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Der Schnitter im Mond

Da er zum erstenmal in einer Landschaft auftauchte, deren Menschen gleich ihrer Erde das Geheimnisvolle wie das Unerhörte nicht kannten; die zwischen ebenen Feldern ein ebenes Leben führten; wo die Geschlechter in Arbeit und Mühe einander folgten, wie der Saat alljährlich die Ernte folgte; wo Fülle wie Entbehrung ihre zureichenden und klar ersichtlichen Gründe hatten: so war es nicht wunderbar, daß um das scheinbar Grundlose, Geheimnisvolle und Unerhörte seiner Erscheinung die Phantasie des Volkes ihre Legende spann und ihm einen Namen verlieh, in dem die Klarheit bekannter Begriffe sich zu einem leisen Geheimnis verwob, in dessen Ausdrucksform Gestirn und Mensch auf eine brüderliche Weise verbunden zu sein schienen.

Es war um den Beginn der Roggenernte, und auf der gräflichen Herrschaft, die sich zwischen kleineren Höfen fast unübersehbar erstreckte, waren drei Mähmaschinen schon einen Tag lang um den großen Roggenschlag gegangen, der vom Hochwalde bis zum Wiesenbach sich breitete, ohne viel mehr als einen breiten Saum aus dem goldnen Teppich zu schneiden, der unzerstörbar erschien in der Unendlichkeit des windbewegten Halmenmeeres.

Am nächsten Morgen nun, als die drei Gespannführer ihrem Tagewerke wieder zugeritten kamen, schien demjenigen von ihnen, der die schärfsten Augen hatte, schon von weitem, als ständen die Maschinen nicht, wie sie verlassen worden waren, gleichsam eingefressen in die gerade Wand der Halme, sondern als seien sie während der Nacht abgerückt worden von ihrer Stelle, auf das schon gemähte Feld herausgenommen, und als sie näher kamen, sahen sie, daß zwischen die letzte Reihe gebundener Garben, an deren Ende die Maschine stand, und das unberührte Feld sich drei Reihen geschnittenen Korns eingeschoben hatten, sauber und wie nach der Schnur gemäht, aber ungebunden, und es war nach der Beschaffenheit der Stoppeln und anderen untrüglichen Kennzeichen kein Zweifel, daß hier in der Nacht ein Schnitter mit der Sense das Feld dreimal umschritten hatte, was nach der Schätzung der Gespannführer eine Arbeit von sechs Stunden gewesen sein mochte.

Sie beredeten es lange Zeit, ohne eine Mutmaßung geschweige denn eine Erklärung finden zu können, und machten sich dann endlich kopfschüttelnd an ihre Arbeit, so daß wie am Vortage die drei Maschinen gleich scherenbewaffneten Tieren langsam aber unablässig um das goldene Leben krochen, während der leise Wind den mahlenden Klang der Messer über die Felder trug und die Garbenbinder wie Flügel einer Mühle über den Horizont der Halme stiegen und sanken.

Als der Graf dann über das Feld geritten kam, hielt auch er sein Pferd an den drei Reihen ungebundenen Kornes an, die nun wie ein Webefehler in einem streng gemusterten Tuche erschienen, beugte sich aus dem Sattel zu der Merkwürdigkeit nieder und hielt dann nach einem kurzen Galopp bei der nächsten der drei Maschinen, in seiner herrischen Art fragend, was das bedeuten solle.

Der Knecht berichtete, daß sie am Morgen dasselbe gesehen hätten und daß kein Zweifel daran sei, daß hier ein Mann mit der Sense in der Nacht gemäht habe. An einigen weicheren Bodenstellen sei festzustellen gewesen, daß durch alle drei Reihen die gleiche Fußspur gehe, wie man auch aus der gleichmäßigen Art des Sensenschlages auf einen einzigen Schnitter schließen könne und nicht auf mehrere.

Der Graf zog die weißen Brauen zusammen, in einer leisen Verstimmung, daß ein Fremder zur Nachtzeit auf seinem Grund und Boden sich derart zu schaffen gemacht habe, meinte, daß die Welt immer verrückter werde und man nun Mädchen hinausschicken müsse, um das Korn binden zu lassen, pfiff seinen Hunden, die auf der Mäusejagd waren, und ritt dann langsam die Wand der Halme entlang, wobei er auch mit den beiden anderen Knechten den seltsamen Vorfall kurz und fast verdrießlich besprach.

Von dieser Morgenstunde nahmen Gerüchte, Aberglaube und fromme Legende ihren Ausgang, bis der nächtliche Schnitter das Gespräch der Kinder wie der Greise jener Landschaft war und das Eintreten des Vollmondes seinem Namen die Abrundung gab, die in der Anknüpfung an das Schweigsame und unaufhaltsam Wandelnde des Nachtgestirns zu liegen schien.

Der Graf hatte in der nächsten Nacht ergebnislos sein Feld umritten und am Morgen schon erfahren, daß der Schnitter auf dem Felde eines benachbarten Hofes sein Werk fortgesetzt habe. Und von da ab erschien er während der ganzen Ernte in jeder Nacht an anderer Stelle, als fürchte er, beobachtet und entdeckt zu werden, oder als treibe eine geheimnisvolle Rastlosigkeit ihn ruhelos von Feld zu Feld. Niemals schien ein einziger Halm entwendet zu sein oder sonst irgendetwas Unrechtes zu geschehen. Niemals aber fand sich auch eine Spur der Erklärung für sein Tun, dessen anscheinend völlige Zwecklosigkeit verwirrte und bedrückte, und es war natürlich, daß, was aus allem Menschlichen herauszufallen schien, dem Übermenschlichen zugerechnet wurde. Und während in den ersten Nächten manch einer der Herren und Knechte sich auf den Feldern verbarg, um der nächtlichen Erscheinung ansichtig zu werden, begann sich schnell ein schützender Kreis frommer, fast schaudernder Scheu um sie zu legen, so daß auf den kleinen Höfen niemand wagte, zu dem Ursprung dessen zu dringen, was im Undurchdringlichen bleiben zu wollen schien.

So war in stillen Mondnächten bald hier und bald dort das tönende Klingen zu vernehmen, mit dem ein Schleifstein schärfend eine Sense entlanggleitet, und auf den Hofstellen standen die Menschen lauschend, aus der Richtung erratend, über welches Feld der Schnitter schreite, aber es wäre als Vermessenheit erschienen, den schimmernden Glanz neugierig zu durchbrechen, mit dem der Mond die Felder umhüllte und das, was auf ihnen verborgen geschah.

