Ernst Wichert
Für tot erklärt
Ernst Wichert

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V.

Der alte Klars wurde in einen weißen Holzsarg gelegt, den die Fischer aus einigen Brettern zusammennagelten, und begraben. Annika war nun mit ihrem Knaben allein in dem kleinen Fischerhause und hatte vollauf Zeit, darüber nachzudenken, was nun aus ihnen werden solle. Ein beträchtlicher Teil der Ersparnisse ihres Mannes lag freilich noch wohlverwahrt unter einem Ziegelstein des Herdes; aber die Summe war an sich nicht groß und mußte bald verbraucht sein, wenn man davon lebte. Lohnende Arbeit für eine Frau war in einem Fischerdorfe nicht zu finden, und der Kahn mit dem Gerät blieb für sie selbst ohne Nutzen. Es schien ihr nach reiflichem Überlegen das beste, die ganze Habe möglichst vorteilhaft zu verkaufen und nach dem Festlande überzusiedeln, das kleine Kapital anzulegen und sich mit den Zinsen und ihrer Hände Arbeit weiterzuhelfen, bis ihr Kind erwachsen sein würde. In diesem Vorsatze wurde sie noch bestärkt, als ein Nachbar für seinen zweiten Sohn, der kürzlich vom Militär entlassen war, eine Stelle suchte und ihr selbst mit annehmbaren Anträgen entgegenkam.

Als sie nun auf dem Gericht nähere Erkundigungen einzog, hieß es wieder, daß sie über das Haus nicht so ohne weiteres verfügen könne und zunächst ihren Mann für tot erklären lassen müßte, worauf dann über das Kind eine Vormundschaft eingeleitet werden würde. So sehr sich aber auch der alte Gerichtsrat bemühte, ihr begreiflich zu machen, daß dies eine durchaus gesetzliche Prozedur sei, die jede andere in ihrer Lage zur Anwendung bringen würde, um sich freie Hand zu schaffen, so war sie doch nicht zu vermögen, den nötigen Antrag zu stellen, und kehrte unverrichtetersache zurück.

Bald machte sich das ganze Vornehmen aus einem andern Grunde unausführbar. Mare, die Schwester der Fischersfrau, kam eines Tages zum Besuch nach der Nehrung und setzte sie in große Aufregung. Sie bestätigte, daß ihr Vater auf einem Schmuggelzuge in Rußland gefangengenommen sei; anfangs hätte man nicht gewußt, wohin er von den Grenzsoldaten gebracht worden, da denselben das tiefste Stillschweigen anbefohlen sei. Erst als sie mit einem derselben ein Verhältnis angeknüpft, habe sie herausgebracht, daß er sich vorläufig im Gefängnis einer Nachbarstadt befinde. Mehrere Kundschafter seien nun im geheimen dorthin abgegangen, aber man habe ihn selbst nicht sprechen können und nur erfahren, daß er mit dem nächsten großen Transport nach Sibirien abgeführt werden solle. Wäre er erst aus der Grenzstadt fort, so höre die Möglichkeit auf, an seine Rettung zu denken, und man könne ihn als tot betrachten, denn aus Sibirien komme so leicht niemand wieder zurück. Schon in der Gouvernementsstadt würden die Gefangenen so gut bewacht, daß eine Verbindung mit ihnen nicht mehr herzustellen sei; es komme daher alles darauf an, seine Befreiung zu versuchen, solange er noch in der Nähe wäre. Dazu gehöre aber Geld, um den Inspektor des Gefängnisses zu bestechen. Daß er bestechlich sei, wisse man schon von früheren Fällen her; auch habe kürzlich noch ein anderer Schmuggler über die Sache mit ihm gesprochen. Er wolle ihn in eine Zelle dicht über dem Erdboden bringen und ihm im Brote eine Feile zustecken, mit der er leicht die Eisenstäbe beseitigen könne. Dann habe er nur die Zeit abzupassen, wann der Wachtposten sich auf der entgegengesetzten Seite des Hauses befinde, um schnell auszubrechen und das Weite zu suchen. Dafür verlange der Beamte jedoch hundert Rubel, eine Summe, die sie in ihrer Armut natürlich nicht aufbringen könnte. Da hätte sie denn an ihre gute Schwester Annika gedacht, die ja für eine wohlhabende Frau gelte und jedenfalls doch ein Haus habe, auf welches sich Geld würde aufnehmen lassen, und wollte deshalb anfragen, ob sie ihren Vater nach Sibirien schleppen lassen oder das Nötige zu seiner Befreiung tun wolle. Die Fischersfrau kam dadurch in arge Verlegenheit. Sie hätte freilich sagen können, daß sie ihr Haus für jetzt weder verkaufen noch verpfänden dürfe und bares Geld nicht besitze; aber letzteres wäre eine Lüge gewesen, die ihr so schwer aufs Gewissen hätte fallen müssen, daß sie darüber ihr Leben lang nicht mehr hätte froh werden können. Denn es handelte sich ja doch um ihren Vater, und vielmehr noch um ihre Mutter und die jüngeren Geschwister, die nun ganz hilflos dastanden. Andererseits hatte sie aber auch allen Grund, an sich selbst und an ihr Kind zu denken, dessen kleines Vatererbe auf solche Weise seiner Bestimmung entzogen werden sollte. »Sein Vater ist dafür in den Tod gegangen,« sagte sie sich, »ich darf das Geld nicht anrühren.« Dann aber drohte ihr wieder ihr eigner Vater, sie wußte ja, welch entsetzliches Schicksal seiner wartete, wenn er sich nicht befreien konnte. Und sie sollte schuld daran sein, da sie doch die Mittel hatte, zu helfen? Hatte sie selbst doch nur für ein geliebtes Wesen zu arbeiten und war noch jung und kräftig. Sie wagte nicht, ihre Schwester einfach abzutrösten, und sprach nur den Zweifel aus, ob der Gefängnisinspektor auch Wort halten werde, wenn er das Geld empfangen hätte.

