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Sechstes Kapitel
Eine Heirat in Kriegszeiten

1

»Und nun«, sagte Sarnac, »kommt ein Kostümwechsel. Bis jetzt habt ihr euch mich gewiß als einen unbeholfenen Jüngling von siebzehn oder achtzehn Jahren vorgestellt, in einen jener schlecht sitzenden Anzüge gezwängt, die damals als sogenannte Konfektionsware serienweise hergestellt wurden. Ich trug einen weißen Kragen um den Hals, eine schwarze Jacke und dunkelgraue Hosen aus einem verschwommen gemusterten Stoff, und mein Hut war eine schwarze Halbkugel mit einem kleinen Rand. Nun aber veränderte sich mein Kostüm, ich bekam ein anderes, noch schlechter sitzendes Gewand: die Khakiuniform des jungen britischen Soldaten im Weltkriege gegen Deutschland. Im Jahre 1914 bewegte sich, von unbekannter Hand geführt, ein Zauberstab drohend über ganz Europa, und das Angesicht der damaligen Welt verwandelte sich mit einem Mal. Die Überfülle an Menschen und Dingen wich einem plötzlichen Hinmorden und Zerstören. Und die ganze Generation junger Männer, die, wie ich euch schilderte, fix und fertig aus den Kaufläden von Cheapside hervorgegangen schien, wurde nun in Khaki gekleidet und marschierte, in Gruppen geordnet, nach den Schützengräben, die sich alsbald in endlosen Linien über den größten Teil Europas ausbreiteten. Jener Krieg war nämlich anders als irgendeiner zuvor. Gräben, Stacheldraht, Bomben und große Kanonen zeichneten ihn aus. Im Wirrsal jener Welt war eine neue Phase eingetreten. Stellt euch vor: eine Flüssigkeit, allmählich immer heißer werdend, kommt plötzlich zum Sieden und beginnt schnell und heftig überzukochen; oder man gelangt auf einer Rodelbahn im Gebirge nach einer langen Strecke des sachten Gleitens mit einem Mal zu einem steilen Abhang und saust in wilden Kurven zu Tale: so ungefähr war es. Es war das alte Bergab, nur zu dramatischer Heftigkeit gesteigert.

Aber nicht nur eine Veränderung des Kostüms, sondern auch ein Umschwung der allgemeinen Stimmung vollzog sich. Noch heute kann ich mir die bedrückte Aufregung jener Augusttage vorstellen, da der Krieg begann, und erinnere mich deutlich, wie ungläubig wir Engländer die Nachricht aufnahmen, daß unsere kleine Armee von den deutschen Truppen wie ein Kätzchen, das man mit dem Besen scheucht, zurückgetrieben worden und daß die französische Front zusammengebrochen sei. Im September sammelten sich dann die Gegner Deutschlands zu einem neuen Angriff. Anfangs waren wir britischen Jünglinge nur aufgeregte Zuschauer gewesen, doch als die Nachrichten von den Anstrengungen und Verlusten unserer Armee kamen, füllten sich die Werbeämter; Tausende und aber Tausende meldeten sich, und schließlich zählten die britischen Freiwilligen nach Millionen. Ich ging mit der Menge.

