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Der Mann von vierzig Jahren

Als der Regierungsrat van den Berge die Theaterloge betrat, wie immer um ein paar Minuten zu spät, weil er über den Akten die Zeit vergessen hatte, war das Haus schon verdunkelt, und aus dem erhellten Orchester stiegen die Klänge der Ouvertüre gleich dem unwirklichen Duft aus einer beglänzten Blüte. Er verharrte für eine kurze Zeit an der Türe, nicht so sehr, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, sondern weil die Plötzlichkeit des Überganges ihn irgendwie bedrängte, der gleitende Gang der Geigen, der mit einer seltsamen Sprache durch das Dunkel schritt, die Vielheit blaß verfließender Gesichter, die schützende Abgeschlossenheit des Raumes mit der roten Brüstung, die das geborgene und erhobene Bewußtsein des Zuschauers eindringlich vermittelte.

Dann zog er einen der Stühle lautlos in das Dunkel zurück und setzte sich. Die Dame, die allein in der Loge gesessen hatte, wandte ein wenig den Kopf, so daß er hinter dem grauen Pelz eine gerade Stirn und den Ansatz der Wange sehen konnte. Aber die Bewegung unterbrach sich an der Grenze, wo sie Unmut über die Störung ausgedrückt haben würde, und blieb so nur eine leise Andeutung natürlicher Teilnahme für einen Gegenstand, ein Geräusch, eine Veränderung des Raumes.

Van den Berge, obwohl er sich bewußt war, nur eine kaum merkliche Störung verursacht zu haben, empfand das nur Angedeutete der Bewegung als zart und taktvoll, ja als einen beglückenden Anfang dieses Abends, den er mühsam unterzubringen versucht hatte, weil seine Frau einen Tee für die Vorstandsdamen eines Frauenvereins gab und er die Unruhe nicht liebte, die sich durch alle geschlossenen Türen hindurchstahl. Er atmete tief die Luft ein, deren Gegensatz zu der Luft seiner Amtszimmer er wohltuend empfand und die ihn schon als Student mit jenem wehmütig beglänzten Glück erfüllt hatte, das in jeder Ferne, jedem Unerreichten, jedem Andersseienden für ihn enthalten war: die leise verbrauchte Luft der Parfüms, des Frauenhaars, des Pelzwerkes, die Luft eines fremdartigen Lebens, das man hinter den Gittern spürte und die nur zu vergleichen war mit der Luft der Manege, die unbeweglich unter den weißen Lampen stand, bis Schrei und Peitsche und rasender Ritt sie funkelnd zerriß.

Er faltete die Hände, empfand mit einem leisen Schwindelgefühl die Abspannung des harten Tages und fühlte mit geschlossenen Augen die warme Welle der Melodien über alle Seelen rieseln, an den Säulen sich hinaufheben, das dunkle Viereck der Loge erfüllen und dort zurückbleiben, während unten schon die Celli eine neue Woge verströmten und der Atem eines tönenden Meeres in beseligender Gewißheit des Steigens und Fallens um die schmerzenden Schläfen glitt und mit sanftem Spiel alle Hast davontrug, alle Unruhe und Sorge und die Leere glättete und füllte, die mitunter zwischen Tag und Nacht tief in der Seele sich öffnete: das Aufschrecken aus einem kindlichen Traum, mitten aus einem weißen Aktenbogen, mitten aus einer Familienfeier, das ursachlos schien und doch so beklemmend war gleich dem Mühen um ein vergessenes Wort oder dem ersten dumpfen Schmerzgefühl vor einer Krankheit.

Er bedauerte, daß die Ouvertüre ein Ende nahm und hoffte mit einer verwegenen Hoffnung auf eine Wiederholung. Aber der Vorhang hob sich, ein unsichtbares Licht strömte lautlos über den Zuschauerraum, und das feierliche Schreiten des Priesterchores der »Aida« zerteilte das Bühnenrund und erfüllte es mit der Vorstellung einer fremden, geheimnisvoll versunkenen Welt, einer Welt, hinter der die Wüste stand, brennende Gipfel schweigender Pyramiden, Rieseln des Sandes um zerbröckelnde Sphinxhände, Tönen der Memnonssäule, Flüstern des Stromes der Welt mit Pharaos Tochter, die nach dem schwimmenden Korbe Mose griff.

Van den Berge starrte hinunter wie auf eine Vision, rätselvoll angerührt in dem Dämmerdunkel nicht nur seines Platzes, sondern seiner Seele, seines Ichs, wie die Seele eines Knaben aus den Seiten eines Buches berührt wird vom Hauch einer Wildnis, einer fernen Größe und Gefahr, die an die letzten Wurzeln verschollener Erinnerung mit dem leisen Atem des Schlafenden tastet, die grauen Mauern geordneten Lebens stürzend und den Blick der Visionen ahnend eröffnend auf die Weite der Kindheit des Menschengeschlechtes, auf das Zeitalter der Leidenschaften, der Abenteuer, und weiter zurück bis zum Urgrund des Zaubers und der Märchen.

Er faßte nicht auf, was dort unten geschah, weil es zu nah war und zu ähnlich in Wunsch und Leid. Aber er faßte das blaue Licht auf, vor dem die Palmen standen, den Hauch der Jahrtausende, der über dem Strom hing, den Glanz der Wüste, in die er sich hineinschreiten sah, kleiner werdend, bis die Tore sich schlossen, die ihn abtrennten vom Beruf, vom Ehrgeiz, von Familiengesprächen, Festen, von dem ganzen kreisenden Rad seines Lebens.

Und er faßte die Klänge auf, die aus diesem blauen Licht emporströmten. Es waren nicht die Klänge seines Lebens, der Menschen und Dinge, die seine wache Welt erfüllten. Es waren die Klänge jenes zweiten Lebens, das im Dunkel des Schlafzimmers aufstand, an jener Grenze des Wachseins, wo die ersten Träume beginnen, wo die Gedanken verschwinden, die um das »Was ist?« kreisen, um das »Was wird sein?«, und jene beginnen, die in scheuer Schmerzlichkeit um das »Was hätte sein können?« zu kreisen beginnen.

Van den Berge faltete die Hände und schloß die Augen. Es war ihm in tief entlastetem Glück, als liege er auf dem Grunde des Meeres, Schein und Rauschen herrlicher Bläue über den müden Augen. Mitunter zuckte ein grauer, gezackter Spalt durch das Unentstellte von Farbe und Klang, und das Echo einer fernen Erinnerung fiel gleich einem kalten Tropfen aus blauer Decke auf sein Gesicht: der Jahresbericht, der in einer Woche einzureichen war ... sein Sohn, der nicht versetzt werden würde ... die Tochter, die zu einem Ball beim Regierungspräsidenten ihre Lippen gefärbt hatte ... die Kohlenrechnung, die noch nicht bezahlt war ... ein Gespräch mit seiner Frau, leise vergiftet durch ironische Vorwürfe, daß er keine Karriere mache ... Und dann wieder das Zurücksinken zwischen die Steine der Tiefe, wie von dem Hang einer Woge, die ihn spielend hob und spielend fallen ließ. Und nun war es das Rieseln des Sandes in einem Wüstental, und auf den Kämmen der Dünen schmolz das blaue Licht eines Mondes, der aus dem Wasser des Nils emporgestiegen war ...

Van den Berge erwachte, als das Theater sich erhellte. Er empfand Bestürzung und Scham und die hilflose Verwirrung des Überganges aus einer Welt in die andere. Aber während er hinausging, bis in die kühle Luft des Kassenraumes, und hinter einer Wand dort abgestellter Lorbeerbäume eine der schweren russischen Zigaretten rauchte, die der Arzt ihm verboten hatte, fühlte er außer dem Bedrängenden des Wachzustandes jenes leise Rieseln des Glückes aus den Tälern der Wüste, eine heimliche Kostbarkeit des Besitzes, die Zauberkraft eines zweiten Lebens, ihm ganz allein zugehörig. Er war nicht verpflichtet, sie in seine Akten aufzunehmen, sie zu Hause mitzuteilen, unter dem nachsichtigen Schweigen seiner Frau und dem mokanten Lächeln seiner Kinder. Aber wenn das Licht im Schlafzimmer gelöscht war, würde er gleichmäßig atmen, als ob er schliefe, und heimlich davongehen, zu den Ufern jenes Stromes, unter die Sterne jener Wüste. Auf den Kämmen der Dünen würde er sitzen, mondbeglänzt, im weißen Burnus, und nach der Karawane hinüberblicken, die im feierlichen Schritt der Kamele hinausglitt in die Ewigkeit des Sandes, des Schweigens und der göttlichen Offenbarungen.

Der Regierungsrat van den Berge war weder ein Kind noch ein Romantiker, und als er die teppichbelegte Treppe wieder hinaufging, sann er lächelnd darüber nach, ob er krank sei oder ob es nur der erste Hauch des Alters sei, der ihn so seltsam bewege und zurückzuführen scheine in das Land der spielerischen Knabenwünsche. Doch fand er die Lösung nicht, und erst als er wieder seine Loge betrat, in der die Gestalt der fremden Frau noch immer unverändert in ihrem Sessel saß, kam ihm unvermittelt zum Bewußtsein, daß er, wie weit er auch die fünfzehn Jahre seiner Ehe zurückging, niemals allein in einem Theater gesessen hatte. Und er glaubte, in einer seltsamen Hellsichtigkeit alle jene Abende noch einmal zu sehen, die Nervosität der Vorbereitungen, die leise Gereiztheit der Gespräche, Begrüßungen mit Bekannten, die lärmende Ausgefülltheit der Pausen, den Kampf um die Garderobe, gesteigert durch die Ungeduld seiner Frau, Heimfahrt in der überfüllten Straßenbahn, und dann die Stille des Einschlafens schon wieder beengt durch den Gedanken an den kommenden Tag.

»Ich werde noch eine Weile hier sitzen bleiben,« dachte er, »wenn es zu Ende ist. Nur ein paar Menschen werden noch an der Garderobe sein, keine Bekannten, und dann werde ich zu Fuß nach Hause gehen, ganz langsam. Es wird gerade für zwei Zigaretten reichen, und sie werden schon zu Bett gegangen sein. Ich werde noch eine halbe Stunde an meinem Schreibtisch sitzen, ganz still, und vor mich hinsehen ... nein, hinter mich hinsehen ... und dann werde ich schlafen und von diesen wunderbaren Dingen träumen.«

»Ich werde jetzt ab und zu allein ins Theater gehen,« dachte er noch lächelnd. »Ich werde mir ihre Vereinstage aussuchen, dann wird es vielleicht gehen ...«

Und dann hob sich der Vorhang zum zweitenmal.

Während des letzten Aktes erwachte van den Berge aus der Entrücktheit seines Hingegebenseins. Es war ein belangloser Vorgang, aber in der Abgeschlossenheit seines Raumes war die geringste Veränderung eine Veränderung der Welt. Es war nichts als eine Bewegung des grauen Pelzkragens. Er glitt von der linken Schulter der Frau zurück auf die Lehne ihres Sessels. Sie tastete mit der Hand nach ihm, und während dieser Bewegung spannte sich auf ihrem unbekleideten Arm unterhalb der Schulter eine zarte Falte in die weiße Haut, verlieh dem bloß Körperlichen eine seltsame Lebendigkeit, eine gleichsam rührende und hilflose Beseeltheit und verbarg sich wieder mit einer leisen Abwehr unter der grauen Hülle des Pelzes.

Van den Berge, weit davon entfernt, eine sinnliche Natur zu sein, empfand den Vorgang, der mit unvermuteter Plötzlichkeit einbrach in das Halbdunkel seiner Einsamkeit, als eine Erschütterung ohnegleichen. In der Aufgeschlossenheit dieser Stunde, der Schale wie der Maske entkleidet, zurückgetreten in das Ursprüngliche kindlicher Unentstelltheit, trat das Bild des Menschen, nicht eines bestimmten, durch Namen, durch Körper, durch Form bestimmten, sondern gleichsam des Menschen an sich mit einer fast paradiesischen Kraft und Unzerstörtheit über die Schwelle seines Erlebens. Dort war eine Frau, von der er nichts wußte, nicht Namen, nicht Antlitz, nicht Lebensform, aber ein atmender Mensch, der die Klänge vernahm, dessen Seele sich unter dem Geschehen der Bühne bewegte, dessen Arm soeben rückwärts in den leeren Raum getastet hatte und in dessen weißen Schimmer sich jene Falte des Lebens gegraben hatte. »Ich könnte mit ihr sprechen,« dachte er, »von jener blauen Wüste und ihren hohen Sternen, von ihrer Kindheit und ihren ersten Tränen, ob sie an den Tod denkt oder an die Liebe, an den Schmerz oder an die Süße verronnener Tage. Wir leben auf derselben Erde, vielleicht in derselben Stadt, unsere Worte sind die gleichen, mit denen wir jemanden grüßen, der bei uns eintritt, und jemanden verabschieden, der hinter unsere Schwelle tritt. Und doch wissen wir nichts voneinander, von unserem Atem, unseren Gebeten, wie jene Geigenmelodie unsere Seele zerspaltet und wie uns sein wird, wenn der Vorhang über jene Liebe fällt wie über dunkelnde Särge ...«

Das Gefühl der ungeheuren Fremdheit gleichen Lebens, gleicher Geschöpfe überwältigte ihn im Schatten seines Platzes. Es siel ihm ein, daß er als Kind bitterlich weinend nach Hause gekommen war, wenn andere Kinder ihn von ihrem Spiel ausgeschlossen hatten, daß er verzweifelt in die Schweigsamkeit seiner Puppen hineingeschrien hatte, in die große Stille eines Waldes, in die lähmende Lautlosigkeit eines Raumes, den seine Geschwister verlassen hatten. Er sann nach, mit wem er vom Morgen bis zum Abend spreche, überdachte die Menschen seines Hauses, seines Amtes, seines geselligen Lebens. Fand hier einen Kaufmann, dort ein Kassenfräulein, einen Straßenbahnschaffner, einen Handwerker. Und fand Hunderte, Tausende, mit denen er niemals sprach, niemals sprechen würde. Menschen, denen er täglich auf dem Wege zum Dienst begegnete, in der Straßenbahn, in Geschäften, im Theater. Menschen, deren Augen er kannte, traurige, vergrämte, lächelnde Gesichter, und die wie Schatten über die Wand seines Lebens glitten, Menschen, die wie Wolken waren, wie Gräser, wie Sterne, dem Auge erreichbar, aber verbannt und verzaubert aus der Reichkraft der Seele.