»Das wird er«, versicherte das Mädchen; »er weiß ja, daß er sonst nicht drei Tage zu leben hätte; der erste Schmuggler, der über die Grenze käme, würde ihn niederschießen.«

»Gut denn,« sagte Annika entschlossen, aber mit zitternder Stimme, »ich will geben, was ich habe. Mag mir der liebe Gott verzeihen, wenn ich an meinem armen Kinde sündige, um meinen Vater seinen Kindern zu erhalten.« Sie führte ihre Schwester an den Herd, scharrte die Torfasche aus einem Winkel fort, kratzte den Lehm aus den Fugen zwischen den Ziegeln und hob einen Stein auf. Es war eine kleine Höhle darunter, in welcher ein lederner Beutel lag. »Nimm!« sagte sie mit gepreßter Stimme und vergebens bemüht, die hervorquellenden Tränen zurückzuhalten, »nimm! Es ist unsere ganze Habe, der schwere Verdienst meines Mannes, meines Kindes Erbe. Wir sind nun nicht viel besser als Bettler.« Das Mädchen griff hastig zu. »Du bist gut, Annika!« rief sie. »Gott wird dir's vergelten!« Die Fischersfrau wandte sich ab, nahm den kleinen Peter auf, der mit einem Schiffchen spielte, und drückte ihn ans Herz. Mare eilte fort. –

Auf Konrad Hilgruber hatten des Doktors Worte tiefen Eindruck gemacht. Was hieß das: Einen für tot erklären lassen? Er benutzte seinen nächsten Aufenthalt in der Stadt, um sich bei einem Rechtsanwalt darüber genau zu informieren. Die Sache sollte gar keine besonderen Schwierigkeiten haben, da ja unzweifelhaft feststehe, daß das Schiff im Sturm gesunken, auch die vom Gesetz vorgeschriebene Wartezeit verstrichen sei. Der Krüger hatte keinen Namen genannt, sondern den Fall als ganz allgemein vorgetragen. Und so fragte er denn zuletzt auch, ob die hinterbliebene Frau, wenn ihr Mann für tot erklärt sei, sich in jeder Beziehung als Witwe betrachten, also auch wieder heiraten könnte. Auch dies wurde unbedenklich bejaht. Konrad Hilgruber zahlte mit bestem Dank seine Konferenzgebühren und ging in der heitersten Stimmung fort.

Und diese heitere Stimmung hatte Bestand; sie blieb ihm auch zu Hause treu und setzte nicht nur sämtliche Hausgenossen, die an sein grämliches Wesen gewöhnt waren, sondern auch die Gäste der Krugstube in Verwunderung. Er hatte sonst stets den Kopf auf die Brust hängen lassen und immer mürrisch vor sich her gesehen und kein Wort über die Not hinaus gesprochen. Jetzt trug er sich aufrecht, sah frei aus den Augen, pfiff sich ein Liedchen vor, wenn er Ställe und Scheunen revidierte, trank mit dem Nachbar ein Glas Bier oder Grog und konnte dazu ganz gemütlich plaudern, wenn sich einige gute Bekannte um den weißen Tisch zusammengesetzt hatten. Seine kranke Gesichtsfarbe verlor sich von Tag zu Tag mehr und machte einem frischen Rot Platz. »Was ist doch nur in unsern jungen Herrn gefahren?« fragten sich die Knechte erstaunt, wenn er sie zur Arbeit aufmunterte und überall mit gutem Beispiel voranging. »Er wird ordentlich hübsch«, meinten die Mägde, und eine von ihnen wollte ihn sogar schon vor dem Spiegel gesehen haben, wie er sich das Haar aus der Stirn strich und den blonden Backenbart aufkrauste. Das mußte eine ganz ungewöhnliche Erscheinung gewesen sein, da sie soviel Aufsehen machte. Wer aber bei dieser wunderbaren Änderung am nachdenklichsten wurde, war seine Mutter, die Krügerin. Sie hatte sich schon völlig an den Gedanken gewöhnt, daß ihr Sohn ganz in die Fußtapfen seines Vaters treten und ihr das Regiment im Kruge lassen werde bis an ihr Lebensende. Auch nach seiner Großjährigkeit, als sie sich genötigt gesehen hatte, ihm die äußere Wirtschaft abzutreten, war dies doch ihrer eigenen Erklärung nach mehr »auf dem Papier« als in Wirklichkeit geschehen. Freilich beschränkte sie ihn nicht in seiner persönlichen Freiheit und auch nicht in seinen Ausgaben, aber sonst war kein Unterschied zwischen früher und jetzt merklich geworden. Sie war nach wie vor die Seele des Ganzen, die bewegende und ordnende Kraft, die Respektperson im Hause und auf dem Hofe. Konrad ging ihr scheu aus dem Wege und war viel für sich; sie tadelte ihn deshalb oft genug und sagte ihm, daß er endlich ein Mann werden müßte, fühlte sich aber doch in ihrer dominierenden Stellung ganz behaglich. Jetzt erkannte sie ihn kaum wieder in seiner Heiterkeit und Geschäftigkeit und zerbrach sich im stillen den Kopf darüber, was wohl vorgegangen sein könnte. Als Frau fiel sie natürlich sofort darauf, daß er verliebt sein müsse, aber so gut sie auch aufpaßte, konnte sie doch nicht herausbringen, auf wen er sein Auge geworfen. Von den Wirtstöchtern im Dorfe war es sicher keine, sonst würde er Besuche gemacht haben, und in der Umgegend hatte er ihres Wissens gar keinen Verkehr. Nach welcher Richtung hin also raten?

Sie ließ es an bezüglichen Bemerkungen keineswegs fehlen, gelegentlich auch nicht an Sticheleien, um ihn zum Sprechen zu reizen. Aber er lachte nur und sagte: »Es wird sich alles finden, laß mir Zeit!«

Das Wetter war flau geworden, häufige Regengüsse hatten das Eis des Haffs überschwemmt und mürbe gemacht, so daß fast vierzehn Tage lang die Verbindung mit der Nehrung nur durch leichte Handschlitten herzustellen war. Aus dem Fischerdorfe waren nur wenige Leute herübergekommen, und Annika war unter ihnen nicht. Der Krüger erfuhr von ihnen, daß der alte Klars beerdigt sei, und daß seine Schwiegertochter habe verkaufen wollen, daß dann aber plötzlich, die Unterhandlungen abgebrochen seien. Sie wird sich nicht halten können, war die allgemeine Ansicht. Ende März kam plötzlich wieder Frost, und zwar mit solcher Heftigkeit, daß die Eisdecke sich schon nach zwei Nächten genügend stärkte, um schwere Lasten tragen zu können. Der Nebel hob sich, und die spiegelblanke Fläche, jetzt wieder nach allen Seiten hin durch Fuhrwerke belebt, lud recht freundlich zu einer Spazierfahrt ein. Auf eine solche Gelegenheit hatte der Krüger nur gewartet. Er gab dem Knecht Befehl, die Hufeisen der Pferde zu schärfen und den leichten Schlitten anzuspannen.

»Wohin wirst du fahren?« fragte Madame Hilgruber, der diese Vorbereitungen nicht unbemerkt geblieben waren.

Er besann sich einen Augenblick, ob er eine ausweichende Antwort geben solle. Dann aber sagte er entschlossen: »Nach der Nehrung, Mutter!«

»Nach der Nehrung?« wiederholte sie überrascht. »Hast du dort Geschäfte?«

»Wie man's nehmen will. Wenn man keine Geschäfte hat, kann man sie sich ja machen.«

»Als ob es nicht hier genug zu tun gibt! Ich wüßte doch auch wahrhaftig nicht, was du auf der Nehrung zu suchen hättest?«

»Das ist ja auch lediglich meine Sache«, erwiderte er ruhig.

