morgen zum Hügel aufstieg, leise gerüstet wie zu einer Austreibung, fand er Silvestris in der Sonne sitzen, und die Eidechsen spielten auf dem Rücken seiner Hände. Er sah ihm entgegen, als sei der Pfarrer eben am Horizonte aufgetaucht, fern und klein und fremd wie ein Schiff, das vorbeiziehen würde unter fremdem Segel und wieder untertauchen hinter der gewölbten Erde, und keine Spur würde von ihm bleiben, weder im Wasser noch in der Luft noch in den Augen eines anderen Menschen.

»Silvestris, du darfst nicht mehr spielen,« sagte der Pfarrer ernsthaft und nicht ohne Güte.

Der Knabe horchte zuerst wie auf den Gang eines Windes, der über die Gräser glitt. Dann hob er die dunklen Augen langsam zu dem Sprechenden, und als der Pfarrer hineinsah, wußte er, daß alles vergebens war.

»Ich spiele nicht,« erwiderte Silvestris. »Die Flöte spielt. Ist einer, der den Wald spielt oder den Wind? Sie spielen sich selbst ...«

»Das ist Unsinn, Kind. Und du verwirrst die Menschen.«

»Ich weiß nichts davon. Wenn die Sterne lächeln, spielt die Flöte, und wenn die Glocken läuten, gehen die Menschen zur Kirche.«

Es führte zu nichts. Der Pfarrer stieg wieder herab, und die halben Nächte bebten die Dörfer unter der Klage, die von den Hügeln fiel.

Alltäglich um die Mittagszeit stieg jemand vom Dorfe zum Bauernwald hinauf, um Silvestris das Essen zu bringen. Bis zu diesem Jahr waren es Kinder gewesen, meistens zu zweien, die gemeinsam und mit großer Sorglichkeit den Topf trugen, den man ihnen anvertraut. Sie stiegen gern hinauf, denn es ruhte sich schön nach dem heißen Wege im Schatten der Linden, und in der Hütte des Hirten standen geflochtene Bastkörbchen mit Beeren oder seltenem Gewächs des Waldes, und immer war zahmes Getier um seine Füße, das sie streicheln durften wie Märchenwesen. Aber in diesem Jahr hatten die Kinder nicht Zeit, oder sie wurden auf die Wiesen geschickt, wo das Heu geerntet wurde, oder man sagte ihnen, sie seien nicht achtsam genug und die Sonne steche zu sehr. Und so ging die Bäuerin hinauf oder die Tochter oder die Magd.

Die Luft stand flammend vor dem dunklen Walde. Kein Vogel sang, und die Herde ruhte reglos im Schatten der Bäume. Unter der Sonne standen die Wetterwolken mit beglänzten Rändern, und über den Kornfeldern lag die Blüte gleich einem schimmernden Tuch. Den Aufsteigenden schlug das Herz, und mitunter blickten sie angstvoll zurück nach dem besonnten Frieden des Dorfes, über dem der Mittagsrauch stand und der frohe Flug der Schwalben.

Und dann traten sie in den Schatten des Waldes. Mitunter mußten sie lange suchen, bis sie Silvestris fanden. Und sie wagten nicht zu rufen, weil der Zauber des Mittags wie ein flammender Ring sich um sie schloß. Glühende Insekten standen unbeweglich in der Luft, und hoch über dem schlafenden Walde hing der Ruf eines Falken am Saum der schweigenden Stunde. Wenn eine ferne Mittagsglocke läutete, schien es im Gebüsch zu rauschen, als habe der Klang die Wesen der Tiefe zurückgescheucht, die im Schatten standen und auf die Felder der Menschen blickten. Und löste sich von einem der Wipfel ein Tannenzapfen und schlug dumpf auf den Boden, so schienen Wald und Erde angstvoll zu erbeben, und das Schweigen war nur tiefer und abgrundsvoller wie nach einem verbotenen Wort.

Fanden sie dann endlich den Knaben, so lag er meist schlafend unter den Herzblättern einer jungen Linde, und mitunter lag eine Eidechse auf seiner Stirn, ruhig atmend, und den Blick ihrer dunklen Augen mit einer seltsamen Frage auf den Näherkommenden richtend. Die geöffneten Hände des Schlafenden lagen in den Gräsern wie im Haar eines Menschen, und die Lider seiner Augen waren so durchscheinend, daß der Blick durch sie hindurchzugehen schien, in die Mittagsstunde hinauf, aus der das Schweigen tropfte wie das Harz von den Bäumen.

