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Drittes Kapitel
Die Familie Smith gerät ins Unglück

1

»Und nun«, sagte Sarnac, »muß ich euch von einem Wirbelsturm unheilvoller Ereignisse erzählen, der über unser unsicheres kleines Heim in Cherry Gardens hereinbrach und es vernichtete. In jener Welt des Zufalls, der Planlosigkeit und der Übervölkerung gab es weder Sicherheit noch soziale Gerechtigkeit in dem Sinne, wie wir heute diese Begriffe verstehen. Wir können uns die Unsicherheit und Verworrenheit des damaligen Lebens kaum vorstellen. Bedenkt nur: Die Wirtschaft der ganzen Welt ruhte auf einem Geld- und Kreditsystem, das lediglich aus Fiktionen und Übereinkommen bestand; es gab keine hinreichenden Schutzmaßregeln gegen den wucherischen Mißbrauch der das Geldwesen betreffenden Konventionen; Weltproduktion und Weltverbrauch wurden in keinerlei Weise überwacht; man wußte so gut wie nichts über die alljährlich fortschreitenden Veränderungen des Klimas; und so schwankte nicht nur das Schicksal der Individuen, sondern auch das der Staaten und Nationen unberechenbar und unbeeinflußbar hin und her. In jener Welt war das Leben der Menschen, Männer wie Frauen, fast ebenso unsicher wie heute das einer Feldmaus oder einer Mücke, die von einem Augenblick zum anderen das Opfer einer Katze, Eule oder Schwalbe werden können. Durch Zufall in die Welt gesetzt, erfuhren die damaligen Menschen zufällig Leid und Freud, Ruhm und Schmach und schließlich ein unvorhergesehenes Ende; und ihre Umgebung war weder auf ihre Geburt noch auf ihren Tod vorbereitet. Ein plötzlicher Tod kann uns auch heute ereilen, es gibt immer noch gefahrvolle Abenteuer – ein Blitzstrahl hätte gestern uns alle oder einen von uns hinstrecken können; doch ein solches Ende ist etwas Seltenes und etwas Reinliches. Das allgemeine Schicksal der Vergangenheit war ein fürchterliches, verzweiflungsvolles Hinsterben durch Entbehrungen und Sorgen oder infolge einer Krankheit, deren Ursachen man nicht kannte und die man schlecht behandelte; dergleichen gibt es heute nicht mehr. Und heute wird durch einen Todesfall nicht die Existenz einer ganzen Anzahl von Menschen zerstört, wie das in den alten Tagen oft geschah. Eine Witwe der damaligen Zeit hatte nicht nur den geliebten Gefährten, sondern auch ihren Lebensunterhalt verloren. Das Leben schafft jedoch die wunderbarsten Ausgleiche. Die Menschen damals fühlten die Gefahren nicht, die sie bedrohten. Es war ihnen eine erstaunliche Gleichgültigkeit eigen, bis das Unglück über sie hereinbrach.«

»Alle Kinder«, fuhr Sarnac fort, »beginnen ihre Laufbahn mit einem unbedingten Vertrauen in die Dauerhaftigkeit der Dinge, die sie umgeben. Das Erwachen aus dem Wahn der Sicherheit setzt klare Erkenntnis voraus. Wir können uns die Gefahren, die uns bedrohen, nur vorstellen, wenn wir klar denken; und sobald wir klar denken, haben wir auch die Kraft, der Gefahr zu begegnen. Die Menschen der alten Zeit dachten verworren und irrig wie Kinder, sie waren blind gegen den fortschreitenden Verfall der schwankenden Zivilisation, in der sie lebten. Trotz der allgemeinen Unsicherheit schien ihnen das Dasein im Grunde ganz sicher. Ein Unglücksfall setzte jedermann in Erstaunen, obwohl jedermann dauernd auf Unheil aller Art hätte gefaßt sein müssen.

Der erste Schlag traf meine Familie ganz unvorbereitet, etwa sechs Wochen, nachdem ich aus Chessing Hanger zurückgekehrt war, um mein letztes Schulsemester zu absolvieren, ehe ich Gärtner wurde. Es war am späten Nachmittag. Ich war aus der Schule heimgekommen und saß lesend in unserem unterirdischen Zimmer. Die Mutter räumte eben den Teetisch ab und zankte mit Fanny, die ausgehen wollte. Die Lampe war angezündet, und ich sowie Vater, der, wie er sagte, die Zeitung überflog, waren so nah als möglich an sie herangerückt, denn das Licht, das sie gab, war völlig ungenügend. Da hörten wir oben die Türglocke des Ladens kreischen.

›Zum Kuckuck,‹ sagte Vater, ›wer kommt denn da noch so spät am Abend?‹

Er schob seine Brille in die Höhe. Er hatte sich aufs Geratewohl bei einem Trödler eine Brille gekauft und setzte sie auf, wenn er las. Sie machte seine ohnehin schon großen, milden Augen noch größer. Er schaute uns fragend an. Wer konnte um diese Zeit noch etwas wollen? Gleich darauf hörten wir Onkel John Julip die Treppe herunterrufen:

›Mortimer‹, sagte er, und seine Stimme kam mir dabei ganz ungewöhnlich vor. Niemals hatte ich ihn meinen Vater anders als Smith nennen hören.

›Bist du es, John?‹ sagte Vater, indem er sich erhob.

›Ja, ich bin es. Ich möchte mit dir sprechen.‹

›Komm doch herunter und trink eine Tasse Tee mit uns‹, rief Vater, unten an der Treppe stehend.

›Nein, ich muß dir etwas erzählen, es ist besser, du kommst herauf. Etwas Ernstes.‹

Ich überlegte, ob ich vielleicht irgendetwas angestellt hätte und Onkel deshalb herübergekommen sei. Mein Gewissen war aber ziemlich rein.

›Was kann denn nur los sein?‹ fragte Vater.

›So geh doch und laß es dir erzählen‹, meinte Mutter.

Vater ging.

Ich hörte meinen Onkel etwas sagen wie: ›Wir sind erledigt. Man hat uns verraten, und wir sind erledigt.‹ Dann schloß sich die Tür zum Laden. Wir horchten nach oben. Es klang, als ob Onkel Julip im Sprechen auf und ab gehe. Meine Schwester Fanny nahm Hut und Jacke und huschte unauffällig die Stiege hinauf und zum Hause hinaus. Nach einer Weile erschien Prue; sie sagte, sie habe der Lehrerin aufräumen geholfen, ich aber wußte, daß sie log. Dann verging eine lange Zeit. Schließlich kam Vater allein die Treppe herunter.

Er ging zum Kamin, als ob er im Traum wandle, blieb auf dem Kaminteppich stehen und starrte mit unheilvollem Ausdruck vor sich hin, offenbar wartend, daß Mutter ihn frage, was denn geschehen sei. ›Warum ist John nicht heruntergekommen, um eine Tasse Tee zu trinken und einen Bissen zu essen? Wo ist er hingegangen, Morty?‹

›Er ist fortgegangen, um einen Möbelwagen zu bestellen‹, erwiderte Vater.

›Einen Möbelwagen? Ja, wozu denn?‹ fragte Mutter.

›Er muß ausziehen – wenn du es wissen willst.‹

›Er muß ausziehen?‹

›Wir werden sie für ein paar Tage hier bei uns unterbringen müssen‹, fuhr Vater fort.

›Wen werden wir hier unterbringen müssen?‹

›Ihn und Adelaide. Sie kommen nach Cherry Gardens.‹

›Du willst doch nicht etwa sagen, daß John seine Stellung verloren hat?‹

›Doch! Seine Lordschaft ist ihm mit einem Male feindlich gesinnt. Es ist Unheil angestiftet worden. Irgendwer hat spioniert, und seinen Feinden ist es gelungen, ihn um seine Stellung zu bringen. Er ist hinausgeworfen worden. Er kann gehen – hat man ihm gesagt.‹

›Ja, aber man wird ihm doch gekündigt haben!‹

›Nein, nicht im geringsten. Seine Lordschaft ist ganz rot vor Zorn in den Garten gekommen. »Hinaus mit dir!« So hat er gesprochen. Mit diesen Worten. »Und danke deinem Schöpfer, daß ich dir nicht die Polizei auf den Hals jage, dir und deinem scheinheiligen Schwager.« Ja, das hat Seine Lordschaft gesagt.‹

›Ja, aber was meint er denn damit, Morty?‹

›Was er damit meint? Er meint, daß gewisse Personen, die er nicht nennt, John verdächtigen, Lügen über ihn erzählt und ihn beobachtet haben, ihn und mich. Sie haben mich auch mit hineingezogen, Martha, und unseren Harry auch. Sie haben eine Geschichte über uns zusammengedichtet ... Ich hab' ja immer gesagt, daß wir es nicht so regelmäßig machen sollten ... Nun haben wir's! Nun ist John kein herrschaftlicher Gärtner mehr! Und nicht einmal ein Zeugnis wird man ihm geben. Er wird nie mehr eine ordentliche Stellung bekommen, er ist ruiniert. Das haben wir nun davon!‹

›Ja, wird denn behauptet, daß er etwas genommen hat? Mein Bruder John soll etwas genommen haben?‹

›Produktionsüberschuß. Den für sich zu nehmen, ist das Recht jedes Gärtners, seit die Welt besteht.‹

Ich saß mit glühenden Backen da und tat so, als ob ich nichts von diesem furchtbaren Gespräch hörte. Niemand wußte, welchen Anteil ich am Sturz meines Onkels hatte. Und bald begann sich, dem Gesang einer Lerche nach einem Gewitter vergleichbar, in meinem Herzen die Hoffnung zu regen, daß ich nun vielleicht kein Gärtner werden würde. Meine Mutter gab ihrer Bestürzung in abgerissenen Sätzen Ausdruck. Immer wieder stellte sie ungläubige Fragen, und Vater antwortete in orakelhaftem Ton. Plötzlich wandte sich Mutter in wildem Zorn an Prue und warf ihr vor, daß sie, anstatt Geschirr abzuwaschen, einem Gespräche zuhöre, das sie nichts angehe.«

»Du schilderst uns diese Szene sehr eingehend«, meinte Beryll.

