Ernst Wichert
Für tot erklärt
Ernst Wichert

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II.

Daß Peter Klars wirklich zur See ging und später die schöne Annika heiratete und in die Fischerkate führte, die ihm sein Vater auf dem Gericht hatte verschreiben lassen, wissen wir schon, können uns auch denken, daß er als braver Seemann eine schöne Heuer erhalten und einen großen Teil in blanker Münze beiseitegelegt und dann vor der Hochzeit das alte Haus frisch abgeputzt und die Fensterläden blau gestrichen und den Mast mit dem roten Wimpel vor der Tür aufgerichtet hat, damit jedermann gleich im Vorbeigehen wisse, daß dort ein Seemann wohne. Das lag alles schon länger als ein Jahr zurück von der Zeit, wo dem alten Klars der kleine helläugige Engel zwischen den roten und blauen Astern erschienen war.

Peter Klars hatte sein Ziel, die schöne Annika heimzuführen, mit leidenschaftlichem Eifer verfolgt und sich's gar nicht anders träumen lassen, als daß er sich von seinem Glück nie wieder trennen werde, wenn es ihm erst zuteil geworden. Als das Ziel nun aber erreicht und das Glück gewissermaßen in Sicherheit gebracht war, hatte sich bald wieder die Sehnsucht nach der weiten See eingestellt, erst leise mahnend in den langen Nachtstunden, die auf dem Fischerkahne zugebracht werden mußten, dann immer heftiger zum Unmut über die Veränderung der Lebensweise reizend, wenn es viele Tage nichts auf dem Haff zu tun gab, Netze und Segel ruhig auf dem Stangengerüst trockneten und die Sonne wie eine Schnecke über den Himmel schlich, als ob sie die weißen Sandberge gar nicht mehr erreichen könne. Anfangs machte es ihm Vergnügen, abends mit seinem jungen Weibchen einen Spaziergang über die Dünen nach dem Seestrande zu unternehmen und ihr von seinen Fahrten zu erzählen, aber bald merkte er, daß sie doch kein rechtes Verständnis für diese große Natur hatte und ihm nicht nachempfinden konnte, wenn er die Seemöve beneidete, die mit weit ausgebreiteten weißen Flügeln über die Wellen hinsegelte. Annika fühlte sich beklommen in der schauerlichen Einsamkeit zwischen einer Sand- und einer Wasserwüste. Die See kam ihr vor wie ein Ungeheuer mit tausend Zungen, die unaufhörlich zum Lande hinaufleckten, um es zu verschlingen. Ihr Traum war ein kleines Hans unter grünen Birken, eine freundliche Wiese, von einem klaren Bächlein durchschlängelt, ein Feld daneben, auf dem die goldenen Ähren wogten, und ein Wald in der Ferne. Sie hütete sich wohl, ihrem Manne zu verstehen zu geben, daß sie etwas vermisse, aber sie vermochte auch nicht in seine Stimmung einzugehen und seinem Gedankenfluge zu folgen. Sie hatten sich von Herzen lieb und strebten doch innerlich auseinander, ohne sich dessen bewußt zu werden. Das alltägliche Leben gab ihnen nicht genug Anregung zu gemeinsamer Tätigkeit. Annika freilich hatte mit Besorgung der häuslichen Angelegenheiten eine hinreichende Beschäftigung, um nicht Grillen fangen zu dürfen; der Beruf der Hausfrau ist immer und überall derselbe, sie findet sich daher auch leicht in jedem Hause zurecht, in das sie der geliebte Mann einführt. Aber Peter Klars kam sich fast überflüssig vor neben seinem Vater und konnte sich einen ganz anderen Wirkungskreis denken, der die volle Manneskraft in Beschlag nahm und reichlichen Gewinn versprach. Wer erst einmal auf der schwankenden See festen Fuß gefaßt hat, kann das bewegliche Element nicht mehr entbehren.

