Ernst Wichert
Für tot erklärt
Ernst Wichert

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IX.

Die Krügerin hatte am Hochzeitsabend, als die Gäste sich entfernt hatten, noch eine Szene gemacht. Vorher durch das blanke Messer Peter Klars' doch eingeschüchtert, hatte sie ihrem Zorn freien Lauf gelassen, als er nicht mehr zu fürchten war.

»Wie kann der Lump es wagen, in unser Haus einzudringen, wie ein Bandit, mit dem Messer in der Hand?« hatte sie sich, mit den Armen herumfechtend, geäußert, »war's morgen nicht Zeit genug mit dem Spektakel, wenn er sich schon nicht schämte, als Vagabund in die Heimat zurückzukehren, wo er Weib und Kind hat hungern lassen. Hat man sich dazu die großen Kosten gemacht und das halbe Dorf traktiert, daß man zuletzt noch froh sein muß, wenn man in seinem eigenen Hause nicht Prügel bekommt? Und da steht das feige Gesindel und sieht zu – zwanzig, dreißig Männer, und keiner hebt die Hand auf! Der Herr Ortsvorsteher – das ist der rechte; dem Herrn Landrat kann er aufspringen, und vor dem Gendarm machte er einen tiefen Bückling, aber wenn ihn einmal einer aus dem Dorfe braucht, dann hat er stets sein Amtsschild vergessen! Und du bist auch so eine Milchsuppe, die keinen satt macht, läßt dir auf der Nase spielen und kannst nicht einmal zu rechter Zeit den Mund auftun! Das hätte mir einer bieten sollen, wenn ich ein Mann wäre, die Flinte hätte ich genommen und ihm eine Kugel durch den Kopf gejagt wie einem tollen Hunde. Erst ein großes Lamento gemacht, als ob du ohne die Annika nicht leben könntest, und deiner alten Mutter halb und halb die Türe gewiesen – ich gratuliere zu der jungen Frau, die ihrem Manne schon die erste Nacht wegläuft. Das kann sie sich ja auch wohl erlauben, sie kennt dich ja. Es ist ja bloße Gnade und Barmherzigkeit, daß sie dich überhaupt genommen hat – ich könnte rasend werden! Durchgreifen hättest du müssen und gleich heute, dann wäre es ein für allemal abgemacht gewesen. Aber natürlich darf sie kein schlimmes Wörtchen hören, die Zuckerpuppe, beileibe nicht!« –

Eine Magd, die mit dem Abräumen der Gläser beschäftigt war und in ihre Nähe kam, erhielt eine Ohrfeige, daß sie sich umdrehte, das Geschirr fallen ließ und heulend hinauslief. »Was hast du da zu gaffen, dumme Trine!« rief ihr zornig die Hausfrau nach und warf die Tür in die Angeln.

Konrad stand mit verschränkten Armen am Fenster und schien auf dieses tolle Treiben kaum zu achten. Erst als seine Mutter die tief herabgebrannten Lichter bis auf eins, welches sie in der Hand behielt, ausgelöscht hatte und, durch sein beharrliches Schweigen nur noch mehr geärgert, mit den höhnischen Worten: »Nun, willst du etwa auf dem Musikantenplatz dein Junggesellenlager aufschlagen?« an ihn herantrat, erwachte er wie aus einem schweren Traume, rieb sich die Stirn und die Augen und sagte ganz verwirrt: »Ist es schon Zeit?« Madame Hilgruber hielt ihm das Licht vor und erschrak über sein leidendes Aussehen, konnte sich aber in ihrer aufgeregten Stimmung nicht entschließen, ihm ein freundliches Wort zu sagen.

Er holte tief Atem und legte die Hand auf die Brust, als ob ihn etwas schmerzte. »Mir ist so eigen«, murmelte er vor sich hin. »Gute Nacht, Mutter.«

Er nahm das Licht und ging mit schnellen, aber nicht ganz sichern Schritten zur Tür hinaus, die Treppe aufwärts nach dem kleinen Zimmer, das für ihn und Annika eingerichtet war. Er dachte wohl in diesem Augenblick nicht daran, es verändert zu finden.

Madame zog sich brummend in ihr Schlafzimmer zurück, und entkleidete sich.

Plötzlich hörte sie über sich einen schweren Fall, der die dünne Bretterdecke erschütterte. Dort oben war ihres Sohnes Stübchen – sollte ihm etwas passiert sein? Das bleiche Gesicht mit den tiefliegenden, blaugerandeten Augen erschreckte sie wieder. Sie eilte hinauf.

Konrad lag am Boden, ohnmächtig oder tot.

Der gellende Schrei, den sie ausstieß, trieb die Mägde aus ihren Kammern, das ganze Haus kam wieder in Unruhe. Man hob den regungslosen Körper aufs Bett, das mit grünen Zweigen umsteckt war, lief nach Wasser, nach Essig, riß das Fenster auf, um der kühlen Nachtluft den Zutritt zu gestatten, rief dem Knecht zu, eiligst den Wagen anzuspannen und nach dem Doktor zu jagen.

