Ernst Wichert
Der Väter Sünden
Ernst Wichert

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

Der Graf hatte mit Wilfried verabredet, das Diner im Kasino einzunehmen. Nun ließ er in letzter Stunde absagen.

Es war etwas geschehen, das ihn eigentlich hätte froh stimmen können. So weit er den Wünschen seines Sohnes nachgegeben – weit, weit über seine Neigung hinaus – von außen her trat etwas vor ihn hin und gebot Halt. Er war vollkommen gerechtfertigt, wenn er erklärte, nicht darüber weg zu können; und so erreichte er, was ihm das Genehmste war: die bürgerliche Heirat seines Sohnes kam nicht weiter in Frage. Aber er vermochte doch nicht darüber froh zu werden. Es war ihm zu verständlich geworden, was Wilfried so mächtig zu dem Mädchen zog; er lebte sich in dessen Schmerz hinein, fühlte ihn in seiner Seele gleichsam voraus. Und nicht nur sein Sohn that ihm leid, auch Paula, die es ihm schon zu sehr angethan hatte, bedauerte er nicht nur oberflächlich. Wie viele Herzen hatte er selbst gebrochen, als er noch ein flotter Kavalier war. Er erinnerte sich nicht, daß es ihm je so tief gegangen war, als da es sich nun um des Sohnes Geliebte handelte – außer in einem Falle vielleicht, in einem Falle ... Es schwebte ihm, ohne daß er in Gedanken danach suchte, etwas aus der Vergangenheit vor, schattenhaft und wenig greifbar, aber es schwebte in seine jetzige Kümmernis hinein. Weshalb nur? Das war ja ganz anders gewesen, durch und durch anders. Und doch ... Ja, damals hatte er auch ein so schmerzliches Mitleid mit einem geliebten schönen Weibe empfunden, und dazu Gewissensbisse wie nie vorher und nachher. Jetzt freilich war sein Gewissen gar nicht beteiligt. Der Fall lag ganz anders, ganz anders. Und doch ...

Wilfried kam, sich besorgt nach seinem Befinden zu erkundigen. »Um Himmels willen, was ist geschehen?« fragte er, als er ihn sah.

»Mein armer Junge,« stotterte der Alte, ihm immer die Wange streichelnd, »ich kann dir's nicht ersparen – beim besten Willen nicht. Aber es ist vielleicht gut, daß so mit einem Schlage ... Thut mir doch leid, sehr leid – deinetwegen – des Mädchens wegen.« Er teilte ihm mit, was er erfahren hatte, so schonend es geschehen konnte.

Wilfried war bestürzt, im Augenblick ganz sprachlos. Er konnte sich nicht darüber täuschen, daß der enthüllte Umstand in der That den Dingen ein ganz verändertes Ansehen gab. Ihm selbst war Paula nicht mehr dieselbe. Es schien ihm jedenfalls undenkbar, den Vater jetzt zur Einwilligung in eine Verbindung mit ihr zu bewegen. Es waren nicht mehr nur aristokratische Vorurteile, die da hätten überwunden werden müssen; was sich jetzt störend entgegenstellte, war auch ihm ein Schreckbild, an dem er nicht meinte vorüber zu können.

Er ließ den Grafen abreisen. Einer weiteren Aussprache bedurfte es nicht. Es war nur noch zu erwägen, was für ihn weiter zu thun und wo eine Stelle auf der Erde zu finden, die ihm gestattete, mit seinem Schmerz allein zu sein.

Er wollte Paula schreiben. Aber bald erschien es ihm als eine rechte Feigheit, von ihr nicht Aug in Auge Abschied zu nehmen. Es war nichts vorgefallen, was ihr Wesen berührte; sie verschuldete den Makel ihrer Geburt nicht, wußte bisher nicht einmal von ihm. Sollte sie jetzt über sich aufgeklärt sein, so war sie auch so einsichtsvoll, zu begreifen, daß eine Trennung unvermeidlich, und der Geliebte unter ihr so schwer litt wie sie selbst.

