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Achtes Kapitel
Epilog

1

Der Herbergsmeister schürte das halb erloschene Feuer, so daß es noch einmal emporflammte. »Ich bin vollkommen überzeugt,« sagte er in nachdrücklichem Ton, »daß die Geschichte wahr ist.«

»Aber wie kann sie denn wahr sein?« fragte Salaha.

»Ich würde sie eher für wahr halten, wenn Sarnac nicht Heliane in der Gestalt Hettys mit in die Geschichte hineinverwoben hätte«, meinte Beryll. »Das scheint mir durchaus traumhaft, wie Hetty seiner liebsten Herrin immer ähnlicher und schließlich völlig sie wird.«

»Wenn aber Smith eine Art früherer Verkörperung Sarnacs war,« sagte Stella, »dann ist es doch nur natürlich, daß er eine frühere Verkörperung Helianes liebte.«

»Finden sich denn aber in der Geschichte auch andere Menschen unserer heutigen Zeit gewissermaßen vorweggenommen?« fragte Salaha. »Habt ihr irgendjemand anderen wiedererkannt, jemanden, der euch beiden heute nahesteht? Gibt es eine Fanny in unserer Welt? Eine Matilda Good? Oder einen Bruder Ernst? Ist Sarnacs Mutter Martha Smith ähnlich gewesen?«

»Diese Geschichte«, sagte der Herbergsmeister im Tone tiefster Überzeugung, »ist kein Traum. Sie ist eine Erinnerung, die aus dem tiefen Dunkel des Vergangenen und Vergessenen aufgestiegen und in ein lebendiges Hirn hinübergeglitten ist – in ein verwandtes Gehirn.«

Sarnac dachte nach. »Was ist eine Persönlichkeit denn anderes als eine Erinnerung? Wenn die Erinnerung an Harry Mortimer Smith in mir, in meinem Gehirn lebendig ist, dann bin ich eben Smith. Ich bin ebenso sicher, daß ich vor zwei Jahrtausenden Smith, wie daß ich heute morgen Sarnac war. Ich habe übrigens schon früher in Träumen das Gefühl gehabt, als ob ich Vergangenes aufs neue erlebte. Hat keiner von euch jemals dergleichen empfunden?«

»Mir träumte neulich,« sagte Beryll, »ich sei ein Panther. Ich bedrohte ein Dorf, in dem nackte Kinder lebten und etliche recht bissige Hunde. Drei Jahre lang wurde ich gejagt und fünfmal angeschossen und schließlich getötet. Ich biß eine alte Frau tot, die im Walde Zweige sammelte, und vergrub die Überreste ihres Leichnams unter den Wurzeln eines Baumes, in der Absicht, sie am Morgen völlig aufzufressen. Es war ein äußerst lebhafter Traum und gar nicht schrecklich, solange ich ihn träumte. Klar und fortgesetzt zusammenhängend wie der deine war er jedoch nicht. Ein Panther denkt aber auch nicht klar und zusammenhängend; blitzartig aufleuchtendes Interesse dürfte in seinem Geist mit langen Zeitspannen dumpfer Gleichgültigkeit und völligen Vergessens wechseln.«