Es erschreckte ihn alles dieses unsäglich, als stehe er in einem großen, schweigenden Winterwald, zwischen toten Bäumen, und müsse nun selbst erfrieren und tot werden, weil der Klang seiner Stimme nichts Lebendiges fand als das leise Rieseln kühlen Schnees, der von den Asten stäubte, die sein Ruf angerührt. »Weshalb leben wir so?« dachte er erschüttert. »Wenn wir auf einem Boot im Meere trieben, auf eine Insel verschlagen würden, in einem Schacht begraben, würden wir sprechen, würden voneinander wissen, unsere Hände falten, jedes Lächeln erwidern und jede Träne. Und hier schweigen wir wie zwei Steine im selben Strom, sehen einander nie wieder, sterben jeder für sich, mit der gleichen Gebärde unserer Hände, im Glauben an den gleichen Gott ...«

Er blieb mit abwesend geöffneten Augen auf seinem Platz, und vor seinem inneren Gesicht verschmolz der blaue Raum der Bühne mit den räumlichen Bildern seines vergangenen Lebens, mit der Gestalt der fremden Frau und seinem eigenen Selbst, das kindlich und träumend in die Wunder der Dinge hineinschritt, mit dem Gram über verlorene Jahre und dem leisen Schauer vor der entlaubten Durchsichtigkeit kommender Herbste. Es war nun keine Freude mehr über die Stille des Heimweges und den matten Glanz des Geheimnisses, das er mit sich tragen würde, sondern vielmehr ein leises Grauen vor dem schrecklich Bekannten seines Zimmers, seiner Bilder, der Gesichter seiner Angehörigen, vor Tag und Nacht und dem unerbittlichen Zwang des Weiterwanderns in alles dieses hinein, wo alles sich wiederholte, Feste und Alltag, Worte, Lächeln und Schweigen.

Und dann stand vor dieser immer mehr sich verdüsternden Hoffnungslosigkeit seiner Augen plötzlich das letzte Bild des fremden Geschehens auf der Bühne, hob sich aus dem unbeachteten Zug der anderen Bilder mit einer schrecklichen Deutlichkeit und Sinnerfülltheit, durchbrach alle Schranken der Täuschung und des gespielten Scheins und war gleich der unerbittlichen Wachheit einer Stimme, die durch Träume rief bis in das Mark des verhüllten Lebens und vor der es weder Flucht noch Verbergen gab.

Es war das Bild der Einmauerung des Gerichteten, die Abschiedsklage des zu den Toten Gestoßenen und der Jubel der Vereinigung, der wie aus einem Sarge loderte, aufwärtsbrausend über die Nichtigkeit des anderen Lebens und der Ewigkeit der blauen Räume hingegeben, in denen die Blätter der Palmen bebten und über denen das Zittern schweigender Sterne stand.

Und die Stimmen der beiden Begrabenen, auf den Bögen der Melodien sich aufwärtshebend, schritten aus dem Kreis ihres Lebens hinaus, näherten sich einander und entfernten sich wieder, gleich glänzenden Vögeln das Spiel ihrer Kreise miteinander verflechtend, lösend und wieder vereinigend, bis sie, der Welt selig vergessend, fielen und ineinander stürzten wie in die Wipfel eines Waldes und nur der Nachhall ihres Liedes im leeren Raume stand.

»Mein Gott,« dachte van den Berge, »wer wird in die Kammer meines Sterbens kommen, bevor sie den letzten Stein vor das Licht des Lebens legen?«

Beifall rauschte in das Verklingen des letzten Tones, und das Theater erhob sich von dem Schauspiel des Todes wie von einem Festmahl, über dem die Kerzen brannten.

Erst als die Lichter zu erlöschen begannen, erhob die Frau im Pelz sich aus ihrem Schweigen. Aber als sie den Sessel zurückschob und der Türe zuging, wobei es schien, als schmerzten ihre Kniee von der Beugung langer Andacht, sah sie im Schatten des Raumes das Gesicht eines Mannes, dessen Augen durch ihren Körper hindurch auf die unerbittliche Wand des Vorhanges gerichtet waren und dessen Wangen naß von Tränen waren.

Sie blieb stehen, ohne Grund und Überlegung, bestürzt, aber von keiner Peinlichkeit beengt, und in ihren Augen erschien, immer unverhüllter sich entfaltend, das warme Licht der großen Barmherzigkeit, mit der der Mensch vor der Krankheit des Tieres oder der Hilflosigkeit des Kindes steht.

So sahen sie einander an, im immer mehr sich verdunkelnden Raum, und es schien van den Berge in diesem nach Herzschlägen zu messenden Schweigen hingegebenen Anschauens, als höre er den Bau seines Lebens knistern, bröckeln, sich spalten und stürzen, als falle die Angst vor Heimkehr, Wiederholung der Menschen und Dinge, vor Einsamkeit und Nebelhauch des Herbstes von seinen Schultern, als falle sein Kleid, das Kleid eines Gewesenen, einer befohlenen Form, als falle Name, Stand und festumschlossenes Dasein und er stehe als ein Mensch des Anfangs, der Unschuld und des ersten Morgens an dem Tor der kommenden Dinge, in dem blauen Licht jenes Stromlandes, den Fuß auf einer Schwelle, auf der noch die Spur von Gottes Füßen leuchtete und keine außer ihr.

Und dann faltete die Frau vor ihm ihre Hände, ohne zu wissen, daß sie es tat, als stehe sie allein vor einem Bilde der Schmerzen oder der Zerstörung, nahm Abschied von seinem Gesicht und verließ den Raum.

Eine Stunde später stand van den Berge vor seinem Hause und sah zu den erleuchteten Fenstern hinauf, ohne sie zu sehen. Denn das Haus würde immer dunkel sein, von jener Dunkelheit, die das Antlitz eines Toten hat, über dem die Leuchter brennen. Er wollte, ohne Hut und Mantel abzulegen, in sein Zimmer gehen, weil ihm war, als trügen auch sie den Glanz jener Stunde und er dürfte nicht getrübt werden durch die Gemeinschaft mit dem, was nichts als Sache und Bekleidung war.

Aber dann öffnete sich hinter ihm die Tür zum Speisezimmer, schmerzendes Licht in sein erschöpftes Gesicht schleudernd, und seine Tochter, eine Zigarette zwischen den nachsichtig lächelnden Lippen, rief, den knabenhaften Kopf in den hellen Raum zurückwendend: »Der Herr Papa!«

Van den Berge, im Dunkeln gleich einem Ertappten stehend, sah mit fremden, fast widerwilligen Augen auf die hochmütige Biegsamkeit ihrer Gestalt, auf ihre aufreizende und erbitternde Sicherheit, über der die Kälte und Schärfe des Stahles bläulich zu schimmern schien, und an ihr vorbei in das Innere des Raumes, wo seine Frau und sein Sohn am Tisch saßen. Das weiße Tuch war bedeckt mit den Resten der Festlichkeit, mit halben Torten, Früchten, Süßigkeiten, Weinflaschen. Die Luft war erfüllt vom Rauch der Zigaretten, und in allem diesem, in der leeren Heiterkeit der müden Gesichter, in Haltung und Gebärde, mit der sie den Kopf wandten, lag ein Hauch von Unordnung, von Aufgelöstheit, schläfrigem Behagen und satter Sicherheit des Lebens.

»Der Herr Papa,« sagte auch sein Sohn und ließ kunstvolle Rauchringe nach jener Stelle rollen, wo die lichtüberfallene Gestalt noch immer schweigend stand.

»Möchtest du uns nicht begrüßen?« fragte Frau Irma. »Oder willst du dich im Entree etablieren?« Ihr Lächeln war ein wenig zu spöttisch und die Wendung ihres Kopfes ein wenig zu nachlässig, als warte sie auf die Antwort eines Dienstboten nach einer unwichtigen Frage.

»Sie sind doch gestorben,« dachte van den Berge, »die beiden in ihrer Grabkammer ... und ihre Füße werden schon kalt werden ... und weshalb ist es denn hier so hell und so laut? Weshalb sind sie so satt und so hochmütig, wenn ich vom Tode komme? Geht es sie denn nichts an, daß ein fremder Mensch meine Tränen gesehen hat? Sie ging es doch an ... weshalb friert mich denn hier so?«

Er trat auf die Schwelle und sah mit traurigen Augen in die verwunderten Gesichter. »Wie ihr dasitzt,« sagte er leise, »als ob es keine Nacht auf der Erde gibt ...«

»Hat der Herr Papa sich etwas übernommen?« fragte der Sohn mit verletzender Teilnahme.

Aber seine Mutter schob mit einer Handbewegung das Wort gleichsam zur Seite, wobei sie nicht unterließ, das Licht auf die Steine ihrer Ringe fallen zu lassen. »Mein lieber Wolfram,« sagte sie ruhig, »du weißt wohl nicht, daß du ein wenig komisch wirkst. Warst du in einer Kirche oder in einer Bußversammlung?«

»Ich war im Theater,« erwiderte van den Berge. »Sie wurden lebendig begraben ...«

»Aida,« lächelte seine Tochter. »Es ist dem guten Papa ein wenig auf die Nerven gegangen.«

Ihr Bruder griff nach der Flasche. »Nimm einen Kognak, alter Herr. Alle Menschen müssen sterben.«

»Du mußt dich nicht lächerlich machen, mein Lieber,« sagte Frau Irma milde. »Schließlich sind wir doch keine Kinder oder Dienstboten, die eine Liebesgeschichte mit ihren Tränen tränken. Leg' deine Sachen ab und setze dich noch ein Weilchen zu uns. Die Wiener Torte ist sehr schön, und wir waren so vergnügt ...«

»Ich will noch arbeiten,« sagte van den Berge und ließ seine Augen grübelnd über die Gesichter gleiten. »Laßt euch nicht stören ... gute Nacht.«

» As you like it,« sagte Frau Irma achselzuckend.

Ihr Lachen klang durch die geschlossene Tür hinter ihm her. Es war kein hartes und böses Lachen, es war nachsichtig, vielleicht sogar gütig, überlegen und ohne allzuviel schweres Gewicht. Aber es war nicht Schweigen, nicht bestürzte Trauer, es war die lächelnde Abwehr gegen einen leicht Berauschten, gegen einen Landstreicher, einen Bettler, gegen etwas Komisches und Fremdes, das sich ein wenig zudringlich in eine saubere Straße drängte. Und es ging mit ihm mit bis in die Stille seines Arbeitszimmers und tropfte leise in die Schale der Trauer und der Scham, die er auf seinen Schreibtisch stellte wie etwas, was er in jenem hellen Raum empfangen und mitbekommen hatte statt eines Brotes oder einer lächelnd gereichten Münze.

Er saß vor der grünen Arbeitslampe, die Hände gefaltet, und sah mit einem stillen Gesicht vor sich hin. Es standen ein paar Bücher auf der dunkel spiegelnden Fläche, eine kleine Vase mit den ersten Veilchen des Jahres und eine Reihe von Photographien. Es war der schmale Kopf seines Vaters mit den kindlichen, ein wenig traurigen Lippen, die feste und fast sorglose Sicherheit und Klarheit in dem Gesicht seiner Mutter und dann die Bilder von Frau und Kindern. Er sah sie lange an, eines nach dem anderen, beugte sich vor, um sie in die Hand zu nehmen, ließ es aber, als er das kühle Glas berührte.

Er sah sie an wie Bilder in einem fremden Album, die man in Wartezimmern betrachtet, bevor man gerufen wird. Er ließ seine Augen ohne Rückhalt in ihrem schweigenden Leben versinken und wartete, daß sie sprechen würden. Aber schließlich kehrten seine Augen immer wieder zu dem Gesicht seines Vaters zurück, ja sie bargen sich in seinem traurigen Lächeln, dem weisen, gütigen Lächeln eines alten Mannes, vor der Fremdheit der anderen Gesichter, wie die Hand eines Kindes aus der kühlen Gefahr einer Menge nach der Hand des Vaters oder des großen Bruders tastet.

»Wie seltsam das ist,« dachte van den Berge, »soviel Fremde in meinem Zimmer und auf meinem Tisch ... man hat sie hereingelassen unter einem vorgetäuschten Namen, unter meinem Namen, den sie lächelnd und selbstverständlich angenommen haben. Und nun haben sie das Hausrecht gewonnen und bleiben und gehen nie mehr fort ...«

Es wurde ihm bewußt, daß er diese Bilder zum erstenmal in seinem Heim betrachtete, daß er mit einer schrecklichen Gedankenlosigkeit über sie hingesehen hatte, weil er sie doch kannte und lebend umfing. Aber nun, hinter dem kalten Glase, sah er plötzlich das Unbekannte wie leere Flecke auf einer Karte. Da war der Mund seiner Frau, den er geküßt hatte zu tausend Malen, in der Sehnsucht, im Schmerz wie in der Erfüllung, und auf den er nun herniederstarrte wie auf eine Erscheinung. »Mein Gott,« dachte er, »was tue ich?« Und er sah sich plötzlich um, als rühre es sich heimlich in den dunklen Ecken und als werde eine Hand im Raume da sein und auf die grünen Wände schreiben, ein grauenvolles Wort, ein Wort der Erkenntnis und des Gerichtes, ein Wort, das ihn stürzen und zerschmettern werde, aus der angemaßten Sicherheit eines Betrügers oder eines Nichtswissenden, vor die Türen hinaus, wo die Bettler und die Entlarvten stehen.

Er sah die Bilder seiner Kinder an, sein eigen Fleisch und Blut, und erschrak, weil sie sein eigen waren und somit Spiegel seiner eigenen Fremdheit. Da waren dunkle Stellen, die nicht zu lesen waren, und Stellen, die fremd und drohend zu ihm aufsahen, Linien des Hochmuts und der Trägheit, des Spottes und der Sattheit.

Und er erschrak vor seinen Kindern wie vor einem Spiegel an einer dunklen Wand.

Und immer wieder kehrte er gleich einem geängstigten Kinde bei dem Gesicht seines Vaters ein, bei diesem wissenden und traurigen Lächeln, das er heute zum erstenmal sah. Und er hielt das Gesicht seines Sohnes neben das Ahnengesicht und erschrak von neuem vor der Dunkelheit des Weges, den sein Geschlecht zu gehen schien, und sah sich wieder um im lautlosen Raum, als sei er in ein falsches Haus geraten und man habe die Tür hinter ihm geschlossen.