Madame Hilgruber jammerte und rang die Hände, rief unaufhörlich: »Helft doch, Kinder, helft doch!« und legte ihren Leuten, die sich wirklich die größte Mühe gaben, ihrem armen Herrn einen nützlichen Dienst zu erweisen, die zärtlichsten Schmeichelnamen bei. Das war so ihre Art in der Not. Als der Arzt noch in der Nacht anlangte, war Konrad wieder bei Besinnung, aber noch sehr matt. Er röchelte beim Atmen und warf mitunter Blut aus. Das Sprechen wurde ihm schwer. Auf die Frage des Doktors, was ihm zugestoßen sei, winkte er ihn mit den Augen nahe an sich heran und flüsterte ihm ins Ohr, daß ihm im Herzen plötzlich etwas gesprungen oder zerrissen sei. »Das ist Täuschung!« beruhigte ihn derselbe, »da springt und reißt nichts!« untersuchte aber sorgfältigst seine Brust, ordnete an, daß der Kranke sich ganz ruhig verhalten solle, und versprach ein Tränkchen zu verschreiben, das der Knecht gleich aus der Apotheke mitbringen könne.

Madame Hilgruber begleitete ihn zum Wagen. »Ist Gefahr, mein liebster, bester Herr Doktor?« fragte sie, ihm unausgesetzt die Schulter und den Arm streichelnd. »Ach Gott, ich habe gewiß mit meiner Heftigkeit das ganze Unheil angerichtet.«

Er hielt es für seine Pflicht, ihr zu sagen, daß der Fall allerdings bedenklich sei; man könne noch nicht wissen, welchen inneren Schaden die Brust genommen habe. »Sie müssen ihn vor jeder Aufregung sorgfältig hüten,« schloß er, »sonst kann er Ihnen leicht draufgehen. Er ist immer kein Held gewesen, hat seinen schwachen Körper gewissermaßen vom Vater geerbt, und die Geschichte im Winter auf dem Eise hat ihm den Rest gegeben.«

»Ja, ja,« klagte sie, »da kommt das ganze Unglück her. Daß er sich auch in diese Person vergaffen mußte.«

»Sie ist jetzt Ihre Schwiegertochter«, unterbrach sie der Doktor, der durch den Knecht während des Fahrens ungefähr soviel erfahren hatte, als zu seiner Orientierung über die Sachlage nötig war; »vergessen Sie das nicht, meine liebe Madame Hilgruber, am wenigsten in Gegenwart Ihres Sohnes. Sorgen Sie dafür, daß die unangenehme Angelegenheit, die diesen schmerzlichen Vorfall herbeigeführt hat, fürs erste gar nicht zur Erörterung kommt. Bei der geringsten Aufregung könnte ein Blutsturz seinem Leben ein Ende machen. Ich spreche nachmittags wieder an. Adieu!«

Der Wagen rollte fort.

Die Nacht über wurde am Bett des Kranken gewacht; gegen Morgen fiel er in tiefen Schlaf. Als er erwachte, fragte er nach Annika.

Madame Hilgruber schickte, sie holen zu lassen, und war die Liebenswürdigkeit selbst, als sie bald darauf kam. »Ich war beim Pfarrer,« sagte Annika, »und hatte auch noch mit meinem Manne zu sprechen –«

»Mit deinem Manne?« fragte die Krügerin, eine saure Miene ziehend, aber doch nicht unfreundlich.

»Ich meine Peter Klars«, ergänzte die Frau, die Augen senkend. »Ich erfuhr erst, als ich nach Hause kam – – es ist doch nicht gefährlich?«

»Sehr gefährlich, mein liebes, gutes Kind, sehr gefährlich«, versicherte Madame Hilgruber und küßte sie wiederholt. »Du weißt ja, wie lieb er dich hat und über alles hält, und nun gestern der schreckliche Mensch – ich wollte sagen, dein früherer Mann, mein Kindchen – es hat ihn schwer niedergeworfen. Du kannst nichts dafür, mein Engelchen, es hat dich selbst erschreckt und augenblicklich aus der Kontenance gebracht, aber nun hast du dich sicher besonnen, wohin du gehörst, und wirst das deinige dazu tun, daß dein lieber Mann bald wieder gesund und munter ist. Nicht wahr, darauf kann ich mich verlassen?«

»Ich wollte Konrad bitten, mich auf die Nehrung zurückgehen zu lassen«, antwortete Annika zögernd; »ich kann unmöglich –«

»I mein Himmel, wo denkst du hin?« unterbrach die Krügerin sie stirnrunzelnd und offenbar drauf und dran, ihre mühsam bewahrte Geduld zu verlieren; »das wäre ja nicht besser, als wenn du einen Mord begingest! Der Herr Doktor hat ausdrücklich gesagt, daß ihm jede Aufregung tödlich sein kann. Auf die Nehrung gehen – deinen Mann in der Krankheit verlassen! Das wäre ja abscheulich. Sieh ihn nur erst!«

»Ich will ihn sehen!« äußerte sie entschlossen nach einigem Nachdenken und folgte der Alten in die Krankenstube.

Als sie das blasse, verkümmerte Gesicht Konrads erblickte, dachte sie freilich selbst nicht mehr an die Möglichkeit einer Auseinandersetzung über den gestrigen Vorfall. Er lächelte freundlich, als sie an sein Bett trat, und machte den Versuch, ihr die Hand zu reichen. Tiefes Mitleid überkam sie; sie streichelte ihm die eingefallene Wange und küßte ihn auf die Stirn. Es tat ihm wohl. –

Nachmittags kam wieder der Doktor und brachte den Apotheker mit, der vor Begierde brannte, an Ort und Stelle nähere Erkundigungen über den Vorfall einzuziehen, der die ganze Umgegend in nicht geringe Aufregung versetzte. Er war gleichfalls zur Hochzeit eingeladen gewesen, hatte aber einer andern Gesellschaft wegen abgesagt, was er nachträglich tief bedauerte, und wollte nun das Versäumte möglichst nachholen und sich vor allen Dingen einmal »den Toten« ansehen. Das machte denn auch keine Schwierigkeit; Peter Klars war bald aufgefunden und überredet, seine wunderbaren Reiseabenteuer mitzuteilen. Der Apotheker war der erste, der ihn danach fragte; den übrigen kam die Tatsache, daß er überhaupt wieder da war, von so überwiegender Wichtigkeit vor, daß sie sich mit dem Wie der Rettung kaum beschäftigten.

