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Drittes Kapitel.

Klar und funkelnd lag die Sternennacht über der stillen dunklen Erde. Die zackigen Gipfel der Berge zeichneten sich nur in undeutlichen Umrissen ab gegen den Himmel, und die schwarzen Massen der Felsen verschwommen in eins mit den nächtlichen Schatten, die über der Bucht lagerten.

Die Stadt lag bereits im Schlafe, und auch im Hause des Kommandanten war schon alles zur Ruhe gegangen. Arlow selbst war erst spät von dem Nachbarorte zurückgekommen, wo gleichfalls eine Truppenabteilung lag, und hatte bei seiner Ankunft Gerald nicht mehr gefunden. Dieser hatte vergebens auf die Rückkehr des Obersten gewartet, die sich ungewöhnlich verzögerte, und da der junge Offizier mit Einbruch der Dunkelheit auf seinem Posten im Kastell sein mußte, so ließ er einige Zeilen zurück, in denen er scharfe Wachsamkeit empfahl, da sich Anzeigen gefunden, daß die Anwesenheit des Joan Obrevic in der Stadt mit geheimen Plänen zusammenhinge. Er verhieß am nächsten Tage ausführlichen Bericht, ohne vorläufig einen anderen Namen zu nennen.

Der Oberst schüttelte den Kopf beim Lesen dieser Zeilen: aber er kannte die ruhig prüfende Natur Geralds, der sich nicht von bloßen Vermutungen beeinflussen ließ, zu gut, um der Warnung nicht zu folgen. Er gab die nötigen Befehle, ordnete an, daß jedes Ungewöhnliche ihm sofort und direkt gemeldet werde, und begab sich dann gleichfalls zur Ruhe.

In den Schlafzimmern der beiden jungen Mädchen, die nebeneinander lagen, herrschte gleichfalls tiefe Stille. Edith war, ermüdet von dem weiten und anstrengenden Ritt, sofort eingeschlummert und durchlebte im Traum nochmals die letzten Stunden, die so seltsam und doch so schön gewesen waren. Gerald hatte zwar eigentümlicherweise darauf bestanden, den Besuch im Fort abzukürzen, und es vermieden, auch nur einen der inneren Räume mit seinen Damen zu betreten. Er erschien noch ernster als sonst, aber trotz alledem zeigte er seiner jungen Braut gegenüber eine Wärme und Innigkeit wie nie vorher. Er wich auf dem Rückweg nicht von ihrer Seite und widmete sich ihr so ganz, daß sie gar keine Zeit fand, zu bemerken, wie sehr er vermied, an Danira das Wort zu richten, und wie gänzlich sich diese zurückzog; es war ein herrlicher Ausflug gewesen.

Die Ampel, welche das Schlafgemach erhellte, warf ihr mattes Licht auf das Bett, wo das junge Mädchen ruhte, das im Schlummer einen ungemein lieblichen Anblick darbot. Das blonde Köpfchen lag etwas seitwärts in die Kissen geschmiegt, um die halbgeöffneten Lippen spielte das Lächeln eines freundlichen Traumes, und die Brust hob sich in tiefen ruhigen Atemzügen; es war der Schlaf eines Kindes, der noch durch keinen Schatten und keine Sorge beunruhigt wird.

Mitternacht war bereits herangekommen, da öffnete sich leise die Tür des Nebenzimmers, und Danira erschien auf der Schwelle. Sie war vollständig angekleidet und hatte einen dunklen Regenmantel übergeworfen, der sie vom Halse bis zu den Füßen herab umhüllte; sie glitt lautlos über den Teppich hin und trat an das Bett. Es lag etwas Unheimliches in dieser hohen, finsteren Gestalt, die sich über das junge Mädchen beugte, so nahe, daß ihr Atem fast dessen Wange streifte. So verharrte sie einige Minuten regungslos, den Blick unverwandt auf die Schlummernde gerichtet; aber jetzt löste sich ein schwerer, heißer Tropfen von den dunklen Wimpern und fiel nieder aus Ediths Wange; diese zuckte leicht zusammen und öffnete die Augen.