Niemand auch kam es in den Sinn, besondere Vermutungen an die Gestalt des Mannes zu knüpfen, dem man in der Morgenfrühe mitunter begegnete, wie er auf einem Rade in der Richtung der entfernten Stadt zur Arbeit zu fahren schien, in einer blauen, am Hals geöffneten Bluse, den Rucksack auf dem Rücken, aus dem der Hals der üblichen Blechflasche heraussah. Höchstens daß ein etwas betroffener Blick länger als sonst an dem schmalen und kühnen Gesicht haften blieb, über dem das weizenhelle unbedeckte Haar wie ein metallener Helm leuchtete.

Dieser Mann aber war niemand anders als der Schnitter im Mond.

Er war unweit der Landschaft geboren worden, die er nun mit seinem Wesen geheimnisvoll erfüllte, jenseits der Stadt, deren Türme und Fabrikschornsteine an klarem Abend über den Horizont wuchsen, und von seinem Vater, einem Kleinbauern, war viel geredet worden während seines Lebens und nach seinem Sterben, weil sein Leben wie sein Tod sich von dem entfernte, was vorgeschrieben schien gleich der Zeit und Handhabung der Aussaat wie der Ernte.

Er hatte, schon in reifen Jahren, ein verfallenes Anwesen an den Waldhängen erworben, wo schon die Ausläufer der Berge sich aus dem ebenen Lande hoben, und in mühseliger, einsamer Arbeit steinige Halde und Buschwald gerodet, um mit seinen Feldern hinaufzusteigen in das Unbebaute und der geordneten Ebene zu entfliehen, wo er den Rauch der Nachbarn atmen mußte und die Bedrückung gleichgerichteten Lebens.

Er ging nicht zur Kirche und nicht zu den Versammlungen der Bauern. Er sprach mit seinen Tieren und pflegte an den Sonntagen hoch über seinem Anwesen auf einem der grauen Findlingsblöcke zu sitzen, die harten Hände um seine Kniee gefaltet und die grauen, gleichsam versiegelten Augen auf das Land zu seinen Füßen gerichtet. Niemand wußte, was er dachte, niemand hatte ein Lächeln um seine Lippen gesehen, einen Zorn auf seiner Stirne, einen Rausch in seinen Augen.

Niemand auch wußte, wo er hergekommen sei. Ein Gerücht behauptete, er sei ein studierter Mann, der ohne erkennbare Voranzeichen plötzlich aus einem gesicherten Berufe ausgebrochen und über Trümmer, Anklage und Verleumdung hinweg einen wilden Weg gegangen sei, bis er sich dort oben gleichsam in die schützende Erde gegraben habe, als hätte er dort den verschütteten Quell einer langersehnten Ruhe gefunden.

Er hatte eine junge Magd bei sich, fast noch ein Kind, mit hellem Haar und einem von innen bestrahlten, fast frommen Gesicht, die wie aus einem beleuchteten Krippenspiel aufgestanden zu sein schien, ebenso schweigsam, zugeschlossen und in sich ruhend wie er. Er hatte sie geheiratet, ohne kirchliche Trauung, nachdem sie ihm einen Sohn geboren hatte, und nach diesem Ereignis, das viel und böse besprochen wurde, wuchs der Zaun der Abgeschiedenheit, ja fast der Verstoßung noch höher um die drei, bis man auf ihr Haus deutete wie auf eine verrufene Stätte, wo Dunkles und Geheimnisvolles gefährlich und nicht zu tilgend umgehe auf verborgenen Wegen.

In dem Knaben, der mit dem landfremden Namen Malte gerufen wurde – er war nie getauft worden –, brannte von Kind an eine glühende, fast wie ein Element erscheinende Liebe zur Erde und ihrem Getier, ihrer Bebauung, Pflege und Wartung, und Pflug und Spaten, Sense und Rechen erschienen ihm als Wunder und ihre Handhabung durch den Vater als eine Meisterschaft ohnegleichen, in die die zögernden Jahre ihn viel zu langsam hineinwachsen ließen, so daß er durch leidenschaftliches Kinderspiel vorwegnahm, wozu seine Sehnsucht reif aber sein Körper zu schwach war.

Da sein Vater ihm verboten hatte, eine Sense zu berühren, für deren Gefahren er noch zu klein sei, war er eines Nachts aus dem Fenster seiner Schlafkammer gestiegen und mit dem verbotenen Heiligtum zu der Wiese geschlichen, wo das Grünfutter gemäht wurde. Hier hatte er im Nachtkittel bis zum Morgengrauen die schwere Kunst erprobt, einem kleinen Gespenste gleich, glühend vor Eifer, Zorn und einem wilden Willen, das fast Unmögliche zu bezwingen. Zuletzt waren seine Hände voller Blasen, sein Kittel bis zur Brust durchnäßt vom Tau des Grases, seine Arme gelähmt, aber die Sense fuhr nicht mehr in die Erde und verfing sich nicht mehr in den rauschenden Halmen, und als die erste Lerche aufstieg, wischte er mit einer Handvoll Gras die Sense blank, wie er es bei seinem Vater gesehen hatte, und blickte auf sein Arbeitsfeld zurück, das etwas wüst und verworren aussah, und darüber hinaus nach dem ersten Schein der Frühe, die klar und herrlich über den Bergwald stieg, und in seinem erschöpften, aber durchleuchteten Gesicht war die Gewißheit zu lesen, daß an diesem Morgen die Sonne für ihn allein aufgehen würde, um das Werk seiner Hände offenbarend zu bestrahlen.

Als er sich umwandte, um zum Hause hinaufzugehen, saß sein Vater auf einem der grauen Steine, den Blick über das aufglühende Land gerichtet, und erst, als er nicht ohne Zittern vor ihm stand, ihn auf seine sensenbewehrte Erscheinung richtend. »Du mußt den Schwung größer nehmen,« sagte er ruhig, »und die Schläge langsamer. Alle großen Dinge brauchen Zeit.« Und dann waren sie nebeneinander zum Hause aufgestiegen, während Maltes Herz von einer glühenden Liebe zu seinem Vater fast zerbrach.