Peter Klars wurde ganz melancholisch und verdrießlich. Zuletzt mochte er den Strand, den er so liebhatte, gar nicht mehr sehen, und wenn er von der Stadt zurückkam, war er jedesmal ein paar Tage krank, so daß Annika ernstlich um ihn besorgt wurde. Endlich hielt er sich nicht länger zurück und eröffnete ihr den Grund seiner Verstimmung. »Sei nicht traurig,« sagte er ihr, »daß ich mich von hier fortsehne. Du weißt ja, daß ich dich liebhabe wie keinen Menschen auf der Welt; daher kannst du ganz ruhig sein, auch wenn ich nicht immer bei dir bin. Wir sind noch jung und leben hoffentlich noch lange miteinander, und wenn wir kurze Zeit getrennt waren, wird das Wiedersehen immer um so schöner sein. Es soll auch nur einige Jahre dauern, bis ich etwas erspart habe, was uns später im Alter und in schlechten Zeiten helfen kann. Ich möchte dich gern recht sorgenfrei wissen und bin doch so arm; wenn ich aber zur See fahre, gibt es einen schönen Nebenverdienst, der für jetzt gar nicht angegriffen werden darf. Unser Haus ist klein, und unser Kahn ist noch kleiner, da sind wir uns eigentlich überall im Wege, mein Vater und ich, obschon wir's uns nicht merken lassen. Aber es wird nicht lange währen und der alte Mann wird hinfällig sein und das Ruder nicht mehr regieren können – das kommt bei uns Nehrungern plötzlich; und dann wird der junge Peter Klars auf seinem Posten sein. Glaube auch nicht, daß die See so gar gefährlich ist, Wasser ist Wasser überall, und auf den kurzen und stoßenden Haffwellen tanzt unser kleines offenes Fischerboot manchmal noch viel lustiger als das große Schiff auf den Meereswogen. Wir sind überall in Gottes Hand!«

Annika kam's zu überraschend. Sie antwortete gar nicht, und Peter Klars wartete auch gar nicht auf Antwort, sondern ließ ihr Zeit, sich in den neuen Gedanken hineinzufinden. Er wußte von sich selbst, daß man in dergleichen Fällen nicht schnell mit sich fertig wird und erst mancherlei Stimmung durchzukämpfen hat, bis man ruhig die Vernunft sprechen läßt. Aber als er nach dem Boot ging, das sein Vater schon zur Ausfahrt instand gebracht hatte, küßte er sie recht herzlich und streichelte ihr das blonde Haar. Und dann auf dem Haff erfuhr auch der Alte, was bevorstand.

Es flossen noch viele Tränen, als die junge Frau allein war; dann aber betete sie und las ein langes Kapitel in ihrer litauischen Bibel. Am nächsten Morgen dachte sie schon ruhiger über die Sache nach und wog den Vorteil für und wider gegeneinander ab. Noch einen Tag später hatte ihr heiterer Sinn wieder ganz die Herrschaft zurückerlangt, und als die Fischer nach Hause kamen, ging sie ihrem Mann entgegen, reichte ihm die Hand und sagte: »Wie du willst, Peter, wenn du mir nur gut bleibst!«

So ging denn Peter Klars wieder zur See. Im Dorfe drüben gab's dieserhalb freilich ein allgemeines Verwundern, und auch die Frau Hilgruber nahm Notiz von diesem Ereignisse. »Hat Euer Mann keine Ruhe mehr zu Hause«, fragte sie Annika, als sie mit Fischen zu Markt kam und auch im Kruge ansprach, um kleine Einkäufe zu machen. »Ihr hättet Euch mit der Heirat nicht so beeilen sollen; vielleicht hätte sich ein anderer gefunden, der Euch ein besseres Leben verschaffte.« Sie dachte an ihren Sohn, der ganz schwermütig geworden war und viel kränkelte, und dem sie doch nie ihre Einwilligung gegeben hätte. Jetzt freilich konnte sie gut reden. »Mein Mann ist mir schon recht«, antwortete Annika, drehte sich kurz um und ging weg. Draußen aber im Hausflur fand sich der junge Krüger zu ihr und bat sie, nicht zu vergessen, daß Peter Klars sein Freund sei, wenn sie auch in letzter Zeit wenig miteinander verkehrt hätten, und sich an ihn zu wenden, wenn sie irgendeinmal des Schutzes bedürftig oder in Not sei. Annika dankte freundlich, aber etwas verlegen und machte sich eiligst fort, damit niemand sie mit Konrad Hilgruber sprechen sehe. Sie wußte ja, wie es mit seinem Herzen stand, und auch anderen Leuten war's kein Geheimnis geblieben.

