Ernst Wichert
Der Väter Sünden
Ernst Wichert

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Wilfried reiste ab, ohne seinen Vater nochmals gesehen zu haben. Zu Hause fand er den erbetenen Abschied vor. Er meldete sich bei seinem Vorgesetzten in der Uniform ab, um sie nicht wieder anzulegen.

Dem Oberst fiel sein nervöses Wesen auf. »Es wird Ihnen nun doch wohl schwer, den Dienst aufzugeben,« meinte er forschend. Er wußte, daß die beabsichtigte Heirat mit dem Pflegekinde der Frau Konsul, einem Mädchen von ungewisser Herkunft, der Grund war, und sprach sein Bedauern aus, dem jungen Kameraden darin recht geben zu müssen, daß er bei den bekannten Anschauungen des Offizierkorps auf diese Weise Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen entschlossen sei.

»Ich bin gern Soldat gewesen,« antwortete Graf Wilfried, »und empfinde es im Augenblick natürlich als einen Verlust, scheiden zu müssen. Ich bitte Sie aber, überzeugt zu sein, daß ich weiß, was ich dafür eintausche, und nie den Schritt bereuen werde, der allein mich ungestörtem Glück entgegenführen konnte. Um es so zu erringen, habe ich, wie Sie wissen, mehr aufgegeben.«

»Darf ich Ihnen einen freundschaftlichen Rat erteilen?« fragte der Oberst teilnehmend. »Übereilen Sie die Hochzeit nicht. Es wird für alle Teile das Ersprießlichste sein, wenn eine nicht allzu kurz bemessene Zeit sich zwischen den Wechsel der Dinge einschiebt. Es ist das nicht nur eine billige Rücksicht auf Ihre nächsten Angehörigen und auf die Gesellschaft, sondern Sie müssen es für sich selbst wünschenswert finden, sich erst aus Ihren jetzigen Verhältnissen heraus- und in die gewählte Lage hineinzugewöhnen. Ihre künftige Frau wird den Vorteil davon haben.«

»Das ist auch meine Empfindung, Herr Oberst,« erwiderte Wilfried. »Ich habe beschlossen, mich ein paar Monate auf Reisen zu begeben, um mir meine gewöhnliche Umgebung fremd werden zu lassen. Dabei schaue ich mich zugleich nach einem Fleckchen Erde um, auf dem sich's in der Zurückgezogenheit am behaglichsten wird leben lassen.«

Wirklich rüstete er, obgleich der Herbst schon nahe war, zur Reise. In der Villa vor dem Thor sprach er von dem, was er durch seinen Vater erfahren hatte, gar nicht. Er sagte nur, es sei ihm nun gewiß, daß Paula in der That nicht das Kind der Tischlerfrau Bilsfeld, ihre Mutter lange nicht mehr am Leben sei, und bestimmte sie leicht, eine Urkunde mit diesem Anerkenntnis zu unterzeichnen, die er dann dem Manne übersandte. Sein Benehmen gegen die beiden Damen änderte sich in keiner Weise. Er verabredete mit der Frau Konsul die Vorbereitungen der Hochzeit und blieb der zärtlichste Bräutigam. Sein Wunsch, jetzt nach seiner Verabschiedung nicht in der Garnisonstadt zu bleiben, wo der Verkehr mit den früheren Kameraden ihm unbequem werden müßte, und auch nicht in Berlin den Hochzeitstag in der Nähe seines Vaters und Bruders abzuwarten, fand volles Verständnis. Als er Paula Lebewohl sagte, waren beide nicht bewegter, als Brautleute auch bei kurzer Trennung zu sein pflegen. »Vergiß mich nicht,« sagte sie scherzend beim letzten Kuß.

– Wenn ich's nur könnte!« antwortete er ebenso.

Dann stand sie am Erkerfenster und blickte ihm nach, bis er über die Brücke gegangen und hinter dem Eckhause drüben verschwunden war. Zehnmal wandte er sich zurück und schwenkte den Hut. Zuletzt etwas länger, aber doch auch nur ein paar Sekunden lang.

Sie blieb am offenen Fenster stehen, bis sie nach kurzer Zeit das Pfeifen der Lokomotive vom Bahnhof her vernahm. »Nun fährt er ab. Glückliche Reise und frohe Wiederkehr zur Vereinigung fürs Leben!«

Er schrieb täglich. Mindestens Karten. Und sie antwortete gleich fleißig; meist erwartete ihn schon ihr Gruß an dem neuen Aufenthaltsort. Er hielt sich einige Tage in München auf, die dortigen ihm längst bekannten Kunstschätze nochmals durchmusternd. Dann fuhr er langsam über den Brenner und bog links ins Pusterthal ab. Er blieb in Bruneck und Toblach. Für Italien sei das Wetter noch zu warm, schrieb er; er gedenke, das schöne Ampezzothal zu Fuß zu durchwandern und in Cortina abzuwarten, bis sich die Sonnenglut über der lombardischen Ebene gemildert habe. Von Schluderbach aus bestieg er die Dolomiten. »Ich werde schwerlich je das Vergnügen der richtigen Bergkletterer begreifen lernen,« äußerte er sich in einem Brief, der den umständlichen Bericht über eine solche Partie enthielt, »denen Hauptzweck ist, Schwierigkeiten zu überwinden und mit Lebensgefahr neue Wege aufzusuchen. Aber eine Lust ist es doch, sich selbst sein Können zu beweisen, mit aller Anstrengung eine Höhe zu erklimmen, die weit über andere Höhen ragt, und von da hinab in die Thäler zu blicken, durch die sich in schnellem Lauf silberne Flüßchen schlängeln, denen man meint Grüße an die fernen Lieben mitgeben zu können. Ach, die schöne Welt!«