Die Mutter erfuhr es erst beim Mittagessen, und als sie aus dem stillen Schein ihres Gesichts die Augen auf das Kind und dann auf den Vater richtete, errötete sie langsam bis unter ihr helles Haar, weil seine schweigsamen Augen den Blick verstehend und wissend erwiderten. Sie sahen das ärmliche Feld mit dem ersten Roggen, den er gemäht und sie als seine Magd gebunden hatte, bis die ersten Sterne auf die letzte Hocke geschienen hatten, die sie zusammen noch aufgestellt hatten. Und dort hatte sie ihm das Unberührte ihres Lebens geschenkt, wortlos und ohne daß er gefordert hatte, und das Kind empfangen, dessen kindliches Tun nun unbewußt die Tore des Ursprungs zu öffnen und zurückzukehren schien zu der Vergangenheit der Wurzel, aus der es entsprossen war. Und die große, fast unerbittliche Weisheit und Gerechtigkeit der Natur erfüllte sie so, daß sie wie Eva war unter Gottes Augen, als er im Paradies nach ihr rief.

Malte empfand die Schule als ein wüstes, steiniges Feld, auf dem man zu ernten versuchte, ohne gesät zu haben. Auch war er durch Geburt und Wesen ausgestoßen aus jeder Gemeinschaft und den Eltern und der Erde zugetrieben wie einem Asyl. Doch verdunkelte sich frühe schon der helle, wiewohl schweigsame Kreis seines häuslichen Lebens, indem er früh erkannte, daß es mit der Wirtschaft rückwärts ging und Mut und Tatkraft seines Vaters am Widerstand der Erde zu erlahmen begannen und sich in Sonderlichkeiten flüchteten, die aus einem früheren, verborgenen Leben wieder aufzutauchen schienen wie Fieberträume in einer Krankheit, so daß er Tage und Nächte über seltsamen Büchern verbrachte oder mit einer für Malte erstaunlichen Meisterschaft zu zeichnen begann, Bäume, Tiere, verlassene Straßen, die durch ein verlassenes Land sich schwermütig erstreckten.

Man fragte nicht in dem einsamen Hause, man tröstete nicht, man schwieg. Malte trug die Last und trug sie mit hellen Augen, weil er erwachsen sein durfte, bevor es an der Zeit war.

Und dann brachten zwei Notjahre das Ende. Die Saat verdorrte, ein großes Viehsterben ging über das Land, und schwere Hagelwetter zerschlugen die letzten Wurzeln gläubiger Hoffnung. Als das Anwesen versteigert wurde, fanden sie den Bauern zwischen den kümmerlichen Garben der Scheune. Er hatte sich nicht erhängt, wie es Brauch des Landes gewesen wäre, sondern hielt in der erstarrten Hand ein Fläschchen, aus dem es scharf und bitter duftete.

Er hatte keinerlei Aufzeichnungen hinterlassen. Er hatte nur hinter einem schweigenden Leben die letzte Türe zugemacht.

Als dieses geschah, war Malte sechzehn Jahre alt. Er würde Törichtes getan haben, wenn nicht die Augen seiner Mutter gewesen wären, erloschene Augen, aus denen man das Licht genommen hatte, und die um Malte tasteten wie um einen Stab für ein erblindetes Leben.

Er hatte versucht, den Winter über als Jungknecht zu dienen und hatte die Mutter nicht ernähren können. Und dann waren sie in die Stadt gezogen, und Malte hatte Arbeit in einer Zellstoffabrik gefunden. Von jedem Wochenlohn legte er ein paar Groschen zur Seite für den kommenden »Hof«, und mit jedem Groschen schien ein neuer Halm auf dem Felde zu wachsen, über das seine Träume gingen. Er bekam ein hartes und zugeschlossenes Gesicht, nur in seinen Augen lag Zukunft, ein ungebrochener, fast glühender Glaube an sein Kommendes, eine brennende Saat, die zu ihrer Ernte loderte.

Er kannte kein Mädchen, keine Karte, kein Vergnügen. Aber an den freien Sonntagen, wenn es keinen Nebenverdienst gab, keine Anzeigertätigkeit auf einem Schießstand, kein Wächteramt auf einem Neubau, fuhr er mit dem Rade hinaus in die Berge über dem verlorenen Haus und saß dort auf einem der Findlingsblöcke, die Hände zwischen den Knien gefaltet, ein unbewußtes Widerspiel seines Vaters, einem schweigenden Zauberer gleich, der mit der Macht seines Glaubens die Erde durchdrängte, damit sie ihm wieder zuwachse als sein Erbe und Recht.

Alljährlich zur Erntezeit fiel eine dunkle Unrast über ihn, als enthülle sich die ungewußte Quelle seines Lebens und verlange, daß er sie auffange in bewahrenden Händen. Er verließ die Stadt nicht, hineingegraben in eine dumpfe Tätigkeit, gleich einem gefangenen Tier, wenn rings in den Wäldern und Lüften die große Klarheit beginnt und der freie Wind über die Stoppeln fährt, nach Flügeln verlangend, die er über den Wald heben kann, und nach der Hingegebenheit von Wolken über geöffnetem Horizont.

Und dann wurde er der Schnitter im Mond. Es war nicht das Ergebnis langen Grübelns oder immer wiederkehrender Träume. Es fiel wie eine Erleuchtung über ihn, fast wie eine Erlösung. Er suchte in der halbdunklen Bodenkammer nach einem Brett, das er brauchte, seine Hand stieß an etwas Glattes, das wie der Stiel eines Spatens war, und ein schwingender, tief tönender Klang ging irgendwo aus dem Dunklen aus und erfüllte den engen Raum gleich einer Glocke: er hatte an die Sense seines Vaters gerührt, die er vor der Versteigerung verborgen hatte.

Er saß auf einer Holzkiste, den Kopf an die Bodenwand gelehnt, und lauschte mit geschlossenen Augen dem Schwingen des Tones. Er glaubte ihn noch zu hören, nachdem er lange verklungen war. Und dann stieg er die enge Treppe zur Bodenluke hinauf und zwängte Kopf und Schultern durch das rußgeschwärzte Viereck. Und dann lag es vor seinen Augen, hinter Schornsteinen, Giebeln und Kaminen, aufleuchtend hinter rötlichem Dunst, unwirklich und der aufsteigenden Küste einer Insel gleich: das erntebereite Land.

