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Die Häßliche

Ich will alles nun aufschreiben, wie es gewesen ist. Es nützt keinem Menschen mehr, aber vor dem Tode soll man nicht fragen, ob etwas nützt. Man muß nur die Wahrheit sagen, bevor der Mund stumm wird. Sie sollen nicht vor einem stummen Gesicht stehen und fragen: »Weshalb bloß?« Und man muß die Wahrheit auch so sagen, als ob man schon den Griffel hört, mit dem Gott es in sein Buch einträgt. Da ist kein Buchstabe mehr zu löschen, und ich will es so sagen, daß nichts zu löschen ist. Außer der großen Sünde, und ich weiß nicht, ob selbst Gott imstande ist, etwas dabei zu tun.

Ich wußte schon als Kind, daß ich häßlich war. Meine Stiefmutter sagte es und auch die Lehrerin, als ich bei einer Weihnachtsfeier in der Schule ein Gedicht aufsagen wollte. Sie meinten es gar nicht besonders böse. Sie sagten es wie von einem Kleid oder einem Bild oder einem Teller, und sie wollten damit nur ausdrücken, daß alle diese Dinge zu einem bestimmten Zweck ungeeignet seien, zu einem festlichen etwa, oder auch schon, wo Vergleiche möglich waren, wo es mehrere Kleider gab, mehrere Bilder, mehrere Teller. Das Kleid konnte immer noch in der Küche getragen werden, das Bild im Flur hängen, der Teller einem Dienstmädchen vorgesetzt werden. Alle diese Dinge brauchten deshalb nicht schlecht oder abscheuerweckend zu sein. Sie konnten ganz und sauber sein, aber sie mußten für sich allein sein. Sie waren die Dinge der dunklen Ecken, und sie mußten sich vor dem Licht verbergen wie ein Gewürm, das unter Steinen oder im Keller wohnt.

Ich begriff das sehr früh, aber ich wußte lange nicht, was »häßlich« war. Ich dachte, es sei eine Art von Aussatz oder ein schlechter Geruch oder ein heimliches Zeichen wie auf der Stirne Kains. Ich sah alle Menschen meines Geschlechts verstohlen an, lange und mit der Gier der Hoffnung, es zu finden. Wenn sie es merkten, war es ihnen unangenehm, ja, mitunter erschraken sie sogar und trieben mich mit harten Worten davon. Und ich sah auch lange in den Spiegel, wenn ich allein war und die Türe verschlossen hatte. Aber ich fand es nicht, nicht mit Sicherheit. Ich träumte oft, daß ich auf der Straße ging und alle Menschen drehten unauffällig die Gesichter nach mir und lächelten. Es mußte irgendein Fleck in meinem Kleide sein, oder ein Riß, oder ein paar offene Haken. Ich versuchte, es unauffällig zu finden, aber ich fand es nicht. Ich schlüpfte in einen Torweg, einen Hausflur und suchte mit fliegenden Händen nach meiner Schande. Und ich fand sie nicht. Und dann rief vom Hof oder von der Treppe eine drohende Stimme, und ich floh auf die Straße. Sie warteten schon auf mich. Sie taten alle so, als wären sie ganz beschäftigt mit der Betrachtung eines Schaufensters, oder mit einem Kinderwagen, oder mit einem Gespräch, das um große Dinge gehen mußte. Aber ich sah wohl, daß sie auf mich warteten und daß sie leise lächelten, jeder für sich, aber doch so, daß es der Teil eines allgemeinen Lächelns war, das hinter mir herschlich, hinter dem Fleck, dem Riß, der Schande.

Und ganz langsam ging dieser Traum in mein Leben hinein. Ich war auf einer lächelnden Straße, vom Morgen bis wieder zum Morgen, und inmitten dieses Lächelns weinte ich. Tränen, die niemand sehen durfte, aber deren Salz ich auf meinen Lippen schmeckte, als eine fressende Bitterkeit, die meinen Mund vergiftete.