»Danira – du?« sagte sie, noch halb im Traume befangen.

Die Gerufene richtete sich hastig auf und machte eine Bewegung wie zur Flucht; aber als das junge Mädchen, noch immer schlaftrunken, wiederholte: »Was willst du denn?« blieb sie stehen und sagte halblaut und gepreßt:

»Dir Lebewohl sagen!«

Edith schien jetzt erst vollständig zu erwachen, sie richtete sich erschrocken auf.

»Lebewohl? Jetzt, mitten in der Nacht? Wohin gehst du?«

»Fort – auf immer! Erschrick nicht so, Edith, es muß sein. Es war töricht, unvorsichtig, daß ich zu dir kam, aber ich konnte nicht gehen, ohne dich noch einmal zu sehen; ich ahnte ja nicht, daß du erwachen würdest.«

Edith verstand offenbar nichts von dem Gehörten, sie blickte wie betäubt in das Gesicht ihrer Pflegeschwester, die jetzt leidenschaftlicher fortfuhr:

»Ich wäre doch gegangen in einigen Tagen oder Wochen – nun muß es schon in dieser Nacht sein. Er hat uns keine Wahl gelassen, und er ist ein wachsamer Kerkermeister.«

»Er? Wer? Um Gottes willen, sprich nicht in solchen Rätseln! Was ist vorgefallen? Wohin willst du? Du siehst ja, daß ich mich fast zu Tode ängstige.«

Danira sank auf die Knie und preßte die Hände des jungen Mädchens in die ihrigen; es war ein wilder, schmerzender Druck.

»Frage nicht, ich darf dir keine Antwort geben. Dein Vater wird dir sagen, daß ich undankbar, schlecht gewesen bin; vielleicht hat er recht; aber mein Recht steht höher, denn es ist das Recht der Heimat und des Blutes, das er mir nahm. Er hegte nie Zuneigung für mich, so wenig wie ich für ihn – mag er mich verdammen! Aber du, Edith, hast mich lieb gehabt mit all meinen Schroffheiten. Du hast mir nie mit Absicht wehe getan, dich nie kalt von mir gewendet, selbst wo du mich nicht verstandest. Du sollst nicht glauben, daß ich gefühllos gewesen bin. Ich war nur unglücklich, so grenzenlos unglücklich! Daran denke, wenn sie morgen allesamt den Stab über mich brechen, und dann – vergiß mich!«

Sie hatte das alles in atemloser Hast hervorgestoßen und wollte sich nun erheben; aber Edith, die jetzt endlich begriff, daß es ernst mit dem Abschiede war, schlang beide Arme um ihren Hals und begann laut zu weinen.

»Still!« flüsterte Danira, halb bittend, halb befehlend.

»Halte mich nicht, versuche es nicht, meine Flucht zu hindern, ich lasse mich nicht halten, und wenn es selbst mein Leben gilt. Wenn du die andern weckst und auf meine Spur leitest, so bringt mir das vielleicht den Tod – zurück bringt es mich nicht!«

Die letzten Worte klangen in so furchtbarer Bestimmtheit, daß Edith erschrocken die Arme sinken ließ, und Danira benutzte das, um sich vollends frei zu machen.

»Und nun noch eine Bitte! Sage ihm – Gerald von Steinach – ich sei keine Verräterin, ich habe keine feindseligen Pläne gesponnen gegen die, die sich meine Wohltäter nennen, nur einer Rettung hätte es gegolten – morgen wird er wissen, um was es sich gehandelt hat!«

Edith hörte plötzlich auf zu weinen, und ihre Augen hefteten sich groß und erstaunt auf die Sprechende.