Die Frau Konsul hatte, als er sich in der Villa meldete, mit Paula schon gesprochen. Durch sie war das arme Kind darauf vorbereitet, daß Wilfried genötigt sein würde, sich zurückzuziehen, wenn er nicht als Offizier seinen Abschied nehmen und mit der Familie und den Standesgenossen unheilbar zerfallen wolle. Paula war tief erschüttert und hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen. Unmöglich könnte er sie jetzt sprechen; aber die besorgte Frau bat ihn auch, überhaupt von einer persönlichen Begegnung abzusehen. Sie würde ihm dankbar sein, wenn er seine Versetzung nachsuchen und sogleich Urlaub nehmen wolle. Paula werde sich leichter beruhigen, wenn sie sicher sei, auch nicht zufällig durch ihn an ihr Unglück erinnert zu werden.

Wilfried versprach nichts, und nach einigen Tagen war es ihm zur Gewißheit geworden, daß eine solche Flucht ihm ein unerträgliches Gefühl von Schwachmütigkeit zurücklassen und Paula beleidigen würde. Er schrieb ihr, daß er sie sprechen müsse – müsse! nichts weiter und nannte die Stunde. Da er keine Antwort erhielt, ging er. Sie fühlte wie er.

Paula empfing ihn auch, aber in Gegenwart der Frau Konsul, die es vielleicht selbst so angeordnet hatte. Das schwere Weh, das ihr Herz erfahren, lag in ihren Augen und auf dem bleichen Gesicht; zugleich aber war unverkennbar, daß der Stolz nicht leiden wollte, sich dem Schmerz willenlos zu beugen, und bemüht war, sie aufzurichten. Sie wußte, daß alles vorbei sein müßte, und that nichts, dieses Verhängnis abzuwehren. Kein flüchtiger Blick sagte ihm, daß sie von seiner Liebe etwas über Menschenkraft erhoffe. Es sollte sein, als ob nie zwischen ihnen das Band geknüpft sei, das nun zerrissen werden mußte; es sollte am liebsten kein Wort über diese traurige Notwendigkeit gesprochen werden. Man konnte ja Abschied nehmen, als ob ein lieber Hausgenosse eine lange Reise antrete, und beim letzten schweigenden Händedruck viel denken.

Wilfried war gekommen, den ganzen Jammer seines Herzens auszuströmen und sie zu bitten, ihm sein Wort zurückzugeben ohne Groll und Bitterkeit, ihm zu glauben, daß er einem übermächtigen Zwange weiche. Nun er sie sah und ihr Schmerz sich nicht demütigte, war das im Augenblick vergessen. Ein blitzschneller Entschluß überhob ihn jedes Versuches, in Formen, die seiner vornehmen Gesinnung genügen könnten, eine Lösung herbeizuführen. Er ging auf sie zu und ergriff ihre Hand, die er mit Küssen bedeckte. »Paula,« rief er, »es scheidet uns nichts – es darf uns nichts scheiden! Das am wenigsten, was ganz unverschuldet ist! Wie ich dich liebte, liebe ich dich. Jetzt weiß ich, daß ich kam, dir zu sagen, daß ich mich selbst belogen und betrogen haben würde, wenn ich dir etwas anderes gesagt hätte.«

Sie lehnte den Kopf an seine Brust. »Du thust mir sehr wohl,« flüsterte sie innig, »– auch wenn es doch nicht sein kann. So geliebt war ich!«

»So geliebt bist du,« antwortete er. »Was kann nicht sein? Nur von uns hängt es ab, einander anzugehören. In deiner Liebe werde ich glücklich sein, auch wenn ich alles hingebe, was mich hindern wollte, meinem Herzen zu folgen. Die Welt ist weit, und nichts bindet uns an die Scholle. Halte mir Wort, Liebste, wie ich dir Wort halte.«

Die Frau Konsul wollte Einspruch erheben, aber alle ihre gutgemeinten Vorstellungen fruchteten nichts. Sie bat ihn dringend, wenigstens Bedenkzeit zu nehmen, ruhig zu überlegen, mit seinem Vater und seinem Bruder zu sprechen. Er wisse, was sie ihm entgegenwerfen würden, versicherte er, und habe schon über sich entschieden trotz alledem. Sie gab ihm zu bedenken, daß Paulas Nähe ihm die Freiheit des Handelns nehme. Er werde bereuen, sobald er mit sich allein sei. Paula sei darauf gefaßt gewesen, ihn verlieren zu müssen; nun erwecke er in ihr neue Hoffnungen. Der Schmerz werde sie töten, wenn sie sich als unerfüllbar erwiesen. Lieber möge er gleich ein Ende machen.