Als ich älter wurde, kam es dann von selbst, daß ich alles wußte. Es war damals gar nicht mehr nötig, daß meine Stiefschwestern mich lächelnd aufforderten, meine Nase im Spiegel zu betrachten, ob sie nicht ein wenig flach sei, oder meine kleinen Augen, meine niedrige Stirn oder meinen großen Mund. Ich wußte es schon von selbst. Ich war nie Prinzessin in einem Spiel oder einer Aufführung. »Du willst also auch mitspielen?« fragte man erstaunt. Und dann gab man mir mit verwundender Gnade die Rolle eines Dienstmädchens oder einer Marktfrau. »Wie echt sie aussieht,« sagte man. Man wandte keine besondere Vorsicht an, wenn man das sagte. Man tat, als sei ich taubstumm oder ein kleines Tier, das nichts verstand, oder einfach ein Gegenstand.

Am ehrlichsten waren die Jungen, die Räuberhauptleute waren oder Prinzen oder Kavaliere. Sie verbargen nichts, und sie nahmen die Hände und die Augen von mir fort, als sei ich unrein. Und es war seltsam, daß ich zu den Häßlichen ebenso empfand wie sie zu mir. Mitunter versuchte jemand, mein Freund zu sein, mit einem selbstverständlichen Einverständnis, wie vielleicht ein Verbrecher an den andern, ein Aussätziger an den andern Aussätzigen sich schließt. Ich haßte sie wegen dieser niedrigen Vertraulichkeit. Ich machte kein Hehl aus diesem Haß, und sie erwiderten ihn mit einer fast teuflischen Inbrunst. Ihr Hohn sagte auch das Letzte, was ich vielleicht nicht wußte, und wenn ich dann vor dem Spiegel saß, erschrak ich vor der Wahrheit des Schimpfes. Die Schönen hatten nur Befremden oder Abwehr oder Widerwillen, aber die Häßlichen hatten die erbarmungslose Hand eines Mörders.

Als ich älter wurde, wußte ich, daß mein Körper schön war, und es kam eine Zeit, wo ich diese Schönheit zur Schau zu tragen versuchte. Sie war wie eine letzte Karte, auf die ich setzte. Einmal, ich war schon eingesegnet, ging ein Fremder um die Abendzeit hinter mir her. Ich drehte mich nicht um, aber ich fühlte es mit einer zweifellosen Gewißheit, mit einer Seligkeit, die mir die Kniee schwer machte. Ich dachte an nichts Unerlaubtes oder Böses. Ich fühlte nur, daß jemand Freude an mir hatte, daß jemand mich begehrte. Er hob mich aus der Verstoßenheit; seine Augen, die mir folgten, wuschen leise Stück für Stück der Schande von meinen Schultern, ja, mir war, als begänne ich heimlich zu blühen, während ich Straße auf Straße den Zauber hinter mir herzog. Die Laternen wurden hell, und immer weiter ging ich vor ihm her, in sinnlosen Kreisen, durch Stadtviertel, die ich nicht kannte, auf einer unendlichen Brücke zwischen Seligkeit und Angst, deren Bogen sich hinausspannten zu einer unsichtbaren Küste der Erlösung.

Und dann holte er mich ein, unter einer Laterne. Ich konnte nicht fliehen, ich konnte nicht einmal mein Gesicht verbergen. Ich sah zu ihm auf wie ein Tier, das den Todesstoß erwartet. Eine schreckliche Enttäuschung fiel über sein gespanntes Gesicht, so sehr, daß sie alle Linien fast zu zerstören schien. Ich sah die Wolken darüber hingehen, eine nach der andern, und ich erkannte sie alle: Bestürzung, Zorn, Scham, und endlich ein leises Mitleid, das fast ein Schmerz wurde. Wir sahen einander lange an, mein aufgehobenes Gesicht, das den Schlag erwartete, und sein niedergebeugtes, das sich dazu sammelte. So lange, daß mir war, als müßte der Morgen bald über den Dächern dämmern, ein grauer, nebelerfüllter, trostloser Morgen.