Madame Hilgruber wurde rot im ganzen Gesicht. »So? Deine Sache?« eiferte sie. »Ich soll also nicht einmal mehr erfahren, was mein Herr Sohn treibt? Viel Kluges kann's denn doch unmöglich sein, wenn's vor mir versteckt wird!«

»Es ist gar kein Geheimnis«, beruhigte er sie. »Die Klarssche Fischerkate, höre ich, soll verkauft werden; und da will ich einmal nachfragen.«

Sie sah ihn erstaunt an, offenbar halb im Zweifel, ob er sie nicht auf eine falsche Fährte bringen wolle, halb beunruhigt durch das Licht, das ihr plötzlich aufgesteckt wurde. »Was in aller Welt geht uns das an?« fragte sie in einem Ton, der wie das erste Grollen eines heraufziehenden Gewitters klang.

»Wenn nicht uns, so doch mich!« entgegnete er mit dem festen Willen, seine Gelassenheit zu behaupten.

»Willst du dir etwa eine Fischerkate kaufen? Vielleicht zum Sommerlogis, wie die reichen Kaufleute in Schwarzort? So weit sind wir denn doch noch nicht.«

»Du weißt, Mutter, daß ich mit Peter Klars befreundet war.«

»Ach, das ist lange her. Er hat sich wenig genug um dich bekümmert.«

»Das hat seine guten Gründe gehabt, Mutter – und jetzt ist er tot.«

»Und die Annika ist Witwe –« platzte sie ingrimmig heraus.

»Jawohl! Und in sehr traurigen Umständen.«

»Die dich doch hoffentlich nicht beschweren? Warum ging ihr Mann zur See und ließ seine Familie im Stich? Aber das sollte alles ein Aufsehen haben, als ob sie reiche Leute wären. Wenn man die Fischersfrau Sonntags in ihrem Staat zur Kirche gehen sah –«

»Laß das, Mutter«, unterbrach er sie. »Ich höre nicht gern übel von ihr reden.«

»Und ich werde doch wohl noch meine Meinung sagen können!« fuhr sie heftig auf.

»Aber ich werde tun können, was ich für gut befinde.« »Und was wird das sein?«

»Das sollst du erfahren, wenn ich selbst darüber im klaren bin«, sagte er unwillig, indem er sich zum Gehen abwandte.

»Faule Fische!« rief die Krügerin ihm nach. »Mache mir keine Dummheiten, Konrad, das rate ich dir! Wir könnten uns sonst sehr ernstlich erzürnen!«

»Das sollte mir leid tun«, antwortete er, schon die Tür öffnend, und ging mit schnellen Schritten auf den Hof, wo der Knecht mit dem Fuhrwerk wartete. Madame Hilgruber stemmte die Hände in die Seiten und sah ihm ärgerlich ans dem Fenster nach. »Ich glaube, der Junge wäre toll genug –« brummte sie verbissen in sich hinein, ohne ihre Befürchtung völlig auszusprechen. Die Mägde klagten über einen schlechten Tag.

Der junge Krüger hatte diesen Sturm vorhergesehen; er schüttelte ihn freilich etwas durch und setzte ihn anfangs in eine unbehagliche, frostige Stimmung. Als er aber erst über die freie Eisfläche hinsauste, mit sich selbst allein, ganz sein eigener Herr, warf er den Unmut leicht von sich ab und setzte sich in seinem Entschluß nur um so mehr fest. »Meine Mutter soll erfahren,« wiederholte er sich hundertmal, »daß ich ihrer Zuchtrute gänzlich entwachsen bin. Nun gerade, weil sie's nicht will! Ich werde zeigen, daß ich meinen Kopf und mein Herz für mich habe.« – Wie es von Natur gutherzigen und schwachen Menschen oft geht, daß sie die mangelnde Energie des Charakters durch Eigensinn aufzuwiegen suchen, sobald sie einmal in einer einzelnen Sache von einer besonders starken Neigung gespornt werden, so versteifte sich nun auch der Krüger so fest auf seinen Plan, daß die besten Gründe ihn von der Verfolgung desselben nicht hätten abbringen können; daß aber die Gründe seiner Mutter keineswegs die besten waren, sondern von einem sehr unsauberen Geiste eingeblasen würden, glaubte er von vornherein annehmen zu können. Seine Mutter fragte bei allem, was sie tat oder guthieß, nur immer nach dem Vorteil, und ihm kam es auf Herzensbefriedigung an. So konnten sie, in diesem Augenblick wenigstens und in dieser Angelegenheit, unmöglich zusammenstimmen.

Es machte in dem Fischerdorfe einiges Aufsehen, als der Krüger seine munteren Pferde durch die mit hohen Eisstücken umstellten Wuhnen hindurch auf das Ufer hinauflenkte und die Dorfstraße entlang fuhr. Überall sah man hinter den kleinen Fenstern neugierige Gesichter, und hier oder da traten die Bewohner sogar aus der Tür hinaus, um dem Schellengeläute nachzuforschen und zu sehen, wo der Schlitten eigentlich halten werde. Es gab endlich einmal einen Stoff zur Unterhaltung, und man beutete ihn gewissenhaft aus.

Auch Annika wischte, als sie von fern die hellen Schlittenglocken vernahm, eine Fensterscheibe rein ab, ließ den kleinen Peter hinausschauen und behielt selbst noch Raum genug übrig, einen prüfenden Blick auf die Landstraße zu werfen. Ein rechter Schreck überfiel sie, als sie Konrad Hilgruber erkannte, und das Blut stieg ihr ins Gesicht, als er ihr und dem Knaben freundlich zunickte und gleich darauf vor der Haustür die Leine anzog und vom Schlitten sprang. Sie konnte sich nicht entschließen, ihn draußen zu bewillkommnen, sondern rührte sich nicht von der Stelle und wartete ab, was weiter erfolgen würde. Er aber strängte ruhig die Pferde los, behielt die Leine in der Hand, trat ans Fenster, klopfte an und fragte: »Ist's erlaubt, einzutreten, Annika?« – »Die Tür ist offen«, antwortete sie ausweichend. »Ich habe mit dir zu sprechen«, sagte er, immer dem kleinen Peter zunickend, der das fremde Gesicht mit einiger Scheu betrachtete. »Darf ich eintreten?« – Sie besann sich. »Ich will lieber hinauskommen«, entgegnete sie dann aufstehend; »wir können vielleicht zum Nachbar gehen, dessen Frau zu Hause ist.« – »Warum zum Nachbar?« fragte er zurück. »Ich habe mit dir allein zu sprechen. Darf ich kommen?« Sie schwieg, und er nahm's für Zustimmung, führte die Pferde unter Wind, band sie an einen Steinanker, der neben dem umgestülpten Kahne lag, schüttete ihnen Futter vor und trat ins Haus.

Mit einem heiteren »Guten Tag, Annika!« bot er der Fischersfrau die Hand. Sie reichte ihm verlegen die ihrige, ohne den Knaben vom Arm zu lassen, und wartete seine weiteren Eröffnungen ab. Er betrachtete sie eine Weile, wie sie mit niedergeschlagenen Augen und geröteten Wangen vor ihm stand, und glaubte sie noch nie so schön gesehen zu haben. Er hätte ihr's am liebsten gleich sagen mögen, hielt sich aber doch zurück und besann sich auf die Einleitung, die er sich ausgedacht hatte, um im rechten Moment nicht verwirrt zu werden.