Der junge Graf wollte nichts davon hören. Er wollte nicht einmal zugeben, daß er sich in einen Heroismus der Liebe hineinrede. Etwas Ungewöhnliches möge er thun, gewiß nichts Außerordentliches. Was er vertrete, müsse jeder vertreten, der seiner Herzensneigung gefolgt sei.

Dieses edle Feuer zehrte denn auch bei den beiden Damen jeden Rückstand von Bedenklichkeit fort. Paula war sehr glücklich. –

Wilfried schrieb seinem Vater, daß er von dem Mädchen nicht lassen könne und alle Folgen auf sich zu nehmen bereit sei. Zugleich reichte er als Offizier sein Abschiedsgesuch ein.

Nach einigen Tagen kam Bruno.

Er verschonte seinen Bruder nicht mit schweren Vorwürfen wegen der thörichten Vermessenheit, sich der Meinung der Welt entgegenstemmen zu wollen, und noch mehr wegen der Rücksichtslosigkeit gegen seine Familie, die mit leiden werde. Es hätte wahrlich nicht viel gefehlt, daß nach Empfang des Briefes den Alten der Schlag rührte; er sei eine Weile wie gelähmt gewesen und habe die Worte verwechselt. »Ich begreife ihn und dich nicht,« sagte er. »Die Frauenzimmer haben über euch Gewalt und verleiten euch zu Thorheiten. In verschiedener Weise freilich. Ich mache kein Hehl daraus, daß mir der Alte mit seinen Liebschaften nie besondere Achtung eingeflößt hat. Du hast diesen Zug zum Weiblichen von ihm geerbt. Aber es fehlt dir sein Leichtsinn, und so verführt er deine Ehrenhaftigkeit zu noch schwereren Ausschreitungen.«

Wilfried verbat sich sehr ernstlich jede Zurechtweisung von seiner Seite.

»Ah!« rief Bruno ärgerlich, »der Alte hatte am Ende nicht so Unrecht mit seinem grandiosen Ausspruch: Wenn er das Mädel durchaus haben muß – wozu denn gleich heiraten? So etwas bekommt man billiger!«

Wilfried war empört. Wie habe er so etwas hinreden können, da er doch Paula kannte!

»Es war im ersten Ärger,« suchte Bruno zu begütigen, »und er nahm's dann auch selbst zurück. Du seist in solchen Dingen doch einmal viel zu schwerfällig angelegt, meinte er. Ein Erbteil der seligen Mutter! Du erinnerst ihn auch sonst an sie; deshalb die anderenfalls unbegreifliche Nachgiebigkeit gegen deine allerunsinnigsten Wünsche – ich glaube nämlich, daß er am Ende doch noch zu deiner Hochzeit kommt. Er ist in seinen Ältesten vernarrt, vielleicht weniger, weil er die Frau, der du gleichst, unvergeßlich liebte, als weil er ihr so viel abzubitten hatte. So oder so – die Thatsache steht fest.«

»Lästere nicht,« verwies ihm Wilfried, »du sprichst von unserem Vater.«

Bruno stieß ein höhnisches Lachen aus. »Er hat dafür gesorgt, daß die Pietät kaum verletzt werden kann. Wie dem aber sei, ich komme in seinem Auftrage, um dir seinen schwersten Zorn anzudrohen, wenn du Paula heiratest, und dir nebenher zu sagen, daß du ihn durch deinen Ungehorsam in die Grube bringen würdest. Ich weiß nicht, wie viel du auf das eine und andere giebst –«

»Ich hoffe auf seine versöhnlichere Stimmung,« unterbrach Wilfried, »wenn er sich überzeugt haben wird, daß ich thue, was ich thun muß, ohne mit mir selbst zu zerfallen. Ich habe bereits meinen Abschied gefordert.«

Bruno hob das Kinn. »Ich habe nichts anderes erwartet. In der Hauptsache also kein Wort weiter. Es bleiben aber doch so manche Zweifel noch zu lösen, und es liegt im Familieninteresse, daß sie vor der Hochzeit gelöst werden. Vielleicht kann ich dir als Praktikus dabei nützlich sein und biete dir deshalb meine Dienste an.«