»Es war das die erste große Krise meines Traumlebens«, erwiderte Sarnac. »Sie ist mir sehr lebhaft in Erinnerung. Ich kann die alte Küche, in der wir lebten, noch ganz deutlich vor mir sehen, die verblichene Decke auf dem Tisch und die Petroleumlampe mit ihrer Glaskugel. Ich glaube, bei einigem Nachdenken könnte ich alles aufzählen, was sich in jenem Raume befand.«

»Was ist ein Kaminteppich?« fragte Iris plötzlich.

»Was für ein Ding war der Kaminteppich, von dem du sprachst?«

»Ich wüßte nicht, womit ich so einen Kaminteppich vergleichen sollte. Es war eine Art derbe Decke, die man vor das Kamingitter legte; vor dem Kohlenfeuer, das im Kamin brannte, war nämlich ein kleines Gitter angebracht, damit die Asche nicht auf den Fußboden des Zimmers falle. Unseren Kaminteppich hatte mein Vater selbst hergestellt, und zwar aus alten Lappen, alten Kleidern, Flanellresten und Stückchen Sackleinen; die Stoffe wurden in schmale Streifen geschnitten und diese dann auf einem Stück Sackleinen befestigt. An Winterabenden hatte Vater am Feuer gesessen und emsig genäht.«

»Hatte dieser Kaminteppich irgend ein Muster?«

»Nein. Aber ich werde mit meiner Geschichte niemals zu Ende kommen, wenn ihr fortwährend Fragen an mich stellt. Ich erinnere mich, daß Onkel, nachdem er einen Möbelwagen bestellt hatte, wieder zu uns kam und ein Käsebrot als Abendimbiß bei uns verzehrte, bevor er nach Chessing Hanger zurückmarschierte. Er war blaß und sah verstört drein. Sein Gehaben hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem des Sir John; er sah aus wie einer, den man gewaltsam aus irgendeinem Versteck hervorgezogen hat, ein elender und bedauernswerter Mensch, der plötzlich dem Licht ausgesetzt wird. Ich erinnere mich, daß meine Mutter ihn fragte: ›Und wie nimmt es Adelaide?‹

Onkel setzte eine resignierte Miene auf. ›Sie hat schon wieder einen neuen Schmerz‹, sagte er bitter. ›In einem solchen Augenblick!‹

Mein Vater und meine Mutter wechselten einen verständnisvollen Blick.

›Ich sage euch –‹, hob Onkel wieder an, brachte aber nicht heraus, was er uns sagen wollte.

Ohnmächtige Wut schüttelte ihn. ›Wenn ich bloß wüßte, wer mir das angetan hat‹, stieß er endlich hervor. ›Diese – diese Schlange von einer Haushälterin – ja, eine Schlange nenne ich sie – sie hat einen, den sie an meine Stelle setzen will. Und sie und Petterton haben die Geschichte angezettelt –.‹

Er schlug auf den Tisch, aber es war ihm nicht ganz ernst damit.

Vater schenkte ihm etwas Bier ein.

›Uff!‹ sagte Onkel und leerte das Glas.

›Na, es läßt sich eben nicht ändern‹, fuhr er, sich ermannend, fort. ›Irgendwie werd' ich schon durchkommen. Hier in den Zwei-Pfennig-Villen wird wohl Gartenarbeit zu kriegen sein, denke ich. Ich werd' mir schon einen Verdienst schaffen ... Aber stellt euch einmal vor! Ich ein Gärtner, der für Taglohn arbeitet! Die kleinen Beamten da in all den Villen werden nicht übel stolz sein, wenn Lord Brambles Gärtner ihnen das Gras abmäht. Ich seh' sie schon, wie sie mich ihren Bekannten durchs Fenster zeigen werden. Der war Obergärtner bei einem Lord, werden sie sagen. Hm hm –.‹

›Es ist ein Sturz‹, meinte Vater, als Onkel gegangen war. ›Man kann sagen, was man will, es ist ein Sturz ...‹

Mutter war mit der Frage der Einquartierung beschäftigt. ›Sie wird auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen müssen, und ihm werden wir einen Strohsack auf dem Fußboden herrichten. Ich glaub' ja nicht, daß sie sehr zufrieden sein wird. Sie werden zwar ihr eigenes Bettzeug mitbringen, aber Adelaide ist nicht danach angetan, sich auf einem Sofa wohlzufühlen.‹

Die arme Frau fühlte sich überhaupt nicht wohl. Obgleich Onkel und auch mein Vater und meine Mutter ihr Vorstellungen machten, daß sie jetzt nicht krank sein dürfe und daß ihr Betragen unverantwortlich sei, beharrte sie bei der Behauptung, ihre Schmerzen seien so schlimm, daß ein Arzt gerufen werden müsse. Dieser befahl eine sofortige Überführung in ein Hospital zum Zwecke einer dringenden Operation.«

»In jenen Tagen«, fuhr Sarnac fort, »herrschte völlige Unwissenheit in Bezug auf den menschlichen Körper. Die alten Griechen und die Araber hatten während der kurzen Phasen ihrer geistigen Regsamkeit immerhin einiges auf dem Gebiete der Anatomie geleistet; die anderen Völker aber hatten vorwiegend nur theoretische Studien in der Physiologie getrieben, und das auch erst während der letzten drei Jahrhunderte vor der Zeit, die ich euch schildere. Die Menschen im allgemeinen wußten so gut wie nichts vom Lebensprozeß des Körpers. Wie ich euch schon gesagt habe, gebaren sie sogar ungewollte Kinder. Und da sie auf eine ganz absurde Art lebten, abnormale und schlecht zubereitete Nahrung zu sich nahmen und Infektionen aller Art unbehindert um sich greifen ließen, entartete bei vielen das Gewebe des Körpers und brachte absonderliche Auswüchse hervor. Manche Körperteile hörten auf, irgend eine nützliche Funktion auszuüben, und verwandelten sich in etwas wie eine schwammige Wucherung –«

»Der menschliche Körper glich also in gewissem Sinne den damaligen Gemeinwesen«, meinte Beryll.

»Sehr richtig. Der menschliche Körper hatte Gewächse und Krebsgeschwüre aufzuweisen, und Gottes schöner Erdboden so sinnlose Gebilde wie Cherry Gardens. Oh, alle jene Krankheiten! – Die bloße Erinnerung daran ist schrecklich.«

»Aber war man angesichts der fürchterlichen Gefahren, die jedermann bedrohten, nicht mit aller Kraft daran, physiologische Forschungen zu fördern?« fragte Salaha.

»Wußte man nicht,« fügte Heliane hinzu, »daß alle die Entartungen, von denen du sprichst, vermieden werden können und heilbar sind?«

»Durchaus nicht«, erwiderte Sarnac. »Man kann ja nicht gerade behaupten, daß die damaligen Menschen ihre scheußlichen Gewächse und Krebsgeschwüre gerne ertragen hätten, aber sie waren in ihrer Gesamtheit zu wenig lebenskräftig, um ernstlich gegen ihr Elend anzukämpfen. Und schließlich hoffte jeder, er würde für seine Person der Gefahr entgehen – bis er ihr erlag. Es herrschte eine allgemeine Apathie. Und die Priester, Journalisten und so weiter, die Schöpfer der öffentlichen Meinung mit einem Wort, waren eifersüchtig auf die Männer der Wissenschaft, sie redeten dem Volke ein, daß die wissenschaftliche Forschung im Grunde zwecklos sei, sie taten, was sie konnten, um alle Neu-Entdeckungen in Mißkredit zu setzen, die Diener der Wissenschaft lächerlich zu machen und das Volk gegen sie aufzuhetzen.«

»Darüber muß ich mich nun am allermeisten wundern«, sagte Heliane.

»Ihre Denkungsart war eben eine ganz andere; sie wurden nicht wie wir zu einer umfassenden Betrachtungsweise herangebildet. Ihr Denken war zerfahren und zerstückt. Die Gebreste ihres Körpers waren nichts im Vergleich zu den krankhaften Auswüchsen ihres Geistes.«

2

»Meine arme Tante konnte im Spital, mit dem ihr seit jeher eigenen Mangel an Rücksicht auf den Onkel, weder gesund werden noch sterben. Sie kostete ihn viel Geld und war ihm keinerlei Hilfe; sie machte sein Unglück noch größer. Nach einigen Tagen zog er, auf die dringenden Vorstellungen meiner Mutter hin, aus unserem Wohnzimmer in eine Zwei-Zimmer-Wohnung bei einem Maurer, der in einer benachbarten Straße ein Häuschen besaß. Er stopfte die beiden Räume mit seinen Möbeln aus Chessing Hanger voll, verbrachte aber den größten Teil seiner Zeit in unserem Laden und legte überhaupt eine zunehmende Vorliebe für meines Vaters Gesellschaft an den Tag.

Seine Bemühungen um Arbeit waren weniger erfolgreich, als er erwartet hatte. Seine kurzangebundene und herablassende Art gegen seine neuen Kunden, die Villenbesitzer von Cliffstone, übte keineswegs die erwünschte Wirkung aus. Er nannte ihre Blumenbeete ›für zwei Pfennig buntes Allerlei‹ und verglich ihre Gärten mit einem bunten Tischtuch oder einem Fensterblumenkasten; und anstatt diese derbe Offenheit zu schätzen, nahmen sie sie krumm. Es paßte ihnen auch nicht, sich zu wehren und in einer ehrlichen Auseinandersetzung ihre und seine soziale Stellung gegeneinander abzugrenzen; sie zogen es vor, ihre Illusionen zu behalten und ihn nicht mehr zu beschäftigen. Überdies erweckte die Enttäuschung, die er mit Tante erlebte, eine gewisse Weiberfeindschaft in ihm, die sich darin äußerte, daß er von den Frauen seiner Arbeitgeber, wenn sie gelegentlich allein daheim waren, keinerlei Befehle annehmen wollte. Auch dieser Umstand schädigte seine Aussichten, da viele der betreffenden Frauen bedeutenden Einfluß auf ihre Gatten ausübten. Infolgedessen hatte der gute Onkel tagelang nichts anderes zu tun, als in unserem Laden herumzustehen und meinem Vater Vorträge über die Minderwertigkeit der Cliffstoner Villenbesitzer zu halten, oder auch über die Gemeinheit des Mr. Petterton und jener ›Schlange‹, und über die wahrscheinlichen Mängel der spärlichen Kunden, die im Laden erschienen.

