Ernst Wichert
Für tot erklärt
Ernst Wichert

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III.

Es ist mit Träumen und Ahnungen ein eigen Ding, sie treffen manchmal zu. Und weil sie manchmal zutreffen, so behaupten sie für sanguinische Naturen und melancholische Gemüter noch immer den Wert von Orakeln. Die Ahnungen namentlich, die selten auf etwas Freudiges gehen, meistens auf etwas Schmerzliches, Trübes, Bedrohliches – wer zeichnet sie nicht gewissenhaft in das Erinnerungsnotizbüchlein seiner Erfahrungen ein, wenn sie in Erfüllung gehen, und wer vergißt nicht, wenn Bekümmernis sich in Freude wandelt, daß er sich mit ihnen umsonst gequält hat? Annika hatte trübe Ahnungen gehabt, als sie von ihrem Manne Abschied nahm, und sollte bald Grund haben, viel darüber nachzudenken.

Das schöne Barkschiff war zunächst nach einem englischen Hafen bestimmt, wurde aber durch widrige Winde schon in der Ostsee so beschädigt, daß es in Kopenhagen anlaufen mußte und langen Aufenthalt hatte. Erst nach beinahe drei Monaten erhielt der alte Klars auf seine wiederholten Anfragen im Kontor des Reeders die Antwort, daß die Ankunft des Schiffes von dem englischen Korrespondenzreeder gemeldet sei, daß man aber auch in der Nordsee viel schlechtes Wetter zu bestehen gehabt habe. Die Mannschaft sei wohl. In der Stadt sprach man von einer zweiten nicht unbedeutenden Havarie.

Wieder nach einiger Zeit hieß es, die Barke habe Ballast eingenommen und wolle in einem französischen Hafen ankehren, um dort entweder passende Rückladung einzunehmen oder sich nach Amerika zu befrachten. Das war ein Schreck für Annika; denn fehlte ihr auch von der geographischen Lage dieses Weltteils jede nähere Kenntnis, so hatte sie doch die Vorstellung einer gewaltigen Entfernung, wenn sie das Wort hörte, das ihr Mann nur ausgesprochen hatte, wenn er von sehr fernen Reisen berichtete, die man zu Schiff machen könne. In seiner nicht sehr instruktiven Weise hatte er dann zugefügt, man müsse, um dorthin zu gelangen, um die Erde herum auf die andere Seite, was Annika jedesmal ein schreckhafter Gedanke gewesen war. So machte ihr denn auch diese Nachricht die lebhafteste Unruhe. Sie fragte den alten Klars, was er von Amerika wüßte, und wurde durch seine Mitteilungen nur noch mehr in Angst gesetzt. Er hatte etwas davon gehört, daß die Erde eine Kugel sei, und daß es auch auf der hinteren Seite Menschen gebe, die gerade unter ihnen sein müßten, weil sie selbst ja doch oben wären; man solle dort aber gar nicht merken, daß man eigentlich auf dem Kopfe gehe. Annika suchte vergeblich, sich daraus einen Vers zu machen, und hatte schlaflose Nächte, worunter auch der kleine Peter litt.

Wieder vergingen Wochen und Wochen. Der Alte mußte eine neue Reise nach Memel machen, und die junge Frau begleitete ihn. Im Kontor hieß es, das Schiff sei ausgegangen, aus dem französischen Hafen aber bisher kein Telegramm angelangt. Es kam dem Alten so vor, als ob man nicht recht mit der Sprache heraus wollte.

»Es dauert zu lange«, meinte Annika; »sie sind nicht ehrlich gegen uns und halten hinter dem Berge; wir wollen uns bei den andern Matrosenfrauen erkundigen.«

Da fand man denn überall schwere Besorgnisse. Das Schiff habe sich schlecht bewährt; die Takelage sei zu schwer, jeder Sturm müsse es in große Not bringen. Von andern, die sich gut durchgebracht, seien schon Nachrichten angelangt. Annika machte die Rückfahrt nach ihrem Fischerdorf mehr tot als lebendig.

Nach Verlauf von vierzehn Tagen kam ein Brief an den Fischer Klars. Der Reeder schrieb, er bedaure, melden zu müssen, daß sein Schiff wahrscheinlich untergegangen sei; das Nähere könne er bei ihm erfahren. »Ich hab's ja gewußt«, jammerte die unglückliche Frau; »es war seine Todesfahrt!«

Es war seine Todesfahrt! Das »Wahrscheinlich« des Briefes hatte noch eine geringe Hoffnung auf ein »Vielleicht« der Rettung gelassen. Welcher Faden ist der Hoffnung zu dünn, welcher Halt zu schwach, daß sie sich nicht daran mit allen Kräften hält und klammert? Und wenn die Liebe hofft –! Aber bald mußten die letzten Zweifel schwinden. Übereinstimmende Nachrichten bestätigten den Untergang des Schiffes. Ein Engländer, der die entgegengesetzte Tour machte, hatte das Schiff im Sturm getroffen; es hatte bereits zwei Masten verloren oder gekappt und schien leck zu sein, da die Mannschaft an den Pumpen war. Die See ging so hoch, daß es unmöglich war, ein Boot auszusetzen. Sechs Stunden später, bei noch verschlimmertem Wetter, war ein Holländer vorbeigegangenen und hatte nur noch ein Wrack getroffen, das von den Wellen umhergeworfen wurde. Es waren Menschen darauf erkannt, ohne daß die Zahl genau bestimmt werden konnte. Sie hatten vergebens mit Tüchern gewinkt. Über die Identität konnte kein Zweifel sein, weil die Schiffsfigur, eine weiße, stark vergoldete Büste, deutlich zu unterscheiden gewesen war. Der Holländer hatte, wie der Kapitän und der Steuermann beurkundeten, das schon tief gesunkene Wrack kurze Zeit im Auge behalten, dann aber plötzlich verschwinden und nicht wieder auftauchen sehen. Es mußte untergegangen sein. An die Rettung der Menschen war gar nicht zu denken gewesen.