Paula warnte, er möchte nicht waghalsig sein und immer an sie denken. Er antwortete, er nehme auch dann einen Führer mit, wenn Bädeker ihn für entbehrlich erkläre, um sich ganz dem Genuß des Schauens hingeben zu können, und gedenke es auch in Cortina so zu halten. Sie möge unbesorgt um ihn sein. –

An seinen Vater schrieb er nicht. Eines Tages erhielt dieser aber eine Depesche von dort: »Graf Wilfried Pahlen vom Mittagstein abgestürzt. Leider tot aufgefunden. Leiche wird nach Cortina gebracht. Sturz erfolgt, als Führer auf Kuppe Seil schon losgebunden hatte. Bitten um weitere Anweisung telegraphisch.«

Graf Wedigo starrte auf das Blatt. »Abgestürzt – tot ... meinetwegen!« lallte er wie gelähmt und verlor dann die Besinnung.

Bruno reiste sofort nach Cortina ab, Tag und Nacht, die Leiche in Empfang zu nehmen und nach der Heimat zu schaffen. Er vernahm den Führer, der Wilfried auf den Mittagstein geleitet hatte. Der Aufstieg sei beendet gewesen, versicherte der durchaus zuverlässige Mann; der Graf habe, auf seinen Bergstock gestützt, nahe dem Rande des kleinen Plateaus gestanden und auf die Dolomiten gegenüber geblickt. Da er ihn bereits als einen guten Bergsteiger gekannt, habe er an Gefahr gar nicht gedacht und sich abgewendet, um sich auf einen Stein zu setzen. In diesem Augenblick habe er hinter sich ein polterndes Geräusch vernommen, als ob der Stock auf den Felsboden falle, sich rasch umgeschaut und den jungen Herrn im halben Kreisel gegen den Abgrund taumeln sehen. Es sei ihm unmöglich gewesen, ihn zu erreichen und aufzuhalten, einen Schrei habe er nicht gehört. Ein Schwindel müsse den Grafen plötzlich erfaßt und bewußtlos in die Tiefe gerissen haben. Ein trauriger Zufall!

Ein trauriger Zufall.

Es fand sich keine Zeile von Wilfrieds Hand, aus der sich ein absichtliches Handeln hätte schließen lassen. Bruno kam nicht einmal auf den Gedanken einer solchen Möglichkeit. In der Mappe lag ein angefangener Brief an Paula, ganz heiteren Inhalts. Er hatte sich offenbar mit ihm beschäftigt, bis der Führer sich meldete, und brach mitten in einem Satz ab, der ihr in zärtlichen Worten mitteilte, daß er letzte Nacht sehr lebhaft von ihr geträumt habe. »Auch jetzt wachend, träume ich immer ...« Er hatte auch da hoch oben von ihr geträumt, der Bergstock war auf dem Felsboden ausgeglitten, der Körper, der sich zu vertrausam auf ihn stützte, hatte das Gleichgewicht verloren. So mußte das Unglück geschehen sein.

So erhielt Paula den Bericht. Man sagte ihr anfangs nur, daß er gestürzt sei, aber sie vermutete gleich das Schrecklichste. »Es war zu viel Glück,« sagte sie wie mit ersterbender Stimme, »– es konnte nicht dauern.«

Das waren die einzigen Worte, die sie sprach, bis die Leiche anlangte. Sie wollte sie sehen, wie auch der alte Graf sie flehentlich bat, sich zu schonen. Erst als sie sich über den toten, furchtbar verstümmelten Leib des geliebten Mannes warf, löste sich der Starrkrampf, die Thränen flossen in Strömen, und lautjammernd beklagte sie sein Schicksal und ihre Verlassenheit. Graf Wedigo stand dabei. Er hätte aufschreien mögen: Ich hab ihn in den Tod getrieben – ich! Meine Sünde hat ihn getötet. Verwirf mich, wie er mich verworfen hat! Aber sein Mund mußte für diese Selbstanklage geschlossen bleiben: es war seines Sohnes Wille, daß Paula nie erfahren sollte, was er ihr gewesen, und daß er freiwillig aus dem Leben geschieden, um ihr bis zum letzten Hauch der Geliebte zu bleiben. Es war sein heiligstes Vermächtnis, daß er schweigen sollte.

Der Greis legte seine bebende Hand tastend auf Paulas Schulter. »Ich kann ihn dir nicht wiedergeben,« jammerte er, »kann nicht – kann nicht ... Aber du bleibst – meine Tochter.«


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