Es war schon spät, als Frau Irma hereinkam und sich mit etwas betonter Unbefangenheit auf das Ruhesofa setzte. Sie sah, daß er nicht arbeitete und erschrak ein wenig. Krankheit war störend in der Angespanntheit ihres gesellschaftlichen Lebens, und es war auch etwas in seinen Augen, das sie durch das Kleid der Gewohnheit hindurch bedrückend berührte.

»Was ist es denn, Wolfram?« fragte sie leise. »Hast du Ärger gehabt, oder ist es wirklich nur diese dumme Operngeschichte?«

Er hörte ihre Stimme, und das Dunkle und Gütige ihres Tonfalls überbrückte noch einmal Fremdheit und Bestürzung der letzten Stunden, aber dann empfand er mit der Hellsichtigkeit eines Sterbenden die Güte der Worte nur gleich einer Insel in einem grauen Meer. Ärger und dumme Operngeschichte, das war das Mögliche, das Zureichende. Weshalb fragte sie nicht, ob er traurig sei, ob das Herz ihm weh tue, ob er Leid trage um sein Leben oder um einen Menschen? Weshalb war es dumm, sich erschüttern zu lassen vom Tode, auch wenn es nur ein gespielter Tod war? War es wirklich eine Angelegenheit der Kinder und Dienstboten?

Er sah sie an und versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. »Hast du meinen Vater eigentlich lieb gehabt?« fragte er unvermutet.

»Wie komisch du heute bist,« erwiderte sie aufmerksam. »Deinen Vater? Gott, weißt du, wir paßten eigentlich nie recht zusammen. Er hatte so ein merkwürdiges Lächeln, siehst du. Ich zeigte ihm einen neuen Hut oder ein Kleid oder empfahl ihm ein Buch, ein Theaterstück, und er lächelte. Nicht gerade ironisch, aber so ... er nahm mich nie ganz ernst. Ab und zu, während wir verlobt waren, gingen wir spazieren, aber wir hatten immer verschiedenen Schritt. Wenn er stehen blieb, wollte ich weitergehen und umgekehrt. Er konnte über die Gegend reden, wo wirklich nichts da war, oder über ein Kind mit schrecklich schmutzigen Händen oder einen verwahrlosten Hund. Er nahm alle langweiligen Dinge so wichtig, und, weißt du, ich glaubte immer, daß er mich etwas aushorchen wollte. Er hatte immer ein Lot in der Tasche und wollte meine Tiefe ausmessen. Er gönnte dich mir nicht recht ... Aber weshalb fragst du danach?«

»Ich habe eben sein Bild angesehen ... es kommt manchmal so, daß man etwas zum erstenmal ansieht ... Bist du manchmal traurig, ganz ohne Grund? Hoffnungslos traurig?«

»Du mußt ein paar Wochen Urlaub nehmen,« sagte sie mit sanfter Überredung, »wenn es dir in deiner Karriere nichts schadet. Wer ohne Grund traurig ist, ist immer krank. Wo sollten wir wohl hin, wenn ich mir diesen Luxus leisten wollte? Denke, wenn es allen Regierungsräten plötzlich einfiele, traurig zu werden? Oder gar den Regierungspräsidenten? Das ist doch eine groteske Vorstellung. Von Dichtern sagt man es ja ab und zu, aber wir wollen doch in der wirklichen Welt bleiben, nicht wahr? Traurig? Mein Gott, wir müssen alle verzichten und tragen, aber wir sind doch nicht mehr im Alter der Primanerliebe, Wolfram.«

»Ja,« sagte er, an ihr vorbeisehend, »ich will es mir überlegen ... es sind natürlich die Nerven ... außerdem hat man mir zu verstehen gegeben, daß ich zum Herbst die Beförderung zu erwarten hätte ...«

»Wolfram! Und das sagst du mir jetzt?«

»Man soll noch nicht darüber sprechen, und wenn die Kinder es erst wissen ...«

»Mein Gott, und das erzählst du so nebenbei! Wenn du gesehen hättest, wie Frau von Uechtritz heute die höhere Gehaltsstufe markiert hat. Es war skandalös und eben nur durch ihre erschütternde Dummheit zu erklären ... und nun, in einem halben Jahr ...«

Frau Irma war beseligt, und Reisen, Anschaffungen, Gesellschaften hißten wie Traumschiffe ihre blühenden Segel und glitten aus dem Dämmerdunkel ihres Platzes leuchtend durch den stillen Raum auf die offenen Meere der Zukunft.

Van den Berge, den Kopf in die Hand gestützt, sah auf das traurige Lächeln seines Vaters, sah zurück durch die Wände seines Hauses, auf seine Studienzeit, in der er die letzten Gedichte geschrieben hatte, die Gedichte jener »dummen Traurigkeit«, auf seine Kinderjahre mit der leisen Angst der Hände, die nach der Hand des Vaters gegriffen hatten, auf die leuchtende und schwermütige Unendlichkeit der Vergangenheit, die immer dagewesen war, mit jedem Herzschlag wachsend, aber die verschüttet worden war unter den Sorgen des Berufes, unter der Ehe, der Abspannung der Tage. Und nun war sie da, ein verstaubtes, gedunkeltes Bild in einer Bodenecke, auf das plötzlich ein Strahl der Sonne fiel.

»Wenn man stirbt,« dachte er, »dann soll es so sein. Bilder der Kindheit, lange begraben, und dann fließen sie wie eine Perlenschnur durch die Hände, und zwischen zwei Atemzüge preßt sich ein ganzes gewesenes Leben ... ob es die Palmen waren im blauen Licht, oder die Sterne, oder die Wüste, über die der Mond emporstieg ... Ganz blau waren ihre Augen ... nur bei den Blumen gibt es solch ein Blau, an den Ufern der Wiesenbäche oder an stillen Waldrändern ... und die Lippen waren so schmerzlich gefaltet wie bei Mädchen, wenn der Geliebte mit einer anderen vorübergeht ...«

»Du hörst ja gar nicht zu?« sagte Frau Irma mit nachsichtiger Fröhlichkeit.

»Es war alles so blau ...« erwiderte er abwesend, »die ganze Luft und der Pharaostrom ... es muß sich viel leichter atmen dort ... die Lungenkranken gehen ja auch nach Kairo ... aber in die Kammern müssen sie allein gehen ... keiner geht mit ihnen ... es ist so schön, zu denken, daß es einmal so etwas gegeben hat ... es ist so wie der Kreuzestod, ein Trost bis an das Ende der Welt ...«

»Du bist ein Narr, Wolfram, hörst du? Der Oberregierungsrat van den Berge ist ein Narr!«

Und lachend ging sie ihm in das Schlafzimmer voraus.

Es war van den Berge wenig mehr anzumerken als ein leiser Schatten unter den ermüdeten Augen und eine nachdenkliche Schweigsamkeit. Er wich Gesprächen aus, und seine Blicke hingen an einem unsichtbaren Bild. Er blieb länger in seinen Diensträumen, als es nötig gewesen wäre. Er saß vor seinem Schreibtisch, die Hände müßig gefaltet, oder er hielt das Adreßbuch auf den Knien und schlug die Seiten spielerisch um, Namen auf Namen flüchtig durchlaufend, der Nutzlosigkeit seines Tuns sich klar bewußt aber ebenso einer geheimnisvollen und wunderbaren Möglichkeit, und so aus einer leisen Absicht hinübergleitend in ein halb trauriges, halb beglückendes Spiel, gleich wie ein Kind den Sand des Meeres nach einer verlorenen Münze durchwühlt und schließlich, dem Unmöglichen sich beugend, den warmen Sand durch seine Finger rieseln läßt, vom Glück des Zwecklosen eingehüllt und hinübergetragen in die Schmerzlosigkeit des Vergessens.

Er nannte, was er erlebt hatte, die »blaue Stunde«, und sooft seine Gedanken zu ihr zurückkehrten, kehrte auch das Gefühl dieser Stunde zurück, die ganz einmalige Mischung aus einem schmerzlichen Glück und dem tiefen Erschrecken vor der Enthüllung des Lebens, etwas, was er als »Brückengefühl« bezeichnete, hoch über einem Abgrund und mitten zwischen zwei Reichen. Und da weder Amt noch Stellung noch Lebensalter eine Auflösung seines Wesens ins rein Gefühlsmäßige zuließen, begann er mit seinen neuen Augen auf das Vergangene und Gegenwärtige zu blicken, nicht als ob er der Regierungsrat van den Berge sei, sondern als ob er der Mensch Wolfram sei, ein Mensch von vierzig Jahren, der in wenigen Wochen zu sterben und vor Gott zu treten habe, um Rechenschaft abzulegen über das Gewesene, nicht über Amt und Würden und die Behütung oder Zerstörung der ihm anvertrauten Leben, sondern über seine eigene, von niemand gekannte Seele.

Und er erkannte, daß er seine Tage zugebracht hatte wie ein Geschwätz, heimlich über das Kind in seiner Seele gebeugt, dem er den Mund mit sorglichen Händen verschlossen hatte, daß sein leises Weinen niemanden störe oder erschrecke.

Van den Berge fühlte, daß er auf einer Brücke stand, aber erst als er eines Abends ein Blatt auf seinen Schreibtisch legte und es mit Versen bedeckte, mit Versen, die von einem blauen Lande sprachen und erfüllt waren von jener »dummen Traurigkeit«, wußte er, daß ihm das Leben schwer werden würde in aller Sicherheit des Äußerlichen und daß der Boden ihm leise entglitt, als sitze er behaglich in einem fahrenden Zuge und der ferne Horizont gleite auf eine seltsame Weise vorbei und aus dem Gesichtskreise hinaus.

Eine Woche nach jenem Abend wurde die Aufführung der »Aida« wiederholt, und van den Berge bestellte telefonisch einen Platz in der gleichen Loge. Er nannte dem Fräulein vom Amt die Nummer, und während er den Hörer in der Hand hielt und auf die Stimme aus dem Kassenraum wartete, fühlte er mit einer kalten Gewißheit, daß er in diesem Augenblick, der nach Herzschlägen zählte, in das Rad seines Lebens griff und die rollenden Speichen herumriß auf den Weg einer dunklen Gefahr, auf dem weder der Staub der vielen stand noch die Wegweiser des Gesetzes. Er erkannte es nicht nur an dem Zittern seiner Hand, aber er fühlte auch in einer gläubigen Bestürzung die Unerbittlichkeit dieses Rades, fühlte sich gleich einem fallenden Stein, den eine Hand losgelassen hatte, nicht seine eigene, sondern eine unbekannte und unsichtbare Hand, und ließ sich fallen in einer dumpfen Geborgenheit, als falle er in die ausgebreiteten Arme seines Vaters, der unten stehe und ihn lächelnd auffange aus einem spielenden Sturz.

Und dann bestellte er ruhig die Karte und legte den Hörer wieder in die Gabel.

Er hatte gewußt, daß sie da sein würde, und drei Stunden lang saß er unbeweglich auf seinem Platz, in einer Geborgenheit ohnegleichen und des Ausgangs ohne Zweifel gewiß. Er fühlte mit einer tiefen Dankbarkeit, daß in der Wiederholung nichts von dem blauen Licht verblaßte, nichts von der Erschütterung der Sterbestunde, und als es zu Ende war und sie an ihm vorüberschritt, bedurfte es keiner Überwindung und keines Mutes, um zu sagen: »Ich danke Ihnen.«

Sie war nicht verwirrt, und alle Gezwungenheit menschlicher Begrenzungen, die der Augenblick hätte enthalten können, war aus ihrem Antlitz ausgelöscht. »Weshalb leiden Sie so?« sagte sie nur.

Er machte eine Handbewegung nach dem Vorhang und über den Zuschauerraum hin. Er wollte sprechen, aber seine Lippen formten nur lautlose Worte. Erst als sie eine Bewegung machte, als ob sie gehen wollte, sagte er mit der unschuldigen Gläubigkeit eines Kindes: »Sie dürfen mich nun niemals mehr verlassen.«

Sie sah ihn lange und mit leiser Besorgnis an wie einen geliebten Menschen, der im Schlafe seltsame Dinge spricht, und wandte dann den Kopf in den Zuschauerraum hinaus. »Was für ein Leben müssen Sie geführt haben,« sagte sie langsam, »daß Sie so etwas sagen können ... wir wissen nichts voneinander ... das Gesetz befiehlt, daß wir nicht miteinander zu sprechen haben, bevor eine Vorstellung erfolgt ist, ein gesellschaftlicher Rahmen, bevor alle Schutzmaßnahmen getroffen sind, die der Mensch gegen den Menschen errichtet hat ... und wir stehen hier und bleiben weiter stehen ... und ich fürchte mich weder, noch bedaure ich etwas ...«

»Es ist die blaue Stunde,« sagte van den Berge. »Jener Strom und die Sterne über der Wüste, und daß man nun sieht, wie man gelebt hat, und weiß, daß niemand in die Grabkammer kommen wird ... so einfach kann Gott sein, wenn er uns etwas sagen will ...«

»Sie löschen das Licht,« mahnte sie, aber es war so, daß er es nicht als eine Unterbrechung seiner Worte empfand.

»Sie werden uns einschließen,« erwiderte er mit einem Schimmer der Fröhlichkeit über seinem Gesicht, »in eine große Kammer des Todes, wie jene beiden dort unten ...«

»Wozu noch einige kleine Voraussetzungen fehlen würden,« meinte sie lächelnd. »Wollen wir also lieber gehen.«

Es war van den Berge, als erstrahle der Vorraum in einem herrlichen Licht, als seien die Teppiche weicher, die Wandbespannungen leuchtender geworden, als schritten sie nicht vor die leeren Garderobentische und die müden Gesichter der wachehaltenden Frauen, sondern ohne Übergang auf einer leise schwebenden Brücke in die Wunder des blauen Landes, an das andere Ufer des heiligen Stromes, hinaus aus allem gewesenen Leben in eine unfaßbare Seligkeit des Kommenden.

Sie gingen zusammen die Treppen hinunter und traten auf den erleuchteten Vorplatz hinaus. Nebel hing um die Laternen, und der letzte Schnee tropfte von den Dächern. Sie blieben stehen, leise erschauernd vor der Wirklichkeit einer veränderten Welt. Mit einer schrecklichen Plötzlichkeit fiel die tiefe Trauer dieser Wirklichkeit über sie wie über Kinder am Sonntagabend, und als die erste der drei Türen hart und klirrend hinter ihnen geschlossen wurde, schraken sie zusammen und sahen einander an. Und obwohl van den Berge größer war als sie, schien es, als sähe er zu ihr auf und warte auf sein Schicksal.