In der gleichen Nacht noch war er hinausgefahren, und unter hohen Sternen, auf einer Erde, die er nicht kannte, hatte er die Sense zusammengesetzt und war hineingeschritten in das unbewegte Meer der Halme, das bei jedem Schlag sich rauschend bäumte, wie unter dem schneidenden Bug eines schäumenden Bootes.

Taumel des Glücks fiel über ihn, der Schöpfung, zu der das Blut ihn trieb, der Hingabe, die vom unendlichen Raum empfangen ward. Er dachte nicht, wessen Eigentum er mähe, er wußte nicht mehr um Lohn oder Besitz. Er trank sein Werk gleich einem Verdurstenden, der am Strome kniet und der mit seinen Händen das ewige Leben zu schöpfen meint. Er hörte die Wiesenschnarre fern im nächtigen Land, die die Zeit zu zählen schien, die dunkel von den Sternen fiel. Er hörte die Nachtschwalbe aus den Wäldern atmen, der Enten klingenden Flügelschlag, Hundegebell aus verschollenem Gehöft, und alle Laute knüpften die Nacht wieder an die Kindheit an, löschten aus, was grau und wirr in das leuchtende Gewebe gefallen war und klangen nah und vertraut um die kleine Gestalt, die im weißen Nachtkittel über die Wiese schritt, mit der Sense, die viel zu groß für sie war in dem dunklen Land, das ungeheuer sich um sie breitete wie um einen jungen Vogel der Himmelsraum.

Um die Mitternacht saß er für eine Stunde auf dem Ackerrain oder einem Hügel im Feld, ohne Gedanken, aber gleichsam wie ein geöffneter Mensch, in den die Sterne fielen mit lautlosem Fall. Mitunter schlief er ein, und der Tau bedeckte ihn wie einen Stein oder ein schlafendes Tier. Aber dann zog er wieder die Sense durch das rauschende Korn, und wenn der Ton seines Schleifsteins weithin über die Felder klang, von seiner Hand hinausgetrieben wie Ringe über ein großes Wasser, fühlte er alles Leben der Welt zusammenbranden in seiner einsamen Gestalt.

Beim ersten Wind der Frühe war es dann Zeit. Er verbarg die Sense unter Moos im Gebüsch und fuhr zur Stadt, ein Arbeiter gleich vielen, und keines Menschen Auge sah Seltsames an ihm als sein helles Gesicht und das leuchtende Haar über seiner Stirn.

Im zweiten Jahre seines nächtlichen Werks trat dann zum ersten Male ein Mensch in sein Geheimnis. Auf der gräflichen Herrschaft war in diesem Sommer nach langer Abwesenheit die Tochter des Grafen heimgekehrt. Sie war nach bitterer Ehe nicht ohne Schuld geschieden worden, war viele Jahre durch die große Gesellschaft aller Welt gezogen, keiner Hingabe ausweichend, wenn die Kraft der Leidenschaft sie adelte, und hatte aus allem diesem wirren, heimatlosen und erschöpfenden Leben nicht viel mehr gewonnen als eine bittere Verachtung des Menschen und eine hochmütige Willkür eigener Lebensform. Doch war sie niemals soweit Herrin ihrer Geburt und ihrer Gesellschaftsklasse geworden, daß sie das völlig Unbekümmerte eines furchtlosen Menschen erworben hätte, und der innerliche Zwang, sich Gesetzen, wenn auch wenigen, zu beugen, anzuerkennen, was sie verachtete, zu meiden, was sie ersehnte, gab ihr die innerliche Verwirrung des Seins, die sie unter kühler Härte und Sicherheit nicht ohne Mühe verbarg. Ihre Beschäftigungen, ihre Lektüre, ihre Lebenshaltung waren die einer Dame von Welt, aber mitunter verriet sich in einer Bewegung, einem Lächeln, in einem plötzlichen Abwesendsein jener zweite verborgene Mensch, der Einlaß oder vielmehr Auslaß begehrte, und der unterdrückt, verschlossen, verschwiegen werden mußte, weil er als ein seltsamer Fremdling in einer Welt erschienen wäre, wo die Verschleierung als ein Gesetz der Vorsicht und des Anstandes galt.

Mit dem Beginn der Ernte, die einige Wochen nach ihrer Heimkehr einsetzte, erneuerte sich, durch die Wiederholung im Geheimnisvollen brennend verstärkt, das Gerücht und dann die gewisse Kunde vom Schnitter im Mond, erreichte die Gräfin wie jedermann und erschien ihr zwischen Ritten, Jagden und ländlicher Geselligkeit als etwas dunkel in sich Ruhendes, das mit immer wiederkehrender Stimme rief und forderte, wie ein verlorener Brief oder ein vergessener Traum.

Es war natürlich, daß sie über die Gerüchte lächelte, wie jedermann in ihrem Kreise lächelte. Aber es war ihrem Wesen ebenso gemäß, daß sie in der ersten geeigneten Nacht das Haus verließ, einfach gekleidet, keine Waffe in der Hand, von keinem ihrer Hunde begleitet, und auf den Hügeln über den Feldern ihres Vaters saß, an die der Roggenschlag stieß und von denen man weit hinauslauschen konnte über das reifende Land.

Sie hatte nicht lange gesessen, von dem großen Schweigen auf eine ihr seltsam erscheinende Weise durchflutet, als sie zum erstenmal den leisen Laut vernahm, mit dem geschnittenes Korn erzittert und sich zur Erde legt. Er wurde übertönt vom aufrauschenden Gang ihres Blutes, erstarb und tauchte wieder auf, bis der Rhythmus des Schlages nicht zu überhören war und die Schärfe des Schnitts, die gleichmäßig, stark und gleichsam unaufhaltsam durch das rauschende Leben fuhr. Sie trat vom Hügel zurück, vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, bis der Nebel des Tales sie verbarg, und sah nun die beglänzte Fläche hinauf, den bleichen Hang des Feldes, der oben in den Nachthimmel schnitt und hinter dem es auftauchen mußte, was noch keines Menschen Auge erblickt hatte.

Er stieg auf wie aus einem Meer, die Stirn, das Gesicht, die Schultern, der vorwärtsdringende Schwung der Arme, und der ungedämpfte Glanz des Mondes umgab ihn wie tropfende Flut einen Schwimmer. Etwas Unwiderstehliches, fast Besessenes kam mit seinem Schreiten heran, wie er höher und höher in den Himmel wuchs, bis er auf der Kuppe des Hügels stand.