Trotz alledem war Onkel entschlossen, sich nicht ohne Kampf vom Schicksal besiegen zu lassen. Er dürfe nur ja den Mut nicht verlieren, sagte er, und sah sich deshalb, wie ich bald bemerkte, zu regelmäßigen Besuchen im Gasthof Wellington in der Nähe des Bahnhofes gezwungen. Von diesen Ausflügen kam er stets äußerst gesprächig zurück, er ähnelte dann Sir John Cuthbertson wieder weit mehr als vorher und verbreitete einen sehr ›herzhaften‹ Duft, sobald er hustete oder tief atmete. Als im Laufe der folgenden Wochen Vaters geschäftliche Schwierigkeiten immer drückender wurden, nahm auch er an diesen herzstärkenden Wirtshausbesuchen teil. Sie erweiterten seine philosophischen Ausblicke, ließen sie aber, wie mir vorkam, gleichzeitig immer verschwommener werden.

Onkel hatte eine Summe Geldes in der Postsparkasse liegen, und nach wie vor entschlossen, sich nicht ohne Kampf in sein Schicksal zu ergeben, setzte er bei den Pferderennen von Byford Downs recht ansehnliche Beträge auf sogenannte ›Tips.‹«

»›Tip‹ ist mir völlig unverständlich«, sagte Beryll.

»Ein ›Tip‹ war ein Pferd, von dem man sicher annahm, daß es gewinnen würde; in Wirklichkeit gewann es dann meist doch nicht. Man sprach auch von ›todsicheren Tips‹. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viel im ganzen Lande von den Aussichten und der Qualität der Rennpferde geredet wurde. Dabei waren die Engländer nicht etwa ein nomadisches Volk, nur eine kleine Minorität konnte wirklich reiten, aber bei den Rennen auf die Pferde setzen, das konnte jeder. Der König war die leitende Person dieses Pferderennspieles, ebenso wie er der oberste Herr der Armee war. Er erschien bei allen großen Rennen, gewissermaßen um das Wettspiel seiner Untertanen zu fördern. Infolgedessen kam sich Onkel John Julip äußerst loyal und patriotisch vor, wenn er auf den Byford Downs seine Zeit und seine Ersparnisse vergeudete. Mein Vater ging gelegentlich auch mit, um seinerseits sein Glück zu versuchen. In der Regel verloren beide, ja sie verloren schließlich fast alles, was sie besaßen, aber das eine oder das andere Mal gelang es ihnen, ihre Verluste wieder wettzumachen, wie Onkel behauptete. Eines Tages setzten sie auf ein Pferd, namens Rococo, obwohl dieses durchaus nicht als ›Tip‹ galt und sein Sieg unwahrscheinlich war; ein inneres Licht schien Onkel in diesem Falle geleitet zu haben, das Pferd kam als erstes an, und die beiden gewannen fünfunddreißig Pfund, eine für sie recht ansehnliche Summe. In gehobener Stimmung kehrten sie heim, ihre Freude wurde nur dadurch etwas beeinträchtigt, daß es ihnen sehr schwer fiel, den Namen des siegreichen Pferdes auszusprechen. Sie fingen das Wort ganz richtig an, nach der ersten Silbe aber glich ihre Rede nicht so sehr vernünftiger Menschensprache, als vielmehr dem Gegacker einer Henne, die ein Ei gelegt hat. ›Ro-cococo‹ oder ›Ro-cocococo‹ stießen sie hervor, um mit einem Rülpsen zu enden. Einer versuchte dem anderen zu helfen, aber es kam nicht viel dabei heraus. Sie verbreiteten nur einen ungewöhnlich starken Geruch von Zigarren und Alkohol. So ›herzhaft‹ hatten sie noch niemals gerochen. Mutter kochte ihnen Tee.

›Tee!‹ sagte Onkel bedeutungsvoll. Er lehnte die Tasse, die sie vor ihn hinstellte, zwar nicht geradezu ab, schob sie aber ein wenig beiseite.

Einige Augenblicke schien es zweifelhaft, ob er nun etwas ganz Tiefsinniges sagen oder ob ihm ernstlich schlecht werden würde. Doch der Geist triumphierte über die Materie. ›Ich wußte, daß es gewinnen würde, Martha,‹ sagte er, ›wußte es genau, so wie ich den Namen hörte. Roc –‹ Er stockte.

›Cococo‹, gluckste Vater.

›Cocococo – huk‹, fiel Onkel wieder ein. ›Ich wußte, daß wir Glück haben würden. Manche Menschen, Smith, manche Menschen ha– haben dafür einen Instinkt. Mein Hemd hätte ich auf dieses Pferd gesetzt, Martha – aber ... Mein Hemd hätte man nicht genommen.‹

Plötzlich blickte er mich ganz starr an. ›Man hätte es nicht genommen, Harry‹, sagte er. ›Man nimmt keine Hemden! Nein, das tut man nicht‹, schloß er und wurde tief nachdenklich.

Dann schaute er wieder auf. ›Der sechsunddreißigfache Gewinn‹, überlegte er. ›Da hätten wir Hemden genug für unser ganzes Leben gehabt.‹

Vater betrachtete die Sache philosophisch. ›Vielleicht hätten wir gar nicht lang genug gelebt, um sie alle auszutragen‹, meinte er. ›Besser so, wie es ist, John.‹

›Und paßt einmal auf,‹ fuhr Onkel fort, ›jetzt ist der Anfang gemacht. Wenn ich einmal anfange, Glück zu haben, dann habe ich auch weiter Glück. Paßt nur auf. Dieser Roc –‹

›Cococo.‹

›Cocococo – oder wie immer er heißt, ist nur ein Anfang. Er ist wie der erste Sonnenstrahl eines ruhmreichen Tages.‹

›Wenn dem so ist,‹ meinte Mutter, ›dann sollten wir alle etwas abbekommen, nicht?‹

›Aber gewiß doch,‹ sagte Onkel, ›gewiß doch, Martha.‹ Und zu meinem Erstaunen reichte er mir ein Zehnshillingstück – man hatte damals Goldmünzen, und dies war eine solche. Dann gab er Prue ebenfalls ein Zehnshillingstück. Fanny bekam ein ganzes Pfund in Gold und Mutter eine Fünfpfund-Banknote.

›Halt ein!‹ sagte Vater warnend.

›Laß mich doch, Smith‹, rief Onkel mit einer Gebärde fürstlicher Großzügigkeit. ›Dein Anteil ist siebzehn Pfund zehn, weniger sechs Pfund zehn macht elf. Laß sehen. Eins und fünf macht sechs – sieben – acht – neun – zehn – elf – hier!‹

Vater nahm den Rest des Geldes mit verblüfftem Gesicht. Die Rechnung stimmte ihm nicht ganz. ›Ja, ja,‹ sagte er, ›aber –‹

Seine milden Augen hafteten an dem Zehnshillingstück, das ich noch immer in der Hand hielt. Ich steckte es ein, und sein Blick folgte meiner Hand, bis er die Tischkante erreichte und dort hängen blieb.

›Ohne den Turfplatz, Smith, würde es kein solches Land auf der Welt geben wie England‹, sagte Onkel John und fügte bekräftigend hinzu: ›Merkt euch das.‹

Vater nickte zustimmend.«

3

»Doch dieser Triumph war ziemlich der einzige Lichtpunkt auf dem Wege zum endgültigen Zusammenbruch. Kurze Zeit darauf entnahm ich aus einem Gespräch zwischen meinen Eltern, daß wir mit dem ›Zins‹ im Rückstand waren. Es war das eine vierteljährlich an den Bauspekulanten, dem unser Haus gehörte, zu leistende Zahlung. Euch kommt diese Einrichtung sehr merkwürdig vor, aber sie war damals allgemein verbreitet. Wenn wir den Zins nicht zur Zeit bezahlten, hatte der Hausbesitzer das Recht, uns aus dem Hause zu weisen.«

»Ja, wohin aber?« fragte Iris.

»Jedenfalls aus dem Hause hinaus. Doch war es auch durchaus nicht gestattet, auf der Straße zu bleiben. Ich kann euch aber wirklich nicht all diese Einzelheiten erklären. Wir waren also, wie gesagt, mit dem Zins im Rückstand, und es drohte uns eine Katastrophe. Da kam ein neuer Schlag: Meine Schwester Fanny lief von zuhause fort.

In keiner anderen Hinsicht ist es mir so schwer, euch ein Bild jener Zeit zu übermitteln und euch verständlich zu machen, was ich selbst in jenem verflossenen Leben dachte und fühlte, wie in Bezug auf sexuelle Dinge. Heutzutage ist das Sexualleben sehr einfach. Wir sitzen hier, Männer und Frauen, frei und ungezwungen beisammen. Wir sind dazu erzogen worden, nicht miteinander zu rivalisieren, unsere eifersüchtigen Triebe zu beherrschen, großmütig zu sein und die Jugend zu ehren; und diese Erziehung ist uns so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir uns ihrer kaum mehr bewußt sind. Liebe ist uns das Band und die Blüte auserlesenster Freundschaft. Wir genießen sie, so wie wir unsere Nahrung verzehren oder einen Feiertag halten. Das Wichtigste aber im Leben ist uns unsere schöpferische Arbeit. In jener dunklen, qualerfüllten Welt jedoch, in der mein Traumleben sich abspielte, waren alle Liebesangelegenheiten von Geboten und Verboten überwuchert, jeder Liebende war in Fesseln gelegt, die ihn drückten und schmerzten. Zu Ende meiner Geschichte werde ich euch schildern, wie ich um eines Liebeserlebnisses willen getötet wurde. Im Augenblick aber möchte ich euch das Abenteuer meiner Schwester Fanny verständlich machen.