Sie sah in den Nebel hinaus, über die lärmenden Gruppen der Menschen hinweg, und eine Falte angestrengter und schmerzlicher Anspannung erschien zwischen ihren geraden Brauen. Dann lösten sich alle Linien ihres Gesichtes, und als sie den Kopf zurückwandte, war es, als reiche sie mit einem freien und unverstellten Entschluß ihr Leben in seine Hände. »Wir müßten Abschied nehmen,« sagte sie, »wie gehorsame Diener, die zurückzukehren haben. Und würden Parzival sein, ohne den Mut zur Frage. Aber ich will es nicht sein, und Sie sollen noch ein wenig bei mir bleiben.«

Sie gingen vor die nahen Tore hinaus, wo die Straßen leer und gleichsam schicksalerwartend unter die Sterne liefen. Die farbigen Strahlenkreise der Laternen hingen unbeweglich im Nebel, bis weit in das Land hinaus. Nur die nächste Nähe war wirklich, voller Zutrauen und lebendiger Gewißheit, alles andere war wie ein graues Meer ohne Raum und Zeit, von trauriger Ferne der Leuchtfeuer weglos beglänzt. Verstohlenes Rieseln füllte die Welt, und hoch in den Lüften öffnete sich mitunter Bewegung, wie Echo ganz ferner Vogelzüge, die unter unsichtbaren Sternen mit feuchten Schwingen durch den Nebel brachen.

Auf diesen Straßen sprachen sie von ihrem Leben. Es war keine Wand zwischen ihnen, keine Scheu und keine Ferne. Sie lauschten jeder auf des anderen Worte in einer feierlichen Beglänztheit der Empfängnis, und da das geringste Wissen um die fremde Seele ihnen gleich einer Offenbarung war, war das große Wissen, das sie gewannen, von der betäubenden Süße eines Opfers oder einer göttlichen Enthüllung.

Van den Berge, indem er von seinem Leben sprach, fühlte sich gleichsam selig zurückgeschleudert an den Ursprung seiner Kindheit, fühlte die erlösende Entfesselung einer zweiten Geburt und lief von neuem die bunten Wege seiner Jugend nach einem glücklichen Ziel. Und da er gleichzeitig ein Zuschauer seiner selbst war, aus der Gewißheit der Gegenwart heraus, milderte alles Schwere sich zur Sanftheit des Überwundenen, erhellte alles Schöne sich zum Strahlenden des Unverlorenen. Er unternahm keine Wertungen, er ließ alle Maßstäbe fort, er rechnete nicht und schloß nicht ab. Aber indem er von der Speise seines Lebenstisches lächelnd berichtete, konnte er nicht vermeiden, daß seine Worte gleichsam hungrig waren und daß in seinen Augen, die in die Ferne des Nebels gingen, die verhüllte Qual eines Dürstenden erschien. Er empfand die Hingabe ihres lauschenden Schweigens gleich der Hingabe eines Instruments, dessen Töne auf seine Hände warteten. Er sah die Klarheit ihres Profils gegen die matte Helligkeit des letzten Schnees und sah jedes seiner Worte unaufhörlich an ihm formen, an Linie, Beugung, Licht und Schatten. Er sprach seine Worte in einen Schrein hinein, und er wußte, daß sie die schimmernden Türen lautlos schließen würde, wenn er geendet hätte.

Und dann, ein wenig beschämt, fragte er nach ihrem Leben. Sie war zweimal verheiratet gewesen und zweimal geschieden worden. »Ich fand nicht, was ich suchte, und gab nicht, was man erwartete,« sagte sie nur. Und somit sei sie nicht ohne Schuld gewesen. Und nun warte sie. Sie wolle es gar nicht verbergen, daß sie warte. Nicht etwa auf die Ehe. Die Ehe sei keine Einrichtung für die Suchenden. Aber sie warte auf einen Menschen, wie ein Vogel in raumloser Luft auf einen Baum warte, auf die blühende Sicherheit eines Zweiges, der ihn empfange. Sie warte auf einen Zweig für ihre Seele. Das Körperliche lasse sich verschenken und ohne zu großes Bedauern des Irrtums wieder zurücknehmen. Aber der Irrtum der Seele sei dazu angetan, den Menschen zu zerbrechen und ihn stürzen zu lassen in Bitterkeit und Verachtung. Nein, sie lebe gar nicht besonders einsam, habe Geselligkeit, Reisen, Tätigkeit und müde Hoffnungen, aber sie wolle nicht verhehlen, daß ihre Seele friere. Nicht ungestraft sei eine Frau kinderlos. Und sie bekenne ohne das übliche Spiel bewußter Scham, daß sein Gesicht an jenem Abend sie erschüttert habe wie ein Gesicht hinter einem Gitter, weil aus den Hintergründen eine Seele aufgestanden sei und unter Mißachtung menschlicher Formen auf eine leere Straße heruntergerufen habe, ja, daß sie geschrien habe um Hilfe in der schauerlichen Einsamkeit ihrer Menschennacht.

Es schlug zwölfmal von den Türmen, als sie zurückkehrten. Er begleitete sie bis an ihr Haus und bat, sie wiedersehen zu dürfen. »Ich wäre traurig gewesen,« erwiderte sie, »wenn Sie es nicht gesagt hätten, und ich will es gerne tun ... aber Sie müssen die Formen ein wenig überlegen, nicht meinetwillen, aber Ihretwillen.«

Er sah in plötzlicher Ratlosigkeit die leere Straße hinab, als komme das Morgen ihm dort aus dem Nebel entgegen. »Ich weiß noch nicht,« sagte er endlich, »aber das nächste Mal werde ich es wissen.«

Sie lächelte, nicht ohne Schmerzlichkeit, und dann verabredeten sie für den übernächsten Tag eine Fahrt mit der Straßenbahn und einen Gang durch den Wald. Sie erfuhren einer des anderen Namen, aber es schien ihnen nicht viel mehr als ein tönender Klang, durch Willkür mit dem Lebendigen ihres Daseins verbunden und ablegbar gleich einem zu vertauschenden Kleide.

Doch setzte van den Berge leise hinzu, daß er nicht adlig sei und ihr das sagen müsse.

»Weshalb halten Sie so wenig von sich,« fragte sie, »daß Sie mir das sagen? Wenn wir dort säßen, auf den Sandhügeln unter dem blauen Mond, würden Sie es dann auch sagen? Wollen wir nicht versuchen, namenlos zu leben? Nur mit unserer Seele?«

Van den Berge ging im Schatten dieser Frage heim, und in der langen Zeit, bis der Schlaf kam, bedachte er, vor wessen Menschen Auge er bisher namenlos gelebt hätte, nicht Regierungsrat, nicht van den Berge, nicht Wolfram, nur eine Seele, eine einmalige und heilige Seele auf dem Wege zur Himmelstür.

Er wußte es nicht. Aber ein leises Gefühl der Ungerechtigkeit bedrückte ihn vor der Schroffheit so unerhörter Verneinungen, und mit der peinlichen Korrektheit bisherigen Lebens ließ er einen Menschen nach dem anderen vor seine Seele treten, alle Gespräche, Beziehungen, Verhältnisse prüfend, bis die Reihe sich zu verwirren begann und er zwischen Furcht und Erlösung fühlte, daß der Schlaf kam und ihn der Entscheidungen enthob.

Er schob das Gespräch bis zum nächsten Abend hinaus, von einer leisen Besorgnis zurückgehalten, aber darüber hinaus gleichsam von einer keuschen Scham erfüllt, einen zarten Besitz zu verkünden, einen Schleier zu heben, der eine andere Seele bedeckte, und vor kühl lächelnde Augen zu rücken, was nur der blauen Stunde angehörte und Schonung vor dem Tage verlangte.

Doch überlegte er, daß durch Verschweigen ein falsches Licht auf alles fallen könnte, weil das Laute und besitzlich Begrenzte menschlicher Satzungen im Geheimnis und im Schweigen das Böse sah. Auch fühlte er mit leiser Scham, daß es ihm an Mut gebrach, sich dem Bisherigen an Brauch und Gewohnheit ohne Übergang zu entziehen und daß die Verflechtungen seiner Seele mit dem Gelebten so unlöslich waren, daß auch das in Zukunft zu Lebende vom ersten Sichregen ab dem Gespinst verfiel.

Er machte es nicht geschickt, und die gewollte Harmlosigkeit und Gleichgültigkeit seiner Worte ließ Frau Irma aufhorchen und ihre etwas kühlen Augen prüfend auf seinem Gesicht verweilen. Sie saßen allein bei Tisch, und es war schon ein Fehler, daß er drei Zigaretten hintereinander rauchte, bevor er es sagte.

Er habe also neulich im Theater – Frau Irma notierte »neulich« als einen taktischen Fehler – eine Dame kennengelernt, eine Frau Charisius, eine Dame der Gesellschaft – zweiter Fehler –, die ihn geistig sehr interessiere und mit der er morgen einen kleinen Spaziergang machen wolle. Es würde ihm lieb sein, wenn bei passender Gelegenheit auch ein gesellschaftlicher Verkehr, im beschränkten Rahmen natürlich, sich einrichten ließe.

Er brach ab, weil Frau Irma lächelte, ein freundliches, gutmütiges Lächeln, das nicht frei war von Wissen und Überlegenheit.

»Weshalb lächelst du?« fragte er, und der Ton der Frage war wieder zu schwer für die gewollte Belanglosigkeit des Vorganges.

»Im Theater?« fragte Frau Irma erstaunt. »Damals, an dem komischen Abend?«

»Ja ... nein ...«, erwiderte van den Berge verwirrt. »Gestern abend war es.«

Das Erstaunen wuchs, ein lächelndes und künstlich gesteigertes Erstaunen. »Gestern warst du im Theater? Was gab es denn?«

»Aida,« sagte er leise, und seine Stirn begann in Scham zu brennen vor dem Verhör, dem er sich unterwarf.

»Aida,« wiederholte sie melodisch, »das Lied von Liebe und Tod ... seit wann ist van den Berge denn so gewandt in der Anknüpfung zarter Beziehungen?«

»Ich bitte dich, es nicht so mit mir zu besprechen,« bat er gequält.

»Mein Lieber,« sagte sie, sich bequem zurücklehnend, »du weißt, ich bin dafür, daß jede Sache ihren Stil bewahrt, der ihr zukommt. Wenn ein Mann im Theater eine ›Dame der Gesellschaft‹ kennenlernt und für den übernächsten Tag einen Spaziergang verabredet, so verträgt das nicht gut eine feierliche Behandlung, nicht wahr?«

»Nach welchen Maßstäben?« fragte er bitter.

»Nach denen, in denen wir erzogen sind, lieber Wolfram.«

»Und sie sind unantastbar richtig, meinst du?«

»Sie sind so lange richtig, bis man mir ihre Falschheit beweist und bessere an ihre Stelle setzt ... Aber wir wollen das nicht zu ernsthaft behandeln und uns durch die Ernsthaftigkeit lächerlich machen. Es ist sehr ehrenwert und korrekt von dir, mich über diese Dinge zu informieren, zu ehrenwert fast, denn soweit ich unterrichtet bin, pflegt ein Mann der guten Gesellschaft solche Affären mit absoluter Diskretion zu behandeln. Ich bitte dich also, daran zu denken, daß im Herbst deine Beförderung bevorsteht und daß du erwachsene Kinder hast und daß für beide Gesichtspunkte nichts schlimmer ist als Lächerlichkeit.«

Sein Gesicht war nun ganz finster geworden. »Was meinst du mit dem Lächerlichen?« fragte er, den Stuhl zurückschiebend.

»Damit meine ich, lieber Wolfram,« erwiderte sie mit fröhlichem Spott, »daß ein wenig an Don Quichote erinnert, wer auf diese Weise im Theater eine Dame der Gesellschaft kennenlernt, geistiges Interesse an ihr empfindet, zwei Tage später mit ihr lustwandelt, einen gesellschaftlichen Verkehr erwägt und ... seiner Frau das alles mit der Miene eines beseligten Dichterjünglings erzählt. Das meine ich. Daß der Oberregierungsrat van den Berge ein Narr ist, ein reiner Tor, für den man sorgen muß, damit er ein wenig vorwärtskommt und nicht in Traumgespinsten hängen bleibt ... So, mein Lieber, ich habe Frau von Uechtritz versprochen, noch für eine Stunde hinüberzugehen, um das Stiftungsfest zu besprechen. Du wirst wohl noch zu arbeiten haben oder zu träumen. Übertreibe beides nicht, du siehst nicht sehr gut aus in diesen Tagen. Also gute Nacht.«

Sie küßte ihn auf die Stirn, und ihr Lächeln war das einer Mutter über die Unschuld eines Kindes.

Erst vor seinem Schreibtisch, im Schein der grünen Lampe und der Lautlosigkeit des Raumes, überwältigte ihn die Bitterkeit einer traurigen Scham. Gleich Pfeilen hingen die Worte in dem zerschlagenen Schild seiner Seele, und langsam und fressend tropfte ihr Gift über seine Hände. Er fühlte mit unbestechlicher Gerechtigkeit, daß keine Böswilligkeit dahinter stand, keine Eifersucht, keine Vergiftung, aber er dachte klar genug, um sich zu fragen, wie es denn alles sein werde, wenn alles dieses einmal eintreten werde? Was seine Seele dann tun werde, wenn sie schon unter dem Wohlmeinenden zu bluten begann? Und im gleichen Augenblick fühlte er in einem schmerzlichen Glück, daß er das größere Leid um die andere trage, nicht um sich selbst. Daß man ein Heiligenbild verhöhnen wollte, das er enthüllt hatte, und daß er das schon einmal erfahren hatte, als ein Lehrer ein Liebesgedicht, das er in seinem Heft gefunden hatte, unter dem brüllenden Gelächter der Klasse mit hämischem Pathos vorgetragen hatte.

Noch immer zitterten seine Hände, wenn er daran dachte, und aus der Verknüpfung des noch kaum verklungenen Gespräches mit dieser Erinnerung gebar sich kaum merklich eine dumpfe Gereiztheit, ein Widerstand und eine leise Feindseligkeit gegen die Mauer, die vor ihm aus dem Nebel zu wachsen schien, lautlos auf ihn zugleitend, hinter der er Hände und Atem der Welt spürte, in der sein Leben verlaufen war, und die er zu hassen begonnen hatte, seit er die gemalten Palmenwipfel über dem gemalten Strom erblickt hatte und die zarte Falte in dem rückwärtstastenden Arm, die ihm als Gottes Offenbarung erschienen war und als eine Brücke von Fremdheit zu Fremdheit menschlichen Lebens.