Es währte ihr das erstemal eine halbe Ewigkeit, bis Peter zum Besuch kam. Wer als er dann wohlbehalten anlangte, sonngebräunt und viel männlicher in seiner ganzen Haltung, recht stattlich in seiner kleidsamen Matrosentracht und einen Beutel mit lauter blanken Talern mitbrachte und allerhand schöne Sachen aus fremden Ländern, war die Freude um so größer und hinterher der Abschied nicht mehr so schwer. Es war ihr ein rechter Stolz, sich mit ihm drüben in der Kirche zu zeigen und ihre Schätze zur Schau zu stellen. Madame Hilgruber namentlich sollte große Augen machen über ihr Glück. Dafür mußte sie freilich einmal von ihr hören: »Ihr putzt Euch ja, Frau Klars, als ob Ihr Eroberungen machen wolltet!« Annika konnte sie nicht leiden und ging ihr doch nicht aus dem Wege.

Reise nach Reise wurde ohne Unfall zurückgelegt; Wind und Wetter waren meist günstig, und immer nach einigen Monaten sah der junge Matrose sein kleines Vaterhaus auf der Nehrung wieder. Das letztemal nahm er eine schöne Hoffnung mit, die ihm das Scheiden recht schwer machte, zumal sein Schiff eine etwas größere Tour in Aussicht hatte. Aber als er dann heimkehrte und sein schönes Weib ihm freudestrahlend mit ihrem Knaben auf dem Arm entgegenkam, gab's ein Begrüßen wie noch nie zuvor. Was hatte er nicht alles für den kleinen Schelm mitgebracht, der noch nicht einmal auf der Welt war, als er es einkaufte. Annika lachte unter Tränen beim Auspacken. Das ganze Fischerdorf wurde zusammengebeten zur Nachfeier der Kindtaufe, und es ging einmal hoch her unter dem Mast vor dem kleinen Fischerhause. Selbst der alte schwachsinnige Hans Niels, der Nestor im Dorfe, trank ein Glas zuviel und verwechselte in seinen Gedanken die drei Peter Klars miteinander und nannte die Annika nicht anders als Barbe, weil er an die erste Kindtaufe beim alten Klars dachte, bei der er ja mitgetrunken hatte.

Der glückliche Vater konnte sich nicht satt sehen an seinem munteren Buben, der nach Litauer Art in einer großen buntgeblümten Mütze steckte und drollig genug aussah. Stundenlang konnte er an der Wiege sitzen, einem Korbe, der an der Spitze einer mit dem andern Ende unter einen Deckbalken gesteckten elastischen Stange hing und bei der leisesten Berührung auf und ab wippte. Es machte ihm tausend Spaß, den kleinen Schlingel im Schlaf seine süßen und sauren Gesichter ziehen zu sehen, oder zu beobachten, wie er aufwachte, erst mit den Augen blinzelte, dann bei noch halb geschlossenen Lidern himmelte, daß nur das Weiße zu bemerken war, dann mit dem rechten und dann mit dem linken probierte, ob sich das Licht ertragen lasse und endlich den Mund zum Weinen verzog und ein gewaltiges Lamento anstimmte, wenn's nicht sofort zu trinken gab. Auch Annika kam ihm ganz neu und ordentlich ehrwürdig vor, wenn sie in ihrer ruhigen, immer gleichmäßigen Weise um den Kleinen herumwirtschaftete und mit einem gewissen, beinahe feierlichen Ernst die Windeln legte oder gar den Schreihals tränkte. »Man weiß nun doch, wozu man auf der Welt ist«, dachte er bei sich und sagte es wohl auch laut zur Annika, die freundlich nickte. Viel sprechen war nicht ihre Art.