»Was meinst du?«

»Was ich meine? Wir wissen bisher kaum mehr, als daß Paula nicht die Tochter der Konsul Bergmannschen Eheleute ist. Es scheint unter solchen Umständen doch nicht nur wünschenswert, sondern geradezu geboten, in Erfahrung zu bringen, wer die Mutter ist, ob sie noch lebt, wo und in welchen Verhältnissen sie lebt und welchen Anhang sie hat. Ganz abgesehen davon, daß ihre Einwilligung gefordert werden wird, wenn Paula eine Heirat eingehen will, möchte es sich auch empfehlen, dich im voraus gegen alle Zudringlichkeiten von jener Seite zu sichern – dich und die Familie.«

Diese Vorsorge mußte Wilfried als berechtigt anerkennen. Brunos Beistand konnte ihm von Nutzen sein, da er selbst geschäftlich recht unerfahren war. Er nahm ihn deshalb mit Dank an. Die Brüder verabredeten zunächst eine gemeinsame Fahrt nach Neu-Pforten, um in der dortigen Kirche Nachfrage zu halten.

Das Kirchenbuch wurde ihnen von dem Geistlichen willig vorgelegt. Der Taufschein ergab sich als eine korrekte Abschrift daraus; irgend welche Bemerkungen am Rande oder sonst wo fehlten. Was war das für eine Antonie Girod, die als die Mutter des Kindes genannt war? Der Geistliche, ein noch junger Mann und erst seit wenigen Jahren hier im, Amt, wußte nicht die mindeste Auskunft zu geben. Der damalige Pfarrer war an eine andere Stelle versetzt worden und bereits verstorben.

Es standen zwei Taufzeugen eingetragen. Der eine war ein jetzt schon recht alter Mann, der als Gärtner auf dem Kirchhof arbeitete. Er wurde aufgesucht, konnte sich aber durchaus nicht an den Akt erinnern. Er sei häufig, wenn ein anderer Taufzeuge fehlte, vom Küster herbeigerufen worden und habe dann für Hergabe seines Namens eine Kleinigkeit erhalten. So werde er häufig im Kirchenbuche zu finden sein. Wenn das ernstliche Patenämter gewesen sein sollten, hätte er für viele Kinder zu sorgen. Er schien zu glauben, daß man ihn irgendwie in Anspruch nehmen wolle. Aber auch nachdem dieser Irrtum beseitigt und ihm obendrein ein Stück Geld in die Hand gedrückt war, konnte sein Gedächtnis sich nicht weiter stärken, als daß ihm so vorschwebte, es hätte einmal in der Gemeinde ein armes Mädchen gegeben, das Toni genannt sei und eines Franzosen Tochter gewesen sein sollte, eines Seiltänzers, der aber nicht mehr lange nach seiner Niederlassung gelebt habe, vielleicht auch im Krankenhause gestorben sei. Auf den Namen besann er sich nicht. Er wunderte sich, daß »die Kleine« ein Kind gehabt haben solle. Es könne ja aber wohl sein. »So was passiert, meine liebe Herren, und wird dann so heimlich in Ordnung gebracht. Kann sein, daß die Mutter bei der Taufe gar nicht zugegen gewesen ist, und dem Würmchen hab ich's nicht ansehen können, daß es der Toni Kind war. Kann sein.«

Es war aus ihm nichts weiter herauszubringen. Die Toni sei nachher in Dienst gegangen, wahrscheinlich in einer anderen Stadt. Sie wäre ihm »so verschwunden«. »Wer kann wissen, meine lieben Herren, wo solche liederlichen Personen bleiben.«