»Du Arme,« sagte er leise, wandte sich ab und ging davon.

In jener Nacht stand ich lange am dunklen Ufer des Flusses, aber ich tat es nicht. Ich glaube nicht, daß ich mich fürchtete, aber die Stimme des Lebens in mir sprach ein seltsames Wort. Ein sinnloses Wort, das eine sinnlose Hoffnung enthielt. Aber ich war durch soviel Qual gegangen, daß ich dem Wunder schon zubereitet war. »Er hätte blind sein können,« sprach die Stimme des Lebens. Und ich glaubte ihr, ja, ich warf meine Arme um diese wahnsinnige Hoffnung und klammerte mich so inbrünstig an sie fest, daß der dunkle Gang des Stromes meine Füße nicht von der Erde zu lösen vermochte.

Von dieser Stunde an verhüllte ich auch meinen Körper so, daß niemand Schönheit an ihm vermuten konnte. Ich bevorzugte graue Stoffe, wie es der Dämmerung eines Lebens zukam, eine Schutzfärbung, die mich vor der Neugier verbarg und vor jeder Beachtung. Ich wollte wie ein Gras auf einer blühenden Wiese sein, eine Flechte in einem Wald, eine Treppenstufe im Haus des Lebens.

Damals auch entschloß ich mich, Krankenschwester zu werden. Ich tat es nicht aus Liebe zu den Kranken, und das war die Sünde des Anfangs, die alle Sünden nach sich zog. Sondern es war eine Brücke für mich, die ins Vergessen führte. Zwar ich selbst, ich vergaß nicht, aber die anderen konnten so am leichtesten vergessen. Eine Schwester war wohl ein Mensch, aber sie war ein geschlechtsloser Mensch. Eine Schwester war geschickt oder ungeschickt, aufopfernd oder lässig, aber eine Schwester war nicht schön oder häßlich. Sie war fast eine Nonne, der Welt des Begehrens entrückt, ein gleichsam verpuppter Mensch, aus dem niemals ein Schmetterling aufsteigen würde. Sie war eine Schwester, kein Mädchen, keine Geliebte, keine Frau, ein Wesen der Dankbarkeit, vielleicht der Verehrung, aber kein Wesen der Neigung oder gar der Liebe.

Und vor ihr würde keine Schönheit zurückschaudern, weil ihren Händen nicht die Schönheit, sondern die Krankheit anvertraut wurde. Und der Kranke ist seiner Schönheit nicht bewußt, sondern nur seines Leides. In den langen Nächten würde ich aus dem Quell der Schönheit trinken können, wenn nur die Öllampe brannte. Ich würde meine Hand auf die Stirnen legen können, die das Fieber verdunkelte, ich würde aufgenommen sein in das Reich der Herrlichkeit, wie ein König Diener und Bettler sammelt und duldet, ohne des einzelnen bewußt zu werden. Ich würde die Schwelle trocknen dürfen, über die ihre heiligen Füße gingen.

Man legte mir nichts in den Weg, man fand es verständig, natürlich, entlastend. Als ich das Haus verließ und die Stadt, war mir, als schließe ich die Tür zur Erde hinter mir und überantworte mich einem anderen Reich, einem Reich der Schatten, die in den Nächten leise um die Wohnungen der Menschen schlichen, um das Blut ihrer Träume zu einer kümmerlichen Speise zu trinken.

Wie lang waren die Jahre! Ein grauer Strom zwischen Nebelufern, lautlos ziehend, ohne Welle und Brücke, durch Strudel unsichtbar in die Tiefe tauchend, Strudel, die nichts erfaßten als Wasser ohne Gestalt, sich auflösten, sich zwecklos erneuten, eine gleitende Schwere, die die Quelle vergaß und an die Mündung nicht glaubte. Ein Baum blüht, ein Tier hat seinen Hunger, seine Angst und seine Liebe, ein Stein hat den Regen, der ihn peitscht, den Frost, der ihn sprengt, die Sonne, die ihn wärmt. Aber ich war ein Wasser, das unter den Wurzeln zog, das die Füße der Menschen spülte, und die Füße hoben sich auf und gingen davon, über das leuchtende Feld, über die blühenden Wiesen, während der Strom mich weitertrug, zu anderen Füßen, die auf die Kühle warteten. Niemand trank mich. Ich war ein Sieb, durch das der Atem des Lebens ging, und nichts blieb an seinem Gitter hängen als der bittre Durst des ewig Leeren.