Es mag euch seltsam erscheinen, daß ich den Weltkrieg gegen Deutschland mitmachte, als Soldat focht und verwundet wurde, geheilt wieder an die Front ging und an der letzten großen Offensive teilnahm; daß mein Bruder Ernst Sergeant wurde, eine Auszeichnung für tapfere Haltung bekam und wenige Wochen vor Abschluß des Waffenstillstandes fiel; daß meine Lebensumstände durch den Krieg völlig verändert wurden, daß er aber trotz alledem in der Geschichte meines Lebens eigentlich keine wesentliche Rolle spielt. Wenn ich nun daran zurückdenke, erscheint mir jener Weltkrieg nicht anders als irgendein geographischer oder atmosphärischer Umstand, ich meine, wie die Tatsache etwa, daß einer zehn Meilen von seiner Arbeitsstätte entfernt wohnt oder bei Aprilwetter Hochzeit hält. Der muß dann eben täglich zehn Meilen weit fahren oder, da er bei strömendem Regen aus der Kirche tritt, seinen Regenschirm aufspannen. Das wirkliche Leben jedoch wird davon in keiner Weise beeinflußt. Der Weltkrieg tötete wohl Millionen von Menschen, viele litten schwer oder verarmten, die Welt geriet durch ihn aus den Fugen. Im Grunde jedoch bedeutete er nichts weiter als das Verschwinden so und so vieler Menschen und eine Steigerung der allgemeinen Angst, Not und Verwirrung. Das Wesen der Menschen, die am Leben blieben, ihre Leidenschaften, ihre Unwissenheit, ihre verkehrte Denkungsart, bestand unverändert weiter. Unwissenheit und falsche Vorstellungen hatten den Weltkrieg verursacht, und er vermochte diesen Übeln nicht im geringsten zu steuern. Als er zu Ende war, erschien die Welt weit verworrener und schäbiger als zuvor, doch war es im Grunde immer noch dieselbe erbärmliche, vom Zufall regierte Welt, geldgierig, zänkisch, verlogen patriotisch, idiotisch fruchtbar, schmutzig, von Krankheiten geplagt, gehässig und dünkelhaft. Es hat zweier Jahrtausende der Forschung, der Erziehung, der Selbstzucht, des Denkens und der Arbeit bedurft, ehe sich eine wesentliche Veränderung zeigte.

Ich muß wohl zugeben, daß der Beginn des Weltkrieges den Eindruck erweckte, als ob er ein Ende und einen Anfang bedeuten würde. Wir erlebten große Tage, wir Briten ebenso wie alle anderen Völker. Und wir machten große Worte. Wir glaubten allen Ernstes – ich spreche nur von den einfachen Leuten aus dem Volk –, daß der Imperialismus Mitteleuropas durchaus im Unrecht und wir, seine Gegner, durchaus im Recht seien. Hunderttausende von Männern gaben freudig ihr Leben hin, in der aufrichtigen Überzeugung, daß durch ihren Sieg eine neue Weltordnung empordämmern werde. Und dieser Glaube war nicht nur in Großbritannien, sondern bei allen Völkern, bei beiden kriegführenden Parteien lebendig. Ich bin auch überzeugt, daß die Jahre 1914, 1915 und 1916 wirklich weitaus mehr Heldentaten, Opfer- und Edelmut, heroische Arbeit und heroische Geduld aufzuweisen hatten, als irgendeine andere Zeitspanne von drei Jahren in der Geschichte der Menschheit vor jenem Kriege und Jahrhunderte nachher. Die jungen Leute waren bewunderungswürdig; in Scharen gingen sie in einen ehrenvollen Tod. Dann aber begann man die Sinnlosigkeit und Verlogenheit des Kampfes allmählich einzusehen, und jene falsche Morgendämmerung erlosch in den Herzen der Menschen. Zu Ende des Jahres 1917 war die ganze Welt enttäuscht und trostlos, eine einzige Hoffnung nur war ihr geblieben: der Idealismus der Vereinigten Staaten von Amerika und die noch unerprobte Größe des Präsidenten Wilson. Wie dann auch sie versagte, wißt ihr aus unseren Geschichtsbüchern; ich will darüber im Augenblick nichts weiter sagen. Ein Gott an Stelle jenes Mannes hätte die Welt schon im zwanzigsten Jahrhundert einigen und ihr Jahrhunderte tragischer Kämpfe ersparen können. Präsident Wilson aber war kein Gott ...