Und dort hielt er inne und richtete sich auf. Er schliff seine Sense. Das Mondlicht funkelte auf dem blanken Stahl, und der Klang des Steines am Eisen, dunkel beginnend und immer heller werdend, je mehr er sich der Spitze näherte, schwang mit einer unbekümmerten Größe über die Felder hinaus, als sei er allein in der Welt des Schlafenden, unerreichbar, unverletzlich, wie ein hoher Vogel über einem dämmernden Meer.

Und bevor der Schnitter wieder zu Tale trat, gebeugt und den Blick zur Erde gerichtet, sah er sich noch einmal um, und in dieser Wendung des Kopfes lag nichts Spähendes oder Lauschendes, sondern gleichsam eine königliche Vergewisserung seiner Herrschaft, der Blick von einem Thron, unter dem das Reich sich erstreckte und über dem nichts war als der schweigende Gang der Sterne.

Alles dieses hatte die Gräfin fast atemlos erfahren, und solange er auf dem Hügel stand, hatte der gleiche Zauber sie angerührt, mit dem man von den Höfen den Klang des Schleifsteines am Stahl der Sense vernommen hatte, die Bezauberung des Namenlosen, die Größe einsamer Gebärde, die, des Gewöhnlichen entäußert, wie aus der Tiefe der Erde ausbrach, um einem Blute zu folgen, das ein anderes Blut sein mußte als das des Tales und seiner Bewohner.

Als er dann, gebeugt und dem Menschlichen gleichsam nähergerückt, herniederstieg, versuchte sie wohl ein spöttisches Lächeln über sich selbst, aber ihre Stimme war des Herrischen und Unbewegten doch ein wenig entkleidet, als sie, nun er in gleicher Höhe mit ihr war, ihn fragte, was er hier auf fremdem Felde zu schaffen habe. Es war natürlich und nicht ohne Genugtuung für sie, daß er erschrak. Doch glitt, als er ihre Erscheinung aufgefaßt hatte, nur ein ernstes Lächeln über sein Gesicht, und als seine Augen ihn versichert hatten, daß sie allein sei, auch in ihrer Haltung und Kleidung nichts Bedrohliches zu finden war, erwiderte er, daß er Korn mähe, wie sie wohl sehen könne und daß der Herr eines Feldes der Schnitter sei, gleichviel wem die Ernte gehöre.

Weshalb er das zur Nachtzeit tue?

Weil er am Tage in die Fabrik müsse, um seine Mutter zu ernähren.

Weshalb er es denn überhaupt tue?

Weil jedermann trinken müsse, wenn er durstig sei und niemand, der verschmachte, nach Schlaf oder Brot frage, sondern nur nach dem Strom, der ihn tränke.

Aber wenn sie der Erde irgendwie zugetan sei, so möchte sie Korn zu Garben binden. Das wäre das beste, was sie tun könne, und damit beugte er sich wieder zu seiner Arbeit, als habe er ein wenig einem Vogel nachgesehen und es sei nun Zeit, aus einem müßigen Spiel zu dem Ernst des Gebotenen zurückzukehren.

Sie empfand, das Ungewohnte mühsam auffassend, daß es ein wenig lächerlich sein würde, das Feld zu verlassen oder unbeachtet neben ihm herzugehen, und mit fröhlichen Gedanken, wie sie das alles in ihrer Gesellschaft erzählen würde, und in der unbekümmerten Entschlossenheit, die von Kind an ihr Erbteil war, trat sie lächelnd hinter ihn und begann mit ihren Händen die schwere Mahd zusammenzuraffen, die unter seiner Sense niederrauschte, zuerst als ein Spiel, und dann, da er unbekümmert sich immer weiter von ihr entfernte, im erwachenden Ehrgeiz eines Wettstreites mit glühenden Wangen und dem leise wachsenden Glück eines unverstellten, zweckvollen und schweigenden Schaffens.

Und dann, als sie ihn wieder erreicht hatte, begannen ihre Gedanken ein wenig um ihn zu spielen, der seltsam und unerschütterlich vor ihr durch das Feld ging, und ihre Erinnerung tastete schnell in den Jahren ihres Lebens umher, ob sie eine ähnliche Stunde schon gehabt habe und wer von den Männern ihrer Vergangenheit wohl imstande sein würde, seine Mutter zu ernähren und in der Nacht ein Kornfeld aufzusuchen, für den Durst seines heimlichen Lebens.

Sie sei wohl müde, meinte er, als er stehen blieb, um die Sense zu schärfen.

Das sei nur der Anfang. Nachher gehe es schon.

Ob sie eine Bauerntochter sei? Ihre Hände seien zwar zu fein dazu.

Ja, sie sei eine Bauerntochter, aber erst unlängst wieder aus der Stadt zurückgekehrt.

Damit war das Gespräch wieder zu Ende. Sie sah ein wenig in Sorgen das unübersehbare Feld entlang, und bevor sie sich zur ersten Garbe niederbeugte, streifte sie schnell die warme Bluse ab und fühlte nun die kühle Nachtluft mit einem leisen Schauer über ihre Arme und Schultern gehen.

Er hielt nicht an, außer zum Schleifen der Sense, bis er das Feld einmal umrundet hatte. »Nun wollen wir eine Stunde ruhen,« sagte er. »Du hast ordentlich geschafft.« Sie strich sich das Haar aus der erhitzten Stirn, mit der gleichen Bewegung, mit der die Mädchen aller Ernten es tun, und sah lächelnd zu ihm auf. Das Mondlicht lag nun auf ihrem Gesicht, in dem alle Härte erloschen war, und Malte erkannte, daß es ein Gesicht aus einer anderen Welt war. »Du bist es nicht gewohnt,« sagte er.

»Frage nicht,« erwiderte sie schnell.

Er schüttelte den Kopf, wollte zur Seite treten, um einen Platz zur Ruhe zu finden, vermochte aber nicht, sich aus ihrem Blick zu lösen, und so blieben sie beide, als fühlten sie nun erst den Sinn dieser Stunde, das Seltsame ihrer Begegnung, die Notwendigkeit, einander anzusehen und zu erkennen.

Sie hörten ihre Herzen schlagen und fühlten jeder den Zauber des anderen über sich fallen, gleich dem Tau, der ihr Haar feuchtete. Und während sie bei Tage durch das Unvereinbare ihrer Lebensräume voneinander geschieden wären, beim ersten Blick und beim ersten Wort, standen sie nun in der Gleichheit der Stunde, des Geheimnisses und der Verstrickung. Sie hatten alles dies vergessen, und in ihre unbeschatteten Spiegel fiel das neue Bild, das wie ein erstes Bild war, mühsam zu fassen in der verwirrenden Fülle seiner Erscheinung.