»Eine Botschaft an Gerald von dir? Und die soll ich ihm bringen?«

»Ja! Ich will, ich kann die Verachtung dieses Mannes nicht mit mir nehmen. Ich habe viel ertragen in der letzten Zeit, diesen verächtlichen Blick aus seinen Augen ertrage ich nicht. Versprich mir, ihm zu wiederholen, was ich dir sagte, Wort für Wort! Und nun lebe wohl – für immer!«

Sie beugte sich noch einmal nieder, Edith fühlte zwei heiße, zuckende Lippen, die sich auf die ihrigen preßten, fühlte, wie sie an eine stürmisch klopfende Brust gerissen wurde, doch nur für einen Moment, im nächsten schon hatte sich Danira losgerissen und war verschwunden. Die Tür schloß sich hinter ihr, und im Schlafzimmer verbreitete die Ampel ihr ruhiges Licht wie vorhin, während das junge Mädchen beide Hände gegen die Schläfen preßte, um sich zu vergewissern, daß die eben erlebte Szene kein bloßes Traumbild gewesen war.

Es war in der Tat alles zu jäh, zu unerwartet gekommen, und es dauerte eine geraume Zeit, ehe Edith sich von ihrer Betäubung erholte; dann aber stand sie hastig auf, warf ein Morgenkleid über und eilte in das Nebenzimmer, das Danira bewohnte. Es war leer und einsam, das Bett unberührt, die Tür geschlossen, die Entflohene mußte bereits das Haus verlassen haben.

Ediths erster Gedanke war, den Vater zu wecken und ihm das Geschehene mitzuteilen; aber da klangen die Abschiedsworte Daniras in ihren Ohren: Wenn du sie auf meine Spur leitest, so bringt mir das vielleicht den Tod – zurück bringt es mich nicht! Sie kannte ihre Pflegeschwester und wußte, daß diese imstande war, die Drohung auszuführen.

Ratlos trat das junge Mädchen an das Fenster, von wo aus man einen Teil der Stadt übersah. Die Häuser lagen still und dunkel da, und über ihnen ragte das Kastell empor zum sternfunkelnden Nachthimmel. Dort oben weilte Gerald, an den jene seltsame Botschaft lautete. Weshalb gerade an ihn, der Danira stets so fremd, beinahe feindselig gegenübergestanden, und warum konnte sie allein seine Verachtung nicht ertragen, wo sie das Verdammungsurteil ihres Pflegevaters so gleichgültig auf sich nahm? In dem sonst unbefangen kindlichen Gesicht der jungen Braut erschien ein fremder, grübelnder Zug, sie kam über dieses »Warum« nicht hinaus.

Da auf einmal schreckte sie empor. Es krachten drei Schüsse rasch nacheinander, in der Ferne zwar, aber doch deutlich vernehmbar in der Stille der Nacht. Dann folgte einige Minuten lang tiefes Schweigen, dann wieder ein einzelner, scharfer Schuß. Er kam vom Kastell her, und gleich darauf begann es dort oben lebendig zu werden; Lichter tauchten auf und verschwanden, und der rote Schein von Fackeln fiel aus die felsigen Abhänge, wo man irgend etwas zu untersuchen schien. Endlich tönte ein schwerer dumpfer Laut über die Stadt hin, ein Kanonenschuß, der ringsum das Echo der Berge weckte und rollend in der Ferne erstarb.

Unter anderen Verhältnissen hätte Edith den Vorgang nur mit Neugierde beobachtet, denn eigentliche Furchtsamkeit lag nicht in ihrer Natur; jetzt aber, wo sie durch das Vorhergegangene erschreckt und aufgeregt war, legte es sich ihr beklemmend auf die Brust wie die Ahnung irgendeines Unheils.

Sie flog in ihr Schlafzimmer zurück, um sich vollends anzukleiden; aber es dauerte doch noch Minuten, bis sie fertig war und hinübereilte nach der anderen Seite des Hauses, um den Vater zu wecken.

Es bedurfte dessen nicht, der Oberst war bereits wach und in den Kleidern. Auch ihn hatten die Schüsse aufgeschreckt, und er war eben im Begriff, den Degen umzuschnallen, als seine Tochter eintrat und angstvoll zu ihm flüchtete, als wolle sie hier Schutz suchen.