Ich halte es auch für überflüssig, euch den Krieg zu schildern, so wie ich ihn sah. Jene sonderbare Phase im Leben der Menschheit ist ja so oft beschrieben worden, zahlreiche Bilder, Photographien und Aufzeichnungen darüber sind uns erhalten. Von Iris abgesehen, haben wir wohl alle eine Menge darüber gelesen. Ihr wißt, daß das Leben sich vier ganze Jahre auf die Schützengräben konzentrierte, die an allen Grenzen Deutschlands quer durch ganz Europa verliefen. Ihr wißt, daß tausende Kilometer Landes in Wüsteneien von Schlammlöchern und Stacheldrahthecken verwandelt wurden. Selbstverständlich liest heutzutage kein Mensch mehr die Berichte der Generale, Admirale und Politiker jener Zeit; alle diese offiziellen Kriegsschilderungen schlafen, wie es sich gebührt, einen ewigen Schlaf in den Kellergewölben unserer großen Bibliotheken. Doch habt ihr wohl eines der menschlichen Dokumente jener Zeit gelesen, etwa ›Das Feuer‹ von Barbusse oder die ›Geschichte eines Kriegsgefangenen‹ von Arthur Green, und wahrscheinlich habt ihr auch Photographien und Filme gesehen, oder Bilder von Nevinson, Orpen, Muirhead Bone und Will Rothenstein. Diese und andere Bücher und Bilder schildern wahrheitsgetreu, wie Verzweiflung gleich dem Schatten einer Sonnenfinsternis die Bühne des Lebens verdunkelte.

Das menschliche Gemüt hat jedoch die Kraft, schmerzliche Eindrücke zu mildern oder ganz wegzuwischen. Den größten Teil zweier langer Jahre verbrachte ich in jenen fürchterlichen, von Kanonen starrenden Landstrichen, in denen die Kämpfer ein gehetztes Leben des ewigen Versteckenspielens führten, und doch bedeutet mir dieser Abschnitt meines Lebens heute weniger als manche Tage aus Friedenszeiten. Ich habe in einem Schützengraben zwei Menschen mit dem Bajonett getötet und denke nun daran, als ob es ein anderer getan hätte und das Geschehnis mich nichts anginge. Viel deutlicher erinnere ich mich, wie übel mir wurde, als ich später entdeckte, daß meine Hand und mein Ärmel voll Blut waren, und wie ich, da ich kein Wasser finden konnte, um mich rein zu waschen, meinen Arm im Sand rieb. Das Leben in den Gräben war entsetzlich unbequem und furchtbar öde, und ich weiß, daß mir die Zeit da draußen unendlich lang wurde; es ist mir von all den endlosen Stunden hauptsächlich nur die Tatsache der Langeweile im Gedächtnis haften geblieben. Ich erinnere mich des Schreckens, der mir durch alle Glieder fuhr, als zum ersten Mal in meiner Nähe eine Bombe platzte, erinnere mich, wie sich langsam Rauch und Staub erhoben, eine Röte inmitten des Rauches aufstieg und es dann für kurze Zeit ganz dunkel um mich wurde. Diese Bombe platzte in einem von der Sonne beschienenen Feld, in dem ich gelbblühendes Unkraut und Stoppeln unterscheiden konnte. Ich weiß jedoch nicht mehr, was vorher und nachher geschah. Platzende Bomben und Schrapnelle verursachten mir, je weiter der Krieg fortschritt, eine immer heftigere Nervenerschütterung, hinterließen jedoch immer schwächere Erinnerungsbilder in meinem Gedächtnis.