»Armer Kerl!« sagte der Apotheker, als Peter Klars geschlossen hatte; »Euch ist's wahrhaftig so schlecht gegangen, daß Euch dieses Letzte hätte erspart werden können. Und was denkt Ihr jetzt zu beginnen?«

»Ich warte hier auf meine Frau.«

»Auf Eure Frau?«

»Sie ist im Kruge. Ich litte es nicht, wenn er nicht krank wäre.«

»Pah!«

Der Seemann streckte die Hände in die Taschen, sah den Apotheker forschend an, als ob er sich überzeugen wollte, wieweit man seinem Urteil Glauben schenken könnte, und fragte dann nach einer Weile: »Halten Sie die Trauung von gestern für fest?«

»Gewiß.«

»Auch wenn Annika nicht will?«

»Sie wird närrisch sein, nicht zu wollen! Ihr seid ein stattlicher Mann, Peter Klars, und ich will gern glauben, daß sie Euch recht gut gewesen ist, aber der Krüger bleibt doch immer der Krüger. Was will Eure Fischerkate gegen den Krug sagen, das Land nicht einmal gerechnet! Und es bleibt doch eine schöne Sache, ein halb Dutzend Mägde kommandieren und aus der vollen Speisekammer wirtschaften –«

Peter Klars maß ihn mit einem zornfunkelnden Blick. »Und wenn ich Ihnen sage, daß Sie in großem Irrtum sind, daß Annika von allen diesen Herrlichkeiten nichts wissen will und nach der Nehrung zurückgehen wird –«

Der Apotheker drehte ein abgerissenes Blatt wie eine Pille zwischen den Fingern und ließ das zierliche Kügelchen auf der flachen Hand hin und her laufen. »Pah!« rief er lächelnd, »guter Rat kommt über Nacht, lieber Freund, sie wird sich besinnen. Es wäre das gescheiteste, wenn Ihr die Sache vernünftig nehmen und Euch und der jungen Frau das Leben nicht unnütz schwer machen wolltet. Das Unglück ist nun einmal geschehen, und geschehene Dinge sind nicht zu ändern.«

»Meinen Sie?«

»Laßt Euch ein gut Stück Geld vom Krüger geben, er wird damit nicht knausern. Die Welt ist weit, wie Ihr selbst am besten erfahren habt, und eine hübsche Frau ist auch noch anderwärts zu haben.«

Der Matrose fuhr wild von seinem Platze auf. »Verflucht meine Hand, wenn sie auch nur einen Pfennig annimmt. Ich will nichts als mein Weib.«

Der Apotheker zuckte die Achseln. »Ja, dann hättet Ihr hübsch zu Hause bleiben und nicht in Afrika Entdeckungsreisen machen müssen. Es tut mir leid, daß Ihr gleich so aufbraust, wenn man Euch vernünftig zuredet; ich hätte gern für Euch vermittelt.«

»Es läßt sich nichts vermitteln. Entweder – oder!« Er zog die Augenbrauen finster zusammen und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Ich sage: entweder – oder!« rief er heftig. »Kehrt sie zu mir zurück – gut! Wo nicht, so bin ich entschlossen – –«

»Nun?«

»Lassen wir das!« Nach einer Weile sagte er ruhiger: »Es wäre doch gut, wenn es nicht zum Äußersten käme. Sie sagen, die Trauung ist fest, und der Pfarrer meint dasselbe. Aber wenn die Annika selbst nun los sein will – gibt's kein Mittel, als ihm ans Leben zu gehen?«

Der Apotheker rückte entsetzt einen Schritt weiter. »Pfui, Peter Klars!« rief er, »Ihr werdet doch nicht –!«

Der Seemann schob den Hut aus der Stirn, auf der große Schweißtropfen perlten. »Ich frage nur so –« beruhigte er. »Man muß doch an alles denken. Gibt's kein Mittel?«

»Ja nun, wenn die Annika wirklich durchaus will? Sie darf ja nur Grund zur Scheidung geben.«

»Hm! Zum Beispiel–«

»Wenn sie ihrem Mann fortläuft.«

»Sie will fortgehen, aber mit seiner Bewilligung.«

»Dann ist's nichts.«

»Also etwas anderes.«

»Ehebruch ist auch ein Scheidungsgrund.«

»Ehebruch!«

»Ihr meint ja, daß sie Euch noch liebt.«

»Also wenn sie mich liebt –«

»Seid nicht närrisch, ich spaße ja mir.«

»Aber ich spaße nicht. Also wenn sie mich liebt – mich, ihren Mann, das wäre genug?«

»Pah, liebt –!«

»Gut, ich verstehe, was Sie meinen. Es wäre, denke ich, keine Sünde, wenn sie mir gewährt, was sie mir schuldig ist.«

» War, alter Freund. Und schließlich wäre das immer nur ein Scheidungsgrund auf seiten des Krügers.