Der zweite Zeuge war der damalige Küster. Er lebte nicht mehr. Seine Frau war städtische Hebamme gewesen und betrieb noch ihr Geschäft am Ort. Bruno suchte sie auf und trug ihr den Fall vor. Sie schien erschrocken, als sie den Namen Antonie Girod hörte, und musterte den Gast mit forschenden Blicken, als ob er ihr etwas Unrechtes zumuten wollte. Sie war eine alte vertrocknete, unordentlich gekleidete Person, die auch Ziehkinder hielt und Karten legen sollte. Obgleich sie Sonntags nie die Kirche versäumte, stand sie nicht in bestem Ruf; das hatten die Grafen schon vorher erfahren. Nun that sie gleich beleidigt, als Bruno sie auszufragen anfing. Was man von ihr wolle? Sie sei in Ehren grau geworden, und niemand könne ihr etwas nachsagen. Das solle ja auch nicht geschehen, suchte der Graf sie zu beruhigen. Man hoffe nur durch sie auf die Spur der Mutter des Kindes zu kommen, für das man sich interessiere. Sehr auffällig trat ihr der Schweiß auf die Stirn, so daß sie ihn unter dem struppigen Haar wiederholt mit einem Lappen abwischte, der so gut eine Windel wie ein Taschentuch sein konnte. »Ich weiß von nichts,« sagte sie sehr energisch, »und wer behauptet, daß ich davon etwas weiß, der lügt infam. Wenn die Antonie Girod als Mutter von dem Kinde eingetragen ist, so wird sie's ja auch sein. Wer kann was anderes sagen?«

»Aber es ist ja gar nicht die Rede davon, daß das Kirchenbuch nicht richtig geführt sein könnte,« wendete Bruno ein. »Ich will nur wissen, wo diese Antonie Girod, die Ihr Mann doch gekannt haben muß, geblieben ist.«

Die alte Person sah ihn wieder mit einem heimtückischen Blick an. »Mein Mann war ein frommer, gottesfürchtiger Mann,« sagte sie, »der sein Amt bei der Kirche treu verrichtet hat bis an sein Lebensende. Hat er sich da als Taufzeugen eintragen lassen, so wußte er, was er that. Es geht mich nichts an. Ich hab ihn nie danach gefragt, was in der Sakristei vorgegangen ist.«

»Aber Sie wissen vielleicht, was aus dieser Antonie Girod wurde, liebe Frau. Das ist das einzige, was ich von Ihnen erfahren möchte.«

»Aus der Antonie Girod – ? Was soll aus ihr geworden sein? Wer bekümmert sich um ein armes Mädchen? Das kann froh sein, wenn das Kind versorgt ist. Sucht irgendwo draußen eine Stellung, wo man's nicht kennt und von der Geschichte nichts weiß. Natürlich.«

»Ist Ihnen bekannt, wer sie ins Unglück gebracht hat?«

Die Alte grinste höhnisch. »Die Antonie Girod! Nein, das weiß ich nicht, wahrhaftig! Ich weiß von ihr gar nichts, als daß sie ein recht hübsches und armes Mädchen war. Es giebt viel Schlechtigkeit in der Welt. Die reichen Leute decken sie mit Geld zu. Warum soll sie wieder aufgedeckt werden zu der Welt Ärgernis? Wer zu schweigen versprochen hat, wird nicht so thöricht sein, gegen sich selbst zu reden. Ich denk mir's so. Tot, tot, tot.«

»Wer ist tot?« forschte Bruno. »Die Mutter des Kindes?«

»Ja, die ist tot,« fuhr die Küsterin hastig zu; »es ist am besten, daß sie tot ist und die ganze Geschichte begraben. Ich weiß von nichts, Herr! Ich weiß von gar nichts.«

Bruno griff in die Westentasche, zog ein paar Goldstücke heraus und schob sie zwischen den Fingern hin und her. »Wer etwas wüßte,« bemerkte er, »könnte sich einen guten und leichten Verdienst schaffen.«

Die Augen der Alten brannten gierig auf dem blanken Gelde. »Ja, wer etwas wüßte und es sagen könnte, ohne sich selbst ... Nein, Herr, ich weiß nichts. Tot, tot, tot.«

Sie kehrte ihm den Rücken zu und beschäftigte sich mit den Kindern, die unruhig geworden waren. Da sie nichts weiter sprach, blieb Bruno nur übrig, seinen Rückzug zu nehmen. – –

Wilfried war indessen nach dem Dorfe Pappeln hinausgefahren, das die Frau Konsul genannt hatte.

Er ließ den Wagen am Wirtshause halten und erkundigte sich nach der Witwe Schwallien, der sie das Kind abgenommen. Er wurde zu einer alten Frau gewiesen, die bei einer verheirateten Tochter den Altensitz hatte und schon bedenklich stumpf geworden war. Sein Kommen erregte bei ihr große Verwunderung. Sie reinigte einen Holzstuhl mit der Schürze und bat den Herrn Grafen – er hatte sich genannt, um mehr Vertrauen zu erwecken – mit vielen tiefen Verbeugungen und wiederholten Fragen, was ihr die Ehre verschaffe, sich niederzulassen. Ob sie sich eines Kindes erinnere, das sie vor bald neunzehn Jahren in Pflege erhalten?