In den ersten Wochen war Peter Klars mit seinem jungen Glück so beschäftigt, daß er sein Schiff ganz vergaß. Er hatte zum Herbst noch eine Reise vorgehabt, gab sie aber auf, um sich nicht so bald von den Seinen trennen zu dürfen, und beschloß, im Winterhafen liegenzubleiben. Eigentlich beschloß er gar nichts, sondern trödelte einen Tag nach dem andern hin, bis es zu spät war, sich noch heuern zu lassen. Annika hielt sich still und ließ ihn gewähren; es war ihr ganz recht, daß er von selbst und ohne ihre Bitten blieb. Im stillen hoffte sie, daß er gar nicht mehr gehen wurde. Sie wagte sogar Andeutungen, ob es nicht geraten sein würde, sich drüben auf dem Festlande anzukaufen und dem kleinen Peter ein sicheres Nest zu bereiten. »Soll er auch Nehrunger Fischer werden?« sagte sie; »das ist ein beschwerlicher Erwerb hier. Und wer weiß, wie lange unser Häuschen noch steht? Der Sandberg rückt immer weiter vor; nach dem letzten Sturm war das Dach schon handhoch vollgeweht, und wir mußten hinterm Stall einen Weg schaufeln wie im Winter bei hohem Schneefall. Da ist's doch drüben besser unter grünen Birken und Linden, und das Land trägt jahraus jahrein seine Früchte, die man ohne Lebensgefahr ernten kann.« – Er wurde gar nicht ärgerlich über solche Reden, wie sonst wohl, sondern nur still und nachdenklich. Am Ende sagte er aber doch: »Es reicht noch nicht zu! Wenn's schon einmal Haus und Hof sein soll, dann auch ordentlich. Was meinst du, wenn wir einmal ein Kruggrundstück erhandeln könnten, wie das Hilgrubersche drüben, oder meinetwegen auch nicht ganz so groß.« – Annika war ganz erschrocken über so kühne Plane und antwortete: »Wo denkst du hin? Das sind reiche Leute!« – Der Seemann schielte nach der Wiege und meinte: »Als der Konrad so klein war, hatten sie auch noch nicht soviel!«

Damit hatten nun wieder seine Gedanken eine Richtung bekommen, die seiner hübschen Frau nicht sehr behagte. Sie ließ seitdem ihre Wünsche nicht mehr laut werden. Aber das half ihr nichts; als im März die ersten sonnigen Tage kamen und den Schnee von den Sandbergen heruntertauten und das Haff unsicher machten, wurde sein Verlangen nach der See wieder heftiger und heftiger. Täglich stieg er auf die hohe Düne und lugte mit einem kleinen Fernrohr, das er sich von England mitgebracht hatte, nach Norden hinaus, ob schon Schiffe den Hafen verließen oder ansegelten; und als er das erste glücklich erspäht hatte, kam er ganz aufgeregt nach Hause und konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Als er am nächsten Tage ankündigte, daß er einmal zu Schlitten nach der Stadt wolle, wußte Annika alles. »Du wirst wieder zur See gehen«, sagte sie traurig. »Ich weiß noch nicht«, antwortete er ausweichend. »Ich will vorläufig einmal sehen, wie die Schiffahrt in diesem Frühjahr steht und wieviel Heuer gezahlt wird.«

»Sag's nur gerad' heraus,« brach sie los, »du hast keine Ruhe hier; es treibt dich fort. Daß ich dich nicht zurückhalten kann, weiß ich lange und hab's überwunden; aber daß du auch dein Kind verlassen willst –«

Er ließ sie nicht ausreden, stand auf und ging, ohne ein Wort zu sprechen, hinaus.

Annika gab sich ganz der leidenschaftlichen Aufregung hin, die sie ergriffen hatte. Wie so oft sanfte Naturen das ihnen Widerwärtige lange still in sich aufnehmen, ohne ihre Abneigung merken zu lassen, dann aber plötzlich die Fassung verlieren und, mit dem Volksmunde zu reden, »wild werden«, so zog sich auch an dem scheinbar heiteren Himmel ihres freundlichen Gemüts urplötzlich aus den unbemerkt angesammelten Dünsten ein heftiges Gewitter zusammen, das mit zornigen Reden blitzte und mit Tränenströmen flutete. Als der Seemann nach einer Stunde zurückkehrte, fand er sie verweint und keineswegs beruhigt. »Bin ich dir nicht einer Antwort wert?« begann sie heftig; »gut! Geh nur; meinetwegen auch ohne Abschied von mir – aber den Jungen sollst du dann auch nicht mehr küssen; er ist dir ja doch gleichgültig!« Und dabei rollten die hellen Tränen wieder über die geröteten Wangen, und schluchzend grub sie das Gesicht in die hoch aufgestapelten Kissen des Bettes, über das sie sich gebeugt hatte. Peter Klars hatte seine Frau so noch nie gesehen.