»Er wird kein Hund sein und dergleichen ruhig hinnehmen.«

Der Apotheker lachte. »Ein Mann, der seine Frau verführt – nicht übel!«

Der Matrose sprang auf, sagte kurz Adieu und lief die Dorfstraße abwärts, dem Kruge zu. In der Nähe desselben kam ihm das Fuhrwerk des Doktors entgegen. Derselbe ließ halten und rief ihn heran. Er teilte ihm mit, daß die Annika im Kruge beim Kranken bleiben müsse, und fügte, als er die Aufregung bemerkte, in die ihn sofort diese Nachricht versetzte, ohne einen Wutausbruch abzuwarten, hinzu, die Annika selbst lasse ihm sagen, er könne dieserhalb ganz ruhig sein, sie werde an ihrem früheren Entschluß unwandelbar festhalten. »Ihr könnt in der Tat ganz ruhig sein«, sagte der Doktor; »Hilgruber ist Euch für jetzt nicht gefährlich.« Dann fuhr er bis zu dem Hause, in welchem Annika die letzte Nacht zugebracht hatte, und gab Anordnung, daß der kleine Peter nach dem Kruge geschafft werden solle. Hier stieg auch der Apotheker auf, der sich von der Wirtsfrau den Vorfall von gestern abend nochmals ausführlich hatte erzählen lassen.

Den Auftrag, den der Doktor an Klars ausrichtete, hatte er von Annika wirklich erhalten. Auf Veranlassung der alten Krügerin hatte er mit ihr gesprochen und freilich keine besonders Mühe gehabt, sie zu überzeugen, daß sie den Kranken in seiner jetzigen Lage nicht verlassen dürfe, zugleich aber auch aus ihren ängstlichen Andeutungen ihre Sorge erkannt, wie Peter Klars ihr Bleiben aufnehmen würde. »Ich habe ihm versprochen, nach der Nehrung zu gehen,« hatte sie zuletzt offen herausgesagt, »und wenn ich nun nicht gehe, wird er glauben, daß ich nicht Wort halte. Das muß er aber glauben, sonst geschieht sicher ein Unglück.« Der Doktor hatte versprochen, ihn zu beruhigen, und sich zugleich erkundigt, ob er den kleinen Peter herüberschicken solle. »Ich weiß nicht, ob er's erlaubt,« hatte sie traurig eingewendet, »er hat jetzt darüber zu verfügen. Aber wenn Sie ihn fragen möchten –« das hatte der Doktor nun allerdings nicht für erforderlich erachtet. –

Die folgenden Tage gingen ohne wesentliche Veränderung der Sachlage hin. Der Matrose hatte im Dorfe sein Quartier aufgeschlagen und beobachtete sorgfältig den Krug, wie ein Soldat auf Vorposten. Er scheute sich auch nicht, hineinzugehen, sich gleich den andern an den eichenen Tisch zu setzen und sein Glas Bier zu fordern. Madame Hilgruber vermied es, ihn anzusehen, wenn sie die Krugstube passieren mußte, und ging so gravitätisch vorüber, als ob sie ein steifes Genick hätte; sie wollte ihrerseits Frieden halten, so schwer es ihr innerlich auch wurde, an sich zu halten. »Er wird wieder gesund werden,« tröstete sie sich, »und dann ist's noch immer Zeit, einmal in der Krugstube aufzuräumen; vorläufig muß der Kranke geschont werden.« Wenn Peter Klars aber hoffte, auch einmal mit Annika zusammenzustoßen, so täuschte er sich; die Krügerin wußte es schon so einzurichten, daß sie nicht nötig hatte, die Krankenstube zu verlassen, am wenigsten, wenn so gefährliche Gesellschaft im Kruge war.

Aber daß der kleine Peter dem Vater durch seinen Frohsinn die schleichende Zeit kürzen half, konnte sie doch nicht hindern. Der Junge langweilte sich oben, wo alles so ängstlich still war und der kranke bleiche Mann im Bett lag, und seine Mutter, wenn jener schlief, so oft weinte. Wie sich nur eine Gelegenheit ergab, entwischte er, spielte in der Krugstube mit den Hunden, die sich dort stets in großer Zahl zusammenfanden, oder machte auch eine Exkursion auf den Hof, wo ihn die Knechte im Stall auf die Pferde setzten oder sonst amüsierten. Er hatte vor dem braunen bärtigen Gesicht des Matrosen anfangs einige Scheu, merkte aber bald den guten Freund in ihm und ließ sich Süßigkeiten zustecken, mit denen Klars sich aus dem großen, weißen Glase des Gewürzkrämers versorgt hatte, das zwischen Kalkpfeifen, Tabakspäckchen und Likörflaschen an dem kleinen Schaufenster seines Ladens stand und die heimliche Sehnsucht der gesamten Dorfjugend in sich konzentrierte. Es ärgerte Klars wohl, wenn irgendein Nachbar sagte: »Sieh, Peter, das ist dein Vater!« und der Junge den Kopf schüttelte und zur Antwort gab: »Papa liegt oben im Bett und ist krank –« aber er ließ sich gegen das Kind nichts merken, sondern streichelte ihm das blonde Haar und meinte: »Er kann's ja nicht besser wissen, sie haben ihm das so eingeredet.« Die ganze Liebe des Knaben gewann er sich aber, als er ihm aus Korkholz ein kleines Schiffchen schnitzte, von Schwefelhölzern Masten einsetzte und von Papier Segel darauf hing. Der Junge war ganz toll vor Freude darüber und lief sofort treppauf zur Mutter. »Wer hat dir das gegeben?« fragte Annika. »Der fremde, gute Mann«, sagte er und fügte nach einer Weile ganz ernst, indem er sich zu Konrad wendete, hinzu: »Du bist wohl mein Papa, aber der ist mein Vater.« Dem Kranken fuhr's wie ein Stich durchs Herz, aber er lächelte freundlich, und Annika wandte sich gegen das Fenster und unterdrückte einen Seufzer.