»Erinnern, Herr Graf? Ach nein. Es ist zu lange her.«

»Eines Mädchens?«

»Ja, es war ein Mädchen, Herr Graf. Und ich hab immer das Geld erhalten, pünktlich am ersten, bis ungefähr vor einem Jahr, da war's alle geworden, und der Herr Justizrat war auch gestorben. Wir haben uns erkundigt; das Geld war wirklich alle geworden.«

»Das Mädchen hieß Paula.«

»Es kann wohl sein, Herr Graf, es kann wohl sein. Wer behält das so lange? Ich hab mich nur immer beim Herrn Justizrat melden dürfen, dann hab ich das Geld ohne ein Wort bekommen. Wie das Kindchen aussah, weiß ich nicht mehr. Aber wie ein Engelchen gewiß. Ich hab's auch nicht lange gehabt.«

»An wen haben Sie's denn abgegeben?«

»Ja, da kam einmal eine Dame, der hat's gefallen. Eine Frau Konsul, denk ich, so hat sie sich genannt. Sie hat mich darauf auch zu ihrem Mann bestellt, der im Gasthaus »Zu den drei Hirschen« krank war, und dem hat das Kindchen auch gefallen. Sie wollten es durchaus haben, und der Herr Justizrat hat auch eingewilligt. Und weil ich doch das Geld nicht verlieren sollte und noch ein schönes Präsent dazu bekam, bin ich nicht dagegen gewesen. Denn bei reichen Leuten war das Kindchen doch besser aufgehoben. Von dem Geld hab ich meine Tochter ausgestattet und die Pflege bezahlt, so lang es gereicht hat. Es ist aber mit dem Schwiegersohn abgemacht, daß ich lebenslänglich verpflegt werden muß. Lang werd ich's ja nicht mehr machen.«

Wer ihr denn das Kind übergeben gehabt habe, fragte der Graf nun. Bei diesem Punkt wurde aber das Gedächtnis sehr schwach. »Das ist noch länger her,« sagte sie. »Es war aber eine vornehme Dame – ja, ja! eine sehr vornehme Dame.«

»Eine vornehme Dame?«

»Ich hab sie nur ein- oder zweimal gesehen, denk ich. Ja, es war eine sehr vornehme Dame. Die Küsterin sagte zu ihr: Frau Gräfin.«

»Also nicht die Mutter des Kindes.«

»Nein, sie sagte, es gehöre einer Freundin von ihr, die sehr krank wäre ... Oder – ich weiß doch nicht mehr, ob sie sehr krank war. Es kann mir auch so in Gedanken kommen, weil der Herr Konsul –«

»Antonie Girod?«

Die Alte lächelte blöde vor sich hin. »Ach – das war nur so.«

»Was war nur so?«

»Ich weiß nicht, aber sie sagten: das ist nur so.«

»Besinnen Sie sich genau. Was?«

Sie rieb die runzelige Stirn. »Ich weiß wirklich nicht. Sie können es auch etwas anders gesagt haben. Aber sie gaben mir doch das Papier, das ich darauf der Frau Konsul gegeben habe, und darin stand es.«

Graf Wilfried merkte, daß es ganz vergeblich sein würde, weiter in sie zu dringen. Als er aufstand, erhob auch sie sich und humpelte ihm am Stocke bis zur Thür nach. »Ach – entschuldigen Sie die unbescheidene Frage, Herr Graf,« sagte sie. »War das Ihre Frau Mutter?«

»Meine Mutter?« Er lachte verwundert. »Wie kommen Sie darauf?«

»Ja, ich dachte nur – weil Sie sich doch erkundigen und ein Herr Graf sind, und – und –«

»Nun?«

»Ich kann mich auf meine blöden Augen nicht verlassen, aber als Sie in die Thür eintraten, da fiel mir gleich ein – ja, ja! ehe Sie noch gefragt hatten, fiel mir gleich die vornehme Dame ein. Nehmen Sie's nicht für ungut, Herr Graf.«

Wilfried beschenkte sie und ging.

