Ernst Wichert
Der Väter Sünden
Ernst Wichert

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Der Tischler Bilsfeld bewohnte ein kleines einstöckiges Häuschen »am Graben«, das ihm gehörte. Er sollte ein sehr ordentlicher Mann sein und eine sehr ordentliche Frau, auch drei Kinder haben, die in die Stadtschule geschickt würden und immer sehr sauber angezogen gingen. Er habe klein angefangen, übernehme aber jetzt die Arbeiten für Neubauten und gelte für wohlhabend. Sehr achtbare Leute.

Wilfried war der Meinung, es dürfe nur einer von ihnen dorthin gehen. Der Besuch müsse ganz unauffällig sein. Offenbar wisse hier in der Stadt niemand von dem ältesten Kinde der Frau, das sei auch ferner nicht nötig. »Geh du,« bat er Bruno.

So geschah's denn auch. Das Häuschen mit dem Schilde »Tischlerei von G. Bilsfeld« wurde leicht aufgefunden. Hinter einem anschließenden Lattenzaun lagen Stapel von Brettern und anderen Hölzern. Der Hof schien sich bis zum alten Stadtgraben hinabzuziehen. Dort wurde gesägt und gehämmert.

Bruno zog die Glocke. Die Thür wurde von einer hübschen, einfach, aber mit Geschmack gekleideten Frau geöffnet. Sie ließ den fremden Herrn sogleich in das Vorderzimmer ein, in dem sich ganz schmucke, vielleicht von dem Eigentümer des Hauses selbst gefertigte Möbel befanden.

»Frau Bilsfeld?«

»Die bin ich. Wünschen Sie bei meinem Mann eine Bestellung zu machen? Er arbeitet draußen. Ich werde ihn gleich rufen.«

Der Gast hielt sie am Arm zurück. »Später, später vielleicht, liebe Frau. Es ist mir lieb, daß ich Sie allein antreffe. Ich wünschte gerade mit Ihnen etwas zu besprechen.«

»Mit mir?« Sie zog den Sofatisch ein wenig ab und deutete nach dem Sofa. »Darf ich bitten, mein Herr?« sagte sie höflich, aber verwundert.

Er setzte sich auf den Stuhl am Tisch und nannte seinen Namen und Stand. Dabei schien nur der »Referendarius« ihre Aufmerksamkeit reger zu machen.

»Sie sind vom Gericht –« bemerkte sie, kaum fragend, als verstünde es sich von selbst.

Bruno verneinte. Er sei bei der Regierung beschäftigt und komme auch nicht in beruflichen Angelegenheiten. »Ich möchte eine Auskunft von Ihnen haben und sichere Ihnen die allerstrengste Diskretion zu.«

»Aber wir haben gar keine Geheimnisse,« antwortete sie, verlegen lächelnd.

»Um so besser,« meinte er. »Sie heißen Girod mit Vatersnamen, nicht wahr?«

»Ja, mein Herr.«

»Antonie.«

»Ja, Antonie.«

»Und sind in Neu-Pforten zu Hause.«

»Allerdings. Da ist mein Vater gestorben.«

»Bevor Sie Ihren jetzigen Mann heirateten – mehrere Jahre vorher – hatten Sie ein Kind.«

Sie richtete sich erstaunt auf. »Ich?«

»Ein Mädchen.«

Ein lebhaftes Kopfschütteln. »Sie irren in der Person, mein Herr.«

»Doch nicht. Das Kind ist in der dortigen Kirche Paula Girod getauft.«

Sie legte den Arm auf den Tisch und beugte sich vor. »Mein Kind?«

»Das muß ich annehmen.«

»Aber ich habe nie ein Kind gehabt außer den dreien in der Ehe mit meinem Mann.«

Der Graf wiegte ungläubig den Kopf und holte aus der Seitentasche das beweisende Papier vor. »Nochmals, liebe Frau, ich verspreche Ihnen alle Verschwiegenheit. Ich würde mich in diese Angelegenheit, die Ihnen peinlich sein mag, nicht eingemischt haben, wenn nicht zu einer bevorstehenden Heirat Paulas der Konsens der Mutter dringend erforderlich wäre.«

»Aber ich versichere Sie –«

Er reichte ihr das Blatt. »Wollen Sie die Güte haben, diese Urkunde ...«

Frau Bilsfeld warf einen Blick darauf und fuhr zusammen. Sie wurde bleich und sofort sehr rot. Alles Blut stieg ihr in die Stirn. »Ach – das –!« rief sie und schöpfte hastig Atem.