Nun wollte der kleine Peter das Schiffchen auch schwimmen sehen und folgte gern dem Seemann vor das Hoftor hinaus an den Graben, in dem sich der Regen gesammelt hatte. Seitdem waren sie fast unzertrennlich. Nach und nach entstand vor den neugierigen Augen des Knaben eine ganze Flottille von kleineren und größeren Fahrzeugen, und das eine war immer schöner als das andere. Auch prächtige Geschichten wußte der gute Mann zu erzählen, und nie schieden sie, ohne daß er ihm auftrug, seine Mutter zu grüßen und ihr den herzlichen Kuß abzugeben, den er mit auf den Weg bekam. Annika hatte ihre Not, den Kleinen zu beschwichtigen, weil er erst schmeichelnd und zuletzt ungestüm bat, sie möchte doch nur ein einziges Mal mitkommen und die Schiffe schwimmen sehen.

»Der gute Mann wird dir auch gut sein,« rief er dann weinend, »und es ist viel hübscher bei ihm, als hier in der Stube; komm, wir wollen beide zu ihm gehen und immer bei ihm bleiben.«

Annika schwieg; aber Konrad sagte mit leiser, beweglicher Stimme: »Wenn ich gesund sein werde, gehen wir zu ihm; hab' ihn nur recht lieb und sag' ihm, daß er uns auch lieb haben soll.« Die junge Frau dankte ihm mit einem warmen Händedruck. Was er dabei empfand – –

Eine Woche verging und eine zweite. Mit Hilfe des geschickten Arztes, der fast täglich ansprach, und unter der treuen und sorgfältigen Pflege der jungen Frau besserte sich der Zustand des Kranken merklich. Er durfte einige Stunden, dann immer längere Zeit außer dem Bette zubringen, in der Stube auf und ab gehen, auch nicht mehr so ängstlich wie früher jedes Gespräch vermeiden. Nur blieb seine Gesichtsfarbe noch sehr ungesund und seine Stimme heiser. Annika erschien ihm wie ein Engel der Barmherzigkeit; auf jede erdenkliche Weise suchte er ihr das Krankenpflegeramt zu erleichtern oder wenigstens zu zeigen, wie wohl ihm jede freundliche Dienstleistung tue. Wer die näheren Verhältnisse nicht kannte, hätte sich kein zarteres und innigeres Verhältnis denken können.

Und doch waren ihre Herzen heimlich voll Unruhe, und diese Unruhe stieg von Tag zu Tag. Es lag noch etwas unausgesprochen zwischen ihnen, und das mußte über kurz oder lang aus dem Wege. Mitunter, wenn er Annika in ihrer aufopfernden Werktätigkeit beobachtete, gab er sich der stillen Hoffnung hin, daß noch alles für ihn gut werden könne, daß inzwischen irgendein ihm noch verschwiegener Umstand eingetreten sei, der die Schwierigkeiten der Lage zu seinen Gunsten gemindert haben möchte, und er hütete sich, nähere Auskunft zu erbitten, um sich wenigstens diese schöne Täuschung möglichst lange zu erhalten. Wie glücklich hätten wir sein können, dachte er oft: und warum sollten wir's nicht sein? Hat dieser Zufall wirklich Macht über uns? Er darf nicht! Wenn sein überströmendes Gefühl sich dann aber in Zärtlichkeiten äußern wollte und Annika plötzlich dastand wie eine unnahbare Heilige, dann sank ihm wieder der Mut, und eine melancholische Stimme flüsterte ihm zu: »Weit, weit vom Ziele, du wirst sterben und es nicht erreichen! – Ach, nur eine kurze Liebesseligkeit, dann mag's zu Ende sein!«

Je mehr die Besserung fortschritt, desto unsicherer fühlte Annika sich in ihrer Stellung. Es war ihre Pflicht gewesen, dem Kranken beizustehen: kein Bedenken konnte dagegen aufkommen. Aber nun er ihrer nicht mehr unbedingt bedurfte, war es ebenso ihre Pflicht, Peter Klars ihr Versprechen zu erfüllen. Schon wiederholt hatte derselbe ihr durch eine Magd sagen lassen, daß er sie zu sprechen wünsche, und zuletzt war eine Drohung zugefügt, die sie in Schrecken setzte. Sie mußte erwarten, daß er sich im Krankenzimmer selbst eine Zusammenkunft erzwang, die bei seiner Leidenschaftlichkeit und Gereiztheit für Konrad die traurigsten Folgen erwarten ließ. Er möchte noch einige Tage Geduld haben, hatte die Magd ihm antworten müssen; es werde sich dann entscheiden. Aber sie zitterte vor dem Gedanken, diese Entscheidung herbeizuführen.