Und unter diesem Blick kauerten sie sich nieder, die von der Erde heraufgestiegen waren, und versanken atemlos in der verzehrenden Betrachtung dieses Gesichtes, das so ganz außer ihrer Welt lag, keinen Erschütterungen zu vergleichen, die ihr enges Leben kannte, und das nur wie ein seltsames Kind oder eine fremde, unerhörte Blüte sie in einer Tiefe anrührte, wo sie selbst sich fremd waren und nur der versunkene Keim Gottes lag, der nun leise erbebte wie unter dem Regen einer Mainacht.

Dann schlug Silvestris die Augen auf, so plötzlich und unangekündet, als habe er gar nicht geschlafen, und so erschreckend für die Betrachtende, als hätte ein Stein zu sprechen begonnen, durch das Moos hindurch, das ihn seit Jahren bedeckte. Er aß schweigend und ohne Teilnahme, als sei er immer noch rückgewendet zu dem Lande, aus dem man ihn aufgeweckt. Dann pflückte er ein Blatt von der Linde, unter der er lag, und von seinen Lippen klang eine der stillen Klagen, mit der der Wind durch hohe Gräser geht oder ein Fluß durch einsamen Herbstwald zieht. Und unter der Klage erwachten die Vögel in der Runde, und es war, als ob das Gras sich aufrichte und der Saft des Lebens in den Bäumen höher steige. Der flammende Ring glitt langsam auseinander, in den Räumen des Waldes verscholl der Zauber, alles Tote wurde wieder lebendig und floß zusammen in der Gestalt des Liegenden, mit dessen Erwachen alles erwachte und in dessen Schlaf alles schlief, als sei er der Gott dieser Erde und rühre leise mit seinen Händen an die Fäden eines Gewebes, in dem Mensch und Tier und Pflanze beschlossen seien. Er fragte nicht und er sprach nicht, nur eine träumerische, ein wenig müde Neugier stand in seinen Augen und spielte mit dem Gesicht des anderen wie mit einem jungen Tier.

Und dann, am Sonnwendtage, wurde sein Mund zum ersten Male geküßt. Es war die Frau des Lehrers, der scheueste Mensch des Dorfes und vielleicht deshalb seiner Fremdheit am nächsten und am wehrlosesten. Sie kniete über dem Schlafenden, den die Schatten der Linde deckten, und trank den Duft seines nie geküßten Mundes in das Gefäß ihres leeren Lebens hinein. Er schlug die Augen auf wie immer und legte die Hände behutsam um ihr Haar.

»Was tust du?« fragte er leise.

»Ich liebe dich, Silvestris.«

»Was ist das?«

»Es ist das, daß ich sterben möchte und doch nicht aufhören zu leben.«

Er sah in ihre blauen Augensterne, die dicht über ihm waren, und dann hinauf in das Laubwerk der Linde. »So ist es in Wald und Feld,« sagte er leise. »Und so wird es wohl auch in mir sein ...«

»Liebst du mich ein wenig, Silvestris?« bat sie.

Er ließ den Blick zu ihr zurückkehren und lange in ihr ruhen. »Ich weiß nicht, was das ist,« sagte er endlich, und eine leise Traurigkeit bewegte seinen Mund. »Mir ist nur, als ob ich blühen wollte ... mehr weiß ich nicht.«

Sie blieb bei ihm, bis die Schatten länger wurden, und als die ersten Sterne sich entzündeten, war sie von neuem in seiner Hütte. Rings auf den Hügeln brannten die Sonnwendfeuer, und hinter ihnen stand das blaue Leuchten um den Horizont, wie in der Nacht, in der Silvestris emporgestiegen war. Der Kopf der Frau lag auf seinem Herzen, und er blickte durch ihr Haar hindurch in die Flammen der Erde und des Himmels. Sein Gesicht war still, ohne Leid und Lust, und der blaue Schein lief darüber wie über ein dunkles Wasser.

Als der Wind der Frühe das Haar der Frau leise bewegte, schickte er sie heim, ohne Wort und Dank und Trauer.