Sogar in unserer heutigen Welt würde Fanny als ein besonders reizendes Mädchen gelten. Ihre Augen konnten so blau sein wie der Himmel, in der Erregung aber oder im Zorn so dunkel werden, daß man sie für schwarz hielt. Ihr Haar hatte immer einen strahlenden Glanz. Wenn sie lächelte, so war man bereit, für sie zu tun, was man nur konnte; und ihr Lachen, obwohl oft genug ein wenig zornig verächtlich, machte die Welt rings um sie klar und rein. Dabei war sie unwissend – ich kann euch kaum schildern, in welchem Maße.

Es war Fanny, die zum ersten Male das Gefühl in mir erweckte, daß Unwissenheit eine Schande sei. Unsere Schule und unsere Religionslehrer habe ich euch ja geschildert. Als ich neun oder zehn Jahre alt war und Fanny fünfzehn, begann sie mit mir zu schelten, daß meine Aussprache schlecht und häßlich sei.

›Harry,‹ sagte sie, ›wenn du mich noch einmal Fenny nennst, dann pass' auf, was dir geschieht. Ich heiße Fanny und du Harry, merk' dir das. Was wir hier in Cherry Gardens sprechen, ist nicht Englisch, sondern ein Kauderwelsch.‹

Irgend etwas hatte ihren Ehrgeiz geweckt. Vielleicht hatte sie jemandes Bekanntschaft gemacht, der besser sprach als sie, und hatte sich gedemütigt gefühlt. Möglicherweise hatte sich der oder die Betreffende über sie lustig gemacht. Irgendeine zufällige Bekanntschaft dürfte es gewesen sein, wahrscheinlich ein ungezogener Bengel aus den oberen Ständen auf der Promenade von Cliffstone. Und da hatte sie bei sich beschlossen, von nun an richtiger zu sprechen, und mit der ihr eigenen wilden Hartnäckigkeit zwang sie mich, ihr nachzueifern.

›Ach, wenn ich nur französisch könnte‹, sagte sie. ›Da drüben liegt Frankreich, seine Leuchttürme winken uns herüber, und wir können nichts sagen als »Parlez-vous français« und dazu grinsen, als ob es ein Witz wäre.‹ Sie brachte ein billiges Lehrbuch für den Selbstunterricht im Französischen nachhause, doch gelang es ihr nicht, daraus etwas zu erlernen. Und sie las, las mit wilder Gier, um sich zu bilden; sie verschlang zahllose Romane, verschlang aber auch eine Menge anderer Bücher, über Sternkunde, über Physiologie (trotz dem wilden Gekeife meiner Mutter, die ein Buch mit Abbildungen der inneren Organe des Menschen unpassend fand) und über fremde Länder. Ihr leidenschaftliches Verlangen, daß ich etwas Ordentliches lernen sollte, war vielleicht noch heftiger als der Wunsch, ihr eigenes Wissen zu vervollkommnen.

Mit vierzehn Jahren verließ sie die Schule und begann selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Mutter hatte den Wunsch gehabt, daß sie ›in den Dienst‹ gehe, dem aber hatte sie sich heftig widersetzt und, um der Ausführung dieses Planes zu entgehen, sich eine Stellung als zweite Buchhalterin in einem Fleischerladen in Cliffstone gesucht. Noch vor Ablauf eines Jahres führte sie die Bücher des Geschäftes selbständig, denn sie war klug und faßte schnell und leicht auf. Sie verdiente Geld genug, um mir Bücher und Zeichenmaterial zu kaufen und sich Kleider, die Mutter unanständig fand. Ihr dürft euch aber nicht vorstellen, daß sie nach den damaligen Begriffen ›gut angezogen‹ war; sie machte kühne Experimente in ihrer Kleidung, und manchmal war ihr Aufzug geschmacklos.«

»Ich könnte euch stundenlang davon erzählen,« sagte Sarnac, »was Kleider und das Geld, welche zu kaufen, für eine Frau jener alten Zeiten bedeuteten.

Ein großer Teil des Lebens meiner Schwester Fanny blieb mir verborgen; es wäre mir so gut wie völlig verborgen geblieben, wenn ich nicht immer wieder die schamlosen Reden meiner Mutter hätte mitanhören müssen, die anscheinend gerne eine Zuhörerschaft hatte, wenn sie Fanny schalt. Jetzt erkenne ich, daß Mutter von bitterer Eifersucht auf Fannys blühende Jugend erfüllt war, damals aber entsetzten und verwirrten mich die derben Beschimpfungen und häßlichen Anspielungen, die über meinen Kopf hinwegflogen. Fanny hatte eine aufreizende Art, auf Beschuldigungen nichts zu erwidern, oder statt eine Antwort zu geben, Mutters Aussprachefehler zu verbessern.

Hinter der äußerlich und zum Zwecke der Selbstverteidigung zur Schau getragenen Unfreundlichkeit kämpfte das arme Ding, unbelehrt und ungeleitet, mit dem ganzen Rätsel des Lebens, das in ihrem Gemüt mit einer Dringlichkeit aufgetaucht war, die ein Mann kaum jemals völlig erfassen kann. Nichts in ihrer Erziehung hatte darauf abgezielt, sie für ehrliche, nützliche Arbeit zu begeistern; die Religion war ihr als ein Zerrbild und eine Drohung dargeboten worden; und einzig und allein die Liebe war als etwas Echtes und Wirkliches in ihr Vorstellungsvermögen gedrungen. In all den Romanen, die sie las, war von Liebe die Rede, aber nur andeutungsweise und verstohlen, und die Ungeduld ihrer Phantasie und ihres Körpers stürzte sich sozusagen gerade auf diese dunklen Anspielungen. Liebe flüsterte ihr zu, aus dem Licht und der Schönheit der Dinge um sie herum, aus dem Mondenschein und aus dem sanften Hauch des Frühlings. Fanny mußte wissen, daß sie schön war. Die Moral der damaligen Welt war nichts als Knebelung und Unterdrückung. Liebe galt als Schmach, als gefährliche Falle, als schmutziger Spaß. Ein Mädchen durfte nichts von Liebe verlauten lassen, durfte nicht daran denken, ehe nicht ein braver Mann – der Fleischer in Cliffstone war Witwer, und es sah so aus, als ob er in Fannys Fall der brave Mann zu werden gedächte – erschien und ihr zwar nicht von Liebe, aber von Ehe sprach. Und er durfte sie heiraten, durfte sie in sein Haus führen und durfte plump und blöde in krankhaft erregter Gier die Hüllen von ihrem lieblichen Körper reißen.«

»Sarnac,« rief Iris, »du bist scheußlich!«

»Nein«, erwiderte Sarnac. »Das Leben der Vergangenheit war scheußlich. Die meisten eurer Ahninnen mußten solches erleiden. Und das war erst der Anfang schrecklichen Erlebens. Bald kam die Geburt und mit ihr eine Entweihung der Kinder. Denkt nur, welch zartes, welch kostbares, welch heiliges Gut ein Kind ist! Und damals wurden Unmengen von Kindern gezeugt, sie wurden auf abnorme Weise und widerwillig geboren und durch die Geburt in eine schmutzige, von Infektionen verseuchte, übervölkerte und verworrene Welt gesetzt. Ein Kind auszutragen, war damals nicht wie heute ein beglückender und gesunder Vorgang; bei den jammervollen Geschöpfen jener Zeit galt die Schwangerschaft als Krankheit und war für die damalige Frau meist tatsächlich eine solche. Was ihr der Mann, ihr Gatte, sehr übel nahm. Fünf bis sechs Kinder in fünf bis sechs Jahren, und ein hübsches Mädchen war eine mürrische, abgehärmte, aller Lebenslust und aller Schönheit beraubte Frau. Meine arme, ewig scheltende, unfrohe Mutter war keine fünfzig Jahre alt, als sie starb. Die Kleinen, die solch eine bedauernswerte Frau in die Welt setzte, mußte sie zu schlecht gekleideten, unterernährten und schlecht erzogenen Kindern heranwachsen sehen. Bedenkt nur, was hinter den Schlägen und den Schelten, die unsere Mutter an uns austeilte, verborgen war: der verzweifelte Kummer geschändeter Liebe! Unsere heutige Welt weiß nichts mehr von der haßerfüllten Bitterkeit enttäuschter Mutterschaft. Solcher Art also waren die Aussichten, die ein moralischer Lebenswandel meiner Schwester Fanny bot; solcher Art war die Gegenstrophe des Sirenensangs in ihrer Phantasie.

Sie wollte nicht glauben, daß Leben und Liebe ihr nichts Besseres zu bieten vermochten. Sie experimentierte mit der Liebe und mit sich selbst. Sie war ›ein freches, schlechtes Mädchen‹, wie unsere Mutter sagte. Sie begann mit verstohlenen Küssen und Umarmungen im Dämmerlicht; Schulkameraden, Lehrlinge und Laufburschen dürften ihre ersten Freunde gewesen sein. Bald mischte sich etwas Häßliches in diese Abenteuer im Zwielicht und ließ sie davor zurückschrecken. Jedenfalls wurde sie gegen die jungen Leute in Cherry Gardens spröde und ablehnend, wohl hauptsächlich aber nur deswegen, weil sie sich von den Musikkapellen, den Lichtern und dem Reichtum Cliffstones angezogen fühlte. Das war zu der Zeit, als sie zu lesen und ihre Aussprache zu verbessern begann. Ihr habt ja wohl von den damaligen Gesellschaftsschichten gehört. Fanny wünschte eine Dame zu werden und einem Herrn zu begegnen. Sie bildete sich ein, daß ein solcher unbedingt vornehm, großmütig, klug und reizend sein müsse, und glaubte, daß die jungen Leute, die sie auf der Strandpromenade von Cliffstone sah, allesamt wirkliche Herren seien. Und sie begann sich in der Weise zu kleiden, die ich euch geschildert habe.«

»In allen Städten Europas«, fuhr Sarnac fort, »kehrten junge Mädchen gleich Fanny ihrem unerträglichen Heim den Rücken, getrieben von einer Art verzweifelter Hoffnung.