Gott verzeihe mir, daß ich durstig war wie ein schöner Mensch.

Was nun in wenigen Stunden geendet sein wird, Schmerz und Seligkeit und Sünde, begann im Kriege. Er warf die Ernte der Menschen unter meine Hände, unaufhörlich, in einer schrecklichen Verschwendung. Und im letzten Jahr warf er auch ihn in den blutigen Strom, in den das Sieb meines Lebens tauchte, und das Sieb erklang unter ihm und zerbrach. Das ewig Leere konnte seine Fülle nicht fassen und zerbrach.

Er kam mit einem Kopfschuß in unser Lazarett und erblindete. Die Ärzte hofften, die Sehkraft zu erhalten, ja, sie waren dessen fast sicher, aber am Morgen nach seiner Einlieferung schrie er auf seinem Lager, daß die Sanitäter auf den Gängen zusammenliefen. Er schrie nach seiner Pistole. Er konnte nicht sehen. Nicht das Fenster, nicht die weißen Tücher seines Bettes, nicht einen Schimmer seiner Hand. Er hatte ein Bataillon geführt, er war jung, und unter dem Verband seines Kopfes leuchtete seine Schönheit wie die steinerne Schönheit eines Marmors.

Ich pflegte ihn. Zuerst war es, als pflegte ich einen Stein, der tief und lautlos in einer fremden Erde lag, und um den ich statt der Verbände blühende Ranken legte. Der Stein antwortete nicht. Er war kühl, fremd, ein Schweigen aus einer anderen Welt. Aber er war meinen Blicken wehrlos hingegeben, in der herrlichen Wehrlosigkeit der Blindheit. Ich trank sein Gesicht, und wenn ich die Augen abwandte, geschah es nur, weil ich fürchtete, das Leben aus seinem Antlitz zu trinken. Ja, es war ein unerschöpflicher Becher, ein Becher der frommen Gnade und des berauschenden Giftes, ein Becher des Bodenlosen, der meinen fiebernden Händen überantwortet war, straflos, wehrlos, zeugenlos.

Mitunter fühlte ich den Wunsch in mir sich regen, er mochte auch stumm sein, damit er noch wehrloser wäre. Aber eines Nachts, als seine Hand nach dem Glase tastete und ich ihm zu trinken gab, sagte er leise: »Sie sind gut, Schwester, so gut ...« Es traf mich wie der erste Ruf von Gottes Gericht. Ich verbarg mein Gesicht, als sei er plötzlich sehend geworden, und das Gefühl einer schrecklichen Nacktheit stürzte sich brennend über mich, als würde er nun alles wissen, erkennen und mich von seinem Lager weisen wie einen nächtlichen Dieb. Aber er wußte nichts; ja, bis zu dieser Stunde weiß er nichts, und Gott wird barmherzig sein, daß er niemals weiß.

»Sie müssen schön sein, Schwester Agathe,« fuhr er leise fort. »Sind Sie schön?« – »Ja,« flüsterte ich, »die Menschen sagen es –«

»Ich wußte es. Nur von dem Schönen kann das Glück kommen. Das Häßliche ist böse, und ich glaube, daß er häßlich war, der auf mich gezielt hat ... Aber ich werde es nun niemals mehr sehen, weder das Schöne, noch das Häßliche. Ich werde es nur erraten können, aus dem Guten, das man mir tut.«

»Alle Menschen werden gut zu Ihnen sein, Herr Hauptmann.«

Er lächelte. Es war sein erstes Lächeln, und in ihm starb mein Gewissen. Es erlosch wie ein Nebel, über den die Sonne sich stürzt, aufgetrunken von einer goldenen Macht. Kein Rest blieb, kein Nachbild, keine Erinnerung. Es war die Seligkeit einer Empfängnis, und außer ihr war nichts in dem leeren Raum meines Lebens, in den sie hineinbrach wie in einen Abgrund des Bodenlosen.