» Dir ist der Junge gleichgültig!« entgegnete er, unwillig den Kopf in den Nacken werfend; »sonst möchtest du daran denken, daß du ihm nicht vergällte Nahrung zu geben hast. Willst du mich nun ruhig anhören?«

Sie schwieg.

Er stand noch eine Weile und wartete auf ein Entgegenkommen. Da sie aber unbeweglich in ihrer Stellung verharrte und nur heftiger schluchzte, wandte er sich schnell zum Gehen und schlug heftig die Tür hinter sich ins Schloß, so daß das kleine Schiff, das auf dem Brett darüber stand, herunterfiel und vollkommene Havarie machte.

Peter Klars wurde doch nachdenklich. Wenn er sich die Wahrheit gestand, so war es ihm recht lieb, daß am andern Tage das Tauwetter fortdauerte und der Nachbar erklärte, er gebe seinen Schlitten nicht her, weil man auf sichere Rückfahrt über das Eis nicht mehr rechnen könne. Er hatte nun einen plausiblen Grund, vorläufig nachgeben zu können, ohne es eingestehen zu dürfen. Annika wurde infolgedessen ruhiger, konnte aber den früheren freundlich-vertraulichen Ton nicht so bald wiederfinden und blieb gegen ihren Mann zurückhaltend, weil sie dem Aufschub nicht traute. Der alte Klars, der die Veränderung wohl merkte, schüttelte verdrießlich den Kopf und brummte: »Weiber sind doch Weiber!« Er hätte gar nichts dagegen gehabt, wenn die frühere ihm ganz behagliche Ordnung zurückgekehrt wäre und er zum Frühjahr wieder das Regiment in die Hand bekommen hätte.

Dem jungen Seemann wurde dieses hinterhältige Schmollen von Tag zu Tag unerträglicher. Seine offene, gerade Natur drängte zu einer freimütigen Auseinandersetzung, und das um so mehr, als er auch seine Annika und mit ihr das Kind unter dem Druck dieser allseitigen Mißstimmung leiden sah. »Es geschieht doch aus Liebe,« sagte er sich, »und aus Sorge für den Kleinen, daß sie dich nicht fortlassen will: sie ist ein gutes Weib.« So paßte er denn die Gelegenheit ab, wo der Alte draußen die Ritzen im Kahn mit Werg verdichtete und daran bis zum Abend zu klopfen hatte, um sich einmal gründlich mit ihr auszusprechen. Freilich war's keine Kleinigkeit, eine gute Einleitung zu finden. Er machte sich erst in der Stube viel zu tun, ohne doch eine bestimmte Arbeit fest anzugreifen, sammelte die trockenen Blätter in den Blumentöpfen am Fenster, bastelte an dem kleinen zerbrochenen Schiff und stieß so oft die Wiege an, bis der jüngste Peter Klars, der ganz sanft schlief, richtig aufwachte. Als ihn dann die Mutter auf den Schoß nahm und zu beruhigen suchte, trat er nahe heran und streichelte die Backen des Kleinen, meinte dabei aber eigentlich Annika. Sie gab noch immer kein Zeichen, daß ihr eine Annäherung erwünscht sei. Da machte er denn endlich kurzen Prozeß, nahm ihre Hand und sagte: »So können wir nicht miteinander leben, Annika; und so können wir nicht voneinander scheiden. Wir müssen ins klare kommen.«

Die Augen wurden ihr sofort wieder naß, und ein paar große Tränen perlten herunter; aber sie ließ ihm ihre Hand und hielt sich ruhig.