Und erst als Malte die Arme öffnete und sie empfing, fühlte sie das Vergangene wieder gleichwie ein leises Klopfen hinter vielen Wänden und wurde in seinem fremden Atem sich ihres verwegenen Spieles bewußt und der Lust an ihm, die alle Fremdheit übersprang.

Er hatte ein Bett aus ihren Garben bereitet, und sie blieben zusammen, bis die Sterne verblaßten. Mitunter ging eine leise Bewegung durch die Ähren des Feldes, und der Schein eines fernen Wetters fiel ab und zu in ihre Augen, verstohlen und gleichsam nicht gewillt, hineinzuleuchten in ein verschlossenes Haus. »Wie weit alles ist ...« sagte sie leise.

Sie flocht wie in einem versunkenen Spiel Halme zu einer schmalen Kette und legte sie um seinen Hals. »Nun ist ein Zauber um dich gelegt, Malte.«

Aber er lächelte nur, und sie erkannte aus seiner mühsamen Gebärde, daß es keines Zaubers bedurfte.

Sie verabredeten Ort und Stunde, und er sah ihr nach, wie sie durch den Tau der Felder davonging, eine dunkle Spur hinterlassend, die ins Unbekannte lief.

Sie blieben zusammen, bis nahe an das Ende der Ernte, und die Legende wob übernatürliche Kräfte um den Schnitter im Mond, hinter dessen Gang nun das Korn gebunden lag, ohne daß die Mahd sich verringert hätte.

Wohl hatte die Gräfin versucht, daß er von der Arbeit abstehe und alle Stunden ihrer Liebe schenke, aber er hatte den Kopf geschüttelt, so daß sie nicht sein Eigen wurde, bevor der erste Schein über dem Walde stand.

Auch blieb das Geheimnis unverletzt um sie, und als sie um die Herbstzeit zur verabredeten Stunde nicht erschien und ohne Nachricht für immer ausblieb, war Malte in seinem Gram geneigt, zu glauben, daß eine Unterirdische ihr schönes Spiel mit ihm getrieben und sie nun zurückgemußt habe in ein dunkles Reich, zu dem kein Schlüssel in eine Menschenhand jemals gelegt werden dürfe.

In jeder freien Stunde durchirrte er das Land, und von der schmalen Kette um seinen Hals schien ein Siechtum versehrend hineinzuträufeln in den zerstörten Raum seines fruchtlosen Lebens.

Zu jener Stunde aber, da er vergeblich gewartet hatte, war die Gräfin gewiß geworden, daß ihr Leib gesegnet war. Eine Wirrnis der Angst, des Schauders und der Verzweiflung war über sie gefallen, und mit ihr erlosch wie unter einer jähen Faust der Rausch der Sternennächte, die Verwegenheit des Spiels wie der Lust, und aus allem Zauber stand der Mensch der Vergangenheit plötzlich auf, nackt und bloß den Gesetzen ihres Standes zitternd unterworfen und mit irren Blicken nach der Rettung jagend, die vor Schande behütete, vor Verstoßung und Tod.

Sie ließ ihre Koffer packen und verließ das Haus, in wirren Gedanken glaubend, daß irgendwo draußen Rettung sein müsse, ohne zu wissen welcher Art. Sie verbarg sich in einer großen Stadt, täglich die Zeitungen durchforschend, ob unter versteckter Form sich jemand anbiete, von dem zu befreien, dessen wachsende Regung sie mit kaltem Schauder unter ihrem Herzen spürte. Mehrmals stieg sie, unter einem Schleier verhüllt, dunkle Treppen in Hinterhöfen empor, von spähenden Augen frech gemustert, aber an den fleckigen Türen versagte ihre Kraft. Stöhnen schien ihr aus allen Wänden zu dringen, erstickte Schreie, sie floh davon, und mitunter schien ein heimliches Lachen hinter ihr über die Stufen zu fallen, wie Kalk, der von den schmutzigen Wänden brach und weißlich verstäubte auf dem schlüpfrigen Holz.

Zuletzt, mit sinkender Kraft, war sie zu einem Arzt gekommen, dessen Schild ihr hilfreich erschienen war, aber er hatte sie mit unbewegten Augen angesehen, ein Buch aus seinem Schrank geholt, und ihre fliegenden Blicke hatten schreckliche Worte erfaßt, Paragraphen, Zuchthaus, wahrscheinlich den Tod. Daß alles Leben heilig sei, hatte er noch gesagt, aber sie stand schon in der Tür, als tauchten aus den Winkeln des Zimmers bereits die Häscher auf.

Und dann hatte ein Prozeßbericht, den sie in einer Zeitung las, ihr den Weg gezeigt. Eine kalte Ruhe fiel plötzlich über sie, ein jähes Erwachen aller Spannkraft, ein atemloses Durchdenken aller Worte, die gesprochen werden mußten, immer klarer aus dem Nebel tretend, immer schärfer Glied mit Glied verbindend, bis die ganze Kette geschlossen in ihren Händen lag, eine schwere, ja eine häßliche und widerwärtige Kette, aber eine Kette, die gehorchte, und zu der sie den Schlüssel furchtlos trug. Das Blut der Herrin stand wieder in ihr auf, spülte das Gewesene und Fremde aus Leib und Seele und erfüllte sie wieder mit der hochmütigen Unbeugsamkeit des alten Geschlechtes, dem für jeden Feind ein Schild gegeben war.

Sie kehrte in das Haus ihres Vaters zurück, ließ den Hausarzt am nächsten Tage zu sich kommen, bat um eine Untersuchung ihres körperlichen Zustandes und fragte, seine Fassungslosigkeit übersehend, ob kein Zweifel möglich sei. Auf seine Versicherung, daß in diesem Stadium ein Irrtum ausgeschlossen sei, bat sie, alles Erforderliche zu veranlassen, damit Malte dem Gericht und seiner Strafe zugeführt werde. In jener Nacht, als sie ausgegangen sei, um allen Gerüchten über den Schnitter im Mond ein klares Ende zu machen, habe sie ihn gefunden und von ihres Vaters Felde gewiesen. Und dort habe er ihr Gewalt angetan.