Er liebte meine Hände, weil sie schön waren. Ich wußte es, denn sie waren ein Teil meines Körpers, die äußerste Heimat seiner Schönheit. Er liebte meine Stimme, weil sie sanft und in eine leise Sehnsucht eingehüllt war, und weil sie aus der Tiefe meines Körpers aufstieg wie der Duft einer Blume, die er nicht sah, aber die leuchtend und makellos vor seinem inneren Gesicht schweben mußte. Er wollte seine Hände über mein Gesicht gleiten lassen, heimlich, wenn ich den Verband wechselte. Aber ich wich zurück wie vor einer feurigen Hand und beschwor ihn, es niemals wieder zu tun, weil mir dann sei, als wäre ich eine Sache, ein Gegenstand, den man betaste, ein Tier, das man abschätze. Schon als Kind hätte ich es niemals geduldet. Er war befremdet, leise verletzt, aber am nächsten Tage, als hätte er die ganze Nacht nur daran gedacht, bat er mich, ihm zu verzeihen. Vielleicht rühre es davon her, daß er blind sei, und das erstorbene Tastgefühl komme nun den fehlenden Augen wie ein Bruder zur Hilfe. Aber es sei nicht gut, es sei, als wolle seine Seele mit einem Stock zu einer anderen Seele tasten, wo sie ihn doch umhülle, ganz und gar, daß er alles Suchens enthoben sei. Aber ich möchte ihm von meinem Gesicht erzählen.

Und ich erzählte. Über seinem Nachttisch hing ein Spiegel, und während ich hineinsah, schaudernd vor dem schrecklich Bekannten, erzählte ich ihm von einem fremden Gesicht, einem Traumgesicht, das Gott hatte schaffen wollen, bevor ein kühler Wind über seine Hände ging. »Ich wußte es,« sagte er vor sich hin, »ich bin nun nicht mehr blind ...«

Als die Wunde geheilt war, ging ich mit ihm in sein Haus, bis zur letzten Sekunde zitternd, es könnte ihm jemand die Wahrheit sagen. Es war ein großes Haus in einer stillen Stadt, von Schönheit und Reichtum erfüllt, und meine Hände führten ihn zart und sorgsam über die dunkle Schwelle zurück, die zwischen der Gegenwart und dem Gewesenen lag. Er hatte düstere Stunden, Stunden voll Bitterkeit, Scham und Verzweiflung, aber ich schloß ihm gleichsam Kammer auf Kammer des Lebens auf, Bücher, Töne, Landschaft, Träume. In aller Habsucht meiner Sünde konnte ich mich meines Lebens so entäußern, daß ich nichts war als ein Stab für seine Hand, eine Schwelle für seinen Fuß, ein Brunnen für seine Last. Ja, ich bat ihn, mich zu schlagen, wenn der Haß gegen sein Schicksal ihn zerfraß und niemand da war, der seiner Faust sich bot.

Und während der ganzen Zeit wartete ich, Tage, Wochen, Monate, ein atemloses, böses Warten, wie ein starkes Tier auf sein Opfer wartet. Es soll nichts ausgelöscht werden, und vor Gottes Angesicht, das schweigend über diesen Blättern steht, will ich es sagen. Ich wartete, daß er heimisch wurde in seinem neuen Leben, daß der Krampf und die Spannung der Übergänge aufhörten und daß in ihm wieder erwachte, was das Erbteil aller Schönheit ist: der Durst nach dem Becher, der Hunger nach dem Glück. Er war ein Verschmachtender, und niemand war bei ihm als ich. Er mochte rufen nach den Brunnen der Vergangenheit. Sie waren verschüttet und stumm. Aber ich war bei ihm, ich allein, und ich bebte bei jeder Berührung seiner Hand, wartend, daß er sich über mich neige, um das Blut meines Lebens zu trinken. Ich wußte, daß es geschehen würde. Ich sah seine Schmerzen, seine Angst, seine Scham, und ich trank dies alles in mich hinein, ich durchschritt es Stufe für Stufe wie einen Vorhof der Seligkeit, ohne Scham, ohne Angst, ohne Barmherzigkeit.