Wenn man von dem Moralkodex der alten Welt hört, ist man zu denken geneigt, daß seine Vorschriften allgemein anerkannt und eingehalten worden seien, genau so, wie man meint, daß jedermann an eine der damals bestehenden Religionen geglaubt habe. Wir besitzen heutzutage kaum einen Moralkodex, wohl aber wird uns eine moralische Erziehung zuteil; unsere Religion übt keinerlei Zwang auf unsern Verstand oder unsere Triebe aus; und deshalb fällt es uns außerordentlich schwer, uns all die Winkelzüge und Ausflüchte, den ganzen Trotz, die Heimlichkeiten und die sittliche Minderwertigkeit einer Welt vorzustellen, in der in Wahrheit niemand, nicht einmal der Priester, die Religionsbekenntnisse verstand und daran glaubte, und niemand von der Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit der Moralgesetze ernstlich überzeugt war. In sexueller Hinsicht war fast jeder der damaligen Menschen gereizt, unzufrieden oder unehrlich; die von der Moral gebotenen Einschränkungen hielten die Menge nicht in Zaum, sondern stachelten sie zum Widerstand auf. Ich kann euch all das kaum richtig schildern.«

»Wenn man Werke der alten Literatur liest, kann man es sich wohl vorstellen«, meinte Heliane. »Die Romane und Schauspiele jener Zeit haben allesamt einen pathologischen Zug.«

»Da habt ihr also meine hübsche Schwester Fanny. Von Impulsen getrieben, die sie nicht verstand, flatterte sie gleich einer Motte aus unserem dumpfen Heim in Cherry Gardens dem Lichte zu, dem für sie wunderbaren und hoffnungsvollen Lichte, das die Strandpromenade von Cliffstone erhellte. In den Pensionen, Gasthöfen und Hotels dort wohnte eine Schar von Leuten, die, beschränkt und armselig in ihren Alltagsverhältnissen, hierher gekommen waren, um sich ein paar gute Tage zu machen, einige vergnügte Stunden zu verbringen oder vielleicht sogar ein prickelndes Abenteuer zu erleben. Frauen gab es da, die ihrer Ehemänner überdrüssig waren, und Ehemänner, die längst keine Liebe mehr für ihre Gattinnen empfanden; Eheleute, die getrennt voneinander lebten, aber sich nicht scheiden lassen konnten; und junge Männer, die nicht heiraten durften, weil sie nicht imstande gewesen wären, eine Familie zu erhalten. Die gequälten Herzen all dieser Menschen waren erfüllt von Schlechtigkeit, von aufrührerischen Gefühlen und unterdrückten Wünschen und von Eifersucht und Gehässigkeit. Und durch diese Menge bewegte sich sehnsüchtig erregt, herausfordernd und wehrlos meine hübsche Schwester Fanny.«

4

»Eines Abends vor Fannys Flucht saßen Vater und Onkel in der Küche am Feuer und sprachen über Politik und die Schwierigkeiten des Lebens. Sie hatten sich beide tagsüber in resoluter Stimmung befunden, was ihren Reden einen selbstzufriedenen Ton gab; viel Sinn hatte das Gespräch nicht, auch wiederholten sie immerfort dasselbe. Ihre Stimmen klangen heiser, sie dehnten die Wörter und sprachen laut und mit Nachdruck – es war, als ob sie auf irgendwelche unsichtbare Zuhörer hätten Eindruck machen wollen. Des öftern sprachen sie beide gleichzeitig. Die Mutter wusch Geschirr ab, und ich saß am Tisch unter der Lampe und versuchte eine Schularbeit zu machen, wurde aber durch das Gespräch an und für sich, insbesondere aber durch die gelegentliche Aufforderung, mir dies oder jenes nur ja gut zu merken, von meiner Beschäftigung stark abgelenkt. Prue las ein Buch, das sie zwar längst kannte, aber besonders gern hatte. Fanny hatte erst Mutter geholfen. Als sie jedoch hören mußte, daß sie die Arbeit mehr behindere als fördere, kam sie zu mir herüber und sah sich über meine Schulter hinweg die Aufgabe an, die ich machte.

›Was den Handel ruiniert und das ganze Land überhaupt zugrunde richtet,‹ sagte Onkel, ›das sind die Streiks. Diese Streiks sind einfach der Ruin – der Ruin für das Land.‹

›Ja, ja, das ist klar‹, meinte Vater. ›Wenn alle Arbeit eingestellt wird.‹

›Es sollte verboten sein. Die Grubenarbeiter werden doch bezahlt, und gut bezahlt. Wirklich gut werden sie bezahlt. Sehr gut sogar. Ich wär' froh, wenn ich so viel hätte wie sie, sehr froh. So ein Grubenarbeiter kann sich einen Hund halten, und ein Klavier hat er gewöhnlich auch. Und trinkt Champagner. Ich und du, Smith, und der Mittelstand überhaupt, wir können uns kein Klavier kaufen. Und Champagner können wir auch keinen trinken. Nicht daran zu denken ...‹

›Es sollte eine Mittelstandsorganisation geben‹, sagte Vater. ›Dann würden die Arbeiter schon sehen. Die stören ja das ganze Land, stören den Handel vor allem. Na, überhaupt der Handel! Es ist schrecklich! Da kommen mir die Leute in den Laden, gucken sich an, was ich da hab', und fragen, was kostet dies und was kostet das. Und überlegen sich's dreimal, bis sie sechs Pence ausgeben ... Und die Kohlen, die man verkaufen soll! Ich sag' den Leuten immer wieder, wenn der neue Streik ausbricht, dann kriegt ihr überhaupt keine Kohlen mehr zu sehen, weder gute noch schlechte. Ganz offen sag' ich's ...‹

›Du arbeitest ja gar nicht, Harry‹, sagte Fanny, ohne die Stimme zu senken. ›Es ist auch wohl nicht möglich, bei dem Gerede zu arbeiten. Komm, wir wollen spazieren gehen.‹

Ich blickte sie an und erhob mich sofort. Es kam nicht oft vor, daß Fanny mich zu einem gemeinsamen Spaziergang aufforderte. Ich packte meine Bücher weg.

›Ich geh' ein bißchen Luft schnappen, Mutter‹, sagte Fanny, indem sie ihren Hut vom Haken nahm.

›Untersteh' dich, jetzt um diese Zeit‹, schrie Mutter. ›Hab' ich dir das nicht ein für allemal verboten?‹

›Harry geht mit mir, Mutter, und paßt auf, daß keiner mich entführt und zugrunde richtet ... Du hast es mir wirklich ein für allemal gesagt, und zwar oft genug.‹

Mutter erhob keinen weiteren Einwand, doch warf sie Fanny einen haßerfüllten Blick zu.

Wir gingen die Treppe hinauf und auf die Straße hinaus.

Eine Zeitlang sprachen wir nichts, doch hatte ich das Gefühl, daß Fanny mir etwas Besonderes zu sagen beabsichtigte.

Und bald begann sie auch wirklich zu sprechen. ›Ich hab' all das satt. Was soll aus uns werden? Vater und Onkel haben den ganzen Tag getrunken. Jetzt sind sie beide beschwipst. Beide. Das geht jetzt so jeden Tag. Und alles wird von Tag zu Tag schlimmer. Onkel hat seit mehr als einer Woche keine Arbeit. Und Vater ist unentwegt mit ihm zusammen. Der Laden ist in einem greulichen Zustand. Seit Tagen ist da nicht ausgekehrt worden.‹

›Onkel scheint allen Mut verloren zu haben,‹ sagte ich, ›seit er gehört hat, daß Tante Adelaide noch einmal operiert werden muß.‹

Fanny öffnete den Mund, unterdrückte aber gewaltsam, was sie sagen wollte. ›Was für ein Leben ist das zu Haus!‹ rief sie nach einer Weile.

Dann schwieg sie einige Augenblicke. ›Harry,‹ hob sie schließlich wieder an, ›ich mach' da nicht mehr lang mit.‹

Ich fragte sie, was sie mit diesen Worten meine.

›Ach, frag' mich nicht. Ich hab' eine Stellung in Aussicht. Ich will ein neues Leben beginnen ... Harry, du – du hast mich gern, nicht wahr?‹

Es ist für einen dreizehnjährigen Jungen schwer, seine Gefühle in Worte zu kleiden. ›Ich würde für dich immer alles tun, was ich nur kann, Fanny‹, sagte ich nach einer längeren Pause. ›Das weißt du doch.‹

›Und du wirst mir nie etwas Übles nachsagen?‹

›Aber, Fanny, was denkst du denn von mir?‹

›Niemals?‹

›Niemals!‹

›Ja, ich weiß, du wirst es nicht tun‹, sagte sie. ›Du bist der Einzige, nach dem mir bang sein wird. Denn dich hab' ich lieb, Harry, ja, wirklich. Ich hab' auch Mutter einmal gern gehabt. Aber das ist nun vorbei. Sie hat so viel gezankt, mich immer wieder angeschrien, und nun mag ich sie nicht mehr. Nein, ich hab' sie gar nicht mehr lieb. Ich kann nichts dafür, es ist so. An dich werde ich denken, Harry – oft.‹

Ich merkte, daß sie weinte. Doch als ich sie schließlich wieder anzusehen wagte, hatte sie ihre Tränen bereits getrocknet.

›Hör' einmal, Harry,‹ sagte sie, ›würdest du etwas für mich tun – nichts besonders Großes – ja? Und niemandem etwas davon sagen? Ich meine, auch hinterher nicht.‹

›Alles, was du willst, Fanny.‹

›Es ist wirklich nichts Besonderes. Du weißt doch, oben in meinem Zimmer steht der kleine alte Handkoffer. Ich hab' da einiges hineingetan, und dann ist da auch noch ein kleines Bündel. Ich hab' beides unter dem Kopfende des Bettes versteckt. Ich glaube, dort werden die Sachen vor Prues neugierigen Augen verborgen bleiben. Und morgen – wenn Vater wie gewöhnlich mit Onkel weggegangen ist und Mutter unten in der Küche das Essen zurechtmacht und Prue ihr dabei hilft, das heißt, hinter ihrem Rücken nascht – könntest du dann den Koffer und das Bündel nach Cliffstone bringen? Zu Crosby, an die Hintertür, weißt du ... Die Sachen sind nicht sehr schwer.‹

›Und wenn sie auch schwer wären, Fanny, ich würde sie gern meilenweit tragen, um dir einen Gefallen zu tun. Aber sag' doch, wo ist denn deine neue Stelle? Und warum sagst du zuhause nichts davon?‹

›Wenn ich dich nun um etwas Schwereres bitten würde, Harry, als einen Koffer zu tragen?‹

›So werde ich es auch tun, Fanny, wenn ich kann; das weißt du doch.‹

›Dann bitte ich dich, frag' mich nicht weiter, wohin ich gehe und was ich anfangen will. Es ist – es ist eine gute Stelle, Harry. Keine schwere Arbeit.‹

Sie hielt inne. Das gelbliche Licht einer Straßenlaterne fiel auf ihr Gesicht, und ich war erstaunt zu sehen, daß es vor Glück strahlte. Und doch standen ihr Tränen in den Augen. Wie konnte sie nur weinen und dabei doch so beseligt blicken!