»Bist du auch wach, Papa? Was ist geschehen? Droben auf dem Kastell –«

»Ist ein Gefangener entflohen!« ergänzte der Oberst. »Der Alarmschuß gab das Zeichen. Erschrick nicht, Kind, die Sache hat ja keine Gefahr.«

»Aber Gerald ist dort, und es fielen auch Gewehrschüsse –«

»Die Posten werden geschossen haben; sie haben Befehl, auf einen Flüchtling zu feuern, wenn er nicht stand hält; trotzdem muß er entkommen sein, sonst hätte man nicht den Signalschuß abgegeben. Ich werde sofort hinaussenden und mir Meldung erstatten lassen. Aber weshalb bist du denn aufgestanden, Edith? Lege dich wieder nieder, die Stadt ist ja ganz ruhig, und ich wiederhole es dir, daß nichts zu besorgen ist.«

Er sprach mit einer Ruhe, die teilweise erzwungen war, denn jener Vorfall traf doch zu seltsam mit der Warnung Geralds zusammen, als daß man ihn nicht hätte ernst nehmen sollen. Der junge Offizier hatte von Verrätereien gesprochen, und droben auf der Festung ging irgend etwas Ungewöhnliches vor. Wer konnte wissen, was in der Stadt geschah; jedenfalls wollte der Kommandant auf seinem Posten sein.

Jetzt trat auch der Bursche des Obersten ein mit einer Ordonnanz, die er im Auftrage seines Herrn schleunigst herbeigeholt hatte. Arlow machte sich los von seiner Tochter, die ihn noch immer umfaßt hielt, und sagte freundlich, aber bestimmt:

»Geh jetzt, mein Kind! Du siehst es, ich bin im Dienst und darf an nichts anderes denken. Ich muß sofort hinaus. Versuche es, wieder einzuschlafen, und laß dich nicht von Dingen aufregen, die dir ja doch fremd sind.«

Edith sah, daß sie diesmal gehorchen müsse, und verließ das Zimmer, aber die letzten Worte berührten sie fast wie ein Vorwurf. Freilich, sie hatte ja niemals Interesse an den Berufsangelegenheiten ihres Vaters genommen; dafür schickte man sie jetzt zu Bette wie ein Kind, das nur im Wege war, während die ganze Stadt aus dem Schlafe erwachte, während Vater und Bräutigam auf ihre Posten eilten, und Danira – bei dem Namen blitzte plötzlich eine Erkenntnis der Wahrheit in dem jungen Mädchen auf. Sie begriff, daß Danira mit jenem Ereignis in Verbindung stand, daß sie eine Rolle darin spielte, wenn ihr auch der Zusammenhang dunkel blieb.

Edith kehrte in ihr Schlafzimmer zurück, aber von Schlaf war keine Rede. Die Nacht verging sehr unruhig; der Oberst war hinaus geeilt, um selbst die Wachen und Posten zu inspizieren und sich zu überzeugen, daß wenigstens in der Stadt sich nichts Verdächtiges regte. Er kehrte erst nach zwei Stunden zurück. Ordonnanzen kamen und gingen; mit Tagesanbruch verließ ein Detachement die Stadt und wandte sich den Bergen zu. Auch die Einwohner, die jener Signalschuß geweckt hatte, waren größtenteils auf den Beinen, um zu erfahren, was denn eigentlich geschehen sei. In der jetzigen Zeit gewann jedes ungewöhnliche Ereignis auch eine ungewöhnliche Bedeutung.

*

Erst gegen den Morgen begann die Aufregung sich zu legen. Man erfuhr, daß es sich in der Tat nur um die Flucht eines Gefangenen gehandelt, der während der Nacht entkommen war, und den jenes Detachement verfolgte. Jetzt erschien auch Leutnant von Steinach, der dem Kommandanten in der Nacht nur die notwendigsten Meldungen herabgesandt hatte, um ihm persönlich Bericht zu erstatten.

Die Unterredung hatte über eine halbe Stunde gewährt. Die beiden Männer befanden sich allein im Arbeitszimmer des Obersten, und die Mienen beider waren so ernst, ja finster, daß man wohl sah, der Vorfall war nicht so ganz unbedeutend gewesen, wie man es in der Stadt erzählte.