Und so fragte er denn, recht vergnügt lächelnd, mit aller Sicherheit: »Ich höre, du willst deine Kate verkaufen, Annika? Ist's richtig?«

Sie atmete beruhigt auf; es war also einfach ein Geschäft, was ihn herführte. »Es ist davon die Rede gewesen«, sagte sie. »Wollen Sie mir einen Käufer zuführen?«

Das war gerade die Antwort, die er erwartet hatte, und die seinige darauf war schon bereit. »Und wenn ich nun selbst kaufen möchte?« fragte er zurück, indem er freundlich und zugleich ein wenig listig mit den Augen zwinkerte. Es lag in dem Ton, in welchem er diese Frage stellte, wieder etwas, das die Fischersfrau stutzig machte. Sie sah ihn forschend an und konnte nur um so weniger aus ihm klug werden.

»Sie selbst?« wiederholte sie mit dem Ausdruck des Zweifels. »Was sollten Sie wohl mit einer Fischerkate anfangen wollen?«

»Das kann ja dem Verkäufer gleichgültig sein«, meinte er. »Ich zahle einen guten Preis, und euch ist geholfen.«

»Es geht nicht«, sagte sie nach einer Weile ernst. »Das Gericht erlaubt es nicht. Wenn's aber auch ginge, so würde ich wissen, daß es nicht Ihre Absicht sein kann, das Grundstück zu erwerben, das Ihnen ganz unnütz wäre. Ich verstehe Sie wohl; Sie haben ein gutes Herz und wollen mich nicht in Not lassen, weil Sie – weil Sie – meines Mannes Freund waren und vielleicht soviel übrighaben, um ein gutes Werk tun zu können. Das mag Ihnen der liebe Gott vergelten, daß Sie auch nur daran gedacht haben. Aber annehmen kann ich Ihr Anerbieten nicht, das wäre ein Unrecht.«

Es wurde ihm recht warm ums Herz, wie er sie so freundlich über sich sprechen hörte und in ihre lieben Augen sah. »Ich bin gar nicht so uneigennützig, wie du glaubst«, antwortete er. »Ich hätte meine Bedingungen zu stellen, und wer weiß, ob dir die den Preis wert wären.«

»Bedingungen?« –

»Jawohl! Ich will nur kaufen, wenn ich alles mitkaufen kann, was sich im Hause befindet – nichts ausgenommen.«

Das war der eigentliche Trumpf, den er ausspielen wollte, und er war innerlich recht froh, daß es ihm geglückt war, ihn auf so ungezwungene Manier anzubringen.

»Das ist nicht viel, Herr«, antwortete sie, ohne die Verfänglichkeit seiner Bedingung zu merken. »Wir haben nur die einfachsten Wirtschaftssachen und das Fischereigerät gehört sowieso zum Hause. Es kann für Sie wenig Wert haben.«

Nun kam doch die Reihe an ihn, verlegen zu werden, denn er mußte deutlicher mit der Sprache heraus. »Ich sage alles, nichts ausgenommen!« wiederholte er nachdrücklich und stockte wieder. Und dann kam ihm plötzlich ein glücklicher Gedanke, der weiterhalf. Er faßte das Kind mit beiden Händen, hob es auf seine Schulter und sagte: »Auch der kleine Peter muß dabei sein.«

»Oh, der bleibt bei der Mutter!« erwiderte sie schnell und ängstlich, indem sie den mit den Beinen strampelnden und weinenden Jungen wieder an sich nahm und an die Brust drückte.

»Oder die Mutter bei ihm«, ergänzte er lachend. »Nein, sie sollen sich nicht trennen; aber ich möchte sie beide für mich haben.«

Nun ging Annika das Verständnis auf. Sie trat ein paar Schritte zurück und setzte sich auf die Bank. Ihr war so beklommen, daß sie am liebsten hätte aus dem Hause laufen und draußen frische Luft schöpfen mögen. Er aber folgte ihr, setzte sich dicht neben sie und ergriff ihre Hand, um sie nicht fortzulassen. Sie sollte nun alles hören.

»Du weißt ja, Annika,« flüsterte er ihr zu, und seine Stimme zitterte dabei anfangs merklich, »du weißt ja, daß ich dir nicht seit gestern gut bin, auch nicht seit ehegestern. Es sind Jahre darüber vergangen, seit du von der Grenze nach unserm Dorf kamst; damals ein junges Mädchen, dessen Herz noch ganz frei war. Und schon damals, gleich als ich dich am ersten Sonntag in der Kirche sah, wußte ich, daß ich dich liebhaben müßte wie keine andere auf der Welt. Ich gab dir's auch später zu erkennen, so gut ich es verstand, aber da ich schüchtern war und mich wenig vordrängte, mag wohl nicht viel davon zu sehen gewesen sein. Oder ich habe dir auch nicht sonderlich gefallen, wie nun einmal meine Art war. Ich konnt's dir nicht sagen, weil ich abhängig war, aber ich hoffte, du würdest noch ein paar Jahre Zeit haben, und dann wollt' ich vortreten. Ganz für mich allein vermochte ich's aber doch nicht zu behalten, und als ich es dem einzigen mitteilte, vor dem ich glaubte, kein Geheimnis haben zu dürfen, da verlor ich den Freund. Das konnt' ich freilich nicht wissen, daß er selbst dich liebte, und daß du ihm im geheimen schon zugetan warst. Es war ein schwerer Schlag, als ich's erfuhr, und von dem Augenblick an gab ich dich ganz auf, denn ich wollte dem Freunde nicht entgegenstehen. Ich ging dir aus dem Wege, aber je länger ich dich nicht sah, desto größer wurde die Sehnsucht nach dir. Das machte mich ganz krank, so daß die Leute sagten, ich würde nicht lange leben. Und ich freute mich darüber, weil ich doch wenig vom Leben hatte und nicht einmal einer Menschenseele klagen konnte, was mir fehlte. Erst als dein Hochzeitstag gewesen war, wurde ich ruhiger, aber vergessen konnte ich dich doch nicht und nicht aus meiner Stube über das Haff nach der weißen Nehrung schauen, ohne an dich zu denken und mein altes Leid aufzufrischen. Ich hatte mir vorgenommen, ledig zu bleiben und einmal mein Hab und Gut deinen Kindern zu vermachen, als ob's die meinigen wären. Und, weiß Gott! Annika, ich habe gewünscht, daß du mit Peter Klars glücklich sein möchtest und er mit dir, und kein böser Gedanke ist mir in den Sinn gekommen, solange er lebte. Es ist mir auch schwer zu Herzen gegangen, als ich hörte, er sei mit seinem Schiff untergegangen und elendiglich umgekommen, denn er blieb doch mein Freund, und du verlorst einen lieben Mann und den Vater deines Kindes. Aber das darfst du mir nicht verdenken, Annika, daß die alte Hoffnung wieder bei mir auflebte, als es gewiß wurde, daß er gestorben sei und du nun wieder ledig wärst und für mich zu haben. Ich wollte dir Zeit lassen, dich mit deinem Schmerz auszusöhnen, und so habe ich bis jetzt still gewartet. Aber als es neulich der Zufall fügte, daß wir wieder zusammentrafen, da wurde ich mit mir einig, nicht länger zu zögern und dir ein offenes Geständnis zu machen. Und nun ist's gesagt, Annika, mit viel zuviel Worten, aber doch vom Herzen heraus. Sprich du nun – willst du meine Frau sein?«