Weshalb sie es nicht sofort angezeigt habe?

Er könne sich wohl denken, daß ihre Scham größer gewesen sei als der Wunsch, die Missetat bestraft zu sehen. Außerdem habe sie gehofft, daß es ohne Folgen bleiben werde. Sie habe ein paar Wochen später in der Stadt ihn zufällig gesehen, sei ihm gefolgt und gewiß geworden, wer er sei. Aber noch immer sei sie im Zweifel gewesen, ob sie sich über ihren Zustand nicht täusche. Nun aber müsse sie wohl alle Bedenken zurückstellen, denn die Schande eines Fehltritts, den man ihr zuschreiben werde, sei größer als die Schande der Gewalttat, und sie müsse nun in die Hände des Gerichts legen, was sie sonst in ihre eigene Hand genommen haben würde.

Am gleichen Nachmittag, kurz vor dem Ende der Arbeitszeit, wurde Malte verhaftet und dem Gerichtsgefängnis zugeführt. Als der Untersuchungsrichter ihm die Anklage vorlas, fiel eine solche Erstarrung über sein Gesicht, daß es schien, als habe man allem seinem Blut einen jähen Weg geöffnet und es sei nichts übrig geblieben als eine leere Form, die sich zu Stein verhärtete.

Gefragt, ob er die Tat zugebe, erwiderte er leise, daß er unschuldig zu sein glaube.

Ob er zugebe, die Gräfin in jener Nacht getroffen zu haben.

Das müsse er wohl, obgleich er bis zu dieser Stunde nicht gewußt habe, wer sie sei.

Ob er zugebe, mit ihr vertrauten Umgang gehabt zu haben?

Ja, das gebe er zu.

Ob er die Ereignisse jener Begegnung schildern wolle?

Nein.

Ob er so freundlich sein wolle, Auskunft auf eine Reihe präziser Fragen zu geben?

Malte schüttelte den Kopf, sah den Richter in einer traurigen Zerstörung an und sagte leise, daß er von nun an kein Wort mehr sagen werde. Seine Hand tastete nach der Halsöffnung seiner Arbeitsbluse, schloß den obersten Knopf und blieb dort in einer verlorenen Haltung, als erinnere er sich des Zweckes der Bewegung nicht mehr.

Da Bitten und Drohungen erfolglos blieben, wurde er in seine Zelle zurückgeführt. Auch seinem Verteidiger bekannte er nicht mehr, als er dem Untersuchungsrichter bekannt hatte. Zu allen Fragen schüttelte er den Kopf, mit dem immer gleichbleibenden Blick eines gequälten Tieres, das von dem Peiniger zur Freiheit tastet, zum Schweigen verdammt und der Verdammnis sich dunkel bewußt.

Der Rechtsanwalt schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie, daß er ein Narr sei, aber Malte nickte nur statt einer Antwort und fuhr mit seiner rechten Hand mechanisch die Reihe der Knöpfe an seiner Jacke auf und ab.

Am Tage der Hauptverhandlung war der Platz vor dem Gerichtsgebäude von Menschen erfüllt, und die Justizbeamten im grauen Gebäude mußten sich gleich erbitterten Kämpfern in die Türen zum Verhandlungssaal werfen, um der Flut Einhalt gebieten zu können, die aus den Gängen in den Raum sich drängte, denn der Dämon war gefesselt und aus dem Geheimnis an das Licht des Tages gezwungen, der zwei Jahre lang nächtlich über ihre Felder gegangen war und dem Wehrlosen Gewalt angetan hatte. Und es fehlte nicht an Stimmen, die meinten, daß ein Scheiterhaufen gerade gut genug für ihn sein würde.

Als er hineingeführt wurde und hinter der braunen Schranke stand, wurde es so still im Saal, daß das letzte Brausen der Volksmenge auf dem Gerichtsplatz sich plötzlich um das Schweigen hob, als eine ferne Drohung und nur durch dünne Wände von der Insel der Gerechtigkeit getrennt. Sein Gesicht war bleich, aber frei von Feindseligkeit oder Qual, nur von einer gleichsam fragenden Trauer beschattet, und vom Beginn seines Eintretens wichen seine grauen Augen nicht vom Gesicht der Gräfin. Sie hatte ihn angesehen, als er in der Tür erschien, mit einem Blick, der gleichsam über den Rand eines Schildes ging, kalt, spähend und der letzten Entscheidung klar bewußt, aber gleichzeitig hatte ihre linke Hand eine Bewegung gemacht, als wollte sie nach dem Herzen greifen und sei auf dem Wege angehalten worden als auf einem unschicklichen Wege, der der Stunde nicht angemessen sei.

Malte sah keines der Gesichter am Richtertisch oder im Zuhörerraum, aber er sah Blick und Bewegung der Gräfin, das Unsichtbare des Ursprungs wie des Ersterbens, und was in den vielen Stunden seiner Haft als eine schwerfällige Vermutung sich mühsam aus der Wirrnis seiner Gedanken gehoben hatte, wurde in diesem leisen Erzittern einer fremden Hand zur Gewißheit und gab seiner Haltung das in sich Ruhende und Zugeschlossene, das als kalte Verstocktheit erschien, während es nur das lautlose Zufallen einer Türe bedeutete, hinter der er ein Heiligtum verbarg.

Nachdem er mit leiser Stimme Auskunft über seine Person gegeben hatte, wurde er gefragt, weshalb er zur Nachtzeit auf fremden Feldern gemäht habe. Er wiederholte die Worte, die er zur Gräfin gesprochen hatte. Zu allen anderen Fragen schüttelte er stumm den Kopf.

Die Gräfin, aufgefordert den Vorgang zu erzählen, wiederholte, was sie dem Arzt bekannt hatte. Ob sie um Hilfe gerufen habe? Nein, sie habe sich schweigend seiner zu erwehren versucht. Ob sie sonst zu irgendeinem Menschen darüber gesprochen habe? Nein.

Da keine Zeugen vorhanden waren, außer denen, die Maltes Verteidiger beigebracht hatte, damit sie über das Vorbildliche und Tadelfreie seines Lebens aussagten, stand man bald am Ende der Möglichkeiten, und der Anwalt des Angeklagten bat, ein paar Fragen an die Gräfin richten zu dürfen. Ob sie eine Erklärung dafür habe, daß seit jener Nacht das Korn im Gegensatz zum vorausgegangenen Jahr in Garben gebunden worden und gegen Ende der Ernte wieder ungebunden geblieben sei?