Denn ich war schön. In keines Menschen Augen war ich schön als in der Blindheit der seinen. Nie wieder würde ich schön sein, bis zu meinem Tode nicht und auch jenseits des Todes nicht. Es war die Brücke zur Seligkeit, die sich einmal hinausspannte aus dem Glühen des Fegefeuers und dann nicht mehr, und ich wäre sie gegangen, selbst wenn zuckende Herzen unter jedem meiner Schritte gewesen wären.

Ich täuschte mich nicht, aber ich verdammte mich auch nicht. Er war in der Dunkelheit und er wollte kein Gesicht. Er wollte eine Hand, zwei Arme, die ihn umfingen in seiner Nacht, einen Körper, der ihm Trost gab in dem Brennen seines Blutes. Der Sehende will ein Gesicht, und der im Licht ist, will ein noch helleres Licht. Aber wer im Dunkel ist, will nur eine Gestalt, will Wärme, Schutz und Geborgenheit, ein Dasein, an das er sich klammern kann, denn um ihn ist die Leere, der Nebel, die Nacht.

Ich schenkte mich ihm wie eine vom Tode Zurückgerufene, und kein Tod hatte mehr Gewalt über mich. Ich bereute nicht, ich zweifelte nicht, ich versagte mich nicht. Ich fühlte die Woge meiner Seligkeit ihn umhüllen und uns fortspülen an eine Küste sündenloser Gnade. Ich hatte meinen Anteil an der Seligkeit, aber ich war nicht habsüchtig, ich vergaß, nach dem Eignen zu trachten, und ich besaß so viel, daß ich mit vollen Händen ihn überschüttete in seiner erlösten Dunkelheit. Denn ich war schön. Noch immer verbarg ich mein Gesicht, aber er fand die Schönheit, nach der ihn verlangte, und es war eine Schönheit ohne Lüge und Makel.

Und das Recht meiner Sünde war meine Liebe. Denn ich liebte ihn. Nie wieder wird alle Demut einer Liebe so in seinen Händen liegen, alle Hingabe, alle Dankbarkeit, alle Anbetung, alle Verehrung einer Gottheit. Und er wußte es. Weil er blind war, sah er es. Ich hob ihn über Schmerz und Unglück seines Schicksals hinaus. Ich trug ihn unter meinem Herzen, und wir waren beschlossen ineinander wie zwei Ringe einer Kette, die von Ewigkeit zu Ewigkeit sich spannt.

Damals erkannte ich mit einem leisen Schauder, daß er nicht sehend werden durfte.

Aber mir scheint, daß das Schicksal uns immer das gibt, was wir fürchten, als erkenne es die schwache Stelle in unserer Rüstung. Ich hatte ein Jahr des unfaßbaren Glückes, eines Glückes, das mich fast betäubte. Ich verhängte alle Spiegel im Hause, denn ich wollte mein Gesicht nicht sehen. Das Leben blühte, und mein Gesicht hatte keinen Platz darin. Ich vergaß es beinahe. Ich bestand aus Leib und Seele, und das Gesicht war ein Fremdling für den Leib, ein Irrtum der Schöpfung, den man schweigend übersehen mußte, weil Gott sich nicht irren durfte.

Es begann damit, daß er über Schmerzen in seinen Augen klagte, und es war seltsam, daß er sagte, es seien nicht die üblichen Schmerzen, sondern gleichsam freundliche, wohltuende Schmerzen. Ich verstand das nicht, aber er wollte zu einem Arzt gehen. Es war eine lange Untersuchung, die im Beisein eines Professors wiederholt wurde. Und dann sagten sie, daß sie eine Operation versuchen wollten. Es sei wenig Hoffnung, aber man müßte den Versuch wagen.