›Oh, ich wollte, ich könnte dir alles sagen, Harry,‹ fuhr sie fort, ›alles, alles. Mach' dir keine Sorgen um mich, Harry, und um mein Schicksal. Hilf mir. Nach einiger Zeit werd' ich dir schreiben. Ganz bestimmt.‹

›Sag' doch, willst du von zuhause fortlaufen und heiraten?‹ entfuhr es mir plötzlich. ›Das würde dir ähnlich sehen.‹

›Ich sag' weder ja noch nein, Harry, ich sag' gar nichts. Ich bin so glücklich, Harry! Ich könnte tanzen und singen. Ach, wenn es mir nur gelingt, fortzukommen.‹

›Du – Fanny ...‹

Sie blieb stehen. ›Willst du dein Versprechen zurückziehen, Harry?‹

›Nein. Was ich versprochen hab', das tu' ich, aber –‹ Ich zögerte, moralische Zweifel plagten mich. ›Du willst doch nicht etwas Unrechtes tun, Fanny?‹

Sie schüttelte den Kopf und sagte eine Weile nichts. Dann erschien der freudige Ausdruck wieder in ihrem Gesicht.

›Ich will etwas Richtigeres und Besseres tun als je zuvor, Harry. Wenn es mir nur gelingt. Oh, es ist lieb von dir, wenn du mir hilfst, sehr lieb.‹

Plötzlich schlang sie die Arme um mich und küßte mich, dann schob sie mich wieder weg und tanzte einige Schritte. ›Ich hab' heut' die ganze Welt lieb,‹ sagte sie, ›die ganze Welt. Du dummes, altes Cherry Gardens! Du dachtest, du hättest mich fest, dachtest, ich würde nie von dir loskommen!‹

Sie begann eine Art Triumphgesang: ›Morgen bin ich den letzten Tag bei Crosby, den allerletzten Tag in Zeit und Ewigkeit. Amen. Nie mehr wird der Kerl mir in die Nähe kommen, nie mehr werde ich seinen Atem hinter mir spüren, nie mehr wird er mir seine fette Hand auf den Arm legen und sein Gesicht dicht an meines halten, indes er mein Kassabuch ansieht. Wenn ich erst in – ach, einerlei, Harry, wo ich dann sein werde –. Ich will ihm dann eine Postkarte schicken. Leben Sie wohl, Mr. Crosby, leben Sie wohl, lieber Mr. Crosby. Für Zeit und Ewigkeit. Amen!‹ Sie fuhr mit veränderter Stimme, Crosbys Redeweise nachahmend, fort: ›Sie sind ein Mädchen, meine Liebe, das jung heiraten und einen gesetzten, älteren Gatten haben sollte. Hm, was meinen Sie zu mir? Wer hat Ihnen denn erlaubt, mich lieber, lieber Mr. Crosby zu nennen? Fünfundzwanzig Shilling die Woche und eine sehr freundliche Behandlung, und Sie nennen mich überdies lieber Mr. Crosby ... Ach, Harry, ich bin ganz wild heut' abend, ich könnte lachen und quieken, und doch möchte ich auch weinen, Harry, weil ich dich verlasse. Dich und die anderen. Obgleich ich gar nicht verstehe, wieso mir das nicht völlig gleichgültig ist. Armer, beschwipster alter Vater! Liebe, dumme, ewig keifende Mutter! Vielleicht kann ich ihnen eines Tages helfen, wenn es mir jetzt gelingt, fortzukommen. Und du, Harry, du mußt lernen und zusehen, daß du dich bildest. Lernen, Harry, lernen. Lern' du, so viel du kannst, und trachte aus Cherry Gardens herauszukommen. Und daß du mir niemals trinkst! Laß keinen Tropfen Alkohol über deine Lippen kommen! Und rauch' auch nicht, das Rauchen hat ja gar keinen Sinn. Halt' etwas auf dich, dann wirst du es leichter haben, glaub' mir. Arbeite und lies, Harry. Und lern' Französisch – wenn ich dann zurückkomme, können wir miteinander französisch reden.‹

›Wirst du Französisch lernen? Gehst du denn nach Frankreich?‹

›Noch weiter weg als Frankreich. Aber kein Wort darüber, Harry, hörst du? Ach, ich wollte, ich könnte dir alles sagen. Ich kann aber nicht. Ich darf nicht. Ich hab's versprochen. Ich muß Wort halten. Das ist das Wichtigste auf der Welt: Jemanden lieb haben und Wort halten. Oh, hätte mich Mutter doch heut' abend beim Geschirrabwaschen helfen lassen, heut', den letzten Abend, den ich zuhause war. Sie haßt mich. Und sie wird mich noch mehr hassen ... Ob ich heute die ganze Nacht wach liegen oder mich doch in den Schlaf weinen werde? Komm, Harry, wir wollen bis zum Güterbahnhof um die Wette laufen und dann heimgehen.‹«

5

»Am nächsten Abend kam Fanny nicht nachhause. Als die Stunden vergingen und die Erregung in der Familie immer heftiger wurde, begann mir die Größe des Unheils, das über uns hereingebrochen war, erst richtig klar zu werden.«

Sarnac machte eine Pause und lächelte. »Niemals noch hat es einen derartig im Gedächtnis haftenden Traum gegeben. Ich bin immer noch zur Hälfte ich selbst und zur anderen Harry Mortimer Smith. Nicht nur in der Erinnerung, sondern auch dem Gefühl nach bin ich immer noch zur Hälfte jener barbarische junge Engländer aus dem Zeitalter der Verwirrung, und trotzdem betrachte ich meine Geschichte von unserm heutigen Standpunkte aus und erzähle sie mit Sarnacs Stimme. Hier, im hellen Sonnenschein ... War es wirklich ein Traum? ... Ich glaube nicht, daß ich euch einen Traum erzähle.«

»Es klingt durchaus nicht wie ein Traum«, sagte Salaha. »Es ist eine Geschichte – eine wirkliche Geschichte. Kann es denn ein Traum gewesen sein?«

Heliane schüttelte den Kopf. »Fahr' fort«, sagte sie zu Sarnac. »Ob es nun ein Traum war oder nicht, erzähle weiter, erzähle uns, wie deine Familie sich benahm, als Fanny nicht heimkam.«

»Ihr müßt bedenken, daß jene armen Menschen von Hemmungen bedrückt wurden, die wir heute kaum begreifen können. Wir nehmen gewöhnlich an, daß sie in Bezug auf Liebe, Sexualität und Pflicht andere Ansichten hatten als wir. Wir lernen in der Schule, daß damals andere Ansichten bestanden hätten. Das ist aber nicht richtig; in Wirklichkeit hatten die damaligen Menschen überhaupt keine klaren, wohldurchdachten Ansichten über derlei Dinge. An Stelle einer wirklichen Ansicht davon gab es für sie nur Furcht, Verbote und Unwissenheit. Liebe und Geschlechtsleben glichen dem verzauberten Wald im Märchen. Es war verboten, ihn zu betreten. Und Fanny hatte ihn betreten, hatte sich hineingewagt – keiner von uns wußte, wie weit.

So entwickelte sich an jenem Abend die anfängliche Beunruhigung zu einer Art moralischer Panik in der ganzen Familie. Es schien geradezu geboten, daß sämtliche Familienmitglieder bei diesem Anlasse von jeder vernünftigen Überlegung absahen und alle Selbstbeherrschung verloren. Meine Mutter begann um halb zehn unruhig zu werden. ›Ich hab's ihr ein- für allemal gesagt,‹ murmelte sie halb für sich, halb an mich gewendet, ›das muß aufhören.‹ Sie begann mich auszufragen, wo Fanny sein könne, ob sie vielleicht geäußert habe, sie werde nach dem Strand gehen? Ich sagte, ich wisse nichts. Mutter wurde immer erregter. Selbst wenn Fanny an den Strand gegangen sei, müsse sie doch um zehn nachhause kommen. Ich wurde nicht zur gewohnten Stunde schlafen geschickt und war daher noch auf, als Vater nach Wirtshaussperre heimkam. Onkel begleitete ihn, ich erinnere mich nicht mehr, aus welchem Grunde; er kam übrigens öfter des Abends nach dem üblichen Wirtshausbesuch mit Vater zu uns, anstatt direkt nachhause zu gehen. Beide zeigten eine trübselige Miene, und die Mitteilung, die Mutter mit blassem Gesicht hervorbrachte, war nicht danach angetan, sie aufzuheitern.

›Mortimer,‹ sagte Mutter, ›deine Tochter nimmt sich zu viel heraus. Es ist halb elf, und sie ist noch nicht zuhaus'.‹

›Hab' ich ihr nicht unzählige Male gesagt, daß sie um neun zuhause zu sein hat?‹ fragte Vater.

›Wahrscheinlich hast du es doch nicht oft genug gesagt,‹ meinte Mutter, ›und jetzt haben wir's!‹

›Ich hab' es ihr unzählige Male gesagt‹, wiederholte Vater. ›Unzählige Male!‹ Während der nun folgenden Diskussion stieß er diesen Satz in Abständen immer wieder hervor. Später bekam seine Rede einen anderen Kehrreim.