»Es ist der Taufschein einer Tochter der unverehelichten Antonie Girod in Neu-Pforten, namens Paula, geboren den achtzehnten August –«

»Das ist eine Schlechtigkeit,« unterbrach ihn die Tischlerfrau, die sich schnell gefaßt hatte, »eine Schlechtigkeit, von der ich nichts weiß, als daß ich in der Dummheit meinen Namen hergegeben habe.«

»Der Taufschein ist also richtig und betrifft Sie als Mutter des Kindes.«

»Es kann sein – ich will's nicht bestreiten. Aber von dem Kinde ist mir nichts bekannt – hab's nie im Leben mit Augen gesehen. Es ist mein Kind nicht. Lieber Himmel! Damals war ich ein junges Ding –«

»Aber wie wollen Sie das denn erklären?« Bruno war ganz stutzig geworden, da das Benehmen der Frau den Eindruck der Wahrhaftigkeit machte.

Sie fing an zu weinen. »Es ist mir hoch und heilig versprochen worden, das alles solle nie zum Vorschein kommen, und kein Mensch von dieser Schlechtigkeit erfahren. Sie hätten ja auch allen Grund zu schweigen, da sie sonst in schwere Strafen kämen. Und nun ist's doch ausgebracht, und ich soll das zu verantworten haben. Es ist ja richtig, Herr Referendar, ich hab eingewilligt, daß mein Name ins Kirchenbuch eingetragen würde, aber ich hab mir damals wahrhaftig nicht so viel dabei gedacht. Und nun ... O du mein Himmel!«

»Erzählen Sie doch,« bat Bruno. »Es ist ja für Sie selbst das beste, wenn die Sache aufgeklärt wird.«

»Ja, das will ich,« schluchzte die Frau, »mag daraus nun werden, was will. Ich war so arm, so schrecklich arm, nicht das Sattessen hatte ich manchmal, und was ich mit Arbeit verdiente, wurde mir gleich abgenommen, weil's noch immer nicht so viel war, als ich angeblich gekostet hatte und kostete. Von der Kirche erhielt ich eine kleine Unterstützung, dafür mußt ich die Kinder warten helfen, die bei der Küsterin aufgezogen wurden. Eines Tages fragte der Küster mich: ›Toni, willst du ein reiches Mädchen werden?‹ – ›Das könnt ich brauchen,‹ gab ich ihm zur Antwort. Da nahm er mich in eine Ecke und sagte mir, es sei ein großes Unglück geschehen. Ein vornehmes Fräulein hätte ein Kind, von dem keiner aus der Familie etwas erfahren dürfte, und der Verführer sei ein Graf, der ihr nicht gerecht werden könnte, da er schon verheiratet sei; aber seine Frau wüßte davon und sei eine gute Freundin von der jungen Dame und wollte selbst die Sache in Ordnung bringen, damit kein Unfriede in die Familie käme. Und die Küsterin wollte ihr gern zu dem guten Werk behilflich sein, brauchte dazu aber eine, die ihren Namen hergebe. Und da hat er mich gestreichelt und mir gesagt: ›Thu du's aus Mitleid, Toni! Du bist ein armes Ding, um das sich kein Mensch kümmert; es ist gleichgültig, ob du da im Kirchenbuch stehst oder nicht. Und du hast ja doch ein reines Gewissen, Toni, und weißt am besten, daß du ganz unschuldig bist. Niemand erfährt auch ein Sterbenswort davon, daß du eingeschrieben stehst; denn das sind sehr reiche Leute, und für das Kindchen ist gut gesorgt, und sich selbst werden sie doch nicht ausbringen.‹ Anfangs hab ich nicht gewollt, denn Falschheit war doch dabei, und ich hatte mir noch nichts zu schulden kommen lassen. Aber der Küster wurde immer dringlicher und bot mir fünfzig Thaler und dann hundert und endlich zweihundert. ›Das ist ein ganzes Vermögen für dich, Toni,‹ sprach er mir zu, ›und du kannst dein Glück machen für nichts und wieder nichts.‹ Ich hatte ihn stets für einen Ehrenmann gehalten, und er war doch bei der Kirche. Da gab ich endlich nach und nahm's auf mich, ohne recht zu wissen, was ich that. Als es aber geschehen war, da riet er mir, fortzugehen, damit ich in der Stadt ganz in Vergessenheit käme, und nahm mir mit vielen Drohungen das Versprechen ab, wie das Grab zu schweigen; denn sonst kam ich in Strafe, obschon ich vor Gott nichts Böses gethan hätte. Da bin ich denn auswärts in Dienst getreten und hab das Geld auf Sparkasse gegeben und gesagt, es sei ein Erbteil von meinem Vater. Keiner hat sich auch näher danach erkundigt, und auch mein Mann –« – sie brach plötzlich ab und wurde kreidebleich – »ach Gott, ach Gott! was wird mein Mann dazu sagen!«

»Er weiß nichts davon?« fragte Bruno, der mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört hatte.