Als ich ihn wieder in das Haus führte, schien es, als sei ich blind und er sehend.

Er bestand darauf, zu Hause operiert zu werden. Gott verzeihe mir, aber mir war, als schnitten sie mir das Herz aus der Brust. Die Ärzte schwiegen, aber ich wußte, daß er sehen würde. Ich wußte auch alles andre. Die Laterne brannte über mir, und ich sah wieder das fremde Gesicht, über das die Wolkenschatten liefen: Bestürzung, Zorn, Scham und endlich die Verstoßung. »Du Arme?« Nein, er würde nicht »Du Arme« sagen. »Du Dirne«, würde er sagen. Und von dieser Stunde an fraß dieses Wort wie ein Wurm an einer welkenden Blüte. Es zerfraß das Letzte, das mir geblieben war, das letzte Gewissen, die letzte Scham, die letzte Barmherzigkeit. »Vielleicht,« flüsterte er, »vielleicht werde ich sehen, wie schön du bist ...«

Und dann tat ich es, so kalt, so ruhig, so vorsichtig wie ein Mörder. Ich suchte einen Vorwand und fuhr in die nächste Stadt, um eine hochkerzige Lampe zu kaufen. Ich richtete es so ein, daß ich am Abend die Leselampe so vor sein Bett stellte, daß sie, von einem Tuch geschützt, vor seinen Augen stand. Die Verbände waren abgenommen, und er mußte im verdunkelten Zimmer liegen, einen grünen Schirm über den Augen. Die Ärzte hatten mir die äußerste Vorsicht eingeschärft. Ich machte mit der Schere einen Schnitt in das Band des Schirmes. Ich ließ einen Tag vergehen und bedachte noch einmal alles, ob nichts vergessen sei, die geringste Kleinigkeit, alle Möglichkeiten eines Zwischenfalles, einer Störung.

Es war nichts vergessen, so wenig, wie ein rollendes Rad auch nur eine seiner Speichen vergißt.

Und dann tat ich es. Ich hob das Tuch von der Lampe. Ich trat hinter ihn, um die Binde des Schirmes fester zu ziehen. Es gab einen leisen Ton, den Ton, mit dem Stoff zerreißt, und ich wußte, daß in diesem bösen, knisternden Geräusch ein Leben zerriß, ja, mehr als das, daß die Weltordnung zerriß, das göttliche Gesetz, als hätten meine kalten Hände die heilige Seite im Buch Gottes zerrissen.

Als der Schirm fiel, schrie er auf. »Schwester!« schrie er. Und noch einmal leiser: »Schwester!«

Alles hatte ich erwartet. Alles war gekommen, wie es kommen mußte. Aber dieses hatte ich nicht erwartet. Es war die Rückkehr zur Vergangenheit, die Auslöschung meines Lebens, die Erkenntnis der Wahrheit. Im stürzenden Chaos war nichts geblieben als der Beruf, das Amt, die Erbarmung eines geschlechtslosen Wesens. Die Liebe war versunken, die Schönheit, die Hingabe, der Rausch. Und das Namenlose war übriggeblieben, das Unpersönliche. Im Tod der Augen, im zweiten, schrecklicheren Tode war das Weib gestorben, und aus dem unsterblichen Urgrund war das Unsterbliche wiederauferstanden: die Schwester.

Die Ärzte kamen. Ich hatte die Lampe wieder vertauscht und zeigte das gerissene Band. Kein Auge war imstande, den Schnitt der Schere zu erkennen. Sie verhehlten nicht, daß alles verloren sei. Ich hatte den Feind besiegt, ich hatte den Wurm zertreten. Ich war nicht froh, nicht erlöst. Ich fühlte meinen Körper wie sprödes Glas, aus dessen Innerem ein leiser Hammer ohne Aufhören schlug und schlug und nach außen verlangte.