»Ich habe von Anfang an nicht geglaubt, daß Joan Obrevic wirklich in versöhnlicher Absicht hier war,« sagte Gerald. »Seit einigen Tagen war ich ihm auf der Spur, aber diesen tollkühnen Befreiungsversuch hatte ich am wenigsten erwartet. Es galt bisher für unmöglich, das Kastell von der Felsenseite her zu ersteigen.«

»Für diese Bergbewohner gibt es keine Unmöglichkeit,« entgegnete der Oberst, »am wenigsten, wo es sich um Felsen und Klippen handelt. Aber wie kam es dann, daß du mitten in der Nacht die Flucht entdecktest, die selbst die Posten nicht bemerkt hatten?«

»Ich konnte nicht schlafen; die gestrigen Entdeckungen hatten mich argwöhnisch gemacht. Gegen Mitternacht unternahm ich noch einmal einen Rekognoszierungsgang über den Wall, und da sah ich beim Sternenschimmer, wie der Gefangene sich an der Mauer herabließ und den Boden gewann, wo zwei andere ihn erwarteten. Ich alarmierte sofort die Wachen und eilte selbst zur Stelle. Die Flüchtigen gaben, als sie sich verraten sahen, Feuer auf mich, die Kugeln flogen mir dicht am Kopfe vorüber, da antwortete ich, und mein Schuß streckte den einen zu Boden. Die beiden andern traten tollkühn den grauenhaften Weg über die Felsen an und entkamen in der Dunkelheit. Als meine Leute herbeieilten, und Fackeln gebracht wurden, sahen wir, daß ich den Joan Obrevic erschossen hatte, der tot am Fuße der Mauer lag – er hatte die Freiheit seines Sohnes mit seinem Leben bezahlt.«

Arlow hatte schweigend zugehört, aber der Ausdruck seines Gesichts wurde immer sorgenvoller, und jetzt fragte er rasch:

»Kannte dich der junge Obrevic?«

»Gewiß, ich sah ihn öfter, ebenso wie die anderen Gefangenen, da ich das Kommando im Kastell führte.«

»Und du glaubst, daß er dich auch heute nacht erkannt hat?«

»Das ist wohl zweifellos, denn es waren Kommandoworte, die ich meinen Leuten zurief. Die Schüsse galten mir allein. Bei einer Verfolgung durch die Posten hätte man die Flucht wahrscheinlich nicht damit verzögert; es war ein Racheakt gegen mich persönlich.«

Der Oberst stand auf und ging einigemal schweigend im Zimmer auf und nieder; endlich blieb er stehen und sagte mit tiefem Ernst:

»Gerald, ich gäbe viel darum, wenn eine andere Kugel als die deinige den Joan Obrevic niedergestreckt hätte!«

»Weshalb?« fragte der junge Offizier erstaunt aufblickend.

»Du hast den Vater erschossen, und der Sohn ist in die Berge entkommen. Er trägt die Nachricht von deiner Tat dorthin, und ich sagte dir bereits, daß gestern abend die Order eingetroffen ist, dich von deinem Posten abzulösen und mit deinen Leuten dem Regimente nachzusenden.«

»Was längst mein sehnlicher Wunsch gewesen ist! Ich bin es wahrlich müde, Gefangene zu bewachen, während meine Kameraden sich mit den Insurgenten herumschlagen.«

Der Oberst schüttelte den Kopf, und der sorgenvolle Ausdruck in seinen Zügen trat noch deutlicher hervor, als er antwortete:

»Du kennst dies Volk nicht, wie ich es kenne; die Blutrache besteht bei ihm in ihrer ganzen Furchtbarkeit. Der Führer ist von deiner Hand gefallen, nicht einmal im Kampfe, im Handgemenge, sondern auf der Flucht, und man weiß, daß du ihn getötet hast – du bist vogelfrei da oben in den Bergen!«