Sie hatte ihm still und in sich versenkt zugehört; nur manchmal zuckte leise ihre Hand, wenn er ihres Mannes erwähnte oder ihres Kindes. Auch als er schon schwieg, änderte sie ihre Haltung nicht, sondern sah eine Weile vor sich hin. Was er gesprochen, hatte sie tief bewegt, und sie wußte nun nicht, wie sie ihm antworten sollte, ohne ihn zu kränken. Erst als er ihre Hand drückte und sich zu ihr überbeugte, richtete sie sich auf, schüttelte langsam den Kopf und sagte: »Für mich ist er ja noch immer nicht tot.«

»Er soll's auch nicht sein«, entgegnete er mild; »du sollst ihn in treuer Erinnerung halten, und ich will ihn mit dir beweinen. Aber von dem Gedanken mußt du dich entwöhnen, daß er zurückkehren könne; das hieße dein ganzes Lebensglück zerstören und dieses Kind einem traurigen Schicksal überliefern. Denn du wirst zu stolz sein, von mir etwas anzunehmen, nachdem du meine Hand ausgeschlagen hast, und wenn du auf dich allein angewiesen bist, wie willst du für den Knaben sorgen? Freilich, wenn du mir ganz abgeneigt bist und meinst, nichts für mich fühlen zu können, dann wär's besser, du sagtest mir es geradezu: denn es könnte doch kein Segen sein bei solcher Ehe, zu der sich der eine Teil widerwillig zwingt. Aber wenn ich dir nicht ganz gleichgültig bin – wenn du nicht daran verzweifelst, mich liebgewinnen zu können, wenn du meinen Worten vertraust, daß ich deinem Kinde ein zweiter Vater sein will, dann laß alle Rücksichten fallen, Annika, und nimm mir die Hoffnung nicht, von der ich lebe.«

Es war ein so heiliger Ernst in diesen einfachen Worten, daß die Fischersfrau an der Wahrhaftigkeit seiner Gesinnung nicht zweifeln konnte. Und doch empfand sie für ihn nicht mehr, als für einen Menschen, den man hochachtet und als seinen besten Freund erkennt. Aber es konnte sich fragen, ob sie überhaupt für irgendeinen auf der Welt mehr empfinden könnte, nachdem sie den einzigen, den sie liebte, verloren hatte, und so etwas, wie eine solche Frage, nur nicht so bestimmt formuliert, bewegte sie auch in diesem Augenblick und machte sie unsicher. Sie hätte antworten sollen: »Ich kann nicht wieder lieben!« Aber sie antwortete: »Ich kann nicht wieder heiraten«, und so leise und unentschlossen, daß er dadurch keineswegs mutlos gemacht wurde.

»Und weshalb?« drängte er in sie; »weil ich dir zuwider bin?«

»O nein!« berichtigte sie lebhaft. »Glauben Sie das nicht. Ich habe recht viel Vertrauen zu Ihrer Güte und wäre gewiß recht glücklich mit Ihnen geworden, wenn –«

»Wenn – ?«

»Wenn ich meinen Mann gar nicht gekannt hätte, und wenn das nicht sein Kind wäre – sein und mein Kind –«

Sie sah dem Knaben mit dem Ausdruck zärtlicher Mutterliebe in die schönen, klaren Augen; und es war noch ein anderer Ausdruck dabei, den der Krüger nicht verstand, weil er nicht daran dachte, daß diese Augen anderen Augen glichen, die sich freilich für ihn längst geschlossen hatten, auf ewig, für die Frau aber jeden Morgen sich wieder öffneten und das Andenken an den geliebten Mann lebendig hielten.

Seine heitere Zuversicht fing an, schwankend zu werden; er hatte nicht gefürchtet, auf soviel Widerstand zu stoßen, und merkte nun erst an diesem Mißbehagen über ihre Ablehnung, daß er eitel genug gewesen war, zu glauben, sie würde seine Bewerbung als ein ganz besonders glückliches Ereignis begrüßen. Nur äußerte sich dieses Mißbehagen seiner Natur nach nicht in Ärger oder leidenschaftlicher Aufwallung, sondern so, daß die Triebkraft, die ihn bisher über alle Hindernisse hinweggerissen hatte, plötzlich erlahmte und einer merklichen Erschlaffung Platz machte. Es geschah in fast melancholisch weinerlicher Stimmung, daß er zur Antwort gab: »Ich habe Unglück – nicht nur die Lebenden, auch die Toten verdrängen mich.«

Seine Traurigkeit ging Annika zu Herzen. »Ich habe Sie nicht kränken wollen, Herr Hilgruber«, sagte sie recht aufrichtig und reichte ihm die Hand. »Aber ich kann doch das Geschehene nicht ungeschehen machen und – will Sie nicht betrügen. Ich glaube auch, Sie täuschen sich über sich selbst und über mich; in Ihren Gedanken bin ich noch immer die Annika Endoms, die Ihnen einmal gefiel, und die ein munteres Mädchen war. Aber jetzt ist in dieser langen Zeit viel Freude und viel Schmerz an mir vorübergegangen, und ich bin alt geworden – wenn auch nicht gerade an Jahren. Ich habe einen Mann genommen und verloren, bin Mutter geworden und habe einen alten Vater begraben, den ich lieb hatte, das werde ich doch nicht vergessen können. Und was wollen Sie nun mit einer Frau, die so etwas nicht vergessen kann? Arm bin ich auch – das mag für Sie nichts austragen; aber es gibt andere, die scheel darauf sehen, daß Sie sich auch noch mit dem fremden Kinde belasten. Das fremde Kind ist aber mein Kind, ich möchte nicht, daß es einem im Wege wäre. Nein, nein! Das haben Sie nicht gut überlegt; Sie können ein ganz anderes Glück machen.«

Ihm schoß wieder das Blut warm ins Herz. »Das laß dich nicht kümmern, Annika!« rief er lebhaft erregt. »Ich verstehe wohl, daß du meine Mutter meinst, und gebe dir recht, wenn du von ihr nicht viel Freundlichkeit erwartest, obgleich sie so hart nicht ist, wie es wohl manchmal scheint. Ich lasse mir in dieser Sache von ihr keine Vorschriften machen; und wenn es ihr bei mir nicht gefällt, so trennen wir uns. Mag sie den Krug behalten; ich kaufe mich woanders an und führe dich in eine neue Wirtschaft ein, damit du nach deinem Gefallen leben kannst. Dein Kind, Annika, soll mein Kind sein, so wahr ein Gott lebt! Und was dich betrifft – du bist mir gerade so recht, wie du bist, und ich will gar nicht ändern, was ich nicht ändern kann. Sei nur mit mir zufrieden, und wir werden glücklich sein.«