Wir sprachen nichts, aber in der Nacht kam er zu mir, zitternd, außer sich, wie ein gehetztes Tier. Er sagte, daß er Vergessen wollte. Ich gab es ihm. Aber in seiner Umarmung aß ich plötzlich die Frucht des Mordes. Es ist mir schwer, es zu sagen, aber eine Beichte steht vor Gottes Augen. Ich wurde nicht ein Weib wie sonst, ein blühendes, glückliches Weib, eingeordnet in die große Seligkeit der Schöpfung. Ich blieb ein Mädchen. Ja, ich kann es nicht anders sagen. Der Segen der Empfängnis fiel von mir ab. Im Dunkel der Nacht erkannte das Auge der Gerechtigkeit mich und scheuchte mich zurück an die Küste der Verstoßenen, der Häßlichen, der Unfruchtbaren. Ich fühlte den Makel einer Dirne, den Betrug der Liebe, die Spekulation der Lust. Ich fühlte mein Gesicht wieder als einen Teil meines Leibes, einen Teil, der sich unter einer Maske verbarg, damit das übrige eine Lust gewänne, die ihm nicht zukam. Und ich wußte, daß ich fortan immer so fühlen würde.

Es gab keine Rettung, kein Erbarmen, kein Vergessen. Die Lüge schrie in mir, die nach Enthüllung verlangte, schrie so, daß ich den Atem anhalten mußte, damit er es nicht hörte. Mein Körper war wahrhaftiger geworden als meine Seele. Er stieß die Seele aus als etwas Unreines, er krümmte sich vor Scham über sie. Die Spiegel waren wieder da, überall, selbst vor meinen geschlossenen Augen, und ich sah es wieder, das Häßliche, das ein Glück erschlichen hatte. Ich hatte Böseres getan als Jakob, der die Erstgeburt erschlichen hatte. Ich hatte die Geburt an sich erschlichen, die Geburt eines Weibes. Hineingestohlen in das Reich einer vermeintlichen Schönheit, hatte ich sie erschlichen. Ich hatte einen Menschen geblendet, zwei lebendige Augen, bevor sie mich entlarvten. Sie würden mich nie mehr entlarven, aber die Natur entlarvte mich, das, worüber ich nicht Gewalt hatte. Auch von meinen Augen schnitt sie die Binde, daß ich wieder sah, daß ich mich häßlich sah in den Armen eines Mannes, so häßlich, daß ich mich krümmte vor seinen Küssen, als küsse er ein Gewürm. Die Natur hatte sich gerächt, und in der Rache sah ich Gottes Hand.

Ich bin aufgestanden, sobald er ruhig zu atmen begann, um dieses zu schreiben. Es war kein Zweifel in mir, kein Zögern. Wenn er erwacht, werde ich nicht mehr sein. Auf der Erde ist kein Gericht für mich. Selbst häßlich sein ist leben. Selbst ungeliebt sein, von keinem Menschen, keinem Tier, keiner Pflanze, ist leben. Selbst Verstoßung, Kerker, Lähmung ist leben. Nur der Tod ist der Sünde Sold. Er führt dorthin, wo gestraft wird, mit einer Verdammnis, die wir nicht kennen.

Nur eines bitte ich: er soll es niemals wissen, daß ich häßlich war. Vor seinen blinden Augen schwebt der Traum meines Gesichtes, schwebt das Wunder, das sie aus dem Nichts geschaffen haben. Er war Gott, er allein war mein Gott, der mich schuf, wie ich geschaffen sein sollte. Er hat den Irrtum ausgelöscht, den der andere beging, er war größer und barmherziger als der andere. Und dafür ist er geblendet worden durch das Werkzeug meiner Hände, wie alternde Könige ihre jungen Söhne blenden lassen, weil sie ein Vorwurf ihres Irrtums sind.

Ich aber gehe zu dem Anderen, der sich geirrt hat, damit er den Irrtum auslösche aus seiner Welt der Wahrhaftigkeit.


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