Gerald zuckte die Achseln. »Das läßt sich nicht ändern. Wie die Dinge lagen, konnte und durfte ich nicht anders handeln. Ich mußte auf die Flüchtlinge feuern, als sie meinem Rufe nicht standhielten, um so mehr, als sie mich selbst angriffen.«

»Du hast vollkommen richtig gehandelt, aber es ist eine unglückselige Verkettung von Umständen. Der Stamm des Obrevic hat sich zweifellos nur so lange passiv verhalten, bis der Sohn des Führers befreit und in Sicherheit war; jetzt werden sie nicht säumen, sich der Empörung anzuschließen, und du hast vielleicht sofort gegen sie zu marschieren. Versprich mir, vorsichtig zu sein und dich vor allen Dingen nie allein hinauszuwagen, hörst du? Nimm stets Begleitung mit.«

Der junge Offizier trat mit einer halb unwilligen Bewegung zurück.

»Soll ich meinen Leuten ein Beispiel von Furcht und Zaghaftigkeit geben? Ich bin Soldat wie sie, und zu unserem Berufe gehört nun einmal die Gefahr.«

»Die Vorsicht schändet auch den Soldaten nicht, sobald es sich um Heimtücke und Hinterhalt handelt. Du wirst deine Pflicht im vollsten Maße tun – ich erwarte nichts anderes von dir; aber tue auch nicht mehr und laß dich von deinem Eifer nicht fortreißen, eine Gefahr herauszufordern, die nach dem Vorfall von heute nacht dich nur allein bedroht. Du bist das dir und vor allen Dingen deiner Braut schuldig. Ich fordere dein Wort darauf, daß du besonnen sein wirst!«

»Ich werde wachsam sein und mein Leben nicht leichtsinnig auf das Spiel setzen. Mehr kann ich nicht versprechen, denn alles, was darüber hinausgeht, wäre Feigheit.«

Der Oberst unterdrückte einen Seufzer. »Du hast recht, Gerald, aber ich sehe dich mit schwerem Herzen scheiden. – Still, da kommt Edith! Laß sie nicht ahnen, was wir gesprochen haben, sie darf nicht nutzlos geängstigt werden. – Nun, mein Kind, da bist du ja! Hast du die Aufregung der Nacht glücklich verschlafen?«

Edith, die soeben eintrat, um dem Vater den gewohnten Morgengruß zu bringen, sah nicht ganz so rosig und strahlend aus wie sonst. Es lag etwas Müdes, Übernächtiges in ihren Zügen, und auch ihre Stimme hatte nicht den sonstigen frischen Klang, als sie antwortete:

»Ich konnte nicht wieder einschlafen; es war ja im Hause alles wach und in Bewegung, und ich wußte nicht einmal, wie es um Gerald stand.«

Gerald, der seiner Braut entgegenging, um sie zu begrüßen, fühlte den Vorwurf in ihren Worten. Er hatte gar nicht daran gedacht, ihr eine Nachricht zu senden, und doch konnte er voraussetzen, daß sie seinetwegen beunruhigt war.

»Verzeih,« entgegnete er rasch. »Ich glaubte, du hättest bereits von Papa erfahren, daß der nächtliche Vorfall gar nicht von Bedeutung war.«

»Es heißt doch, die Flüchtlinge hätten auf dich geschossen, du hättest gleichfalls Feuer gegeben und den einen –«

»Die Leute übertreiben wie gewöhnlich,« unterbrach der Oberst. »Gerald ist natürlich zur Stelle gewesen und hat seine Pflicht getan; doch du siehst ja, daß er unversehrt und munter ist. Leider aber hat er mir Nachrichten gebracht, die mich zwingen, hier in meinem Hause sehr ernste Dinge zu verhandeln. Wo ist Danira?«

Edith blickte auf, aber es war nicht der Vater, den sie ansah, sie wandte sich an Gerald mit ihrer Antwort.

»Danira ist fort.«

Der junge Offizier zuckte leicht zusammen, es war nur ein Moment, und er unterdrückte sofort die Bewegung, aber sie war doch gesehen worden. Der Oberst dagegen fuhr auf.