»Vielleicht sind auch schreckliche Träume, wie Kinder sie häufig haben, Träume, in denen man von wilden Tieren verfolgt wird und nur mit knapper Not entkommt, Erinnerungen eines längst verstorbenen Wesens, das in einem zu neuem Leben erwacht ist?« fragte Stella. »Was wissen wir schließlich von den Erinnerungen, die jenseits der Materie liegen? Was wissen wir von den Beziehungen des Bewußtseins zur Materie und zur Kraft? Seit vier Jahrtausenden grübelt die Menschheit diesen Dingen nach, und wir wissen heute nicht mehr davon als die Bewohner des alten Athen zur Zeit, da Plato lehrte und Aristoteles zu forschen begann. Die Wissenschaft wächst, und die Macht des Menschen nimmt zu, aber doch nur innerhalb der unserem Leben auferlegten Grenzen. Wir können wohl Raum und Zeit besiegen, niemals aber werden wir ergründen, was wir sind, und warum sich in uns die Materie zum Fühlen und Wollen durchgerungen hat. Mein Bruder und ich beschäftigen uns viel mit Tieren, und ich erkenne immer mehr, daß der Mensch dasselbe ist wie sie. Sie sind sozusagen Instrumente mit nur zwanzig Saiten, während wir deren zehntausend besitzen, trotzdem aber Instrumente wie wir; was auf ihnen spielt, spielt auch auf uns, und was sie tötet, tötet auch uns. Leben und Tod sind für alle Ewigkeit in die kristallene Sphäre gebannt, die uns umschließt, sie können über diese Grenze nicht hinaus. Wir wissen nicht, was Erinnerungen sind. Wenn ich behaupte, daß sie bei unserem Tode gleich Sommerfäden davonflattern, in unbekannte Fernen fliegen und wiederkehren, um sich mit anderen ähnlichen Gespinsten zu vermengen, wer kann mir widersprechen? Vielleicht hat das Leben von allem Anfang an solche Fäden und Gewebe des Erinnerns gesponnen. Vielleicht schwebt jedes, auch das kleinste Ding der Vergangenheit als eine Erinnerung um uns. Und wer kann wissen, ob wir nicht eines Tages die zerstreuten Fäden sammeln und zu einem einzigen Gespinst zusammenweben lernen, bis die ganze Vergangenheit uns wiedergeschenkt und alles Leben eins wird? Und dann wird die kristallene Sphäre um uns vielleicht zerbrechen. Doch wie immer das alles zusammenhängen, wie immer es zu erklären sein mag, ich kann mir auch ohne jedweden Wunderglauben sehr gut vorstellen, daß die wirkliche Erinnerung an ein verflossenes Menschenschicksal, das wahrhaftige Bild eines Lebens, das sich vor zwei Jahrtausenden abspielte, in Sarnac aufgetaucht ist. Ich kann es mir vorstellen und glaube es, weil seine Geschichte so über alle Maßen lebendig war. Die ganze Zeit, da er erzählte, hatte ich das Gefühl, daß er, was immer wir fragen mochten – etwa was für Knöpfe er an seiner Jacke getragen habe, wie tief die Wasserrinnen am Straßenrand gewesen seien, oder was seine Zigaretten gekostet hätten –, daß er die Antwort darauf bereit habe und uns genauer und sicherer Auskunft geben könne, als irgendein Historiker.«

»Auch ich glaube, daß die Geschichte wahr ist«, sagte Heliane. »Ich entsinne mich zwar nicht, daß ich jemals Hetty gewesen wäre, Smith aber ist in allem, was er sagte und tat, selbst auch in seinen rauhesten und härtesten Handlungen, derselbe Charakter wie Sarnac. Ich zweifle nicht im geringsten daran, daß Sarnac jenes Leben einst gelebt hat.«

2

»Aber all die Härte!« rief Iris. »Die Grausamkeit! Das Herzweh auf der ganzen Welt!«

»Es kann doch nur ein Traum gewesen sein«, meinte Salaha, auf ihrer Meinung beharrend.

»Nicht das Barbarische der damaligen Lebensweise finde ich so schrecklich,« fuhr Iris fort, »nicht die Kriege und die Krankheiten, die die Menschen zu Krüppeln machten und sie in einen vorzeitigen Tod trieben; nicht die häßlichen Städte und die Dürftigkeit der Landschaft, nein, sondern den allgemeinen Herzenskummer, die allgemeine Lieblosigkeit, den Mangel an jedwedem Verständnis, jedwedem Interesse für die unerfüllten Wünsche und die Bedürfnisse des anderen. Es gibt in Sarnacs Geschichte kein einziges Wesen, das glücklich war, wie wir es sind. Er erzählt von nichts anderem als von enttäuschter Liebe, von vergeblicher Sehnsucht und zweckloser Hoffnung, von Unterdrückung und unerträglichem Zwang. Und alles das um nichts – all das nur um Stolz und Bosheit. In jener Welt gab es nicht einen, der aus vollem Herzen zu schenken verstanden hätte ... Arme Milly! Meinst du, sie habe nicht gewußt, wie kalt deine Liebe zu ihr war, Sarnac? Meinst du, ihre Eifersucht sei nicht aus Angst, nein, aus Gewißheit geboren worden? ... Ein volles Lebensalter, die ganze Jugendzeit eines Menschen, ein Vierteljahrhundert, und dieser ärmste Harry Smith ist nicht einer einzigen glücklichen Seele begegnet, hat selbst nur ein einziges Mal von fernher sein eigenes Glück erblickt! Und so erging es nicht ihm allein, sondern Millionen und aber Millionen von Menschen. Schwer, dumpf und mühselig, einer den anderen behindernd und bedrückend, gingen sie ihres Wegs von der Wiege bis zum Grabe.«

Das war zu viel für den Herbergsmeister. Er brach in laute Klagen aus: »Aber es muß doch auch Glück gegeben haben! Glückliche Stimmungen hie und da doch wenigstens!«