Der Onkel sagte zuerst nicht viel. Er stellte sich vor den Kamin, auf den von Vater verfertigten Teppich und stand dort etwas schwankend, hielt sich von Zeit zu Zeit die Hand vor den Mund, um ein Aufstoßen zu verbergen, und betrachtete mit gerunzelter Stirn die Gesichter der Sprechenden. Schließlich gab er sein Urteil ab. ›Es ist dem Mädel etwas geschehen‹, sagte er. ›Verlaßt euch darauf.‹

Prue neigte zu grausigen Vorstellungen. ›Sie kann irgendeinen Unfall gehabt haben,‹ meinte sie, ›vielleicht hat einer sie niedergeschlagen.‹

›Ich habe es ihr unzählige Male gesagt‹, wiederholte Vater.

›Es ist ihr etwas zugestoßen‹, sagte der Onkel nochmals. ›Ja ... etwas ganz Schlimmes kann ihr passiert sein.‹ Und er wiederholte die letzte Feststellung in lauterem Ton: ›Etwas ganz Schlimmes kann ihr passiert sein.‹

›Es ist Zeit, daß du zu Bett gehst, Prue,‹ sagte Mutter, ›hohe Zeit. Du auch, Harry.‹

Prue erhob sich mit ungewöhnlicher Bereitwilligkeit und ging aus dem Zimmer. Offenbar war ihr der Gedanke gekommen, nachzusehen, ob Fannys Sachen da seien. Ich zögerte.

›Vielleicht hat sie einen Unfall gehabt, vielleicht auch nicht‹, sagte meine Mutter düster. ›Es gibt schlimmere Dinge als Unfälle.‹

›Was meinst du damit, Martha?‹ fragte der Onkel.

›Einerlei, was ich meine. Das Mädel macht mir seit langem Sorge. Es gibt Schlimmeres als einen Unfall.‹

Ich horchte entsetzt auf. ›Mach', daß du zu Bett kommst, Harry‹, sagte Mutter.

›Was ihr zu tun habt,‹ sagte Onkel, indem er auf den Zehenspitzen wippte, ›ist einfach, an die Spitäler telephonieren und an die Polizei telephonieren. Der alte Crow im Wellington wird noch nicht zu Bett gegangen sein. Er hat ein Telephon. Wir sind gute Kunden. Er wird schon telephonieren. Glaubt mir, es ist ein Unfall.‹

Prue erschien wieder oben an der Treppe.

›Mutter!‹ rief sie in lautem Flüsterton.

›Schau, daß du zu Bett kommst‹, sagte Mutter. ›Muß ich mich mit dir auch noch ärgern?‹

›Mutter,‹ wiederholte Prue, ›du kennst doch Fannys alten kleinen Handkoffer?‹

Alle Anwesenden wandten sich einem neuen Gedankengange zu.

›Er ist weg,‹ sagte Prue, ›und ihre beiden guten Hüte, ihre ganze Wäsche und ihre Kleider ebenfalls.‹

›Sie hat ihre Sachen fortgebracht!‹ sagte Vater.

›Und ist selber fort!‹ fügte Mutter hinzu.

›Ich hab' es ihr unzählige Male gesagt‹, ertönte Vaters Stimme wieder.

›Sie ist durchgegangen!‹ rief Mutter in fast kreischendem Ton. ›Sie hat Schmach und Schande über uns gebracht! Sie ist durchgegangen!‹

›Irgendwer hat sie entführt‹, sagte Vater.

Mutter ließ sich auf einen Stuhl fallen. ›Nach allem, was ich für sie getan habe!‹ rief sie unter Tränen. ›Und dabei will ein anständiger Mann sie heiraten! All die Mühe und all die Opfer und Sorgen und Warnungen, und sie bringt Schmach und Schande über uns! Sie ist durchgegangen! O, daß ich diesen Tag hab' erleben müssen! Fanny!‹

Sie sprang wieder auf und ging, um mit eigenen Augen zu sehen, ob Prues Bericht wahr sei. Ich machte mich so wenig als möglich bemerkbar, denn ich hatte Angst, irgendeine zufällige Frage könne meinen Anteil an der Familientragödie enthüllen. Zu Bett gehen wollte ich jedoch nicht; ich wollte wissen, was weiter geschehen würde.

›Soll ich auf dem Heimweg zur Polizei gehen?‹ fragte Onkel.

›Was soll die Polizei nützen?‹ sagte Vater. ›Wenn ich den Schurken zu fassen kriegte, dann wäre ich Polizei genug für ihn! Bringt Schande über mich und die Meinen! Die Polizei! Fanny, meine kleine Fanny, er hat ihr den Kopf verdreht, sie auf Abwege gebracht und sie entführt! ... Aber was rede ich denn ... du hast ganz recht, John. Geh du nur zur Polizei, es ist ja kein Umweg für dich. Und sag' dort, ich werde keinen Stein an seinem Platz lassen, bis ich sie nicht wieder habe.‹

Mutter kam zurück, mit noch blasserem Gesicht als zuvor. ›Es stimmt‹, sagte sie. ›Sie ist weg, wir stehen hier mit Schmach und Schande bedeckt, und sie ist fort.‹

›Mit wem?‹ fragte Vater. ›Darum handelt es sich, mit wem? Harry, hast du jemals irgendwen mit deiner Schwester zusammen gesehen? Oder ihr nachlaufen gesehen? Irgendeinen verdächtig aussehenden, stutzerhaft gekleideten Kerl? Sag'?‹

Ich verneinte die Frage.

Prue aber berichtete voll Eifer, daß sie vor etwa einer Woche Fanny mit einem Mann gesehen habe. Die beiden seien von Cliffstone hergekommen und hätten miteinander gesprochen. Sie hätten sie nicht gesehen, denn sie seien nur miteinander beschäftigt gewesen. Ihre Beschreibung des Mannes war sehr unbestimmt und betraf hauptsächlich seine Kleidung; er habe einen blauen Sergeanzug getragen und einen grauen Filzhut, und habe wie ein Herr ausgesehen. Er sei bestimmt ziemlich viel älter als Fanny. Ob er einen Schnurrbart habe oder nicht, wisse sie nicht mehr.

Mein Vater unterbrach Prues Bericht durch einen furchtbaren Spruch, den ich ihn während der folgenden Woche immer wieder hervorstoßen hören sollte. ›Lieber hätte ich sie tot vor mir liegen gesehen, als daß ich dies erleben muß,‹ sagte er – ›viel lieber hätte ich sie tot vor mir liegen gesehen!‹

›Armes Mädel!‹ sagte Onkel. ›Die Zukunft wird ihr eine bittere Lehre erteilen. Eine bittere Lehre! Armes Kind! Arme kleine Fanny!‹

›Ach was, arme Fanny!‹ schrie Mutter voll Zorn. Ich erkannte, daß sie das Geschehnis von einer ganz anderen Seite betrachtete. ›Da läuft sie nun mit ihrem feinen Herrn herum; Flitterkram ohne Ende wird sie haben, Diners und Wein und Blumen und Kleider und alles, was sie nur wünscht! Er wird sie spazierenführen und ihr alles Mögliche zeigen! Und wird mit ihr ins Theater gehen. O, es ist niederträchtig! Und wir sitzen hier in Schmach und Schande, und wenn uns die Nachbarn fragen, wissen wir nicht, was wir sagen sollen! Wie kann ich jemals wieder jemandem offen ins Gesicht sehn? Wie kann ich Mr. Crosby ins Gesicht sehn? Der Mann war bereit, vor ihr niederzuknien, so dick er ist. Er hätte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen – jeden vernünftigen Wunsch. Was er eigentlich an ihr gefunden hat, habe ich niemals recht begriffen. Aber er war ganz vernarrt in sie, und nun muß ich ihm zugeben, daß alles, was ich ihm gesagt hab', falsch war. Immer wieder habe ich ihm gesagt – warten Sie, warten Sie nur eine kleine Weile, Mr. Crosby. Und dieses schändliche Geschöpf, dieses schlaue, hochnäsige und hinterhältige Frauenzimmer läuft von zuhause fort!‹

Vaters Stimme unterbrach dröhnend das Gekreische der Mutter: ›Lieber hätte ich sie tot vor mir liegen gesehen, als daß ich dies erleben muß!‹

Ich konnte nicht umhin, ein Wort zu Fannys Verteidigung zu sagen. Und trotz meiner dreizehn Jahre weinte ich dabei. ›Wieso wißt ihr denn,‹ stammelte ich, ›daß Fanny nicht heiraten wird?‹

›Heiraten!‹ rief Mutter. ›Wozu sollte sie denn von daheim fortlaufen, wenn sie heiraten will! Wenn er daran denkt, sie zu heiraten, warum bringt sie ihn dann nicht zu uns und stellt ihn uns vor, wie es sich gehört? Sind ihr vielleicht ihre eigenen Eltern und ihr Heim nicht gut genug, daß sie weglaufen und anderswo Hochzeit machen muß? Hier hätte sie in der St. Jude-Kirche eine schöne und ehrbare Hochzeit haben können, Vater und Onkel und wir alle mit dabei, und Blumen und Wagen, und alles wunderschön. Ich wollte, ich könnte hoffen, daß sie heiraten wird! Ich wollte, sie hätte irgendwelche Aussichten darauf!‹

Onkel schüttelte bekräftigend den Kopf.

›Lieber hätte ich sie tot vor mir liegen gesehen,‹ erdröhnte Vaters Stimme aufs neue, ›als daß ich dies erleben muß!‹

›Gestern abend betete sie‹, sagte Prue.

›Ja, hat sie denn nicht immer gebetet?‹ fragte Onkel entrüstet.

›Nicht auf den Knien liegend‹, erklärte Prue. ›Gestern abend aber kniete sie eine ganze lange Weile. Sie glaubte, ich schlafe, ich beobachtete sie aber.‹

›Schlimm, schlimm‹, sagte Onkel. ›Diese Beterei gefällt mir nicht. Sie bedeutet nichts Gutes, nein, nein.‹

Dann befahl man Prue und mir mit plötzlicher Heftigkeit, sofort schlafen zu gehen.