»Warum bist du auf einmal so verändert?« fuhr er fort. »Wir sind ja doch einig darüber gewesen, daß ich zur See fahren sollte, solange mein Vater noch der Fischerei vorstehen kann. Habe ich denn nun etwas anderes gewollt? Wenn man dich sieht, muß man glauben, daß ich dich schwer gekränkt habe und etwas Unbilliges von dir verlange. Und doch will ich nur auf meinem Wege weitergehen, den du selbst gutgeheißen hast. Was hast du gegen mich?«

»Das war früher«, antwortete sie weinerlich; »du waren wir noch allein. Glaube mir nur, es hat mir im stillen Sorge genug gemacht, wenn es draußen über die Seeberge stürmte, daß unser kleines Haus zitterte, und ich dich auf der grausigen See wußte; wenn ich dich verloren hätte, was wäre aus mir geworden? Aber was lag auch viel an mir? Nun freilich ist's anders. Du hast ein Kind, an das du denken sollst. Wenn du dem den Vater nimmst, so ist's eine schwere Sünde, die du gar nicht verantworten kannst, Peter.«

Der Seemann hob tief bewegt den Knaben von ihrem Schoß und drückte ihn an sich. »Ich habe den Jungen so lieb wie du,« sagte er, ,»und ich denke gerade an ihn, wenn ich nicht zu Hause bleiben und faulenzen will, sondern für ihn arbeite, damit er's einmal im Leben nicht schwer hat. Was wir bisher erspart haben, reicht nicht weit und geht leicht wieder drauf, wenn's nicht vermehrt wird. Ich bin doch nun einmal ein Fischer und kein Landmann, muß mich dem Wasser vertrauen und mein Leben in Gottes Hand stellen. Viele tausend Männer gehen jährlich zu Schiff, die Frau und Kind zu Hause lassen müssen, denn es ist nun einmal ihr Lebenserwerb, und ein ehrenwerter Erwerb. Lieben sie alle die Ihrigen nicht, wie sie sollten? Das hast du dir nicht gut überlegt, Annika. Auf der ganzen Welt ist nichts, was ich lieber hätte, als euch beide! Wenn du daran zweifeln kannst, so hast du kein gutes Herz. Ich weiß, daß du mich nicht vergessen kannst, auch wenn ich fern bin; und du sollst auch von mir glauben, daß sich bei mir nichts ändert, wenn ich euch verlasse, um desto besser für euch zu sorgen.«

Er küßte den Knaben und sah sie so treuherzig und bittend an, daß sie nicht länger widerstehen konnte. »Ich glaub's auch«, sagte sie und drückte seine Hand; »aber wir könnten nun so schön zusammenleben und unser Glück miteinander genießen. Gehst du zur See, so ist wieder alles gestört, und wir können unseres Lebens nicht froh werden.«

»Wer nach einigen Jahren um so besser«, fiel er lebhaft ein. »Wenn diese Entbehrungen hinter uns sind, wenn wir nicht mehr ängstlich und mühselig für unser tägliches Brot zu sorgen haben, dann wird die Freude um so größer sein. Ich habe mir's nun einmal zugeschworen – schon damals, als ich dir sagte, daß auch der reiche Konrad Hilgruber ein Auge auf dich habe, und du doch dem armen Nehrunger Fischer die Hand reichtest – ich habe mir's zugeschworen, daß ich dir auch ein hübsches Haus und einen grünen Garten schaffen will. Und nun kommt noch unser Peter dazu; der darf hier auf der Nehrung nicht bleiben. Soll der arme Junge auch, wie ich einmal, meilenweit laufen müssen, um die Schule zu besuchen, wo doch wenig genug zu erlernen ist? Drüben zum Präzentor muß er, wie der Konrad, und vielleicht gar nach der Stadt, wenn er größer geworden ist. Wenn man in die Welt hinauskommt, wie ich, merkt man erst, was das für einen Unterschied macht, ob einer etwas gelernt hat oder nicht. ›;Der Klars könnte einen guten Steuermann abgeben,‹ hat mein Kapitän oft genug gesagt, ›;wenn er nur eine bessere Schule gehabt hätte!‹ Siehst du, das kränkt einen; und wenn man ein Kind hat, will man doch nicht, daß es ihm ebenso gehe. Da muß man sich's nicht sauer werden lassen als Vater oder Mutter, und nicht fragen, was am angenehmsten, sondern was am nützlichsten ist. Und darum bitte ich dich, Annika, sei freundlich, wenn ich tue, was ich muß.«

Sie stand auf, legte die Hände auf seine Schultern und gab ihm einen herzlichen Kuß. Dann nahm sie ihm das Kind ab, drückte sein Köpfchen an ihr Gesicht, um ihre Rührung zu verbergen, und ging in der Stube wiegend und ein Schlaflied summend auf und ab.