»Nein, kein Wort,« bestätigte sie. »Warum sollte er's erfahren? Ich betrog ihn ja nicht; und ich dacht auch gar nicht mehr daran, daß ich meinen Namen hatte einschreiben lassen. Wegen des Geldes sagt ich ihm nicht die Wahrheit. Wie konnt ich? Er hat sich auch gar nicht danach erkundigt, wo es hergekommen war. An so etwas könnt er doch nicht denken.«

Die Kinder kamen aus der Schule nach Hause, zwei Knaben und ein Mädchen, das sie zwischen sich an den Händen hielten, hübsche Kinder mit roten Backen und hellen Augen. Sie klopften schon draußen ans Fenster, sich bemerklich zu machen, damit sie nicht erst zu läuten nötig hätten. Die Frau ging auch gleich hinaus und öffnete. »Euer Brot liegt auf dem Küchentisch,« sagte sie, »und für jeden ein Apfel dabei. Lauft in den Garten und meldet dem Vater, daß ein Herr –«

»Frau Bilsfeld!« rief Bruno ihr zu, da die Thür zu dem engen Flur offen geblieben war. »Wollen Sie's nicht lieber für sich behalten?«

»Nein, nein!« entschied sie sehr bestimmt. »Ich mag kein Geheimnis vor ihm haben.« Sie trat wieder ein. »Wenn man so glücklich miteinander lebt –« setzte sie hinzu, »und ihn trifft's ja auch nicht.«

Bruno war nun noch mehr geneigt, ihr vollen Glauben zu schenken, wie sehr ihre Mitteilungen ihn auch überrascht hatten. Er nannte dem Tischler, der durch das Hinterzimmer eintrat, seinen Namen und übernahm es selbst, ihm den merkwürdigen Fall vorzutragen, als ob an der Aussage der Frau kein Zweifel sein könne. Sie stand dabei, glühend rot im Gesicht, und nickte bestätigend.

Bilsfeld hörte anfangs ruhig, dann zwar sichtlich erregt, aber schweigend zu. Er hatte alle Farbe verloren und blickte finster vor sich hin, immer kurz atmend, die eine Hand in der Tasche, mit der anderen den blonden Kinnbart drehend. Mitunter zuckte es um seinen festgeschlossenen Mund. Erst nach einigen Minuten sagte er, ohne aufzusehen, mit Bitterkeit: »So, so – davon ist also das Geld.«

»Ja, davon ist das Geld,« antwortete die Frau, »und daß ich dir's nicht verraten habe, mag unrecht sein. Aber sonst ist nichts dabei, das wird sich doch wohl von selbst verstehen.«

Sie trat zu ihm und wollte ihren Arm auf seine Schulter legen, aber er wies sie unfreundlich zurück.

»Und der Taufschein – ?« Er nahm das Papier in die Hand und las die Schrift wieder und wieder. »Es steht doch da.«

»Ja, es steht da,« sagte sie, »und das ist sehr ärgerlich. Ich hätte mich nicht bethören lassen sollen, für alles Geld in der Welt nicht. Und hätt ich geahnt, daß es so einmal herauskommen würde ...« Sie weinte wieder in ihre Schürze hinein.

Der Tischler schien ganz schwach zu werden. Er setzte sich auf einen Stuhl und stützte den Kopf in die Hand, leise stöhnend. »Der Taufschein beweist doch –« murmelte er, »und bevor nicht das Gegenteil... Das ist ein schwarzer Tag.«

Nun nahm der junge Graf wieder das Wort. »Die Sache hat sich ja für Sie durchaus befriedigend aufgeklärt, Herr Bilsfeld,« sagte er. »An der Richtigkeit der Erzählung ist nicht zu zweifeln. Die falsche Eintragung ins Kirchenbuch ist freilich nun einmal erfolgt, der Taufschein muß vorgelegt werden, wenn das Aufgebot für Paula erfolgen soll, und die Einwilligung der Mutter läßt sich dann nicht entbehren. Das einfachste scheint doch, wir rühren an der alten Geschichte gar nicht und lassen den Taufschein gelten, soviel er gilt. Ihre Frau erfüllt die Form und giebt den Konsens. Mehr verlangt die Behörde nicht, als daß der Form genügt wird. Die Papiere kommen in die Akten, und kein Mensch fragt weiter danach. Es bleibt alles still wie bisher.«