Von diesem Tage aber schien ein unsichtbares Zeichen über dem Hügel zu stehen, gleich dem Duft eines blühenden Baumes, den Wissenden und Suchenden erkennbar, und Silvestris ging schweigend durch einen unermessenen Garten der Liebe, dessen Blumen er nicht zählte und unterschied, deren keine der andern glich an Duft und Farbe, aber die alle seine Erde schmückten, damit er sie verschenke und sie segne. Er brannte nicht und er erlosch nicht, aus keiner Hingabe gebar sich ihm ein erstes Lächeln oder eine erste Träne, ein Schmerz des Abschieds oder ein Jubel des Wiedersehens. Er ging wie ein Wind durch ein blühendes Tal oder wie die Sonne über ein Feld. Er sah gefaltete Hände, Weinen und Seligkeit, aber er sah hindurch wie auf die Eidechse in seiner Hand, und allabendlich wie sonst fiel der Klang der Flöte vom Hügel herab, und die Klage der Töne war vom gleichen Leid und der gleichen Ferne wie vor seiner Blüte.

Mitunter, wiewohl sehr selten, geschah es, daß er eine derjenigen, die an seinem Herzen geruht oder es vermeint hatten, aus seiner Liebe ausstieß wie etwas Unreines oder Mißgestaltetes. Von ihnen und dem Haß ihres Durstes fiel der erste Tropfen Gift in die langsam gärende Schale. Ungezählte Augen erwachten zu Argwohn, Lauer und Gericht, und ungezählte Hände bückten sich nach dem Stein, der töten sollte, weil man sie gelehrt hatte, daß die Sünde zu töten sei zusammen mit dem Sündigen. Der Pfarrer sprach, wiewohl verhüllt, von der Kanzel herab über den Geist der Unzucht, und bis über das schimmernde Kreuz des Kirchturms stieg die Wolke des Hasses und stand unbeweglich, immer wachsend, über den reifenden Feldern.

Silvestris, der niemals in diesen Wochen zum Dorfe herunterstieg, wußte nichts. Später, nach Jahren, als an den Winterabenden in den Spinnstuben von ihm geflüstert wurde, so leise, daß die Ohren der Männer es nie vernahmen, fragten die Frauen einander, ob sie nicht auch gesehen hätten, wie er von Tag zu Tage trauriger geworden sei, von der stillen, sich langsam vertiefenden Trauer der Abschiednehmenden und Sterbenden, und weshalb sie es einander nicht gesagt hätten. Er wußte nichts, aber es schien, als erfülle seine fremde Seele sich langsam mit der Ahnung des Welkens, wie die Seele eines Baumes sich erfüllt, lange bevor der Frost ihn warnend anrührt.

Wenn er allabendlich seine Herde zum Melken näher zum Dorfe trieb, stand er nicht wie sonst wartend und zuschauend bei den Frauen, sondern blieb ferne, beide Hände um seinen Stab gelegt und die Wange daran gelegt, und sah den abendlichen Wolken nach, als seien sie und er allein in der Welt und müßten sich besprechen, bevor auch sie Abschied nähmen voneinander.

Als das erste leise Glühen des Herbstes um die Waldsäume lief, fand im Dorf eine Hochzeit statt. Die Braut war eine der Blumen aus Silvestris' Garten, und die Eltern, stille, absonderliche Leute, mit einem eigenen Zaun um ein eigenes Leben, hatten den Knaben gebeten, herabzukommen und zum Tanze zu spielen.

Er kam erst um die Dämmerung, nach beendetem Tagewerk, die Geige unter dem Arm, und den Stab, gedankenlos, noch in der Hand. Er setzte sich, wie nach einem vereinbarten Befehl, am Feuer nieder und begann, auf ein Kopfnicken des Brautvaters, den ersten Tanz.

Doch verstummten Lärm und Gelächter schon bei seinem Eintritt, und als die ersten Töne klangen, dunkel und in schmerzlich bewegtem Schreiten, stand alles Leben um ihn wie eine Wand von Eis, drohend, starr, gefährlich. Niemand trat zum Tanze an, und die wenigen Mädchen, die sich trotzig erhoben hatten, wurden hart zurückgestoßen, so daß nur ein leises Weinen den Klang der Geige begleitete und das Springen der Funken im offenen Herd.