Peter Klars erwartete keine Antwort; er wußte, daß sie nun wieder ganz ausgesöhnt waren, und daß er Freiheit hätte, zu handeln. Er übereilte seine Abreise nicht; aber als er dann nach einigen Wochen, als das Haff eisfrei geworden war, erklärte, nach der Seestadt fahren zu wollen, gab sie ihm dafür auch den Wunsch auf den Weg, daß er ein gutes Schiff und einen freundlichen Kapitän finden möchte.

Der eigentliche Abschied freilich, als er schon nach wenigen Tagen zurückkam und die Nachricht brachte, daß er durch Vergünstigung eines bekannten Reeders auf dessen ganz neuer, aber bereits segelfertiger Barke als Matrose für eine weite Reise angenommen worden sei, war noch schwer genug. Annika bestand darauf, ihn diesmal bis zur Stadt zu begleiten, soviel auch ihr Mann abredete. Sie war gegen alle Gründe taub und hatte immer nur die eine Antwort: »Aufs Schiff kann ich dir nicht folgen, aber von hier bis dahin ist noch ein Tag, und an dem soll unser Peter seinen Vater nicht missen!« So machte sich denn eines Morgens früh die ganze Familie aus dem kleinen Fischerhause auf den Weg. Der alte Klars hatte das große Boot neu gestrichen und mit einem neuen Wimpel versehen, so daß es recht stattlich aussah und auch von der ganzen am Haffufer versammelten Dorfschaft gebührend bewundert wurde. Da gab es ein Händedrücken und Glückwünschen von allen Seilen. Der greise Hans Niels konnte mit der ganzen Begebenheit nicht recht fertig werden, ließ sich hundertmal wiederholen, daß der Peter Klars zur See gehe, erinnerte sich nun, gehört zu haben, daß er heiraten wolle, und ermahnte ihn mit zitternder Stimme nachdrücklich, nicht das Nachhausekommen zu vergessen, damit seine Braut kein Herzeleid habe. »Das ist ja meine Frau, Großpapa Niels,« lachte der Seemann, »mit ihrem Jungen dazu.« Die blöden Augen des Alten suchten vergebens im Kreise herum, während er die linke Hand wie ein Hörrohr ums Ohr legte und sich an seinem Stabe zu Klars überbeugte. »Ja, ja, jung,« sagte er sanft lächelnd, »sie ist noch sehr jung und kann ein paar Jahre warten, aber mach's nicht zu lange, mein Sohn – nicht zu lange, sonst kann der alte Hans Niels nicht mehr zu deiner Hochzeit.« Darüber gab's ein Lachen und Kichern unter Männern und Frauen, und der Alte lachte recht herzlich mit, als ob er wüßte, warum. Großvater Klars stand schon mit seinen hohen, blankgetranten Wasserstiefeln am Boot, das nicht bis dicht ans Land gebracht werden konnte, und mahnte zur Eile. Und nun hob der Matrose sein schönes Weib mit samt dem Knaben hoch auf den Arm, trug sie kräftig und sicher durchs Wasser und setzte sie unter dem Hurrarufen des Völkchens auf die Mastbank ab mit einem herzhaften Kuß natürlich, der bis ans Ufer hin schallte. Der alte Klars gab dem Fahrzeug eine Wendung mit der Spitze ins offene Haff hinaus, und dann einen Stoß vorwärts, sprang hinten hinein, ergriff den Bootshaken und schob mit ihm den Kahn weiter. Nach wenigen Minuten legte sich schon der Wind hinein, und fort ging es nach Norden, daß das Wasser am Vordersteven rauschte und die Wellen überspritzten.