Sie sah zur Erde und schwieg. Er wartete einige Minuten, ohne ihre Hand freizulassen, die in der seinigen brannte, und sagte dann mild und freundlich: »Ich will dich nicht übereilen, Annika; solche Dinge wollen bedacht sein. Es wäre mir lieb gewesen, wenn dich mein Vorschlag froh gemacht hätte; aber ich sehe wohl ein, daß du dich zu der Sache nicht so stellen kannst wie ich, und so ist mir's für heute genug, daß du mich nicht mit einem kalten Nein nach Hause schickst. Ich will dir Bedenkzeit lassen, acht Tage – oder nein, das ist zu lange für meine Unruhe – drei Tage, Annika! Nach drei Tagen will ich wieder herkommen und bei dir anfragen – gerade um diese selbe Zeit. Und nun sprich für jetzt nichts mehr entgegen, und wenn's sein kann, auch über drei Tage nicht. Leb' wohl und Gott behüt' euch!«

Er neigte sich zu ihr nieder und küßte ihre Stirn. Auch der kleine Peter ließ sich die Backen streicheln und reichte freiwillig seine Hand zum Abschied. »Wir werden schon gute Freunde werden«, sagte der Krüger vergnügt, und Annika mußte lachen. Das ist ein gutes Zeichen, dachte er bei sich.

Als er draußen nach seinen Pferden ging, bemerkte er die alte Lene, die sich um die Ecke des Hauses schlich und hinter einem Torfhaufen versteckte. »Neugieriges Volk«, brummte er und machte die Sielen fest; »freilich kann's nicht verborgen bleiben.« Er ließ die Braunen recht austraben, daß die Glocken munter läuteten, und knallte mit der langen Peitsche vor den Nachbarhäusern, an denen er vorüber mußte. Sie sollen merken, dachte er bei sich, daß ich keinen Grund habe, traurig abzufahren.

Die alte Lene hatte nämlich am Fenster gehorcht; und wenn sie auch nicht viel von der Unterhaltung verstanden hatte, so war doch immerhin manches zu sehen gewesen, so daß sich schon ein Vers zusammenreimen ließ. Bald ging die Neuigkeit von Haus zu Haus, daß der reiche Krüger die Annika Klars heiraten wolle. Am ersten Abend begnügte man sich damit, die Köpfe zusammenzustecken und zu zischeln und hundertmal durchzusprechen, wie es denn nur möglich gewesen sei, daß der reiche Hilgruber seine Gedanken auf die arme Fischersfrau habe richten können, und ob nicht am Ende alles nur Einbildung wäre. Freilich wußte diese und jene sich zu erinnern, daß vor Jahren einmal davon gesprochen worden, die Freundschaft zwischen dem jungen Krüger und Peter Klars sei auseinandergegangen, weil sie dasselbe Mädchen geliebt hätten; aber andere bestritten ganz und gar, daß die beiden sich jemals entzweit hätten, und alle waren darin einig, daß eine solche Jugendliebschaft doch keine Veranlassung zu einem ernstlichen Verhältnis nach so veränderten Umständen sei. Die reiche Sippschaft wundert sich mitunter, wenn eins ihrer Angehörigen eine schlechte Partie macht, aber viel mehr noch wundern sich stets die armen Leute, wenn einmal eins von ihnen gut ankommt. Sie suchen dann in der ganzen Welt herum nach Gründen, nur nicht da, wo sie jedesmal liegen müßten, wenn einer zum andern sagt: »Willst du mein sein?«

Am nächsten Vormittag schon war das Stübchen im letzten Fischerhause so besucht, wie das Boudoir irgendeiner Frau vom Stande in der großen Stadt. Eine Visite drängte die andere, und jeder Besuch war natürlich ganz zufällig und nur aus freundnachbarlichen Rücksichten abgestattet. Wunderlich nur, daß sie alle immer nach einer kurzen Einleitung auf dieselbe Frage kamen, Annika als kluge Frau hatte das vorausgesehen und sich überlegt, daß es gar nicht lohnen würde, den Versuch zu machen, den Gevattern etwas aufzubinden, da das Gerede dann noch größer sein und ihrem Ruf vielleicht schaden könnte. Sie befriedigte also die Neugierde vollkommen, setzte nun aber um so mehr durch die nachfolgende Erklärung in Staunen, daß sie entschlossen sei, nicht wieder zu heiraten. Ein Schrei der Entrüstung war die Antwort. Einen solchen Antrag ausschlagen? Den reichen Konrad Hilgruber abweisen? Das wäre ja die reine Narrheit! Ob sie etwa auf den Kronprinzen warten wolle? Oder ob ihr der Krüger nicht hübsch genug wäre, der doch ein ganz respektabler Mann geworden sei und bloß die Hand auszustrecken brauche, um die reichste Köllmertochter daran zu haben. Sie wisse gar nicht ihr Glück zu schätzen, sonst hätte sie sich auch nicht eine Minute besonnen! Ob sie etwa hier auf der Nehrung so lange spinnen wolle, bis ihr Peter mit dem Fischerkahn ausfahren und etwas verdienen könne? Denn das solle sie doch nur nicht glauben, daß die arme Dorfschaft eine so junge Person, noch dazu mit ihrem Kinde, füttern werde, wenn es bekannt sei, daß sie aus purem Eigensinn eine reiche Heirat ausgeschlagen, die auch ihnen selbst hätte von Nutzen sein können, da man doch wüßte, an wen man sich in der Not zu wenden hätte. Wenn sie wirklich das Fischerhaus verkaufe, könne sie von dem Gelde doch nicht lange leben und werde noch die Hälfte dem Gericht für das Kind einzahlen müssen. Dann könne sie bei fremden Leuten dienen gehen und den Jungen in Pflege geben! – Solche und ähnliche Reden, bald freundlich, bald unfreundlich vorgebracht, mußte sie von allen Seiten hören, so daß sie zuletzt schon ganz kleinlaut wurde und nur schüchtern Einwendungen machte. Und wenn sie dann wieder mit sich allein war, konnte sie sich doch nicht abstreiten, daß die Leute in vielen Punkten recht hätten, und daß es wirklich mit ihrer Zukunft schlecht aussehe, besonders, da sie nun auch das kleine Kapital fortgegeben, das früher bei ihren Berechnungen eine wichtige Rolle spielte. Sie nahm die alte Bibel vor und las eifrig darin, um sich Trost zu erholen. Aber es wollte alles auf ihren Fall nicht recht passen, und wenn sie spät zu Bett ging, drückte sie das Gesicht in die Kissen und weinte und betete: »Gott erleuchte mich.«

Konrad Hilgruber war bei schönem Wetter ausgefahren, aber ehe er noch das jenseitige Ufer erreicht hatte, hob ein plötzlich losbrechender Sturm die schwarze Wolke, die den Horizont umlagerte, auf und trieb sie über das Haff. Seine Braunen mußten alle ihre Kraft daransetzen, den Schlitten durch die Schneeberge zu schleppen, die an einzelnen Stellen zusammengewirbelt wurden. Erfroren, durchnäßt und nicht in der besten Laune langte er zu Hause an und mußte sich obendrein noch die Frage gefallen lassen, warum er die schöne Annika nicht lieber gleich mitgebracht habe. »Nach drei Tagen entscheidet sich's, Mutter«, sagte er ärgerlich und ging auf sein Zimmer.