Endlich war sie nicht länger hinauszuschieben. Schon in den ersten Tagen seiner Krankheit hatte Konrad Hilgruber den Wunsch ausgesprochen, sein Testament zu machen. »Es wird hoffentlich nicht zum Schlimmsten kommen, Annika,« sagte er freundlich, »aber auf jeden Fall muß doch für dein Kind gesorgt werden.« Der Arzt hatte damals die Berufung der Testamentsdeputation zu hindern gewußt, aber Konrad ließ deshalb den Gedanken doch nicht los. Es war ihm, als ob er Annika etwas besonderes Liebes für ihre treue Pflege beweisen müßte, und so setzte er's endlich bei seiner Mutter durch, daß sie ein Fuhrwerk nach der Stadt schickte, um den Richter abholen zu lassen.

Annika hatte vergeblich widersprochen. Es war ihr empfindlich, von Madame Hilgruber hören zu müssen: »Das kann dir gefallen, wenn mein Sohn jetzt, wo er wegen seiner Krankheit nicht recht zurechnungsfähig ist, einen dummen Streich macht und fremder Leute Kinder zu Erben einsetzt, als ob sein Vater und seine Mutter dazu gespart hatten, damit du ihm nur ein freundliches Gesicht zeigst.« Aber das hätte sie überwunden. Nur daß Konrad selbst getäuscht werden sollte, daß er in der irrigen Meinung, sie wolle ihm angehören, zu ihres Kindes Gunsten etwas verfügen könnte, daß sie sich selbst, wenn sie dies zuließe, eine Verbindlichkeit auferlegte, für die sie keine entsprechende Gegenleistung zu gewahren imstande sei – darüber kam sie nicht hinaus. So ängstlich ihr das Herz pochte, Konrad mußte aufgeklärt werden. –

Der Krüger fühlte sich heute so wohl, wie noch nie während seiner Krankheit; die Brust war ihm freier, und der Husten schmerzte weniger. Es hatte ihn froh gemacht, daß seine Mutter seinen Wunsch willfahrt, denn er meinte, nun Annika seine Liebe recht offenkundig beweisen zu können. Er wußte wohl, daß sie für sich selbst nichts beanspruchte; deshalb sollte auch im Testamente nicht von ihr, nur von ihrem Kinde die Rede sein.

Konrad Hilgruber öffnete jetzt das Fenster, was er sonst nicht getan hatte, und ließ die frische warme Luft einströmen, legte sich wohl aufs Fensterbrett und schaute auf den Hof hinaus, oder amüsierte sich über die Sperlinge, die auf den Zweigen der alten Linde hin und her hüpften und einen Lärm machten, als hätten sie die wichtigste Beratung vor. Er mußte über den Eifer lachen, mit dem sie in rastloser Beweglichkeit den Platz wechselten, einander anschrien, sich die Federn zausten, zur Erde niederschossen und wieder blitzschnell unter das Blätterdach hinaufhuschten. Besonders beschäftigte ihn ein Spatz, der einen Strohhalm erwischt hatte und die Beute gegen einen Angreifer zu sichern suchte. Hundertmal verlor er den Halm, hundertmal zauste er sich mit seinem Gegner herum, immer von ihm verfolgt; endlich kam ein feister Gevatter zu Hilfe, lenkte die Aufmerksamkeit des Störenfriedes auf sich und trieb ihn bald bis in die Spitze des Baumes hinauf. »Das närrische Volk,« lachte Konrad, »der ganze Hof liegt voll Stroh, aber natürlich müssen sie sich gerade um den einen Halm streiten, den zufällig einer schon in Besitz genommen hat.«

»Machen's die Menschen denn viel anders?« meinte Annika.

Es war ihm heute alles wie neu, der Hahn, der gravitätisch unter seinen Frauen einherstolzierte und sich den kleinen Wurm, den er eben mit Mühe ausgekratzt hatte, vor der Nase fortschnappen oder womöglich vom Schnabel wegpicken ließ; die Tauben, die sich auf dem Dach des Stalles sonnten und so kokett ihre Bücklinge und Knixe machten, wenn der Tauber verliebt gurrend um sie herum scharwenzelte. Annika mußte oft vom Spinnrad aufsehen, um sich irgendeine neue Merkwürdigkeit zeigen zu lassen. Ihre Gedanken waren freilich nicht dabei, aber sie lächelte doch und ließ es wohl auch geschehen, daß er seine Hand auf die ihre legte, oder sich an ihre Schulter lehnte, wenn sie hinaussah, oder sich über sie beugte und mit seinen Lippen ihr blondes Haar berührte. Sie hatte das Gefühl, als ob sie heute alles vermeiden müsse, was wie Unfreundlichkeit aussehen könnte, da sie ihm ja noch eine so schwere Stunde bereiten wollte. Aber gerade diese Nachgiebigkeit erheiterte seine Stimmung noch mehr; er sprach davon, daß sie nächsten Sonntag zusammen zur Kirche gehen wollten, und daß ei sich dann der Wirtschaft wieder ernstlich annehmen werde. Das Leben im Kruge werde ihnen freilich wenig behagen, aber er habe auch schon daran gedacht, das Geschäft ganz seiner Mutter zu überlassen und für sich ein neues Häuschen hinter dem Dorf auf den Krugländereien zu erbauen, dort, wo der Fluß gerade auf seiner Seite ein so schönes, mit Laubholz bestandenes Ufer habe, das zum Garten gezogen werden könne. Er wollte sich dann nur mit der Landwirtschaft abgeben. Annika wurde immer ängstlicher, je lustiger und glänzender diese Seifenblasen aufstiegen; ihre Gutmütigkeit sträubte sich dagegen, sie mit grausamer Hand zu zerstören. Und doch durfte sie seine Hoffnungen nicht noch mehr wachsen lassen; sie war in schlimmster Verlegenheit.