»So lange es denen gefällt, die davon wissen,« knirschte der Tischler zwischen den Zähnen vor. »Und dann hat sie's ja durch ihre Schrift zugestanden.«

»Wir sind aber in der üblen Lage, einen Konsens vorlegen oder beweisen zu müssen, daß die im Taufschein genannte Mutter nicht die Mutter ist, und die rechte Mutter nicht mehr lebt,« wendete Bruno ein. »Bedenken Sie das. Es kommt für Ihre Frau und Sie dabei nicht Gutes heraus, wenn der Fall untersucht wird.«

»Das wollen wir uns doch noch überlegen,« sagte Bilsfeld und legte die Hand schwer auf den Tisch.

Der Gast versicherte, daß er ihn nicht übereilen wolle. Er nannte den Gasthof, in dem er abgestiegen war. Der Tischler ließ es dahingestellt, ob er ihn da aufsuchen werde.

Wilfried war über das Ergebnis dieser Nachforschung äußerst erstaunt. Er litt schwer unter der Vorstellung, daß seine Paula schon in frühester Jugend so traurige Schicksale erlebt, von der eigenen Mutter verleugnet sein sollte. »Laß uns mit den Nachforschungen abbrechen,« bat er. »Hier sollte die Spur abbrechen – vielleicht zu Paulas Heil. Denn was ist das für eine Mutter ... Ah! es empört mich. Wir sind sicher, glaube ich, daß Verwandte sich nie um sie bekümmern werden, auch wenn sie meine Frau ist; und daß diese Frau Bilsfeld nie die Ansprüche einer Schwiegermutter erheben wird, steht außer Zweifel. Paula ist ganz ohne Anhang. Das wird den Papa beruhigen.«

»Ich wäre ganz einverstanden,« entgegnete Bruno, »wenn wir über den Taufschein hinwegkommen könnten. Aber ich sehe nicht, wie das geschehen soll.«

Am Abend kam nicht Bilsfeld, wohl aber seine Frau. Sie sah sehr verweint aus und klagte, das Glück ihrer Ehe sei vernichtet. Was sie nie für möglich gehalten – ihr Mann habe sie in Verdacht, ihn sträflich hintergangen zu haben. Er habe sie furchtbar geschlagen, um ein Geständnis zu erpressen – zum erstenmal, so lange sie verheiratet seien. Er verlange von ihr, daß sie den Taufvermerk aus der Welt schaffe. Lieber wolle er, daß sie, wenn es sein müsse, wegen der Fälschung des Kirchenbuches eine Gefängnisstrafe verbüße, als eine Frau haben, die ihm Unehre in die Ehe eingebracht. »Was fange ich nun an?« rief sie ganz außer sich. »Das Fräulein, von dem Sie reden, muß anerkennen, meine Tochter nicht zu sein. Aber das genügt meinem Mann noch nicht: das Taufregister soll geändert werden. Und wie bring ich das zuwege? Stehen Sie mir bei. Ich werde Zeugen benennen können, die mich bis zu meinem Abzug von Neu-Pforten täglich unter Augen gehabt haben und bekunden müssen, daß unmöglich geschehen sein kann, was ich mir leichtsinnig selbst schuld gegeben habe.«

Bruno ging noch einmal in die Wohnung des Tischlers, und Wilfried begleitete ihn diesmal. Sie fanden ihn ganz so wild, wie seine Frau ihn geschildert hatte. Es gelang nicht, ihn zu überzeugen, daß die Ausstellung des Heiratskonsenses ihm ganz ungefährlich sei. Das Angebot einer erheblichen Geldsumme machte ihn wütend. »Ich bin bisher ein ehrlicher Mann gewesen,« schrie er, und habe geglaubt, eine ehrliche Frau zu haben und eine ehrliche Mutter meiner Kinder. Ich will Gewißheit haben, daß sie's ist. Was ich selbst thue, das steht bei mir. Zuerst will ich mich mal in Neu-Pforten umschauen. Daraus wird sich's ergeben.«

Da die Grafen ihn zu keiner anderen Erklärung vermögen konnten, mußten sie abreisen. Wilfried ging nach seiner Garnison zurück, Bruno meinte mit seinem Vater das Weitere beraten zu sollen.


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