Die Brauteltern saßen schweigend, in mühsam bewahrter Fassung, ohne etwas zu verstehen, aber aus dem Haß der Gesichter eine dunkle Wahrheit erratend. Die Braut aber, weiß wie ihr Kleid, saß in starrer Geradheit auf ihrem Platz, und ihre dunklen Augen brannten die ganze Zeit mit einer fiebernden Glut in dem Antlitz des Spielenden. Der saß wie an den Winterabenden, den weit aufgeschlagenen Blick über sie alle hinausgerichtet, während die Töne unter seinen Händen blühten, sich banden und verflochten, sich lösten und verloren, und von seinen Füßen ein schmaler Streifen Blutes über die Dielen zu rinnen schien, in die Gäste hinein, bis er sie umfing und umschloß, wie das letzte glühende Wünschen eines Sterbenden, der sich seines Zaubers entlöst.

Dann, als er geendet hatte, sah er den leeren Raum, wie ein Mensch, der einen Becher hebt und der Becher ist leer. Sein Blick wanderte langsam von Gesicht zu Gesicht, als suche er etwas Verlorenes, aber etwas, das er schon tausendmal an derselben Stelle gesucht und das er hier nun nicht mehr suchen werde. Bei den Augen der Braut hielt er für einen Herzschlag inne, forschend und fast ein wenig sorgenvoll. Dann nahm er seinen Stab und verließ das Haus.

Hinter ihm hob der Sturm des Hasses sich brausend auf und stieß ihm nach auf die stille Straße. Doch vernahm er nicht den Sturm, sondern nur das Blatt, das von ihm getrieben wurde und hinter ihm hereilte. Er drehte sich um und fühlte die Arme des Mädchens um seinen Hals. »Silvestris ... nimm mich mit, Silvestris ... erbarme dich meiner!«

»Teufel!« schrie es aus der Dämmerung, und der erste Stein streifte sein Haar.

Er sah die Straße hinunter, wie er in die Augen des toten Vaters gesehen hatte. Dann löste er die Arme des Mädchens von seinen Schultern. »Geh' zu den Menschen,« sagte er leise. »Geh' zu den Menschen, denn ich kann nicht weinen ...«

Und er ließ die Schluchzende stehen und schritt an seinem Stabe in die Dämmerung hinein.

Die Hochzeit dauerte drei Tage nach dem Brauch der Väter. Das Essen, das man Silvestris hinaufbrachte, mußte in seine Hütte gestellt werden, weil man ihn nicht fand und kein Ruf sein Ohr zu erreichen schien.

Doch blies die Flöte an den Abenden wie sonst, vielleicht langsamer, vielleicht trauriger, aber sie verklang im Lärm des Festes, in dem sich im Dorfe Leiber und Seelen wälzten. In diesen drei Tagen ließ Silvestris die Herde unter dem Schutz des Hundes weiden und fiel, wie ehemals, in die Tiefe der Wälder zurück. Er wanderte gleichsam sein Leben entlang, bis zur Grenze des Ursprungs. Er stand am Gartenzaun über dem See. Die Malven blühten immer noch, und er sah über das dunkle Wasser nach den leuchtenden Wäldern hinüber. Er saß auf seiner Mutter Grab, wie er als Kind getan hatte, und lauschte dem Fall der Blätter im leeren herbstlichen Raum. Er war auf der Halbinsel, von wo es geschrieen hatte, und lag lange Zeit an der Stelle, wo sein Vater im Tode gelegen hatte.

Auf allen diesen Wegen war er nicht traurig, nicht mehr als sonst. Er fühlte ein dumpfes Kranksein in sich kreisen, ähnlich dem Kranksein der Zugvögel vielleicht, ein leises Horchen in die Ferne, einen weiten Ruf von jenseits der Wälder. Dann stand er still, das Gesicht lauschend gewendet, bis er verklang. Manchmal blieb er am Rande der Dickungen stehen oder vor einem gestürzten Baum, dessen Wurzelwerk eine Höhle in das Erdreich gerissen hatte. Es war ihm, als müsse er dort hinein, in etwas Tieferes, Dunkleres, Verborgeneres, und Schnee müsse darüberfallen und die Spur verlöschen, die an das Herz der Erde führe. Es graute ihm leise vor dem Dorf, dem Feuer, den Worten und den Wänden. Ein Käfig war da oder eine Falle, Gitter, Fessel und Futternapf. Die Sonne war ertrunken und ihn fror.