Zu den lebendigsten Erinnerungen aus jener Zeit zählt die Erregung, in der ich mich befand, als ich zum ersten Mal Urlaub bekam. Eine Gruppe älterer Freiwilliger, die Armbinden trugen, geleiteten meine Abteilung im Marschschritt vom Victoriabahnhof zur Untergrundbahn, einem der Hauptverkehrsmittel Londons. Ich war noch ganz verdreckt vom Schützengraben, zum Waschen und Bürsten war keine Zeit mehr gewesen; und ich trug mein Gewehr und andere Ausrüstungsgegenstände. Wir stiegen in einen hellerleuchteten Wagen erster Klasse, in dem eine Anzahl von Leuten in Abendkleidung saß, um zu einem Diner oder ins Theater zu fahren. Ein stärkerer Gegensatz läßt sich kaum denken; wenn Iris damals in all ihrer Lieblichkeit vor mir erschienen wäre, hätte es nicht erstaunlicher für mich sein können. Da saß ein junger Mann, nicht viel älter als ich, zwischen zwei prächtig gekleideten Frauen. Er trug eine weiße Schleife unter seinem rosigen Kinn, ein seidenes Halstuch, einen schwarzen Mantel mit langem Kragen und einen Zylinderhut. Wahrscheinlich war er untauglich oder krank, aber er sah ebenso kräftig aus wie ich. Einen Augenblick lang empfand ich das Verlangen, ihm etwas Demütigendes zu sagen; ich glaube aber, daß ich es nicht tat. Ich erinnere mich nur des Verlangens, es zu tun. Aber ich sah ihn an und dann die braunen Flecken auf meinem Ärmel, und Verwunderung erfüllte mein Herz. Nein, nein, ich sagte ihm nichts, denn ich befand mich in einem Zustand intensiver Freude. Die anderen Burschen waren lustig und lärmend, einige auch etwas betrunken, ich aber war von stiller Erregung erfüllt. Es kam mir vor, als hörte, sähe, begriffe ich mit einem Mal unendlich viel schärfer, als je zuvor. Fanny wollte ich am nächsten Tage besuchen, diesen Abend aber hoffte ich Hetty Marcus zu sehen, das Mädchen, das ich liebte. Ich war mit einer Heftigkeit in sie verliebt, die nur junge Soldaten, wenn sie aus dem Schlamm von Flandern kamen, verstehen konnten.«

2

»Wie,« fragte Sarnac, »wie soll ich euch Hetty Marcus schildern, das dunkeläugige, zarte und launige Geschöpf, das mir in jenem Leben vor zweitausend Jahren Liebe schenkte und den Tod brachte?

Irgendwie ähnelte sie Heliane. Sie war vom gleichen Typus: in ihren Augen glänzte es ebenso dunkel, sie hatte dieselbe stille Art; sie sah aus wie eine hungrige Schwester Helianes. Ein heimliches Feuer lebte in ihrem Blut.

Ja, ja, und sie hatte auch dieselben kurzen kleinen Finger; schaut sie euch einmal an.

Ich traf sie auf jenen Hügeln, über die ich als Kind mit dem Vater gewandert war, um Gemüse und Obst aus Lord Brambles Gärten zu stehlen. Ehe ich nach Frankreich abkommandiert worden war, hatte ich einen kurzen Urlaub bekommen. Ich verbrachte ihn nicht, wie ihr etwa glaubt, in London mit Matilda Good und Fanny, sondern mit ein paar Kameraden, die sich das leisten konnten, in Cliffstone. Ich weiß nicht, wie ich euch erklären soll, warum ich gerade nach Cliffstone fuhr. Ich war sehr aufgeregt bei dem Gedanken, daß ich nun wirklich in den Krieg ziehen sollte, ich wollte tapfere und wunderbare Taten vollbringen, doch die Vorstellung, daß ich getötet werden könnte, trübte meine Begeisterung. Ich dachte nicht an Wunden oder Schmerzen, fürchtete mich davor nicht, aber ich empfand ein tiefes Grauen, eine wilde Auflehnung bei dem Gedanken, sterben zu müssen, ehe ich richtig gelebt, ehe ich genossen hatte, was mir das Beste im Leben schien. Ich hatte mir stets Liebe und wunderbare Erlebnisse mit Frauen erhofft und war nun von leidenschaftlicher Angst erfüllt, ich könnte um solches Glück betrogen werden. All den jungen Burschen um mich herum ging es ganz ebenso. Der Einfall, daß wir nach dem in der Nähe unserer Übungsschule gelegenen Cliffstone mit seiner Musikkapelle, seiner Promenade und seinen reizenden Mädchen fahren könnten, stammte von mir. Es war mir, als ob wir gerade dort noch etwas vom Leben erhaschen könnten, ehe die Bomben uns zerreißen oder der Schlamm Flanderns uns verschlingen würde. So stahlen wir uns aus dem Kreise der Verwandten und Freunde fort, das Feuer sich auflehnenden Lebenshungers in Hirn und Blut.

Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele Millionen erbarmungswürdiger junger Leute in Europa damals von wilder Gier erfüllt waren, das Geheimnis und die Wunder der Liebe auszukosten, ehe sie starben. Ich will euch nicht von den Kneipen erzählen, in denen Prostituierte unserer warteten, noch von den Begebenheiten am mondbeschienenen Strand. Ich will euch nicht von den Verlockungen berichten, denen wir ausgesetzt waren, nicht von unserer Unwissenheit, nicht von den Krankheiten, die uns drohten. Das alles ist zu häßlich, und es ist ja jetzt vorbei und überwunden, die Menschen leiden nicht mehr darunter. Wir tappten damals im Finstern, die heutige Menschheit wandelt im Licht. Einer meiner Kameraden erfuhr ein böses Mißgeschick, die anderen hatten häßliche Erlebnisse; nur ich entging, durch Zufall mehr als durch eigenes Verdienst, einem erniedrigenden Abenteuer. Mich hatte im entscheidenden Augenblick ein Ekel erfaßt, und ich war davongegangen. Auch hatte ich nicht getrunken, wie die anderen, weil eine Art Stolz in mir mich gewöhnlich im Genusse geistiger Getränke vorsichtig sein ließ.

Doch befand ich mich in einem Sturm peinvoller Erregung. Ich glitt trotz dem Ekel, der mich erfüllte, in einen Abgrund sinnlichen Verlangens, und in solcher Not flüchtete ich mich in meine Erinnerung an die Kinderzeit. Ich ging nach Cherry Gardens, um unsere alte Wohnstätte wiederzusehen, und an meines Vaters Grab, das dank der Fürsorge Fannys sauber und hübsch gehalten war. Dann kam mir der Einfall, über die Downs zu wandern und dabei einen Nachklang des wundergläubigen Gefühls der Erwartung in mir wachzurufen, das ich einst bei meinem ersten Gang über jene Hügel verspürt hatte. Es war mir – ich weiß nicht, ob ihr das verstehen könnt –, als würden gerade dort Liebe und Romantik meiner warten. Ich gab die triebhafte Absicht, die mich nach Cliffstone geführt hatte, nicht auf, ich war nur über einen schmutzigen Sumpf auf meinem Wege hinweggesprungen. Als ich ein Kind gewesen, hatte ich, entzückt von der Pracht der goldenen Sommersonnenuntergänge, geglaubt, der Himmel beginne dort oben auf den Downs. So war es natürlich, daß ich nun, auf der Suche nach einem romantischen Abenteuer, jene Hügel bestieg, die einzige wirklich liebliche Landschaft, die ich jemals gesehen hatte.

Und ich fand das Abenteuer.

Ein Zittern durchlief meinen Körper, aber ich war durchaus nicht erstaunt, als ich Hetty auf dem Kamm der Hügelkette auftauchen sah. Sie kam ein Stück den Abhang herunter und stand dann, die Hände auf dem Rücken, Sonnenlicht auf ihrem Haar, und blickte über Wälder und Kornfelder hinweg auf Blythe, auf die Sümpfe des Marschlandes und auf das ferne Meer hinaus. Sie hatte den Hut abgenommen und hielt ihn hinter sich in den Händen. Sie trug eine elfenbeinfarbige Seidenbluse, die den Hals frei ließ, und es war, als sähe man durch den dünnen Stoff hindurch ihren bloßen Körper.