Er nahm den Hörer von der Gabel und wartete auf die verlangte Verbindung. »Ja, hier ist Frau Charisius,« sagte eine nahe Stimme.

»Hier ist van den Berge, gnädige Frau, der Ihnen sagen wollte, daß er die Form gefunden hat, von der wir abends beim Abschied sprachen. Nein, das ist nicht richtig. Er hat sie nicht gefunden, sondern man hat sie ihm nahegelegt.«

»Das heißt, bitte?«

»Das heißt, daß die Art unserer Bekanntschaft ohne weiteres die Rubrik für ihre Einordnung gegeben hat. Die Rubrik des Namenlosen, wenn auch in einem anderen Sinne.«

»Sie meinen, des Anonymen?«

»... Ja ... verzeihen Sie mir.«

»Es tut mir leid,« sagte sie nach einer Pause, in der nur das leise Rauschen seltsamer Geräusche zwischen ihnen schwang. »Nicht für mich, aber für Sie ... Sie werden leiden ...«

»Auch dort wurde gelitten, in der dunklen Kammer,« erwiderte er leise, »und es kann wohl das Leid die Blüte des Glückes sein ...«

»Es ist noch Zeit,« sagte sie mahnend. »Wir könnten sagen, es sei ein Wintermärchen gewesen ...«

»Fühlen Sie, daß das Schicksal lächelt?« fragte er.

»Sie mögen wohl recht haben,« kam die leise Antwort. »Ich danke Ihnen, daß Sie es gesagt haben. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Von dieser Stunde ab flocht das Leben des Regierungsrats van den Berge sich in die Erbarmungslosigkeit eines rollenden Rades, aber nicht so, daß er diese Erbarmungslosigkeit als eine grausame und außer ihm stehende Macht empfand, die von der Höhe eines Berges Räder zu Tal laufen ließ, wie Kinder ihre Reifen laufen lassen. Sondern es war vielmehr so, als wären alle Motive, Stoßkräfte und Willenstriebe seiner Seele, die bisher im Dunkel unbewußter Räume eine geheimnisvolle Herrschaft geübt hatten, plötzlich durch eine seltsame Befreiung ins Helle getreten und hätten sich hier im klaren Licht des Tages zu der Form eines Rades gesammelt und verdichtet, ihn einschließend als einen natürlichen Mittelpunkt und als eine Achse der Bewegung, und drehten nun, immer schneller und schneller wechselnd, ihre Speichen zur blitzenden Fahrt, während er selbst im stiller bewegten Mittelpunkt, Treiber und Getriebener zugleich, sich in dumpfer Geborgenheit dem Rausch der Bewegung hingab, in dem das Gesetz sich offenbarte.

Van den Berge hatte das Schicksal aus dem trüben Nebel bisheriger außermenschlicher Vorstellung in den hellsten Raum seiner Seele aufgenommen. Er war sein eigenes Weltall geworden, Chaos und Schöpfung, Gott und Dämon. Er entsiegelte sich, furchtlos und gewiß, und er sah ohne Bangigkeit auf die geheimnisvollen Urkunden, die er entfaltete. Er hob sich gleich einem Gestürzten aus dem Staub der Straße, und während am Horizont die Spuren derer verloschen, die die Gefährten seiner verzerrten Jagd gewesen waren, ging er zur Seite auf das grüne Feld und sah wieder lächelnd und zwecklos hinaus auf das Spiel der Lichter, auf den Gang der Schatten und den Zug der Wolken. Er knüpfte sein Leben wieder an die abgerissenen und verwirrten Fäden seiner Jugend und flocht mit spielerischen und gläubigen Händen an dem Gewebe seiner selbst.

Er brauchte nicht mehr zu fragen, ob es gut oder böse sei, was er tue, erlaubt oder verboten, passend oder unpassend. Er wußte alles, denn er war seine eigene Lust und sein eigener Schmerz. Alle Sterne stiegen aus ihm selbst empor und sanken in ihn selbst zurück. Er war aller Ströme Quelle und Mündung. Er war sich Samen und Ernte, Diesseits und Jenseits. Er sah die Ferne nicht als ein Traumland der Blüten, sondern als eine Küste voll dunkler Gefahr, aber er wußte mit einer tapferen Gewißheit, daß er hinging, wo sein Gott ihm hinzugehen befahl, daß er aus der Hand aller anderen Götter hinausfallen, ja, aus ihnen ausgestoßen werden konnte, aber niemals aus der Hand seines Gottes. Er wandte sich aus allem Sollen und Dürfen und ging ein in die Heimat seiner selbst, in das große und einfache Müssen, das die blaue Stunde in ihm aufgepflügt hatte wie einen Schatz im Acker.

Sie breiteten ihr Leben voreinander aus, ehe der Staub auf dem Wege stand, den sie in jener Nacht gegangen waren, und empfingen es reicher und beglänzter wieder. Sie empfingen es als ein namenloses Leben, als etwas Unbekleidetes und Unentstelltes. Sie gruben das Kind aus der Verschüttung ihrer Jahre und vergaßen die wunden Füße ihrer Wanderungen. Sie waren durchleuchtet von der Anbetung des Heiligen, das sie ineinander sahen, und sie schoben die Schranken lächelnd beiseite, die die Gewohnheit des Gesetzes noch mit kühler Mahnung zwischen sie schob, weil das Paradies, in dem sie blühten, keinerlei Schranken kannte. Sie sprachen davon, daß Gott es so wolle und daß man Gott mehr gehorchen müsse denn den Menschen, und sie sprachen es ohne Irrtum und Täuschung, weil Gott nicht außer ihnen stand, sondern in dem Mysterium ihrer Liebe versunken war wie alles, was nicht umschlossen wurde von den Umrißlinien ihrer Körper und ihrer Seelen.

»Ich bin verloren an Dich,« sagte sie, ihre Augen über ihn hinaus wie in eine Ewigkeit richtend, »wie ich noch nie an einen Menschen verloren war. Wo meine Hände dich halten, halten sie deine Seele, und es ist mir, als hätte ich dich geboren, als mein einziges und unsäglich geliebtes Kind ...«

»Du verschwendest dich,« sagte er erschüttert. »Man darf nicht so lieben, ohne zu verbrennen ... nur in der Kammer dort, am blauen Strom, da durfte man es.«

»Mein Geliebter,« sagte sie leise, »in der Liebe muß man immer so leben, als wenn man vor dem Tode stände, denn niemals weiß man, wie lange Gott uns segnen will und ob er nicht schon eine neue Heimat sucht für seinen siebenten Tag, in einer Blume oder in den Augen eines Tieres ...«

Er sah in die unsägliche Klarheit ihres Gesichtes, aus dem alle Linien bisherigen Lebens gelöscht waren gleich Staub unter einem warmen Mairegen und in dem durch alle Hüllen hervorbrach, was Gott einmal mit ihm gewollt hatte. »Glaubst du, daß Gott schon wandern will?« fragte er.

Sie beugte sich über ihn, als suche sie in seinen Augen die Stufen der Treppe, auf denen sie niedersteigen könnte zu den letzten Wurzeln seiner Seele. »Wenn du deine Augen sehen könntest,« sagte sie, »wie ich sie jetzt sehe, dann brauchtest du nicht mehr zu fragen. Es sind die Augen eines erschreckten Kindes am Sonntag abend, und du weißt, daß der schwere Morgen für uns erst kommt. Noch leben wir im Paradiese. Wir leben nicht so, wie es uns angemessen ist. Wir leben kein namenloses Leben, sondern ein anonymes Leben. Aber das ist gleich, weil es für dich geschieht. Ich könnte ein Leben lang am Pranger stehen, nackt und beschimpft, wenn ich wüßte, daß in meiner Todesstunde dein Lächeln zu mir fände. Aber du denkst nicht daran, daß sie uns ausstoßen werden aus dem Paradiese, weil der Mensch nie duldet, daß Gott lebt und blüht und lächelt. Sie dulden nur, daß er in einem anderen gekreuzigt wird. Und dann ... dann wirst du zulassen, daß Gott wandert, weil ... o mein Geliebter, weil du nicht die Kraft haben wirst, dich kreuzigen zu lassen.«

»Marianne!« bat er.

Aber sie nickte nur durch den Tränenschleier ihrer Augen, und in ihrem Lächeln war die Wehmut der Lippen, an denen ein Becher vorübergeht, und die gewußt haben, daß er vorübergehen werde, um andere zu tränken.

Es geschah bald darauf, daß eines Abends Frau Irma in seinem Arbeitszimmer erschien und wortlos einen Brief auf seinen Tisch legte. Es war ein anonymes Schreiben, das unter der üblichen Maske wohlwollender Teilnahme anfragte, ob Frau van den Berge über die zarten, um nicht zu sagen intimen Beziehungen ihres Mannes zu einer Frau von zweifelhaftem Rufe unterrichtet sei, Beziehungen, die nachgerade stadtbekannt geworden seien und aller Moral ins Gesicht schlügen.

Van den Berge zog die Hände von dem Brief zurück wie von einem Ungeziefer. »Weshalb legst du das auf meinen Tisch?« fragte er und sah sie an.

Es fiel ihm auf, daß ihr Gesicht zugeschlossener geworden war als früher. Es war das gleiche Gesicht, aber es glich einem Hause, dessen Fenster man mit Vorhängen verhüllt hatte, als sei sein Bewohner auf eine weite Reise gegangen. Es stand weder Härte noch Traurigkeit in diesem Gesicht, nur eine schweigende Ablehnung, die eindringlicher sprach, weil er es nur geöffnet und lebensvoll gekannt hatte.

Sie stand noch immer neben seinem Tisch, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und ihre Augen sahen auf ihn nieder wie auf ein Buch, das jemand von ihr entliehen hatte und das sie nun beschädigt, mit leiser Entstellung und fremd geworden wieder unter ihre Bücher reihen sollte.

»Ich habe dich damals gebeten,« sagte sie mit kühler Sorgfalt in der Wahl ihrer Worte, »dich nicht lächerlich zu machen, denn ein Mann, der sich lächerlich macht, macht auch sein Haus lächerlich. Ich muß dich nun bitten, dein Haus nicht zu entehren. Das erste war eine Frage des Geschmackes, das zweite ist eine Frage der ... der Anständigkeit.«

Es gefiel ihr, daß er ein wenig blaß um die Lippen wurde, aber sie sah auch, daß ein unbekannter Schein in seine Augen trat.

»Du hältst meine Freundschaft mit einem edlen Menschen für entehrend, weil irgendein Lump es dir suggeriert?«

»Lassen wir doch bitte diese allgemeinen Humanitätsphrasen,« sagte sie abweisend. »Ich habe kein Interesse daran, den Umfang dieser Beziehungen nachzuprüfen, aber ich habe großes Interesse daran, die Summe meines Lebens nicht durch die Hand einer Fremden ausgestrichen zu sehen.«

»Einer Fremden?« wiederholte er, und sein Blick ging plötzlich versinkend über die Bilder auf seinem Tisch.

»Ja, so sagte ich. Weil ich die Worte so meine, wie sie sind, ohne die Symbole träumerischer Verstiegenheit und ohne die Geistesverfassung, in der man mit Begriffen und Worten nach Belieben spielt.«

»Und was willst du also?« fragte er mit der leisen Abwesenheit eines Fortgehenden.

»Ich will nicht, daß du diese Dinge bis morgen abbrichst. Wahrscheinlich bin ich zu vernünftig dazu ... nun, gleichviel ... aber ich will, daß du ihnen den Stil gibst, der ihnen zukommt. Den Stil des ... sagen wir eben, des Anonymen. Daß du nicht jemand gesellschaftlich behandelst, dem das Gesellschaftliche nicht zukommt. Und Oper, Spaziergänge, Besuche sind gesellschaftliche Dinge.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Ja, ich glaube, daß deine Harmlosigkeit nicht einmal dieses versteht. Ich wünsche nicht, daß deine Beziehungen sichtbar sind. Zu den gewünschten Zwecken gibt es, soviel ich weiß, den Begriff heimlicher Wohnungen. Studenten nennen es einfacher.«

Van den Berge schloß die Augen und saß wie ein Schlafender. In seinem Gesicht, zumal unter seinen geschlossenen Lidern und um die Lippen, war es, als verwelke gleichsam ein lebendiges Feld, das dort sein Leben lang in Halm und Frucht gestanden hatte, und werde zu einer leeren Stelle, nicht vom Geist gehalten, von der Seele, sondern nur vom Stofflichen der Natur.

»Du darfst nicht so sprechen, daß ich dich zu hassen beginne,« sagte er leise, und auch seine Stimme hatte sich ins Leere verändert. »Das darfst du nicht tun, denn ich strebe nicht danach ...«

»Ich bin immer ein klarer Mensch gewesen,« erwiderte sie ungerührt, »auch in meiner Sprache. Und wir sind oft geneigt, jemand zu hassen, nur damit wir uns nicht selbst verachten.«

Eine leise Bewegung seiner Augenlider verriet, daß er verstanden hatte. »Und wenn ich das alles nicht tue?« fragte er nach einer Weile.

»Dann werde ich nicht tun, was du erwartest und hoffst. Dann werde ich mich nicht scheiden lassen, sondern um mein Recht kämpfen.«

»Es gibt ein anderes Recht als das der Liebe?«

»Ja, es gibt ein Recht der Sittlichkeit, der Pflicht des Erworbenen.«

»So kann nach deiner Meinung eine Liebe unsittlich sein?«

»Ja, und die Leugnung dieser Dinge ist das erste Zeichen der Moralerweichung, die die Folge solcher Verhältnisse zu sein pflegt.«

»Noch eines,« sagte er nach langem Schweigen, immer noch mit geschlossenen Augen, »du hättest dich ohne Heirat nicht an mich ... verschenkt?«

»Bist du wahnsinnig?« fragte sie hart.

»So hast du deine Liebe verkauft,« sagte er leise. »Und wer verkauft, hat ein Recht, an den Kaufvertrag zu erinnern.«

Er schlug die Augen auf und sah sie unvermutet an. Es waren nicht die Augen eines Mannes, der ein schweres und fast ein gefährliches Gespräch zu führen hat, sondern die Augen eines Kindes, aus hilfloser Not zu einem Wunder aufgeschlagen. »Ich will mich loskaufen,« flüsterte er.

»Niemals!«

Sie drehte sich um, schroff, ohne die geringste überflüssige Bewegung und ging aus dem Zimmer.