Als er am dritten Abend die Herde zur Winterruhe abwärtstrieb, hatte er nur den Stab in der Hand. Das andere lag in der Hütte, und in der Nacht würde er es holen und von den Menschen gehen, die lachen und weinen konnten, dorthin wo man war und verging, ohne es zu kennen.

Nun führte die Trift für eine geringe Strecke durch einen hohlen Weg zwischen lockerem Gebüsch auf ödem, steinigem Land. Der Hund schlug an und sträubte das Haar, aber Silvestris beugte sich und streichelte seinen Kopf.

In dieser Bewegung traf ihn der erste Stein. Er zerschlug ihm die Hüfte und fiel schwer vor seine Füße. Silvestris blieb stehen, an seinem Stabe sich haltend, und blickte sich um. Er sah sie alle, obwohl sie sich zu verbergen trachteten, junge Burschen, Männer und Väter. Er sah sie wie Wölfe, und in den Winkeln ihrer Augen glomm das böse Licht, nach dem er in seines Vaters Augen gesucht hatte.

Dann sah er nicht mehr hin, weil er alles wußte. Er klammerte sich fester an seinen Stab, weil die Hüfte ihn sehr schmerzte, und wendete den stillen Blick zu den Abendwolken, die rötlich beglänzt über dem Hohlweg standen. Es war der Blick eines traurigen Adlers, der hinter Gitterstäben nach dem Himmelsraum geht, der Blick der anderen Kreatur, der sprachlosen und tief leidenden, der ohne gefaltete Hände knienden, zu der kein Gott sich neigt aus den Bereichen menschlicher Götter.

Dann traf ein Stein ihn gegen das Herz, und er stürzte. Er hörte das Klagen des Hundes und streckte mühsam die Hand nach ihm aus. Dann begruben die Steine ihn.

Aber bevor er starb, stieg seine Seele noch einmal auf und erscholl weithin über das abendliche Feld, bis über das Dorf hinaus, in dem die Kinder zu weinen begannen und die Großen sich bekreuzigten. Denn was bis in die dunkelsten Winkel der Räume und die fernsten Ecken der Gärten zu vernehmen war, war der Schrei von der Halbinsel am See. Es konnte der Laut eines Menschen wie eines Tieres sein, eines Vogels wie eines Kindes. Er war wortlos und gleichsam tonlos, ja selbst ohne Körper und Gestalt. Man konnte nicht mehr von ihm sagen, als daß etwas Hohles und Klagendes, aber auch etwas Rufendes und Drohendes ihn erfüllte. Er stieg empor und sank, und nach einem kurzen Schweigen folgte ein Nachklang, zwei gleichschwebende Töne, die wie zwei Hände sich öffneten, ohne sich zu schließen. Man konnte nicht mehr sagen, als daß der Schrei wie Blut war, das gen Himmel schrie.

Er erklang nur einmal und dann nicht mehr. Zuerst waren die Arme der Mörder gelähmt, und ihre Herzen hörten auf zu schlagen. Aber dann war es, als risse die Wand der Geheimnisse vor ihnen auf und Blut breche aus den Spalten hervor. Und obwohl kein Glied vom Leibe des Knaben mehr zu sehen war, schleuderten sie Stein auf Stein, bis ein Hügel sich türmte wie auf einer Schädelstätte.

In dieser Nacht erlosch keines der Lichter im Dorfe. Denn im Hohlweg stand die Herde zusammengedrängt und brüllte bis zum Morgennebel, und keine Gewalt war imstande, sie von der Stätte fortzubringen, wo die Erde schweigend das Blut ihres Hirten trank. In der Nacht des dritten Tages kamen die Frauen aus Silvestris' Garten und trugen die Steine zur Seite. Und sie wuschen den Leib des Toten mit dem Regen, der herniederströmte, und mit ihren Tränen und begruben ihn um die Mitternacht auf dem Hügel zwischen den Wurzeln der Linde. Und danach trugen sie die Steine wieder zusammen, und die Stätte sah unversehrt aus wie zuvor.

Und als die Kinder dieser Zeit schon groß und alt geworden waren und am Abend vor ihren Häusern saßen, erzählten sie ihren Enkeln, daß allnächtlich auf dem Hügel am Rande ihres Waldes die Tiere ihrer Erde ständen und unbeweglich zum Dorfe hinunterblickten, mit der stummen Klage eines Volkes, dem man den letzten König erschlagen habe.


 << zurück weiter >>