Die Stimmen der drei erklangen noch lange weiter; sie gingen in den Laden hinauf und standen offenbar an der Eingangstür, während Onkel sich wiederholt verabschiedete, aber immer wieder weitersprach; doch was gesagt wurde, konnte ich nicht verstehen. Plötzlich erfaßte mich ein tröstender Gedanke; er war mir ohne Zweifel durch Prues Bericht eingegeben worden. Ich kroch aus dem Bett, kniete nieder und sprach: ›Lieber Gott, sei gut zu meiner Fanny! Lieber Gott, sei nicht streng mit Fanny! Ich bin überzeugt, sie hat die Absicht, zu heiraten. Amen.‹ Nachdem ich dieserart die Vorsehung sozusagen bei der Ehre gepackt hatte, fühlte ich mich weniger verstört, legte mich wieder zu Bett und schlief ein.«

Sarnac machte eine Pause.

»All das ist recht verwirrend«, sagte Salaha.

»Damals schien es selbstverständlich«, erwiderte Sarnac.

»Jener Fleischer war offenbar ein widerlicher Kerl«, meinte Iris. »Wieso waren die Eltern mit seinen Werbungen einverstanden?«

»Weil die gesetzliche Ehe damals so ungeheuer wichtig genommen wurde, daß vor ihr alles andere verblaßte. Ich kannte Crosby recht gut; er war ein durchtriebener Kerl, voll listiger Freundlichkeit, und hatte eine Glatze, dicke, rote Ohren, ein rotes Gesicht und einen Schmerbauch. Seinesgleichen gibt es heute nicht mehr; nur eine ganz groteske Karikatur aus den alten Zeiten könnte euch eine Vorstellung davon geben, wie er aussah. Wir würden heute ein Mädchen eher mit einem plumpen Tier verkuppeln, glaube ich, als mit solch einem Mann. Meine Eltern aber nahmen keinen Anstoß an seiner Widerwärtigkeit. Ich fürchte, für meine Mutter war der Gedanke an eine körperliche Entwürdigung Fannys sogar etwas wie eine Genugtuung. Sie hatte ohne Zweifel selbst Entwürdigungen solcher Art erfahren – denn das Geschlechtsleben jener verflossenen Zeit war ein Wirrsal plumper Unwissenheit und geheimer Schmach. Abgesehen von der ehrlichen Feindseligkeit meiner Mutter gegen Fanny kam in der ganzen greulichen Szene jenes Abends kaum irgendein natürliches Empfinden zum Durchbruch, von irgendwelchen vernünftigen Gedanken gar nicht zu reden. Männer und Frauen waren damals unendlich komplizierter und verkünstelter als heutzutage; die verworrene Mannigfaltigkeit ihres Innenlebens war erstaunlich. Ihr wißt, daß Affen, selbst wenn sie noch jung sind, alte und verrunzelte Gesichter haben; im Zeitalter der Verwirrung war das Leben so verwickelt und unvernünftig, daß das geistige Antlitz des Menschen schon im Kindesalter sozusagen alt und verrunzelt war wie das eines Affen. So jung ich war, erkannte ich doch ganz klar, daß mein Vater von Anfang bis zu Ende jener Szene schauspielerte; er legte ein Gehaben an den Tag, wie man es seiner Meinung nach unter den gegebenen Umständen von ihm erwartete. Und auch späterhin war er weder in trunkenem noch in nüchternem Zustand auch nur einen Augenblick lang bemüht, zu erkennen oder gar auszudrücken, was er in Bezug auf Fanny wirklich empfand. Er fürchtete eine solche Erkenntnis. Und wir alle schauspielerten an jenem Abend, einer wie der andere waren wir von solcher Angst erfüllt, daß wir nichts anderes zu tun vermochten, als eine unserer Meinung nach tugendhafte Rolle zu spielen.«

»Ja, aber wovor hattet ihr denn Angst?« fragte Beryll. »Warum spieltet ihr eine Rolle?«

»Ich weiß nicht, wovor wir Angst hatten. Vor dem öffentlichen Tadel wahrscheinlich. Vor der Herde. Es war eine gewohnheitsmäßige Furcht vor Verbotenem.«

»Was aber hatte man gegen den Liebhaber, den wirklichen Liebhaber einzuwenden?« fragte Iris. »Es ist mir unbegreiflich, warum die Familie so entrüstet war.«

»Sie vermuteten mit Recht, daß er nicht die Absicht hatte, Fanny zu heiraten.«

»Was für ein Mensch war er denn?«

»Ich sah ihn erst viele Jahre später und will ihn euch schildern, wenn ich in meiner Geschichte so weit bin.«

»War er ein Mensch, den man lieben kann?«

»Fanny liebte ihn. Und sie hatte auch allen Grund dazu. Er sorgte für sie. Er ließ ihr die Erziehung angedeihen, nach der ihr ganzes Wesen sehnlich verlangte. Er machte ihr Leben schön und reich. Ich glaube, er war ein redlicher und dabei reizender Mensch.«

»Und die beiden blieben beieinander?«

»Ja.«

»Warum heiratete er sie dann nicht – wenn das damals doch Sitte war?«

»Weil er schon verheiratet war. Die Ehe hatte ihn verbittert. Sie verbitterte viele Menschen. Er war betrogen worden. Die Frau, die ihn zu einer Eheschließung verlockt hatte, liebte ihn nicht wirklich, sondern hatte ihm Liebesgefühle nur vorgetäuscht, um ihn heiraten zu können und versorgt zu sein; und er war schließlich hinter den wahren Sachverhalt gekommen.«

»Was wohl nicht sehr schwer gewesen sein dürfte«, meinte Iris.

»Nein.«

»Warum aber trennte er sich nicht von ihr?«

»Es war in jenen Tagen schwierig, eine sogenannte Scheidung durchzusetzen. Beide Teile mußten einverstanden sein, und sie wollte ihn nicht freigeben, sie verweigerte ihre Zustimmung zu einer Scheidung – offenbar war ihr seine Einsamkeit eine Art Trost. Wäre er arm gewesen, so würde er vielleicht versucht haben, sie zu ermorden; wie die Dinge aber lagen, war er ein erfolgreicher und wohlhabender Mensch. Reiche Leute konnten damals die Ehegesetze bis zu einem gewissen Ausmaße umgehen, Unbemittelten war das völlig unmöglich. Er war, wie ich glaube, ein sinnlicher, liebevoller und dabei tatkräftiger Mensch. Weiß der Himmel, in welcher Gemütsverfassung er sich befunden haben mag, als Fanny ihm begegnete. Er machte ganz zufällig ihre Bekanntschaft. In den alten Zeiten waren Liebesabenteuer infolge zufälliger Begegnung etwas Alltägliches. In der Regel führten sie zu Unheil, der Fall Fannys jedoch war eine Ausnahme. Vielleicht war die Begegnung der beiden für ihn ein ebenso großes Glück wie für sie. Fanny, müßt ihr wissen, war eines jener Menschenwesen, gegen die man unbedingt aufrichtig sein muß; ihre Seele war fein und gerade; sie glich einem reinen, scharfen Messer. Sie waren beide von sinnlichem Verlangen erfüllt und infolgedessen gefährdet; Fanny hätte leicht böse Erfahrungen machen können, und er war, was sein Geschlechtsleben betrifft, auf häßliche Abwege geraten ... Ich kann euch aber nicht Fannys ganze Geschichte erzählen. Wahrscheinlich heirateten die beiden schließlich. Sie hatten mindestens die Absicht, es zu tun. Die andere Frau gab mit der Zeit doch nach, glaube ich.«

»Wieso weißt du das nicht bestimmt?«

»Weil ich erschossen wurde, bevor es dazu kam. Wenn es überhaupt dazu kam.«

6

»Nein, nein!« rief Sarnac, eine neuerliche Frage von Seiten Salahas abwehrend.

»Ich werde mit meiner Geschichte niemals zu Ende kommen,« fuhr er fort, »wenn ihr mich immer wieder unterbrecht. Also: Ich sagte euch, daß ein Wirbelsturm von Unglücksfällen unseren Haushalt in Cherry Gardens auflöste ...

Drei Wochen nach Fannys Flucht starb mein Vater. Er wurde auf der Straße zwischen Cherry Gardens und Cliffstone getötet. Ein junger Herr, mit Namen Wickersham, besaß eines der damals eben in Gebrauch kommenden Benzinautomobile; er fuhr, wie er vor dem Leichenbeschauer aussagte, so schnell als möglich heimwärts, weil die Bremsen seines Wagens nicht in Ordnung waren und er einen Unfall fürchtete. Mein Vater und mein Onkel gingen, in ein Gespräch vertieft, den Fußweg entlang. Im Reden und Gestikulieren wurde Vater die Breite des Fußweges zu beschränkt, er trat plötzlich auf den Fahrdamm hinunter, das vorbeisausende Auto erfaßte ihn von hinten, er schlug der Länge nach hin und war sofort tot.

Auf Onkel übte der Unfall eine verhältnismäßig starke Wirkung aus. Er war mehrere Tage hindurch nachdenklich und nüchtern und versäumte sogar ein Pferderennen. Und er zeigte sich recht hilfsbereit bei den Anordnungen für das Leichenbegängnis.

›Er ist nicht unvorbereitet heimgegangen, Martha‹, sagte er zu meiner Mutter. ›Nein, nein, du darfst das nicht sagen. Im Augenblick, da er getötet wurde, hatte er den Namen der Vorsehung auf den Lippen. Er sagte eben, daß ihm schwere Prüfungen auferlegt worden sind.‹

›Nicht nur ihm allein‹, entgegnete meine Mutter.

›Er sagte: »Ich weiß, daß mir damit eine Lehre erteilt werden soll, doch was für eine Lehre, das weiß ich nicht.« Und er fuhr fort: »Ich bin überzeugt, daß alles, was uns geschieht, einerlei, ob es uns nun gut scheint oder schlecht, doch sicher zu unserem Besten gereicht.« ...‹

Onkel machte eine bedeutungsvolle Pause.

›Und dann wurde er von dem Auto erfaßt‹, sagte Mutter, bemüht, sich die Szene vorzustellen.

›Dann wurde er von dem Auto erfaßt‹, sagte Onkel.«


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