»Merkwürdig,« dachte er trotz seiner Erschöpfung. »Sie ist nie anders von mir gegangen als wie aus einem Kinderzimmer ... sie müßte das Licht löschen, dann wäre es ganz, wie es sein soll ...«

Von diesem Abend an schlief Frau Irma bei ihrer Tochter, und in die Gesichter der beiden Kinder trat der Ausdruck einer befremdeten, ein wenig hochmütigen Wachsamkeit. Alle Tischgespräche gingen gleichsam über van den Berge hinweg, und seine Hineinbeziehung geschah mit einer Art von Herablassung, nicht unähnlich der, die gegen einen Hauslehrer angewendet wird oder gegen einen Anverwandten, der ein Examen zum zweitenmal nicht bestanden hat.

Marianne erfuhr von dem Gespräch und bat, nichts dazu sagen zu dürfen. »Ich denke nicht daran,« sagte sie auf seine befremdete Frage, »daß du mir einmal vorwerfen könntest, ich hätte dir schlecht geraten. Aber du sollst die Entscheidungen deines Lebens in deiner Hand behalten. Du sollst nicht von einer Frau zur anderen gehen, nicht von einem Ufer an das andere, sondern du sollst ohne Ufer in die blaue Wüste gehen und wie Christus mit deinem Versucher sprechen.«

»Wenn ich ewig ein Kind bleibe,« sagte er viel später, in ein anderes Gespräch hinein, »wirst du dann aufhören, mich zu lieben?«

Aber sie drückte nur sein Gesicht an ihre Brust und verbarg es unter ihren Händen. »Es muß selig sein,« sagte sie, »bis zu seinem Tode ein Kind dort zu halten ...«

Es trat nichts Gewaltsames in ihr Leben, keine Katastrophe im Stil eines Zeitungsberichtes, keine Entscheidung über Leben und Tod. Es ereigneten sich ein paar belanglose Dinge, anscheinend ohne Gewicht, aber es zeigte sich, daß die tastende Hand des Schicksals schwerer wog als der Schlag seiner geballten Faust.

Es war nicht lange nach diesem Gespräch, daß van den Berge um die Abendzeit nach Mariannens Hause ging. Es lag am Rande eines Parkes, und auf der unbebauten Straßenseite lief eine Allee breitwipfliger Kastanien, deren Kronen mit weißen Kerzen besteckt waren. Van den Berge, im Begriff, in den kleinen Vorgarten einzutreten, ließ seine Augen noch einmal im stillen Glück der Gemeinsamkeit über die leuchtenden Wipfel gehen und von dort auf die grünen Rasenflächen, aus denen der Gesang der Amseln wie eine selige Torheit sich in die Abendstunde hob.

Und mit diesem träumerischen, fast gesichtslosen Blick umfaßte er, sich zurückwendend, die dunkle Erscheinung zweier Menschen, im Schatten eines der ferneren Stämme fast verborgen, deren blaß verschwimmende Gesichter regungslos auf ihn gerichtet waren. »Ein Liebespaar,« sagten seine erwachenden Gedanken. Aber noch inmitten des zweiten Wortes empfand er ein kühles Frösteln zwischen seinen Schulterblättern und noch vor dem nächsten Herzschlag eine kalte Hand, die sich um seinen Atem spannte. Noch einmal glitt sein Blick nach den Rasenflächen zurück, die ohne Übergang düster und stumm geworden waren, und dann umfaßte er mit schonungsloser Deutlichkeit die Gestalten seiner Kinder.

Er war nicht fähig, Vermutungen aufzustellen, Zusammenhänge oder Folgerungen daran zu knüpfen. Denn der Augenblick der Erkennung überflutete ihn ohne Zwischengefühl mit einer Woge eiskalter Scham. Es war ein Reflexgefühl, ohne Begründung und Erkenntnis. Er stand nackt da, im dämmernden Abendlicht, aber von der Laterne des Hauses erbarmungslos bestrahlt, und die Augen seiner Kinder hingen bewegungslos, grauenvoll, entsetzlich an seiner Nacktheit.

Für jedermann wären Entscheidungen schwer gewesen. Für van den Berge gab es nichts als die mühsame Bewegung, mit der ein gelähmtes Tier sich in seiner Höhle verbirgt. Er schloß mit zitternden Händen die Haustür, ohne um sein Tun zu wissen, und stand dann, an das Geländer gelehnt, mit einem verzweifelten Lächeln, das sich sinnlos um sinnlose Worte formte.

Es verging eine lange Zeit, ehe er das erste Stockwerk erreichte, und als Marianne ihm öffnete, umfing sie ihn wie einen Kranken.

Er löschte das Licht in den Vorderzimmern und zog sie heimlich hinter die Vorhänge eines der Fenster. Dann deutete er mit der Hand hinaus. Erst als er sah, daß sie vor Angst zitterte und in sein Gesicht sah statt in die Richtung seiner Hand, erwachte er. »Die Kinder,« sagte er leise. »Siehst du sie?«

Nun erst ahnte sie den Zusammenhang, blickte flüchtig hinaus wie auf die Erscheinung eines Fieberkranken und zog ihn dann auf das Ruhesofa in der Tiefe des Raumes.

»War es das?« fragte sie.

Er nickte.

Sie sah vor sich hin mit dem strengen Antlitz, das ihr in Stunden der Not zu eigen war. »Hast du mit ihnen gesprochen, jetzt eben?« fragte sie, aber schon ihre Frage hatte einen hoffnungslosen Klang.

Er schüttelte den Kopf.

»Hast du Gewalt über sie ... soviel, daß dies das letzte Mal gewesen ist?«

»Marianne ... es war mir, als hätte ich keine Kleider ... wie sollte ich zu ihnen sprechen?«

Sie lächelte, das schmerzliche Lächeln des ersten Abends, und zog seinen Kopf in ihren Schoß. »Mein Armer,« sagte sie nur, »mein Armer ...«

Später, als sie sich niederbeugte, um ihn zu küssen, fühlte sie die leise Bewegung des Erschreckens um seinen Mund. Sie hielt inne und sah ihn im Dunklen an. »Sie sehen zu,« flüsterte er.

»Ich will mit dir hinuntergehen,« sagte sie nach einer Weile, »und ein Stück mit dir mitkommen. Dies darf nicht so sein.«

Es stand niemand mehr unter den Kastanien, und sie gingen schweigend vor die Stadt hinaus. Als van den Berge sich zum drittenmal während des Gehens umdrehte, legte sie leise ihre Hand auf die seine. »Du darfst das nicht tun, Wolfram,« sagte sie leise. »Es ist verboten wie im Märchen, und du kannst mich nicht mehr erlösen, wenn du es noch einmal tust.«

Das Wort erschütterte ihn, und er blieb stehen, den bestürzten Blick in ihren Augen verbergend. »Verzeih mir,« bat er. »Ich weiß, daß es eine Torheit ist, die Torheit eines Kindes, alles das, was heute war ... es wird nicht mehr sein ... noch heute werde ich mit ihnen sprechen.«

Sie atmete auf und küßte seine Hand. »Sie wissen nicht, was sie mit dir tun,« sagte sie nur.

Van den Berge, wiewohl von einem dumpfen Grauen erfüllt, stand in seinem Zimmer vor seinen Kindern und erklärte ohne jede Einleitung, daß er sie bei der nächsten Wiederholung in ihre Zimmer einschließen und, wenn das nicht genüge, aus dem Hause geben werde, in eine Pension in einer anderen Stadt. Spione seien dasselbe wie anonyme Briefschreiber, und man pflege mit ihnen nicht nach den Gesetzen der Ehre zu verfahren.

Sie empfingen das Gesagte wortlos, und in ihren Augen stand weder Hohn noch Empörung. Aber ihre Blicke wichen nicht eine Sekunde lang von seinem Gesicht, wie die Augen zweier Richter, die alles wissen, aber zu ihrem Wissen schweigen, bis es an der Zeit ist.

Und van den Berge war der erste, der den Blick niederschlug.

Er wies sie mit einer Handbewegung hinaus, und mit einem leisen Erschrecken fühlte er, daß er dieser Handbewegung selbst zusah.

Es geschah nun nichts Ähnliches mehr, aber in der Haltung der Geschwister trat eine Änderung ein. Van den Berge sah sie nur bei den Mahlzeiten, und während sie bisher zwanglos, selbst formlos schon auf ihren Plätzen gesessen hatten, bevor er eintrat, in irgendeiner lachenden, meist ein wenig lärmenden Unterhaltung begriffen, standen sie nun bewegungslos, feierlich, schweigend hinter ihren Stühlen und nahmen erst Platz, wenn er sich gesetzt hatte. Sie vermieden seine Blicke nicht. Vielmehr ruhten ihre kühlen Augen, ein Erbteil der Mutter, während der ganzen Zeit auf seinem Gesicht. In den Ausdruck des Richters hatte sich der des Arztes gemischt, eine beherrschte, sprungbereite, spähende Wachsamkeit, mit der man einen Verbrecher betrachtet, der die ersten Merkmale des Wahnsinns zeigt. Richtete er das Wort an sie, so zogen sie ein wenig befremdet die Brauen hoch, sahen einander an wie in der Erkenntnis einer falschen Diagnose und antworteten leise, mit aufreizender Höflichkeit, als gäben sie einem Bettler Auskunft, der sie auf der Straße anspreche.

Van den Berge glaubte während der ganzen qualvollen Minuten das Blut aus einer aufgerissenen Wunde an der Innenseite seiner Haut herabtropfen zu fühlen, und obwohl er sich zu gleichgültigen Gesprächen zwang, geschah es doch einmal, daß seine Hand sich so fest um das Wasserglas preßte, daß er die Scherben zwischen seinen blutenden Fingern hielt. Frau Irmas Gabel klirrte gegen den Tellerrand, aber ihr Sohn, kühles Erstaunen im hochmütigen Blick, hob die Hand nach der Klingel. »Bringen Sie dem Herrn Regierungsrat ein anderes Glas,« sagte er ruhig, als das Mädchen hereinkam.

Van den Berge stand auf und verließ das Zimmer. Auf dem Tischtuch vor seinem Platz verliefen ein paar Blutstropfen zu warmen, roten Flecken.

Die zweite Belanglosigkeit ereignete sich einige Wochen später. Eine Stunde von der Stadt entfernt zog ein schmaler Fluß durch das hügelige Land. Seine Ufer, von Natur bewaldet, waren, auch in der schönen Jahreszeit, einsam, und nur regungslose Angler und hin und wieder eine Gruppe badender Kinder pflegten das grüne, sonnenbeglänzte Bild zu unterbrechen. Van den Berge und Marianne waren oft in dem sicheren Frieden dieser Landschaft, gingen den schmalen Weg am Ufer entlang und saßen dann im Schatten eines Gebüsches über dem ziehenden Wasser, entbunden von der harten Wachsamkeit der Straßen, den Libellen zusehend, die an den Schilfspitzen standen, und die entspannten Stirnen zu dem Winde gehoben, der warm und spielerisch das Laub der Bäume bewegte.

Eines Tages nun, als sie von ihrem gewohnten Ruheplatz wieder zu den Schatten des Uferweges hinaufgestiegen waren, um nach der Stadt zurückzukehren und Marianne sich in leiser Trauer noch einmal wendete, schrie sie leise auf und klammerte sich mit beiden Händen um van den Berges Arm.

»Was ist?« fragte er erschreckt, der Richtung ihrer entsetzten Augen folgend.

»Ein Mensch,« flüsterte sie. »Ein Mann ... er stand dort am Wege, hinter dieser Fichte, und sah uns nach ... er verschwand im Walde wie ein Tier ...«

»Kleine Marianne,« sagte er tröstend, »wahrscheinlich war es ein harmloser Angler. Das Angeln ist hier verboten, und er wird sich ebenso erschreckt haben wie du ... aber ich will nachsehen.«

Er ging vorsichtig in das Unterholz hinein, von einer leisen Bangigkeit fröstelnd berührt. Der Wald stand schweigend, ein lautloser Widerstand gleichsam, und unvermittelt mußte er an die Gesichter seiner Kinder denken. Der Wind schwieg, und nur in der Ferne ging es leise über die Wipfel. Es war, als schließe eine Tür sich heimlich zu, und dann stand das Schweigen finster und gefährlich im erstorbenen Raum.

Er ging noch tiefer hinein, lauschte, vernahm seinen harten Herzschlag und kehrte dann, von einer dumpfen Unruhe erfüllt, auf den Weg zurück. »Es ist nichts,« sagte er, aber seine Augen flogen gequält in die Tiefe des Waldes, und noch zwischen seinen Worten lauschte er in die Stille hinein. »Wir wollen nun gehen, damit du dich nicht ängstigst ... wie sah er denn aus?«

Aber sie schüttelte den Kopf, hielt mit beiden Händen seinen Arm und ging schnell auf die große Straße zu, die zwischen Feldern und Hügeln nach der Stadt führte.

Als sie den schmalen Waldstreifen verlassen hatten, begann sie zu weinen, mit einer schrecklichen Qual in ihrem Gesicht.

Er zog ihren Kopf an seine Brust und streichelte ihr Haar. »Liebstes,« sagte er erschreckt, »du darfst dich nicht so ängstigen ... es ist doch nichts gewesen, hörst du?«

»O mein Geliebter,« sagte sie schluchzend, »es ist so schrecklich ... so namenlos schrecklich ...«

»Aber weshalb denn?«

»Sie hetzen uns, Wolfram ... sie werden uns zu Tode hetzen ...«

Erst vor der Stadt beruhigte sie sich und lächelte dann über ihre Torheit, aber als sie einander die Hände zum Abschied reichten, lag eine dunkle Angst in ihrer beider Augen, und als sie sich noch einmal umwandten, zu verschiedener Zeit, sahen sie beide, daß ihr Gang müde war, als beuge sie eine heimliche Last, die Last einer verbotenen Liebe. Und es half ihnen nichts, daß es nicht Gottes Verbot war, sondern das Verbot der Menschen.

Van den Berge vermied es nach Möglichkeit, in der Stadt mit Marianne gesehen zu werden. Doch beglückte es ihn wiederum, zusammen mit ihr eine Ausstellung zu betrachten, einen Vortrag zu hören. Es gab keine Schroffheit des Urteils bei ihr, kein starres Verneinen, nur ein hingegebenes, fast ehrfürchtiges Aufnehmen aller fremden Wesenheit, und wenn sie ablehnte, tat sie es nicht wie bei einem unsauberen, sondern nur wie bei einem nicht passenden Kleide.

Aber obwohl van den Berge diese Sanftheit als ein fast körperliches Glück empfand, war er, von Menschen umgeben, niemals frei von einer leisen Nervosität, einer heimlichen Gezwungenheit in Sprache und Gebärde, und seine Augen gingen unruhig im Raum umher, als müßten sie verborgene Feinde finden. Auch wählte er, wenn er sie dann heimbegleitete, abgelegene und dunklere Straßen und bat sie, einen kleinen Umweg auf sich zu nehmen.