Endlich enthob sie ein Zufall der Notwendigkeit, selbst eingreifen zu müssen. Konrad hatte sich wieder behaglich ins Fenster gelehnt und erzählt, mit wie verschiedenen Empfindungen er hier schon im Laufe der Jahre über das Haff hingeschaut habe, und daß die Linde in letzter Zeit tüchtig gewachsen sein müsse, da sie früher eine weitere Umschau gestattete, jetzt aber die Nehrung mehr und mehr verdecke. »Was kommt es freilich darauf noch an,« fügte er hinzu, »habe ich sie jetzt doch hier bei –« Er unterbrach sich plötzlich und zuckte schmerzlich zusammen. Es mußte auf dem Hofe irgend etwas vorgegangen sein, was seine Empfindungen schroff ablenkte. Annika warf einen scheuen Blick durch das Fenster und bemerkte Peter Klars, der nach dem Kruge gegangen kam. Der kleine Peter lief ihm aus der Haustür laut jubelnd entgegen und hing sich an seinen Arm.

Konrad richtete sich auf und trat einen Schritt zurück. Er war kreidebleich und offenbar einer Ohnmacht nahe. Ein heftiger Hustenanfall brachte ihn wieder zu sich; Annika stand auf, führte ihn auf seinen Lehnstuhl und schloß das Fenster. Sie sprach kein Wort dabei.

Auch er schwieg einige Minuten und sah verstört vor sich hin. Dann erhob er sich und machte einen Gang durchs Zimmer, vermied aber das Fenster. Annika bereitete sich still auf die Erörterung vor, die nun unvermeidlich schien.

»Ist Peter Klars – noch immer hier – im Dorfe?« zwang er sich endlich mühsam zum Sprechen.

»Er ist hier«, antwortete sie leise und zaghaft.

»Und wie lange – gedenkt er noch zu bleiben –«

»Solange ich hier sein werde.« –

Er stand still und blickte halb überrascht, halb erschreckt zu ihr hinüber. Das Wort schien ihm im Munde zu ersterben; er machte noch einige Schritte bis zum Lehnstuhl und ließ sich wieder darin nieder.

Annika trat zu ihm und legte ihre Hand auf seine Schulter. »Es greift dich zu sehr an,« sagte sie mitleidig, »wir wollen heute lieber nicht darüber sprechen. Du mußt erst ganz gesund werden.«

Er wandte ein wenig den Kopf nach ihr und stützte ihn an ihren Arm. »Heute nicht – also morgen doch, oder übermorgen – wenn ich gesund bin – dann gewiß.«

Sie schwieg.

»Besser gleich jetzt!« fuhr er nach einer Weile fort. »Die Marter wäre nicht zu ertragen. Ich bin gesund – ich fühle mich kräftig genug – ich kann hören, was ich einmal hören muß –«

Sie wischte ihm mit einem Tuche den kalten Schweiß von der Stirn, mit zitternder Hand, denn sie selbst war so erregt, daß sie sich nur mit Mühe aufrecht hielt. Da sie nicht Antwort gab, entschloß er sich zu einer Frage, die am nächsten zu liegen schien: »Was verlangt Peter Klars?«

»Frage nicht, was er verlangt«, sagte sie mit erzwungener Ruhe. »Er ist sehr unglücklich, und die Unglücklichen haben wohl das Recht, nur an sich zu denken. Er hat eine Frau verloren, die er liebte.«

»Verloren–?«

»Verloren!« antwortete sie mit großer Bestimmtheit.

»Und ich –?« rief er, indem er sie leidenschaftlich an sich zog, »und ich, was habe ich dadurch gewonnen? Ist meine Liebe nichts? Du bist meine Frau geworden – willst du's nicht mehr sein?«

Sie machte sich sanft von ihm los, ohne sich ihm jedoch ganz zu entziehen. »Ich glaubte ja, daß er tot sei«, sagte sie kaum vernehmbar.

»Aber jetzt lebt er – und du bereust – ?«

»Tief – tief, daß ich ihm untreu war.«

Er sank in die Lehne des Stuhls zurück und deckte die gefalteten Hände über die Augen. »Warum geht's jetzt nicht mit mir zu Ende«, wimmerte er. Dann aber raffte er sich wieder auf, erhob sich und rief: »Aber nein! Ich lasse dich ihm nicht! Du bist mein, ob er lebt oder nicht – mein! Und ich will mein Recht vertreten, weil ich dich liebe. Er ist glücklich gewesen, ich will's auch sein! Warum ich nicht? Wir sind Mann und Weib, Annika – wer will uns scheiden, wenn nicht der Tod? Ja, der Tod kann's vielleicht bald, er klopft schon mit seiner Knochenhand an mein Herz; noch ein Griff, und es steht still. Aber solange es noch schlägt, soll es für dich schlagen, Annika, und niemand soll es hindern – niemand! Keine Gewalt kann dich von mir reißen, wenn ich dich haben will. Und ich will – ich will –«

Er brach erschöpft zusammen. Nur sein brennendes Auge suchte das ihrige, aber sie hatte sich abgewandt und weinte.