Annika Klars konnte sich als Witwe betrachten, und sie tat's auch vor allen Leuten, denn sie legte Trauerkleider an und ließ drüben in der Kirche für den Verstorbenen beten. Aber tief im Herzen sprach doch manchmal noch eine Stimme: »Es kann ein Irrtum sein; ein Schiff gleicht dem andern; er ist nicht ertrunken, er wird zurückkehren!« Wenn sie dann ihrem Knaben in die freundlichen Augen sah, sprach sie wohl halblaut zu ihm: »Sag' du mir's, lebt dein Vater noch?« Und wenn das Kind lachte und mit den Händchen lustig herumfuchtelte, küßte sie es, daß es fast ersticken wollte, und sagte: »Du kannst es wissen, wenn es die Engel wissen; Gott hat dir's eingegeben!« Und dann weinte sie wieder stundenlang und konnte sich nicht zufrieden geben, so daß der alte Klars ein strenges Wort sprechen und sie erinnern mußte, daß sie Pflichten gegen ihr Kind habe und sich schonen müsse. »Es ist ja am besten,« rief sie dann verzweifelt, »wenn ich sterbe, ich und das Kind; was sollen wir nun auf der Welt?«

Es war vielleicht gut, daß nach einigen Monaten ein Dokument anlangte, das völlige Gewißheit über den Untergang des Schiffes gab. An die irische Küste hoch im Norden war eine verschlossene Flasche ans Land getrieben und von den Fischern aufgefangen, in welcher sich ein Papier befand. Die Flasche war der Behörde abgegeben, die den Inhalt untersucht und ein Schreiben in deutscher Sprache gefunden hatte, das auf manchen Umwegen an den Reeder gelangte. Es war der letzte Bericht seines Kapitäns, in der sicheren Aussicht auf das nahe Verderben geschrieben und nach seinem Vornehmen in der letzten Minute seines Lebens über Bord geworfen, als ihn selbst schon die Todeswogen umspülten.

So mußte denn auch der letzte Schimmer von Hoffnung schwinden.

Und doch leuchtete sie noch manchmal wenigstens im Traum auf. Dann glaubte die Fischersfrau Tritte draußen im Hausraum zu hören und die Tür sich öffnen zu sehen. Ein heller Lichtschein drang in die Stube, als ob plötzlich die Sonne durch eine dicke Wolkenbarre breche, die den ganzen Horizont versetzt hatte. Und mitten in diesem Lichtscheine trat Peter Klars über die Schwelle in seinem roten Hemde und blanken, schwarzen Hut, gerade wie er abgefahren war; er ging auf die Wiege zu und beugte sich über den Knaben und stand so eine lange Weile regungslos, als ob er sich nicht satt sehen könnte an dem lieben Gesicht. Sie erhob sich im Bette und lauschte still, um ihn nicht zu stören, so still, daß ihr zuletzt der Atem stockte. Und wenn sie dann endlich aufspringen und ihn umarmen wollte, war alles verschwunden. Nur der Mond lugte durch das niedrige Fenster und warf einen Lichtschleier über die Wiege; und der alte Klars hustete schwer und sagte: »Du hältst wieder keine Ruhe, Annika, sitzest aufrecht im Bett und sprichst mit dem Mondschein. Schlafe, Kind, schlafe!«

Manchmal träumte sie so auch bei Tage mit wachenden Augen. Sie konnte ganz vergessen, daß Peter Klars tot war, und ihrem Kleinen von ihm erzählen, wie er bald wiederkommen und schöne Sachen mitbringen werde. Es ist so schwer, sich einen geliebten Menschen, den man frisch und gesund hat scheiden sehen, tot zu denken. Hat man ihn bleich und starr vor sich gehabt in dem schwarzen Sarge und seine kalte Hand gefaßt und die Erde auf den Sargdeckel poltern gehört und ihm ein Kreuz auf den Hügel gesetzt, dann hat man ihn ausgeschlossen vom Leben und sucht ihn dort nicht mehr. Aber wenn er fern gestorben ist, bleibt eine Lücke zwischen Sein und Nichtsein, die sich nicht ausfüllen lassen will durch einen kalten Bericht, dem die Anschauung fehlt. Er ist fern und bleibt fern, aber tot ist er nicht – nicht in der Weise wie einer, der hinter der Kirche auf dem Friedhof ruht und auf dessen Grab wir einen Kranz legen. Arme Fischerin!


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