Sie litt darunter, doch sprach sie niemals davon und versuchte nur, mit weichen Händen ihn unmerklich aus dem starren Geflecht eines ganzen Lebens zu lösen. Sie wußte wohl, daß er nicht dazu geschaffen war, Fesseln zu sprengen, aber daß er ihr dankbar entgegenkam, wenn er fühlte, wie ihre Hand an einem Knoten löste und daß er aufatmete, heimlich beglückt, wenn von der Erstarrung des Gewesenen wieder etwas dahinschmolz und das Eigene seines Menschseins darunter erschien.

Auf einem dieser Wege nun, bei der Heimkehr vom Vortragsabend eines auswärtigen Dichters, begegneten sie, innerhalb des hellen Lichtkegels einer Laterne, einem hochgewachsenen, sorgfältig gekleideten Herrn. Es war unverkennbar, daß er sie prüfend, dann mit leiser Überraschung ansah. Dann trat er höflich von dem schmalen Bürgersteig auf die Straße, wobei er sein Gesicht ohne erkennbare Ursache nach der anderen Seite wendete, als habe er dort etwas Bemerkenswertes gesehen, das alle Aufmerksamkeit verdiene.

Van den Berge, der den Schritt angehalten und eine Bewegung mit der rechten Hand gemacht hatte, ging schnell weiter, so daß Marianne Mühe hatte, neben ihm zu bleiben. Sie sah von der Seite auf sein Gesicht und sah, daß es blaß war, von tiefem Leiden fast entstellt.

»Wolfram,« sagte sie leise.

Er nickte nur, der nächsten Laterne ausweichend, und erst in der Kastanienallee vor ihrem Hause nahm er den Hut ab und atmete einmal tief aus seiner Verlorenheit auf. »Der Boykott beginnt,« sagte er finster.

Sie zwang sich zu einem Lächeln und streichelte seine Hand. »Liebster,« erwiderte sie, »die Passion zweier Menschen muß durch mehr Schmerzen gehen als durch dieses ...«

Aber er blieb wortkarg und verabschiedete sich an ihrer Tür.

Am nächsten Tage, nach dem Vortrag bei seinem Vorgesetzten, dem Oberregierungsrat von Uechtritz, blieb van den Berge neben seinem Stuhl stehen, die Akten in der linken Hand.

Das immer sorgenvolle Gesicht des anderen war schon wieder über seinen Schreibtisch geneigt. »Haben Sie noch etwas, van den Berge?« Es klang ein wenig unsicher, und die große, etwas welke Hand schob ohne Anlaß das schwere Marmorschreibzeug zurück.

»Ich habe noch etwas ... Persönliches,« sagte van den Berge leise.

Das Gesicht des anderen wurde plötzlich traurig, und als er die Augen hob, schien fast eine leise Angst in ihnen zu erwachen. »Sagen Sie es,« erwiderte er ebenso leise.

»Ich wollte gerne wissen,« sagte van den Berge, »ob ich im allgemeinen Urteil schon soweit bin, daß Begegnungen mit mir ... unter Umständen ... peinlich sein können?«

Uechtritz stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mein lieber van den Berge,« sagte er, und seine gleichsam graue Stimme war nun sehr herzlich. »Ich habe um Verzeihung zu bitten ... wir sind so schrecklich feige, eben jetzt ... es war sehr töricht von mir gestern, irgendeine leere Stelle in meinem Gehirn ... es war mir im Augenblick, als würde es Ihnen nicht recht sein, ein Wahnsinn natürlich, und nachher tat es mir leid ... verstehen Sie mich nicht falsch.«

»Nein, ich danke Ihnen ...«

»Es kam anderes dazu, eine Erinnerung ... wir sind alle ein wenig eingesperrt, van den Berge ... Sie rütteln noch am Gitter, und ich bin still geworden, verstehen Sie? Sehen Sie, es ist unerhört, es zu sagen, aber ich bin stehen geblieben und habe Ihnen nachgesehen ... ich habe auch Briefe bekommen, schmieriges Zeug, für den Papierkorb ... ich sage es Ihnen im Vertrauen ... es wird schwer werden, van den Berge, wissen Sie es?«

»Ich weiß nicht, was werden soll,« erwiderte er mutlos.

»Sehen Sie, das ist das Schwerste, wenn wir es nicht wissen. Aber Sie müssen es wissen, hören Sie? So oder so ... Denn wenn Sie es nicht wissen, wird es Sie zerreiben. Es wäre schade um Sie. Aber nun verzeihen Sie mir.«

Er gab ihm die Hand, sah ihm in die Augen, als ob er noch etwas sagen wollte, schwieg aber und trat schnell an das Fenster, von dem man in den sonnigen Garten sehen konnte.

Van den Berge ging schweigend hinaus, und erst im Korridor empfand er die warme Berührung eines tiefen und heimlichen Glückes, im gleichen Augenblick leise verdüstert durch die Erkenntnis, daß es das Glück einer Schwäche war, das Glück eines Ausgestoßenen, dem eine heimliche Hand in den Nächten eine Schale mit Speise an die Grenze der Verstoßung stellt.

Er erzählte es Marianne, und sie sah ihn aufmerksam während seiner Worte an. »Es ist gut, daß du es gesagt hast,« sagte sie dann. »Du hättest es nicht so schwer nehmen sollen.«

»Es ging um dich, Marianne.«

»Liebster,« sagte sie, »wann wirst du einsehen, daß alles nur um dich geht? Es ist ganz gleich, ob ich verderbe oder verbrenne, aber es ist nicht gleich, ob du auferstehst oder nicht. Vergiß das doch nicht.«

»Weshalb hebst du mich auf einen Thron?« fragte er erschüttert.

»Weil Gott gewollt hat, daß die Seelen der Kinder auf Thronen sitzen,« erwiderte sie und küßte ihn leise auf die Augen.

Es dauerte eine geraume Zeit, bis van den Berge imstande war, sich, wenn immer er wollte, für ein paar Stunden aus der dumpfen Verwirrung seiner Seele zu lösen, aus seinem Dasein herauszutreten wie aus einem dunklen Hause und von der anderen Seite der Straße hinüberzublicken auf sich als auf etwas Fremdes. Bis er imstande war, die verworrenen Linien seines Schicksals zu ordnen, das Vielfache des Geschehens auf einfache Formeln zu bringen und so gleichsam eine abstrakte Erkenntnistheorie seines Schicksals zu gewinnen. Seine klare, sorgsam geschulte Beobachtungsgabe, die Logik seines Denkens und eine heimlich gepflegte psychologische Neigung setzten ihn in den Stand, eine Charakterstudie zu entwerfen, die dem ausführlichen Personalbericht über irgendeinen Beamten seines Ressorts glich. Es gelang ihm, aus Vererbung, Erziehung, Umwelt die Linie seines Lebens in dem bunten Gewebe fast ohne Lücken zu verfolgen, die Summe der dumpfen Kräfte, die im Lauf der Jahrzehnte ins Unterbewußte geglitten waren, Brandnester gleichsam drohender Verdrängungen, die moralischen Führer, die gleich Kerkermeistern vor den vergitterten Türen standen, die lockenden, leise bohrenden Mächte der Sehnsucht, die Mauern der Gewohnheit, der Tradition und Pietäten, und schließlich der Sturm chaotischer Befreiung, in dem die mißhandelte Natur aufstand gegen ihre Bedrücker, Flammen des Aufruhrs in das brechende Gebälk schleudernd.

Aber es gelang ihm nicht, diese Erkenntnisse vorzutragen bis an die letzten Grenzen zu berechnenden Geschehens. In dem großen, dunklen Hause, dessen Fenster und Türen er erbarmungslos aufriß, schwiegen ein paar Türen, an denen er scheu vorüberging. Er wußte, daß es die letzten Türen waren, hinter denen das Schicksal schweigend auf seine Entfesselung wartete, Räume des Grauens oder der seligen Ekstase. Daß es die letzten Wände waren, hinter denen ausgebreitet und schrankenlos das Letzte der Zukunft lag. Er ging vorbei. Mit einem falschen Trost, einer falschen Entschuldigung, einem falschen Mitleid. Und sie sorgten dafür, daß er des geöffneten und eroberten Hauses nicht froh wurde. Sie hoben sich in seinen Schlaf hinein und drohten in seine Träume. Sie standen hinter jeder Stunde, ja, hinter jedem Herzschlag seiner Tage, wie die dumpfe, versteckte Angst vor einer Operation, vor einer Entscheidung, vor einem letzten Offenbarungseid, auf den Gottes Augen schweigend warteten. Sie vergifteten Mariannens Küsse und die opfernde Süße ihrer Umarmungen.

Sie zerrieben die Auferstehung, bevor die letzten Grabtücher gefallen waren.

Van den Berge fühlte seine Entwurzelung und ahnte das Fehlen der letzten Kraft, die notwendig war, um in seinem Alter die Wurzeln in eine neue Erde zu senken. Und in der Stunde, in der zum erstenmal diese Ahnung ihn fröstelnd berührte, begannen seine Wurzeln zu welken. Es war das einzige, was er nicht erkannte. In dieser kurzen Zeitspanne furchtbaren Nichtwissens, verhängnisvoller Täuschungen begann die Krone seines Lebensbaumes sich zu neigen. Es war die Frist, die Gott ihm gesetzt hatte, und als er zu erkennen begann, war die Frist verstrichen. Gottes Hand hatte das Buch seines Lebens umgeschlagen, und es gab keine Wiederholung seiner Hand.

Was van den Berge erkannte, war, daß er ein Feigling war, ein Feigling der letzten Türen. Er hatte es nie gewußt, weder aus der Gebärde seiner Kinderhand, mit der er nach der Hand seines Vaters gegriffen hatte, noch aus der Scham, mit der er die Gedichte seiner Studentenzeit verschloß, noch aus der Geschichte seiner Ehe, noch aus der Stunde, in der er die Augen vor dem Richtertum seiner Kinder niederschlug. Er hatte getan, was die Vielheit der Menschen tat: er hatte Umschreibungen an die Stelle der Erkenntnisse gesetzt, Trost und Verdunkelung schöner Worte: des Zartgefühls, der Keuschheit, der Zurückhaltung, der Sensibilität. Er legte die Dinge ins Dunkle und nannte es Pietät. Er schwieg und nannte es Taktgefühl. Er machte einen Umweg und nannte es Güte. Er begrub sich und nannte es Überwindung egoistischer Triebe.

Und nun wurde er der Schauplatz seiner eigenen Vergeltung.

Er war ein Fremder in seinem Hause geworden und trug es, weil er eine andere Heimat fand. Aber nun, im Laufe des Sommers, veränderte sich das Gesicht seines Hauses, und das Erschreckende war, daß er diese Veränderung nicht für möglich gehalten hatte.

Sie saßen schon bei Tisch, als sein Sohn, verspätet, hereintrat. Er hatte einen Strauß roter Rosen in der Hand, trat neben seine Mutter und legte die noch betauten Blumen neben ihren Teller, wobei er sich mit einer an ihm unerhörten Demut über ihre Hand neigte. Dann entschuldigte er sich in korrekter Form wegen seiner Verspätung und setzte sich.

Einen Augenblick waren alle Gesichter auf das dunkel Blutende der Rosen gerichtet und hoben sich dann zu Frau Irmas Gesicht, und nun geschah das allen Unerwartete und Unfaßliche, daß in diesem Gesicht ganz plötzlich alle bekannten und vertrauten Linien erloschen, alles Sichere, Strenge und Beherrschte, daß es gleichsam zu verfallen schien, aus allen Bindungen stürzend, daß es sich hilflos und ganz ohnmächtig in einen leeren Raum wandte und daß es plötzlich, wie zerbrochen, mit der Stirn in das Blut der Rosen fiel und ein wildes Weinen in das entsetzte Schweigen brach.

Die Geschwister, mit verdunkelten, erstarrten Gesichtern, hoben sie auf und führten sie schweigend, mit ergreifender Behutsamkeit aus dem Zimmer. In der Tür wandte sich der Sohn zurück und streifte van den Berges Gesicht mit einem Blick, der in keiner Beziehung zu dem Ausdruck seiner Züge stand, sondern nur wie die kalte Spiegelung eines Metalls auf einen Gegenstand fiel, abglitt und zurückging an seinen Ausgangspunkt.

Es war der Blick, der für van den Berge besagte, daß aus dem Fremdling ein Verbrecher geworden sei.

Er konnte nun vor sich selbst nicht mehr verbergen, daß er litt und daß das Leid ihn zu zerstören begann. Er fürchtete sich vor Tag und Nacht, vor Menschen und dem Schweigen der Dinge in seinem Arbeitszimmer. Er konnte in einem dunklen Winkel sitzen, Stunde um Stunde, wie ein Verwundeter, und die gleichen Kreise grübelnder Gedanken zum tausendsten Male gehen, in der dumpfen Hoffnung, es werde durch Gottes Hand eine Lücke in diesen Kreisen entstanden sein. Er sah auf der Straße den Kraftwagen nach und versuchte, sich ihre Nummern einzuprägen. »Ich werde fortgehen,« sagte er, »mit der Botin Gottes, weit, bis in ein anderes Land, und sie wird meine Wunden waschen mit ihren Tränen und sie trocknen mit ihrem Haar ...« Aber wenn er das gesagt hatte, richtete er seine Augen plötzlich auf eine dunkle Stelle der Wand, und dort, aus der Dämmerung kaum faßbar auftauchend, erschienen die Umrisse der letzten Türen, hinter denen das Schicksal wartete, erschienen schweigend, drohend, in erzener Schwere, und er deckte die Hände über die schmerzenden Augen, bis das Bild verging. »Wie wird es sein,« flüsterte er, »wenn ich fortgehe?« Und er sah das Blut der Rosen auf dem weißen Tafeltuch und hörte den furchtbaren Laut, mit dem ein Herz zerbrach.

Marianne sah ihn an, mit brennenden, hoffnungslosen Augen, und fragte, ob er leide. Aber er schüttelte den Kopf und bat sie, stark zu sein, auch für ihn selbst.

Und dann wurde er eines Vormittags in das Zimmer des Regierungspräsidenten befohlen. Es ereignete sich ab und zu und schien auch heute nichts Besonderes zu sein, aber van den Berge, als er die Treppe hinaufstieg, eine leise Müdigkeit in den Knien, ahnte eine schwere Entscheidung hinter der feierlichen Doppeltür und ahnte, daß er ihr nicht gewachsen sein würde.