»Fort? Wohin?«

»Ich weiß es nicht, sie kam heute nacht in mein Schlafzimmer, um mir Lebewohl zu sagen, in einer wilden, stürmischen Weise, die mich noch mehr erschreckte als ihre Worte. Sie verbot mir, dich zu wecken und ihre Flucht zu verraten, und war fort, ehe ich noch recht zur Besinnung kam. Ich verstand nichts von dem allen, nichts als – die Botschaft, die sie mir an Gerald auftrug.«

»An Gerald?« wiederholte Arlow, dessen Erstaunen für den ersten Augenblick seine Entrüstung überwog.

»Ja, an ihn!« Die Augen des jungen Mädchens hafteten mit halb scheuem, halb forschendem Ausdruck aus dem Gesichte ihres Verlobten, während sie die Worte Daniras wiederholte. Sie sah die schnell verschwindende Röte auf seiner Stirn und sah auch das Aufleuchten seiner Augen bei der Rechtfertigung, die jene Worte enthielten.

»Ich ahnte es, daß der Morgen sie nicht mehr hier finden würde,« sagte er endlich. »Sie konnte nicht bleiben, nach dem, was geschehen war, und sie wäre ja doch früher oder später gegangen; aber ich hatte in der Tat Schlimmeres vorausgesetzt als einen Befreiungsversuch.«

»Ich dächte, das wäre schlimm genug!« brauste der Oberst aus. »Dieses undankbare, verräterische Geschöpf, das jahrelang in unserer Mitte lebte, das wie ein Kind des Hauses gehalten wurde und nun die empfangenen Wohltaten so heimzahlt – es ist schändlich!«

Die Empörung war dem Manne wohl zu verzeihen, der mit dem besten Willen und den wohlwollendsten Absichten versucht hatte, ein fremdes, widerstrebendes Element zu bändigen; aber der Zorn machte ihn ungerecht. All die geheime Abneigung, welche er von jeher gegen die Pflegetochter gehegt hatte, brach jetzt schrankenlos hervor; er erging sich in den heftigsten Vorwürfen gegen die Entflohene und konnte nicht Worte genug finden, sie zu verurteilen.

Gerald hörte eine Weile schweigend zu, doch die Röte in seinem Gesicht wurde immer dunkler, und seine Stirn umwölkte sich immer mehr. Als aber der Oberst jetzt noch einmal das Wort »niederträchtiger Verrat« brauchte, da sprühte es auf in den Augen des jungen Mannes, so jäh und wild wie damals, als man ihm selbst eine Beleidigung in das Antlitz schleuderte.

»Danira ist keine Verräterin, das hat sich jetzt ergeben,« sagte er scharf und bestimmt, »und daß sie die Hand bot zur Rettung eines der Ihrigen, schändet sie nicht in meinen Augen.«

»Willst du etwa ihre Partei nehmen?« rief Arlow gereizt. »Willst du eine Landstreicherin entschuldigen, die heimlich bei Nacht und Nebel das Haus verläßt, um in die Berge zu laufen mit einem entsprungenen Gefangenen und –«

»Unter dem Schutze ihres Bruders, der sie gerufen hat und der sie jetzt in die Heimat zurückführt! Es war ein Mißgriff, daß man das Mädchen überhaupt dieser Heimat entriß, und sie hat jedenfalls am schwersten darunter gelitten. Sie hat gefehlt, das ist wahr, aber die Stimme des Blutes ist eben stärker gewesen als die der Dankbarkeit – vielleicht hätte ich an ihrer Stelle nicht anders gehandelt!«

Der Oberst sah sprachlos vor Erstaunen seinen künftigen Schwiegersohn an, den er zum erstenmal in solcher Erregung erblickte.

»Nun, bei dir war ich auf solche Ansichten am wenigsten gefaßt!« brach er aus. »Du wirfst dich ja förmlich zum Ritter und Verteidiger der Entflohenen auf. Edith, was sagst du eigentlich zu der Sache? Du sprichst ja kein Wort!«

Ediths Augen ruhten noch immer unverwandt auf dem Antlitz des jungen Offiziers, und sie wandte auch jetzt den Blick nicht ab.