»Ein kurzes Aufleuchten des Glücks zuweilen«, erwiderte Sarnac. »Doch was Iris sagt, ist ganz richtig, glaube ich. Es gab damals kein wahrhaft glückliches Menschenleben.«

»Nicht einmal Kinder?«

»Ich meine ein ganzes Leben, nicht ein einzelnes Lebensalter. Kinder würden ja, selbst in der Hölle geboren, ein Weilchen lachen und tanzen.«

»Und aus solcher Dunkelheit«, sagte Beryll, »hat sich unser Geschlecht in zwanzig kurzen Jahrhunderten zum Licht emporgerungen, zur Duldsamkeit, zur süßen Freiheit und zur Freude des heutigen Daseins.«

»Das ist mir kein Trost, wenn ich an die Schicksale der Vergangenheit denke«, sagte Iris.

»Vielleicht ist die Lösung die,« rief der Herbergsmeister, »daß jeder von uns früher oder später im Traum ein vergangenes Leben heraufbeschwört; daß all die armen Schatten aus jener traurigen Zeit auf solche Art des Glücks der heutigen Welt teilhaftig werden. Hier, ihr armen Seelen, hier findet ihr Trost, hier ist das Land eurer Sehnsucht, hier sind alle eure Hoffnungen wahr geworden. Hier lebt ihr aufs neue in einem reicheren Selbst. Hier werden Liebende nicht mehr um ihrer Liebe willen getrennt, hier wird euch Liebe nicht mehr zur Qual ... Nun begreife ich, warum der Mensch unsterblich sein muß! Die Geschichte von dem Martyrium der Menschheit wäre sonst zu jammervoll. Sicher hat es viele gute Kerle gegeben, die mir glichen, fröhlich und ein bißchen zu dick, Leute, die Freude hatten an Wein und an gutem Essen, und die ihre Mitmenschen fast ebenso liebten wie Speis' und Trank, die ja den Menschen machen; aber sie konnten die fröhliche Arbeit, die mir beschieden ist, nicht verrichten, durften nicht jeden Tag aufs neue fröhlichen Paaren in feiertägiger Vereinigung Pflege und Sorgfalt angedeihen lassen. Vielleicht wird auch in mir über kurz oder lang die Erinnerung an den armen Gastwirt lebendig werden, der ich einmal war, an einen erbärmlichen, getretenen und schlechtgestellten Schankwirt, der zornig beschämt seinen Gästen elendes Zeug auftischen mußte; all seine Mühsal werd' ich noch einmal auskosten und mich dann an dieser meiner guten Herberge trösten. Wenn ich selbst in der alten Zeit gelitten habe, dann will ich's zufrieden sein; wenn's aber irgendein anderer braver Kerl war, der nun tot ist und niemals hierher gelangen kann, dann ist keine Gerechtigkeit im Herzen Gottes. Ich schwöre fortan auf die Unsterblichkeit – nicht aus Gier nach einem künftigen Dasein, sondern im Namen des vergeudeten Lebens all der Toten.«

»Seht nur,« fuhr er fort, »der Morgen bricht an, schon glänzt es durch die Spalten der Tür heller als das Licht im Zimmer. Geht doch alle hinaus und seht euch das Morgenglühen der Berge an. Ich will euch indessen ein warmes Getränk zurechtmachen, und dann wollen wir noch eine Stunde schlafen, ehe ihr frühstückt und weiterzieht.«

3

»Es war ein Leben«, sagte Sarnac, »und war ein Traum, ein Traum innerhalb meines jetzigen Lebens; und auch dieses ist nur ein Traum. Träume, in anderen enthalten, und Träume, die wieder Träume in sich schließen – bis wir am Ende vielleicht zum Träumer aller Träume gelangen, zu dem Wesen, das alle Wesen in sich faßt. Das Leben – was wäre ihm unmöglich, was zu wunderbar und was zu schön?«

Er erhob sich und schlug den großen Vorhang vor der Tür der Herberge zurück. »Die ganze Nacht haben wir über das Leben im dunklen Zeitalter der Verwirrung gesprochen, und nun will die Sonne aufgehen.«

Er trat vor das Haus, blieb stehen und betrachtete die Berge, die dunkel und geheimnisvoll aus Wolken und Nebel emporstiegen, um allmählich im Glanze des Morgenrots zu erstrahlen.

Er stand ganz still, und auch die Welt ringsum schien in Schweigen versunken. Nur aus ferner, von Nebel verhüllter Tiefe stieg ein Tönen empor, der leise Gesang erwachender Vögel.


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