Der Präsident war von kleiner, breiter Gestalt, mit einem von Arbeit zerfurchten und ganz zugeschlossenen Gesicht. Er war gefürchtet wegen seines jähen Temperaments und der unbiegsamen Härte seiner Gerechtigkeit. Doch empfing er van den Berge mit einer ungewohnten, fast müden Freundlichkeit, ließ ihn an seinem Tisch Platz nehmen, sah abwesend auf das Bild des Reichspräsidenten, das darüber hing, und erklärte dann ohne Einleitung, mit einer betäubenden Übergangslosigkeit, daß ihn das Privatleben seiner Räte nichts angehe, solange dieses Privatleben nicht öffentlich werde. Mit diesem Augenblick aber, sobald der Name eines seiner Herren durch den Schmutz der öffentlichen Meinung gezogen werde, die zwar die Meinung einer Horde von Idioten und Gesindel sei, aber nichtsdestoweniger öffentlich, mit diesem Augenblick gelangten die Schmutzspritzer auf seinen eigenen Rock, und für die Sauberhaltung dieses Rockes bezahle ihn der Staat. Über die Sache selbst habe er weder zu urteilen noch zu richten, aber über das Echo der Sache habe er beides zu tun. Der Regierungsrat und Mensch van den Berge sei jemand, den er achte, ja, den er liebe, aber der Mann von vierzig Jahren ... so nenne ihn die öffentliche Meinung ... habe für ihn nichts zu sein als ein Disziplinarfall. Und er ersuche ihn, nein, er bitte ihn, für ein klares Aktenzeichen zu sorgen. Es stehe nirgends geschrieben, daß ein geschiedener Regierungsrat nicht Oberregierungsrat werden könne, aber es stehe an mehreren Stellen nicht geschrieben, aber gedacht, gewollt, daß ein Mann von vierzig Jahren ... Wortblüte der öffentlichen Meinung ... ohne Beförderungsaussichten zunächst an eine Provinzregierung zu versetzen sei, bevor man »des weiteren« mit ihm verfahre.

Alles dieses schien an das Bild des Reichspräsidenten gerichtet, in eine Ferne von Zuhörern hinaus. Aber nun wandte er sich zur Seite und legte die Hand auf van den Berges Knie. »Merkwürdig,« dachte dieser, »auch seine Augen sind traurig geworden wie bei Uechtritz ... es ist wie ein allgemeines Schicksal, das Schicksal der Alternden ...«

»Ich will keine Bekennungen, mein Lieber,« sagte der Präsident leise, »keine Umkehrungen, keine Zerknirschungen. Ich will nur Entscheidungen, und ich gebe Ihnen meine Hand darauf, daß ich jede Ihrer Entscheidungen achten werde ... und nun gehen Sie und machen Sie Ihr Leben klar.«

Als van den Berge die Tür hinter sich schloß, glaubte er einen Augenblick lang, das Schicksal in seinen Händen zu halten. Aber als er vor seinem Schreibtisch saß und die ersten Akten öffnete, wußte er, daß es entschieden war. Er wußte nichts von Ja und Nein, Scheidung oder Verzicht, aber aus der Gebärde, mit der er vor diesen Entscheidungen floh, die Hände abwehrend vor die Augen gedrückt, aus der Erkenntnis, daß er nichts wußte, in dieser Sekunde noch nichts wußte von diesem Ja oder Nein, wußte er, daß es entschieden war, auf eine elende, erbärmliche und unsäglich schreckliche Art entschieden.

Er arbeitete, klar, scharf, ohne Ablenkung und Pause. Aber inmitten eines sorgfältig begründeten Gutachtens hob er das erstarrte Gesicht gegen die Wand und sagte laut und deutlich: »Judas Ischariot!«

Dann beugte er sich wieder über seine Arbeit.

Zu Hause fand er ein paar Zeilen von seiner Frau auf dem Eßtisch. Sie seien für ein paar Wochen an die See gegangen. Das Mädchen werde jeden dritten Tag hereinkommen, um für das Nötigste zu sorgen. Er möchte auswärts speisen. Keine Anrede. Keine Unterschrift.

»Ja, sie haben ja Ferien,« dachte er mühsam. »Im nächsten Sommer werde ich tot sein oder mit ihnen zusammen in die Sommerfrische gehen ... das Urbild einer glücklichen Familie ... Baden, Korso, Ausflug, abends Reunion mit Bekannten ... zehn Jahre, zwanzig Jahre ... ein gesegnetes Alter ...«

Er berührte die Speisen nicht, zog die Vorhänge in seinem Zimmer zusammen und legte sich auf das Ruhesofa. Vor seinen schmerzenden Augen standen Bilder seiner Kindheit, zart und beglänzt wie Abendwolken, und das traurige, wissende Lächeln seines Vaters stand darüber, immer näher und greifbarer, bis es als der Segen des Schlafes in ihn überging.

Er erwachte am Abend, im dämmerdunklen Zimmer, und empfing nach einer Sekunde gänzlicher Bewußtseinsleere den Einbruch der Erinnerung mit der Verzerrung körperlichen Schmerzes. »Drei Tage,« flüsterte er. »Das soll meine Frist sein ...« Dann lag er noch ein paar Minuten in einem Zustand körperlicher Lähmung, dachte flüchtig an einen zum Tode Verurteilten und stand auf.

Er rief Marianne an, bat, bei ihr zu Abend essen zu dürfen, nahm ein kaltes Bad und ging dann langsam durch die Wärme der abendstillen Straßen zu ihrem Hause.

Er war heiter und gesprächig, erzählte, daß er allein sei und sprach dann viel von seiner Kindheit. Er las ihr ein paar Gedichte vor, die er als Schüler geschrieben hatte, scherzte mit einer leisen Wehmut über sie, und dann, ohne Übergang, mit langsam erstarrendem Gesicht, berichtete er das Gespräch mit dem Präsidenten.

Sie saß auf dem Teppich, zwischen seinen Knien, wie sie um die Abendstunde zu tun pflegte, und alles was er vernahm, war ein leiser Seufzer, bebend in seiner Unterdrücktheit, dessen zitternden Hauch er auf seiner Hand verspürte.

»Ich habe mir eine Frist von drei Tagen gesetzt,« sagte er leise. »Dann werde ich klar sein und meinen Weg gefunden haben.«

»Du mußt es wissen, Liebster,« sagte sie nach einer Weile. »Und vergiß nicht, daß ich nicht da bin, wenn es um dein Leben geht.«

Dann saßen sie auf der Loggia, bis der Mond über den Park stieg, und schwiegen. Marianne küßte seine Hände.

Als sie hineingingen, legte sie im Dunkeln die Arme um seinen Hals. »Ich möchte dich um etwas bitten, Liebster.«

»Du brauchst nicht zu bitten, Marianne.«

»Ich möchte dich bitten, daß du diese Nacht bei mir bleibst.«

Er hob das Gesicht aus ihrem Haar und sah sich im Dunklen um, als stände er mit ihr in einem Saal unter vielen Menschen. Dann suchte er ihre Augen und legte ihre Hände an seine Schläfen. »Kleine Marianne,« sagte er leise, »liebe, kleine Marianne ...«

Wenn van den Berge später sich dieser Sommernacht erinnerte, in dem langen, toten Schweigen der Stunden vor dem Einschlafen, enthüllte sich ihm das Angesicht Mariannens, das Geheimnis und die Bedeutung jedes ihrer Küsse, ihrer geflüsterten Worte, ihrer verborgenen Tränen, ihrer hinsterbenden Umarmungen. Es war die Entsiegelung dieser letzten Nacht der Wunder und der Erlösungen, der Opfer und der Offenbarungen. Es war die Entschleierung des Lebens und die brüderliche Wanderung an der gütigen Hand des Todes, es war die letzte Blüte der Jugend und der erste Ton der herbstlichen Winde über der Verschollenheit sich entlaubender Gärten. Es war die letzte Neigung des Antlitzes Gottes, und als der Glanz der Morgenwolken in den Raum fiel, wendete er sein trauriges Antlitz und ging davon.

In die Vormittagsstunden des nächsten Tages fiel eine Konferenz, die sich länger hindehnte, als man erwartet hatte. Van den Berge, nachdem er in einem Hotel gegessen hatte, ging noch einmal nach Hause, bevor er zu Marianne hinaufging, und fand ihren Brief im Kasten seiner Tür. Er schnitt den Umschlag auf, noch während er in sein Zimmer ging, und las ihn im Sessel vor seinem Schreibtisch. Und so, wie er sich hingesetzt hatte, ein wenig zurückgelehnt, die Hände auf den Knien, blieb er sitzen, das Blatt in seinen Händen, Stunde um Stunde, langsam eines werdend mit den Schatten der Nacht, während das Licht des Mondes von der Zimmerwand sich lautlos auf die Schreibtischplatte stahl, über das Bild seines Vaters, über seine eigene Stirn, bis es hinter ihm an die Wand tastete und hinausglitt in die sich erhellende Nacht.

 

»Mein Geliebter,

es ist nun Zeit geworden und ich bin fortgegangen. Ich gehe aus dem fort, was man mit den Augen sehen und mit den Händen halten kann, denn aus dem anderen können wir niemals mehr fortgehen. Ich habe die Entscheidungen mitgenommen und die Frist, die du dir gesetzt hattest. Du brauchst es nun beides nicht mehr. Ich wollte immer tragen, was ich dir abnehmen konnte. Gib mir auch dieses, damit ich noch einmal weiß, wie lieb du mich hast. Es war so schön, deine Flügel sich ausbreiten zu sehen, und es ist so schön, dich aufzufangen, bevor du stürzest. Aber dann muß man leise fortgehen, damit der andere glauben darf, daß seine eigene Kraft ihn aufgefangen habe.

Mein Geliebter, in jedem Jahr wird jemand zu dir kommen als mein Bote aus einem anderen Land, und dich fragen, nein, still bei dir sitzen und warten, ob du mir etwas sagen lassen willst. Wenn du schweigst, wird es gut sein, und wenn du etwas sagst, will ich auferstehen, auch wenn ich bei den Toten wäre.

Ich nehme dich mit mir, und vielleicht wird es sein, daß du aus mir emporblühst. Das Sterbliche lasse ich, denn es ist gebunden an das Vergangene, aber das Unsterbliche lasse ich nicht, denn es ist gebunden an mich durch den Willen unseres Gottes.

Ich küsse deine Hände, und ich bete, daß sie wieder in Frieden an ihr Tagewerk gehen.

Deine Marianne.«

 

Van den Berge sitzt vor seinem Tisch, das Blatt in den Händen, bis die Morgensonne auf seine Stirn fällt. Er sieht sich wie ein leeres Gehäuse, wie ein Haus des Gerichts, und in dem leeren Raum steigen und fallen die Schalen einer Waage. Die Trümmer eines Lebens stürzen auf sie herab und schleudern die andere Hälfte in die Höhe, und er weiß nicht, auf welcher Schale er steht. Er stürzt und steigt, aber die Luft wird dünner, je höher er steigt, und sein Atem ist schwer und mühsam wie über den Grenzen des Lebendigen. Mitunter denkt er, daß er nun zu sterben hätte, still und in anständiger Haltung, und mitunter denkt er, daß er nun wieder leben könne, leichter, ohne Entscheidungen, ohne Ja oder Nein, und er hebt die blasse Stirn, weil er meint, daß irgendwo der Hahn krähen müsse, und mitunter fährt er suchend mit der Hand über die Tischplatte, weil er meint, daß die dreißig Silberlinge dort liegen müßten.

Er geht zum Dienst wie sonst, schickt ein paar Worte in das Zimmer des Präsidenten und schreibt ein paar Zeilen an seine Frau, die er durch einen Boten an den Bäderzug bringen läßt.

Gegen Abend ist sie bei ihm. Er wacht auf seinem Ruhesofa auf, als sie sich über ihn neigt, und hat das Gesicht eines Kindes, zu dem der Arzt kommt. Sie lächelt, ruhig, sicher und ein wenig überlegen wie in alter Zeit. »Nun wollen wir es gut sein lassen, Wolfram,« sagt sie wie zu einem Kinde.

Sie essen zusammen, und sie plaudert von ihrer Sommerfrische, daß ihre Wohnung schön sei und daß eine Reihe von Bekannten da seien. Und die Kinder würden heute zum erstenmal zur Reunion gehen. Sie selbst werde erst morgen früh zurückfahren, und am Sonnabend erwarteten sie ihn.

Ja, natürlich werde er kommen. Uechtritz habe ihm Urlaub angeboten, aber er werde erst im August fahren, in die Berge wahrscheinlich.

Sie kommt ihm Gutenacht sagen, als er am Schreibtisch über seinen Akten sitzt, kommt noch einmal zurück, streichelt mit der Hand über sein Haar und sagt lächelnd, gütig: »Kleiner, dummer Wolfram ...«

Er nickt und wendet ein wenig sein Gesicht, weil es aussieht, als ob es im nächsten Augenblick zerbrechen würde. Und dann sitzt er viele Stunden regungslos vor seinem Tisch und sieht auf die Bilder, die hinter dem spiegelnden Glas vor ihm stehen.

Er sieht im Dunklen, daß Frau Irma wieder in seinem Schlafzimmer schläft und hört, daß sie ruhig atmet. Es kommt ein unbeherrschter Augenblick, wo er die gefalteten Hände ringt und über sich hebt, aber dann kleidet er sich leise aus und legt sich nieder.

»Bist du da?« fragt sie, halb im Schlaf.

»Ja,« erwidert er leise.

Dann atmet sie ruhig weiter.

Er liegt ohne Bewegung wie in einem Sarge, die Hände gefaltet, die Füße ausgestreckt. Der Raum scheint sich ihm mit einem blauen Licht zu erfüllen. Er sieht zarte Palmenblätter über dem Ufer eines nächtlichen Stromes, Sand und funkelnde Sterne, und sieht sich selbst hineingehen in das blaue Schweigen der Wüste, immer kleiner und kleiner werdend in der ungeheuren Einsamkeit, während unter den Sternen eine ruhige, ein wenig traurige Melodie ihn begleitet, dunkel bebend wie auf einer Cellosaite.

Und dann fühlt er die brennenden Tränen, die an seinen Wangen herabrieseln, in das Kissen hinein, das sie lautlos empfängt. Und mit geöffneten Augen, die weit hinaussehen in die Grenzenlosigkeit der beglänzten Wüste, wartet er auf den Schlaf.


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