»Ich glaube, Gerald hat recht,« sagte sie leise. »Ich habe Ähnliches empfunden, als Danira mir heute nacht Lebewohl sagte.«

»Ja, so ist die Jugend, sie sieht immer nur die romantische Seite!« rief der Oberst unmutig.« Von euch ist kein unbefangenes Urteil zu erwarten, wir wollen nicht weiter darüber streiten. Bei alledem bin ich froh, daß die Sache auf diese Weise ein Ende genommen hat. Ich habe es stets für ein Unglück gehalten, daß meine eigene Übereilung mich zwang, ein derartiges Element in meinem Hause zu dulden. Die Anwesenheit dieser Danira lastete wie ein Alp auf uns allen.«

»Ja, es war gut, daß sie ging – für uns alle!« sagte Gerald mit einem tiefen Atemzuge, es klang beinahe, als sei auch ihm ein Alp von der Brust genommen.

Arlow ging einigemal auf und nieder, wie das seine Gewohnheit war, wenn er eine Aufregung bekämpfte; dann blieb er vor seiner Tochter stehen.

»Und über all diesen Erörterungen vergessen wir die Hauptsache. Du weißt es ja noch gar nicht, mein Kind, daß Gerald fort muß. Gestern abend ist die Order gekommen, und morgen schon marschiert er mit seinen Leuten dem Regimente nach.«

»So bald schon?« fragte Edith, aber es klang tonlos, halb mechanisch. Der Vater sah sie verwundert an; er hatte geglaubt, daß sie die Nachricht anders aufnehmen würde. Gerald aber trat zu seiner Braut und beugte sich zu ihr nieder.

»Ja, ich muß fort, und meine kleine Edith muß es mir schon verzeihen, wenn ich mich danach sehne, endlich auch die Gefahren und Mühen meiner Kameraden zu teilen. Ich soll mir mit dieser Kriegsfahrt ja die Braut verdienen. Wenn ich zurückkomme, dann kehren wir diesem Lande den Rücken, und ich führe meine junge Frau in die Heimat, in das schöne, sonnige Tirol, und in die Arme meiner Mutter. Glaube es mir, Edith, dort kann man sehr, sehr glücklich sein!«

Es lag eine ganz ungewohnte Wärme und Innigkeit in diesen Worten, freilich auch eine seltsame Hast und Unruhe, und es war ein mehr krampfhafter als zärtlicher Druck, der die Hand des jungen Mädchens preßte, das keine Silbe darauf erwiderte. Der Oberst dagegen sagte gänzlich versöhnt:

»Nun, das ist vernünftig gesprochen! Edith wird sich in die Trennung finden bis zu deiner Rückkehr, sie ist ja ein Soldatenkind. – Aber jetzt geh, mein Sohn, du mußt nach dem Kastell und die Anordnungen treffen, die wir besprochen haben. Am Nachmittage erwarten wir dich; ich werde dafür sorgen, daß du dich wenigstens den letzten Abend deiner Braut widmen kannst.«

Gerald zog die kleine Hand, die in der seinigen lag, an seine Lippen, und diesmal drückte er wirklich einen langen, innigen Kuß darauf. Es lag fast etwas wie Abbitte darin, und er blickte vorwurfsvoll auf, als ihm die Hand so rasch entzogen wurde.

»Sieh, da bricht ja das Eis!« sagte der Oberst scherzend, als sich die Tür hinter dem jungen Offizier geschlossen hatte. »Die Trennung scheint es dem Gerald erst klar zu machen, was er an seiner kleinen Braut besitzt. Glaubst du noch, daß er nicht fähig ist, zu lieben?«

Edith wandte ihr Gesicht langsam dem Vater zu, es war erschreckend bleich, und in den blauen Augen standen ein paar heiße Tränen.

»O ja, Gerald kann lieben!« sagte sie mit bebenden Lippen. »Seit heute weiß ich es, daß er es kann – aber mich hat er nie geliebt!«

*


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