Sie ließ sich in eine sitzende Stellung gleiten und blickte bald in die Welt, bald pflückte sie von den kleinwinzigen Blümchen, die im Rasen des Dünenlandes wuchsen.

Eine Weile stand ich und starrte zu ihr hinüber. Dann wurde mein ganzes Wesen von dem bebenden Entschluß erfaßt, mit ihr zu sprechen. Mein Weg führte im Bogen den Abhang hinauf und unweit der Stelle, wo sie saß, über den Hügelkamm hinüber. Ich folgte dem Weg, indem ich immer wieder stehen blieb, als ob ich das Land und das Meer betrachtete. Auf der Höhe angelangt, verließ ich den Pfad und schlenderte mit plump zur Schau getragener Gleichgültigkeit den Kamm entlang, um endlich, etwa sechs Schritte von ihr entfernt, haltzumachen. Ich tat so, als ob ich sie gar nicht sähe, und ballte die Hände zu Fäusten, um meine Selbstbeherrschung zu wahren. Sie hatte mich längst erblickt und saß nun regungslos und sah mich an, schien aber nicht im geringsten bestürzt über meine Annäherung. Sie hatte dein feines Gesicht, Heliane, und deine dunklen Augen; niemals, nicht einmal an dir, habe ich ein so stilles Antlitz gesehen. Es war nicht hart oder starr, nein, nur ruhig, tiefruhig, still wie ein schönes Bild.

Ich zitterte am ganzen Körper, mein Herz schlug schnell, aber ich behielt meine Fassung.

›Gibt es irgendwo eine schönere Aussicht?‹ fragte ich. ›Der dunkelblaue Fleck auf dem glänzenden Wasser, der fast wie ein Floß aussieht, ist Denge Neß, nicht wahr?‹

Sie antwortete nicht gleich, sondern betrachtete mich mit einem unergründlichen Ausdruck. Dann sprach sie und lächelte dabei: ›Sie wissen ebenso gut wie ich, daß das Denge Neß ist.‹

Ich lächelte gleichfalls. Schüchternes Versteckenspielen lag ihr fern. Ich trat einen Schritt näher, um das Gespräch fortzuführen. ›Ich kenne diese Aussicht seit meinem zehnten Lebensjahr. Ich wußte aber nicht, daß außer mir noch jemand den Blick von hier oben schätzt.‹

›Mir geht es ganz ebenso‹, erwiderte sie. ›Ich bin heute vielleicht zum letzten Mal gekommen‹, ließ sie sich herab, hinzuzufügen. ›Ich gehe fort von hier.‹

›Auch ich gehe fort.‹

›Dort hinüber?‹ fragte sie und deutete mit dem Kopf gegen jene Stelle des Horizonts, wo Frankreich gleich einer Wolke am Himmel zu sehen war.

›Ungefähr in einer Woche.‹

›Ich gehe auch nach Frankreich, aber wohl nicht so bald. Ich will in das Frauen-Hilfsarmeekorps eintreten, und da werde ich bestimmt mit der Zeit auch hinüberkommen. Ich trete morgen ein. Wie kann man zuhause bleiben, wenn all ihr Jungens hinüberzieht, um euch –‹

Sie wollte sagen: ›– um euch töten zu lassen‹, verschluckte aber das Wort und beendete den Satz mit ›– um euch in Gefahr und Elend zu stürzen‹.

›Man muß hinüber‹, sagte ich.