Der Sturm hielt an und brachte wieder Regen. Mit Besorgnis sah der Krüger am folgenden und nächstfolgenden Tage auf das Haff, wo sich der Schnee mehr und mehr in Wasser auflöste. Noch war der Grund fest, aber wegen der offenen, nur nicht überall sichtbaren Spalten nicht zuverlässig. In der Krugstube wurden viel Geschichten von verunglückten Heufuhren erzählt, und das allgemeine Urteil war, daß das Eis in kurzem ganz aufgehen werde. Nur noch zwei Tage muß es halten, dachte der Krüger bei sich – hinüber muß ich!

Als nun aber die festgesetzte Zeit verstrichen war, überkam ihn doch einige Bangigkeit. Es war nicht so sicher, daß sein Wagnis gelingen und er gesund zurückkehren würde. Er konnte es nicht übers Herz bringen, diesmal von seiner Mutter zu scheiden, ohne sich mit ihr ausgesprochen und ihr ein freundliches Lebewohl gesagt zu haben. Er suchte sie deshalb frühmorgens in ihrer Schlafstube auf, schloß die Tür ab, damit niemand ihn störe, und setzte sich zu ihr ans Bett. »Mutter!« begann er mit fast feierlichem Ernst, »ich habe der Annika versprochen, heute zu ihr hinüberzukommen und ihre Antwort zu hören, ob sie mich mag. Ich werde fahren!«

Die Krügerin sprang im Bett auf und starrte ihn mit großen Augen an. »Bist du toll geworden?« schrie sie ihn an. »Heute über Haff fahren? Und dieser Person wegen?«

»Ich werde fahren«, antwortete er fest und bestimmt, »Darüber sprechen wir nicht weiter. Aber wenn du mich ruhig anhören willst, möchte ich dich von allem unterrichten, wozu ich in Zukunft entschlossen bin, für den Fall, daß die Annika mich nimmt, und für den Fall, daß die Annika mich nicht nimmt.«

Sie schlug eine helle Lache auf: »Daß sie dich nicht nimmt? Das fehlte wirklich nur noch, daß du dir dort einen Korb holst. So albern ist die Annika nicht!«

»Du kennst sie eben nicht«, antwortete er achselzuckend. »Sie ist nicht wie andere Weiber. Ich bin ihrer Zustimmung noch durchaus nicht sicher, und gerade deshalb muß ich heute hinüber, mag's kommen, wie es kommt, damit sie nicht denkt, ich sei andern Sinnes geworden. Gibt sie mir aber ihr Jawort, dann wär's freundlich von dir, Mutter, wenn du dich beizeiten darauf vorbereiten möchtest.«

»Und ich sage dir,« fuhr die Alte auf, »daß das Matrosenweib mir nicht ins Haus kommt, solange ich darin bin«, und gestikulierte ihm lebhaft mit beiden fleischigen Händen vor den Augen.

»Dann wird nichts übrigbleiben, als daß du gehst«, sagte er zögernd und leise, aber doch nicht unschlüssig, und fügte, als er sie wie versteinert sitzen sah, mit einem Seufzer hinzu: »oder daß ich mich anderwärts anbaue, Mutter!«

Diese ganz unerwartete Energie imponierte ihr denn doch. Freilich kostete es einige Minuten, bis sie sich die ihr gestellte Alternative klargemacht hatte; dann aber setzte sie das Gespräch nicht im früheren Tone fort, sondern warf sich auf die Seite, stemmte den Ellenbogen ins Kissen und den Kopf auf die Hand, brummte ärgerlich einige unverständliche Worte vor sich hin und fing dann ruhiger und gemäßigter an, ihre Gründe gegen die ihr so verhaßte Partie vorzubringen. Er hielt wacker stand und ließ sich nicht aus dem Sattel heben, selbst, als sie schließlich zu Bitten ihre Zuflucht nahm und in aufrichtiger Besorgnis über das waghalsige Unternehmen ihres Sohnes in Tränen ausbrach. »Mit deinem kranken Vater hab' ich nichts als Not und Sorgen gehabt,« klagte sie »und nun wirst du noch das deinige dazu tun, daß ich im Alter meine einzige Stütze verliere.« Er stand bewegt auf, küßte sie auf die Hand, mit welcher sie die Augen bedeckt hatte, und fragte: »Wirst du freundlich hinterher deine Zustimmung geben, wenn ich jetzt die Fahrt aufschiebe?« Sie schluchzte weiter. Erst als er die Frage nochmals dringlicher wiederholte, antwortete sie ausweichend: »Ach! Du wirst dich anders besinnen.« Er preßte die Lippen zusammen, verzog das Gesicht zu einem bitteren Lächeln, schüttelte den Kopf und ging.

Als sie aus dem Bett gesprungen war, die Kleider übergeworfen hatte und vor die Haustür trat, verließ er bereits den Hof und lenkte nach dem Flusse zu. Sie sah das Aufwasser hoch aufspritzen, als die Pferde die Böschung des Ufers hinabtrabten.

Es war eine Fahrt, bei der auch dem Mutigen das Herz schlagen konnte. Von der See her bäumten sich die schwarzen Wolken wie riesige Ungetüme auf, kämpften miteinander, ballten sich zu dichten Massen zusammen, rissen plötzlich wieder ab und jagten mit zerzausten Rändern, einander verfolgend und teilweise überholend, über den bleichen Himmel. Von Zeit zu Zeit brach ein Sonnenstrahl durch die von einem heftigen Windstoß geöffnete Lücke und beleuchtete grell und strichweise die weite Fläche, die wie ein uferloser See dalag, aus welchem hin und her niedrige Schneedämme oder schmutziggraue Eisinseln auftauchten. An manchen Stellen war die Fahrstraße durch kleine Tannenbäumchen kenntlich gemacht, welche nun zum Teil tief im Wasser standen oder auch bereits ihren festen Stützpunkt im Eise verloren hatten und umgefallen waren, so daß die Wellen darüber hinwegschälten. So weit man umschaute, war kein lebendes Wesen zu entdecken, und die Nehrung lag fern, trostlos grau und öde, oft nur in unsicheren Umrissen erkennbar. Die Pferde trieften von Schweiß, dampften wie kochendes Wasser, und wagten nur zitternd Schritt nach Schritt, oft über ein verborgenes Eisstück stolpernd oder in ein ausgewaschenes Loch einbrechend. So ging es fast zwei Stunden fort, und nicht vielmehr als die Hälfte des Weges war zurückgelegt. Die ermüdeten Tiere konnten nicht mehr vorwärts, er mußte auf einer verhältnismäßig trockenen Stelle haltmachen.