Annika war recht munter bei der Abfahrt; aber je näher sie dem Seetief und der Stadt kamen, desto nachdenklicher und ernster wurde sie. Sie lehnte sich an ihres Mannes Schulter und faßte seine Hand, immer schweigsam. Auch er wußte nichts zu reden, nachdem sie nicht geantwortet hatte, als er ihr zeigte, wie weit ins Haff hinaus das einfließende Seewasser durch seine Färbung kenntlich bleibe, als ob es zu stolz sei, sich mit Süßwasser zu mischen. Schon wurde die lange Reihe der Holzschneidemühlen sichtbar, in deren Nähe einige große Schiffe ankerten, um ihre Ladung von geschnittenen Hölzern unmittelbar einzunehmen. Wie eine Nußschale tanzte das kleine Fischerboot daran vorüber. Nun öffnete sich das breite Seetief mit der Fernsicht auf den Leuchtturm und die in weißen Schaum gehüllten Steinmolen, und rechts lag die freundliche Stadt hinter einem Mastenwalde, der sich auf den Fluß fortsetzte und dann mitten hindurchzog. Peter Klars zeigte auf einen stattlichen Dreimaster, der mitten im Tief vor Anker lag und schon die Segel gelockert hatte. »Das ist mein Schiff.« Annika schrak zusammen, daß der Knabe in ihrem Arm erwachte und zu schreien anfing.

Sie setzten ans Land. Es war Mittag geworden, und sie aßen zusammen, was sie von Hause mitgebracht hatten, schweigsam und traurig. Dann legte das Boot an, das den Kapitän hinüberholen und auch den Matrosen mitnehmen sollte. Es war nicht länger zu zögern. Peter Klars fühlte, daß er selbst weichmütig wurde, und einen Augenblick dachte er: Es ist doch nicht recht, daß du gehst! Aber es war zu spät zu anderer Entscheidung. Er schüttelte seinem Vater die Hand und rief ihm, viel lauter als nötig war, zu: »Nimm mir Weib und Kind in acht!« Dann hob er den kleinen Peter auf und küßte ihm Stirn und Mund und Augen und beide Hände und jeden Finger. Erst als die Bootsleute ein Zeichen gaben, legte er ihn auf die mitgebrachten Kissen nieder und umarmte seine Annika. »Ich habe eine böse Ahnung«, schluchzte sie mit tränenerstickter Stimme; »wir werden uns nicht wiedersehen!« – »O doch – doch, so Gott will!« sagte er und machte sich los. »Vergiß uns nicht!« rief sie ihm nach. Er legte die Hand aufs Herz: »Treu bis in den Tod!«

Annika trocknete ihre Tränen. Nun einmal das letzte Wort gesprochen war, wurde sie ruhiger. Sie sah das schlanke Boot über das Wasser fortgleiten, und immer unkenntlicher wurde ihres Mannes Gesicht. Sie bemerkte nur noch, daß er ihr von Zeit zu Zeit zunickte und dann mit dem Hut schwenkte. Endlich sah sie ihn an der Strickleiter hinauf über Bord steigen.

Der alte Klars mahnte zur Rückkehr, damit die Nacht sie nicht auf offenem Haff träfe. Aber sie wollte das Schiff noch ausgehen sehen und es so weit begleiten, als das Land reichte. »Laß dann wenigstens den Knaben hier«, bat der Alte. Auch das verweigerte sie. Fest in das große wollene Tuch gewickelt, das sie um die rechte Schulter geschlagen und unterm linken Arm durchgezogen hatte, nahm sie das Kind auf ihrem Gange durch die Stadt und nach der Nordmole mit sich. Indes setzte sich auch das Schiff langsam in Bewegung und folgte ihr schneller und schneller. Noch ehe sie den Leuchtturm erreicht hatte, glitt es an ihr vorüber; Peter Klars stand auf einer Strickleiter und schwenkte zum letzten Male seinen Hut.

Sie machte den kleinen Peter aus dem Tuch frei und hob ihn hoch auf, mit dem kleinen Gesicht nach dem Schiff zugekehrt, und hielt ihn, solange die Kraft ihrer Arme ausreichte. Dann sank sie matt auf einen Stein nieder und hielt sich an dem eisernen Ringe, der darin eingelassen war. Bald blendete die niedersteigende Sonne so stark, daß die Segel nicht mehr zu unterscheiden waren. Sie kehrte traurig zurück.


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