Als die Brüder im Gasthause wieder zusammentrafen und ihre Erlebnisse austauschten, meinte Bruno: »Die ehemalige Frau Küsterin ist eine Hexe. Ich wette darauf, sie weiß mehr, wahrscheinlich aber etwas für sie selbst Verfängliches. Deshalb wird es schwer sein, ihr die Zunge zu lösen.«

»Und die alte Frau, mit der ich's zu thun hatte, ist offenbar schon ein wenig im Kopfe verwirrt. Es ist ja möglich, daß sich eine vornehme Dame für diese Antonie Girod bemüht hat – vielleicht eine Verwandte ihres Verführers; aber ihre Frage, ob sie meine Mutter gewesen sei, war doch sehr sonderbar, auch wenn man sich's allenfalls zurechtlegt, wie sie die Gräfin, von der die Küsterin gesprochen, mit dem Grafen in Beziehung brachte, der nach dem Kinde fragte. Ich versichere dich: Wie sie mich so forschend betrachtete – es ging mir durch und durch.«

»Du bist nervös,« antwortete Bruno, »was ja zu verstehen ist. Übrigens ergiebt sich schon aus der Äußerung der Alten, daß die Küsterin mehr wissen muß. Behalten wir uns vor, sie schärfer anzufassen, wenn wir erst noch mehr Material zusammen haben. Es muß, denke ich, gelingen, die Antonie Girod ausfindig zu machen. Mag man auch guten Grund gehabt haben, sie zur Seite zu schieben, so kann sie doch nicht vom Erdboden verschwunden sein.«

Auf seinen Vorschlag begaben sich die Brüder nach der Bürgermeisterei und ließen feststellen, daß ein Mädchen jenes Namens wirklich am Orte gewohnt hatte. Sie war als Ortsarme in einer alten Liste verzeichnet, und neben ihrem Namen fanden sich Notizen, die annehmen ließen, daß sie sich stets sehr ordentlich geführt habe. Dem Bürgermeister war auch nicht erinnerlich, daß er je etwas Nachteiliges über sie gehört hätte. Er glaubte auch versichern zu können, daß sie bis in ihr siebzehntes oder achtzehntes Jahr die Stadt nie verlassen gehabt habe. Dann freilich sei sie fortgegangen und nicht mehr zurückgekehrt.

Wohin? Es war fraglich, ob die Abmeldungslisten aus jener Zeit noch aufbewahrt seien. Der Bürgermeister, der den vornehmen Herren gern eine Gefälligkeit erwies, fand sie endlich in einer Dachkammer unter den reponierten Akten vor. Antonie Girod war nach dem Städtchen Kreuzberg abgemeldet, wo sie in Dienst treten wollte. Das war vor mehr als achtzehn Jahren geschehen.

So war nun für weitere Nachforschung die Richtung gegeben. Das Städtchen Kreuzberg lag nur vier Meilen von Neu-Pforten entfernt. Die Grafen nahmen einen Wagen und fuhren am anderen Morgen dorthin.

Die Erkundigung im Polizeibüreau ergab, daß eine Antonie Girod dort nicht wohnte. Ob früher? wann? wie lange? ließ sich nicht ermitteln, da das alte Papier längst an den Krämer verkauft war. Endlich erinnerte sich ein Magistratsbeamter, der bei der Sparkasse thätig war, daß einmal ein Dienstmädchen die erstaunlich große Summe von zweihundert Thalern eingelegt habe; das hätte so einen fremdländischen Namen gehabt. Die Bücher der Kasse waren noch vorhanden, die Einlage wurde vorgefunden. »Antonie Girod – zweihundert Thaler.«

Es waren dann einige Jahre lang die Zinsen berechnet und nebst anderen Ersparnissen zugeschrieben. Und endlich, jetzt vor zwölf Jahren, war das ganze Guthaben abgehoben – von der »Tischlerfrau Antonie Bilsfeld, geborenen Girod«. Also verheiratet!

Nun begann die Suche nach dem Tischler Bilsfeld. Er war damals Geselle gewesen, hatte sich selbständig gemacht und war gleich nach der Heirat verzogen. Zum Glück wußte sein Meister, der aufgefunden werden konnte, wohin. Er hatte sich in Thalheim, einem anderen Landstädtchen, niederlassen wollen.

Dorthin begaben sich nun die Brüder.


 << zurück weiter >>