In der Aufregung und stets die gespannteste Aufmerksamkeit auf das Fuhrwerk richtend, hatte er bisher keine Zeit gehabt, an sich selbst zu denken. Erst jetzt, wo er ermattet die Leine und Peitsche fallen ließ und auf das Chaos rund um sich her ausschaute, fing seine Phantasie zu arbeiten an. Es war ihm, als ob die Wolken immer tiefer zur Erde strebten und ihn vom Boden fortwirbeln wollten; sein Ohr vernahm unheimliche Töne, als ob unter ihm die Wellen am Eise nagten, als ob bald hier, bald dort von unten her gegen die Decke gehämmert würde, um zu proben, wo sie am dünnsten sei und am leichtesten brechen werde. Mitunter war's, wie wenn in der Ferne Kanonen gelöst würden und dumpf hinüberdröhnten, und dann knatterte plötzlich das Kleingewehrfeuer ganz in der Nähe, daß er entsetzt aufsprang. »Und wenn sie dich nicht liebt!« stöhnte er; »lieber gleich hier begraben sein!«

Kate am Nemonienfluß. Federzeichnung von Ernst Wichert.

Er hielt's keine Viertelstunde aus, bewegungslos in dieser schrecklichen Einöde. Wieder peitschte er die Pferde an, wieder mußte er vom Damm herunter ins Wasser, das bis zur Nehrung zu reichen schien; jede Marke für den Weg verschwand, nur das letzte Fischerhaus drüben gab ihm die Richtung an. Und plötzlich stolperten die Pferde, zogen den Schlitten mit einem heftigen Ruck an und versanken vor ihm. Mit einem jähen Schrei sprang er hinaus. – –

Annika hatte die letzte Nacht kein Auge zugemacht. Zwar wiederholte sie sich tausendmal: »Er wird nicht kommen – er kann nicht kommen – Gott sei Dank, daß er nicht kommt!« Aber je weiter die Zeit vorrückte, und je näher die Stunde kam, in der er so fest versichert hatte, sich wieder einzufinden, desto unruhiger schaute sie aus dem Fenster auf das Haff hinaus, nach der Richtung hin, die er nehmen mußte. »Es wäre Tollheit«, sagte sie sich, aber: »Er wäre dessen fähig«, mußte sie jedesmal hinzusetzen. Sie ahnte die Leidenschaftlichkeit seiner Neigung und war nicht unempfindlich gegen die Vorstellung, daß er sich ihretwegen in Gefahr bringen könne.

Endlich kam es ihr so vor, als ob sie einen schwarzen Punkt auf der Eis- und Wasserfläche in Bewegung sähe. Sie strengte ihr Auge an und sah den schwarzen Punkt nun ganz deutlich, aber die Bewegung hörte auf. Es ist Täuschung, dachte sie; aber sie ging doch hinaus und eine Strecke auf den Sandberg hinter dem Hause hinauf, von wo sie eine weitere Umsicht hatte. Die schwarze Stelle auf dem Eise war nicht zu verkennen, aber bei dem trüben Wetter und der weiten Entfernung ließen sich die Umrisse nicht deutlich unterscheiden. Und wenn es der Schlitten war, warum stand er still? Sie erinnerte sich, daß ihr Mann einmal ein kleines Fernrohr von England mitgebracht und zurückgelassen hatte. Eiligst kehrte sie zum Hause zurück und suchte es aus dem Kasten hervor. Als sie auf ihren früheren Standpunkt zurückkehrte, konnte sie mit bloßen Augen bemerken, daß die dunkle Masse wieder fortrückte. »Er ist's!« rief sie. Gleich darauf gab ihr das Glas die Überzeugung, daß sie nicht irrte. Mit beklommenem Herzen folgte sie dem Schlitten, wie er sich langsam und meist im Wasser näherte; die Zeit schien sich endlos zu dehnen. Sie wußte, daß ein breiter Eisriß zu passieren war, und zitterte vor dem Gedanken, daß die Pferde ihn verfehlen könnten. Mehrere Nachbarn fanden sich ein und schauten gleichfalls neugierig und ängstlich hinüber, etwa wie man vom Strande aus ein Schiff beobachtet, das im Sturm den Hafen sucht. Plötzlich ließ die Fischersfrau das Glas fallen und kreischte laut auf: »Er versinkt – zu Hilfe!« Die übrigen Zuschauer, denen das Verschwinden des Schlittens nicht unbemerkt geblieben war, machten sich gleichfalls durch verschiedene Ausrufungen Luft, rührten sich aber nicht von der Stelle. »Zu Hilfe!« wiederholte Annika, »es ist der Krüger!« – »Dem nützt sein Geld nichts mehr,« hieß es, »ein Wunder, daß er noch so weit gekommen ist.«

Aber die Fischersfrau beruhigte sich nicht so bald. Sie lief nach dem Hause hinunter, riß einen Handschlitten aus dem Stall, raffte einige Stangen zusammen, die unter die Dachbalken geschoben waren, und machte sich auf den Weg nach dem Haffe. Nun faßten auch die Männer Mut, folgten ihr und ratschlagten, was zu tun sei. Man kam überein, ein leichtes Boot auf zwei Schlitten zu setzen und so den Versuch zu wagen, über das Eis und die offenen Blänken die Unglücksstelle zu erreichen. Annika ließ sich nicht abhalten, sie zu begleiten; sie watete, in jeder Hand eine Stange, um sich beim Einbrechen zu sichern, durch das Schneewasser voran. Es war nicht leicht, in der Richtung zu bleiben, da jeder Anhaltspunkt fehlte, aber endlich fand man doch nicht weit von dem Spalt das schwimmende Heupolster, das sich vom Schlitten losgelöst haben mußte. Man machte das Boot frei und setzte über, soweit das Wasser tief genug war. »Dort!« rief Annika, und zeigte auf einen Schneehaufen, der die Fläche überragte. Ein Mensch lag dort, mit dem Oberkörper auf dem Schnee, mit den Füßen im Wasser, scheinbar regungslos. Nach wenigen Minuten war man dort. »Konrad Hilgruber!« rief Annika, neben ihm niederstürzend und seinen unbedeckten Kopf auf ihren Arm hebend. Wie vom Tode erweckt, schlug er die Augen auf, sah mit einem unbeschreiblich glückseligen Blick in ihr übergebeugtes Gesicht und fiel dann in Ohnmacht zurück.

Man trug ihn nach dem Boot und erreichte glücklich das Fischerdorf.

Am nächsten Tage ging bei heftigem Sturm das Haff auf. Konrad Hilgruber lag krank in der Hütte eines Fischers, und Annika saß neben seinem Bett, eifrig damit beschäftigt, ihn zu pflegen.


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