Selbstverständlich habe sie keine Erklärung dafür.

Ob sie – mit einer plötzlichen Wendung – seit ihrer Scheidung keinerlei vertrauten Umgang mit einem Manne gehabt habe?

Bei dieser Frage sprang der Graf von seinem Sitz auf, und der Vorsitzende runzelte mißbilligend die Stirn.

»Nein,« sagte die Gräfin mit klarer Stimme.

Ob es vielleicht denkbar sei, daß sie der behaupteten Gewalttat nicht die ganze Kraft ihres Widerstandes entgegengesetzt habe, sondern, gewissermaßen, nur einen Teil? Einen großen Teil, natürlich, einen sehr großen, aber immerhin doch nicht das Ganze?

Die Gräfin erwiderte hochmütig, daß es in ihrem Leben Bruchrechnungen dieser Art nicht zu geben pflege.

Darauf bat der Verteidiger, den prüfenden Blick gleichsam widerwillig von ihrem Gesicht lösend, den Angeklagten mit eindringlichen Worten, sich in dieser letzten Stunde zu eröffnen, nicht so sehr um seiner selbst willen, als um des Rechtes willen, von dem er glaube, daß ihm hier mehr Gewalt angetan werden könnte als in der fraglichen Nacht.

Aber Malte schüttelte den Kopf und bat mit leiser Stimme, nun ein Ende zu machen.

Darauf, nach einer fast verzweifelten Bewegung seiner Hände, sagte der Verteidiger, daß er noch um eines bitte. Er habe, ohne darnach je gefragt zu haben, bei dem Angeklagten eine schmale Kette bemerkt, die er um den Hals trage und ängstlich zu verbergen bemüht gewesen sei. Diese Kette sei, soviel er von ihr gesehen habe, aus Getreidehalmen geflochten, und er könne nicht umhin, ihr eine Bedeutung in allem diesem zuzuschreiben, eine Bedeutung, die er zwar nicht kenne, aber die ihm nicht belanglos erscheine.

Und er bitte Malte, die Kette dem Gerichte zu zeigen und zu sagen, was es mit ihr für eine Bewandtnis habe.

Malte hatte beide Hände um den obersten Knopf seiner Jacke geschlossen, und sein Gesicht war nun plötzlich hilflos und verstört geworden. Erst als der Vorsitzende ihm, ohne Härte, zu verstehen gab, daß das Gericht unter Umständen Zwangsmittel anwenden müßte, um diese Kette sehen zu können, ließ er seine Arme sinken und duldete, daß der Verteidiger sie über seinen Kopf streifte und nach schneller Betrachtung dem Gerichtshof übergab.

Es war die Kette, die die Gräfin spielend geflochten hatte, unansehnlich und dunkel geworden durch das Tragen auf der bloßen Haut, wie ein durch vielen Gebrauch entstelltes Spielzeug, aus dem Form und Absicht langsam schwindet.

Sie war so unerklärlich wie Maltes Schweigen.

Ob die Gräfin die Kette vielleicht kenne, fragte der Verteidiger, sich zu ihr wendend.

Als bei dieser Frage aller Augen, die so lange auf die Kette gerichtet gewesen waren, wieder zur Gräfin gingen, erkannten sie ohne Mühe, daß etwas in ihr geschehen war, was sich ihrer Beobachtung entzogen hatte. Sie hatte die Augen geschlossen, und es schien, als sei ihr Gesicht unter dieser Bewegung in Schlaf übergegangen, wobei alle Züge sich lösen wollten, und als sei der Übergang aus der Härte des Wachseins in diese Erlösung von einer Verwirrung, ja fast einer Entstellung des Lebendigen begleitet. Ja, es war, als habe man einen Stein in eine ruhige Wasserfläche geschleudert und langsam glätteten sich nun Welle und Ring zum Unbewegten.

Aus einem unbekannten Grunde verminderte sich in diesem Augenblick das dumpfe Geräusch der Menge hinter den Fenstern, glitt hinweg wie ein immer wachsender Kreis und erstarb. Die Feder des Protokollführers war bis zu den äußersten Winkeln des Raumes fast schmerzhaft vernehmbar und schwieg dann.

Der Anwalt, nach einer leisen Neigung seines Kopfes, als lausche er dem Ersterben des letzten Tones nach, wiederholte die Frage. Er wiederholte sie mit einer auffälligen Veränderung seiner Stimme, schonend, behutsam, fast gütig, als spreche er zu einer Erschöpften oder Schlafenden.

Die Gräfin öffnete die Augen und sah an dem Fragenden vorbei auf das grüne Tuch des Richtertisches, auf dem die geflochtene Kette lag. Sie erhob sich von ihrem Platz, und nachdem es einen Augenblick geschienen hatte, als schwanke ihre Gestalt, oder erzittere in einer plötzlichen Schwäche, ging sie in gerader Haltung auf den Tisch zu, ergriff die Kette mit einer behutsamen, fast zärtlichen Bewegung, schloß beide Hände wie schützend um sie und sagte, laut und jedermann deutlich vernehmbar: »Es ist nicht wahr, daß dieser Mann mir Gewalt angetan hat. Es ist wahr, daß ich mich ihm hingegeben habe und diese Kette geflochten und um seinen Hals gelegt habe. Ich bitte ihn, mir zu verzeihen.«

Und darauf bat sie, daß man sie für eine Weile aus dem Saale führe, damit nicht dem Kinde ein Schaden geschehe, das sie unter dem Herzen trage.

Sie ließ die Kette nicht aus ihren Händen, und als sie an Malte vorüberging, hob sie sie ein wenig, daß sie unter ihrer Brust lag, gleich einem Ring, den sie mit geschlossenen Augen feierlich vor sich hertrug.

Seit diesem Tage sah man sie beide nicht mehr in jener Landschaft. Die Legende um den Schnitter im Mond blieb lange lebendig, und nach geraumer Zeit wußte sie zu erzählen, daß er auf einem kleinen Hof fernab der Gegend lebe als ein einsamer, stiller aber nicht unfroher Mensch und daß alljährlich um die Erntezeit eine Frau zu ihm komme, mit der er das Korn schneide, während ein Kind, das ihnen ähnlich sehe, am Rand ihres Feldes sitze oder Blumen zu einem Kranze spielend winde.


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