»Wenn du mich liebtest, Annika –« hauchte er leise hin. »Kannst du mich nicht lieben?«

»Ich habe dir meine Hand gegeben,« antwortete sie ausweichend, »und du bist damit zufrieden gewesen; das hattest du nicht sollen, Konrad.«

»Ich hoffte –und du wärest nicht kalt geblieben, ich weiß es, Annika, dein Herz sprach schon für mich.«

»Es spricht auch jetzt für dich,« schluchzte sie, »lauter als du glaubst – es bedauert dich tief, es möchte zerspringen vor Schmerz, daß du nicht glücklicher sein konntest, denn du bist gut, Konrad. Aber ich kann dir kein Glück mehr bringen – wahrhaftig nicht! Nur daß ich meiner Pflicht gegen dich nicht untreu werden will, kann ich dir versprechen, wenn es deinen Verlust mindert. Ich werde deine Frau sein, solange du mich so nennen willst, ich werde keinem andern angehören – keinem! Aber verlange nicht, daß ich bei dir bleibe, es wäre mein – und dein Verderben. Laß mich zurückkehren auf die Nehrung in mein einsames Haus. Ich habe Peter Klars gesagt, daß er keine Hoffnung mehr habe; aber er wird sie nur aufgeben, wenn ich mich auch von dir trenne.«

Es war gesagt; ihr Gemüt wurde ruhiger. Auch seine Leidenschaft schien sich abzustillen. Wie er so mit geschlossenen Augen zurückgelehnt dasaß, nahmen seine Züge allmählich einen starren, frostigen Charakter an; er ähnelte mehr als je seiner Mutter. Annika erschrak, als sie, durch sein Schweigen besorgt gemacht, zur Seite blickte. Er mochte innerlich mit schweren Entschlüssen ringen; manchmal zuckten die Augenlider und die Lippen so eigen. Sie kniete neben dem Stuhl nieder und küßte seine welk herunterhängende Hand.

Er zog sie zurück. »Annika–!«

»Vergieb mir, Konrad!«

Er versuchte zu sprechen, aber der Ton versagte ihm.

»Du darfst auch nicht dein Testament machen«, fuhr sie mit inständiger Bitte fort. »Ich kann nichts von dir annehmen, da ich dir nichts gebe, und mein Kind – das du lieb hast, ich weiß es wohl – mein Kind hat nun wieder seinen ersten Vater und wird nicht Not leiden. Und du wirst diesen Schmerz überwinden und vielleicht nach einiger Zeit selbst wünschen, von mir frei zu sein; so sollst du dir nicht die Hände binden.«

Er schüttelte heftig den Kopf.

»Laß mich ziehen, Konrad!«

Es war ein schwerer Kampf. »Und wenn ich nein sagte?« antwortete er rauh.

Sie sah mit ihren großen blauen Augen recht ernst zu ihm auf. »Dann muß ich auf Gottes Barmherzigkeit rechnen!«

»Du wolltest –«

Er las in ihrem Blick, daß sie zum Äußersten entschlossen war.

Nach einer längeren Pause stillen Nachdenkens schob er den Stuhl zurück und stand wieder auf, indem er ihr zugleich die Hand reichte und sie von der Erde erhob. Er ließ sie zur Seite treten und durchmaß das Zimmer mit eiligen Schritten. Endlich blieb er mit dem Rücken gegen Annika stehen und fragte: »Und wann wolltest du fort?«

»Morgen, Konrad – wenn du mich nicht mehr brauchst.«

»Eilt es so?«

»Es eilt.« Sie dachte an Peter Klars' Drohungen.

Er setzte seinen Gang fort, wohl mehrere Minuten lang; dann trat er vor sie hin und sagte augenscheinlich mit schmerzlicher Überwindung: »Du bist sehr aufrichtig gewesen, Annika, sei es auch jetzt. Liebst du Peter Klars noch jetzt?«

Das Blut schoß ihr in die Stirn. »Ich bin deine Frau«, antwortete sie.

»Liebst du Peter Klars noch jetzt?« wiederholte er eindringlicher.

»Beim allmächtigen Gott! Es ist nicht darum, Konrad.«

»Weiche mir nicht aus – sei aufrichtig. Bei deiner Seligkeit, nur jetzt keine Lüge: Du liebst ihn noch?«

Sie legte die Hand aufs Herz. »Weil du die Wahrheit hören willst – aber er soll es nie mehr erfahren,« unterbrach sie sich lauter und lebhafter; »er mag glauben, daß ich ihm auch im Herzen untreu geworden bin, und das soll meine Buße sein.«

»Du liebst ihn.«

Sie schwieg und wagte nicht einmal die Augen zu ihm aufzuschlagen.

Er betrachtete sie lange, wie sie so vor ihm stand, ganz ein Bild in Traurigkeit aufgelöster Entsagung. Er grollte ihr und hätte ihr doch zu Füßen fallen und sie um Liebe bitten mögen, um einen heißen Abschiedskuß wenigstens, um eine Sekunde Seligkeit für ewige Entsagung. Fort, ihr Traume! Er wandte sich ab und sagte kalt: »Es ist gut, Annika – du kannst gehen.«

Sie wollte seine Hand ergreifen und an ihre Lippen ziehen; er ließ es nicht zu. »Geh, geh!« rief er, »ich will allein sein.«

Annika fühlte, daß sie gehorchen müßte. Sie verließ langsam schweren Herzens das Zimmer.


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