Sie betrachtete mich mit leicht zur Seite geneigtem Kopf. ›Sagen Sie mir,‹ fragte sie, ›gehen Sie gern hinüber?‹

›Nicht im geringsten. Mir ist der ganze scheußliche Krieg verhaßt. Aber man kann nicht anders, die Deutschen haben uns das eingebrockt, und wir müssen mitmachen.‹

Diese Ansicht hatten wir Engländer alle während des Krieges. Aber ich will mich nicht damit aufhalten, euch die wirklichen Ursachen eines Kampfes auseinanderzusetzen, der sich vor zweitausend Jahren abspielte. ›Die Deutschen haben den Krieg angezettelt. Ich gehe sehr ungern an die Front. Ich hätte viel lieber meine Arbeit fortgesetzt. Nun geht alles drunter und drüber.‹

›Alles geht drunter und drüber‹, wiederholte sie und dachte ein Weilchen nach. ›Auch mir ist es verhaßt, an die Front zu gehen.‹

›Es dauert nun Wochen und Wochen, Monate und Monate‹, klagte ich. ›Und die Langeweile! Der Drill, das Salutieren, die albernen Offiziere! Wenn sie uns doch nur zusammentrieben, hinausschickten und töten ließen, ohne so viel Geschichten zu machen! Wenn die ganze Sache nur bald zu Ende käme, so daß man entweder tot wäre oder wieder zuhause und was Vernünftiges anfangen könnte. So viel Zeit wird vergeudet. Ein Jahr stecke ich nun in dem stumpfsinnigen Betrieb und bin immer noch nicht in Frankreich drüben. Wenn ich den ersten deutschen Soldaten zu Gesicht bekomme, werde ich ihm, glaube ich, um den Hals fallen wollen, so froh werde ich sein. Aber leider werde ich ihn töten müssen oder er mich, das wird das Ende vom Liede sein.‹

›Und trotzdem kann man nicht zuhause bleiben‹, sagte sie.

›Der Krieg ist etwas Fürchterliches‹, fuhr sie fort. ›Zweimal schon habe ich hier oben einen Luftangriff erlebt. Ich wohne hier ganz in der Nähe. Die Luftangriffe werden jetzt immer häufiger, ich weiß gar nicht, wie das noch werden soll. Man kann jede Nacht die Scheinwerfer sehen, die wie Riesenarme eines Betrunkenen über den Himmel gleiten, über den ganzen Himmel. Doch schon vorher beginnen die Fasane in den Wäldern zu glucksen und zu schreien; die hören es immer zuerst. Dann wachen andere Vögel auf und beginnen ängstlich zu zwitschern. Und dann fangen in der Ferne die Kanonen an, ganz leise nur zuerst, pam, pam, wie das Bellen eines heiseren Hundes, dann wird eine um die andere lauter, je näher der Angriff kommt. Manchmal kann man das Surren der Gothas deutlich hören. Hinter jenem Gutshof dort steht eine große Kanone, auf die wartet man, und wenn sie losgeht, dann schlägt es einem tüchtig auf die Brust. Man kann eigentlich nicht viel anderes sehen als die Scheinwerfer. Ein Flackern am Himmel – und Sternraketen. Die Kanonen aber, die toben. Es ist irrsinnig, aber doch großartig. Es packt einen. Entweder hat man eine wilde Angst oder man ist außer sich vor Aufregung. Ich kann nicht schlafen. Ich gehe in meinem Zimmer auf und ab und möchte ins Freie. Zweimal bin ich auch wirklich hinausgelaufen in die mondhelle Nacht, während rings um mich alles zitterte, und bin lange herumgewandert. Einmal ist ein Schrapnell in unserem Obstgarten niedergegangen, wie ein zischender Regen. Die Rinde der Apfelbäume wurde abgeschält, Äste und Zweige weggerissen und ein Igel getötet. Ich fand den armen Kerl in der Früh – ganz zerfetzt der Körper. Ein unerwarteter Tod. Ich fürchte mich nicht so sehr vor dem Tode, fürchte die Gefahr nicht. Doch den schrecklichen Aufruhr, das Beben, das in der Luft liegt, das kann ich nicht ertragen. Auch bei Tag packt es mich manchmal. Man kann die Kanonen drüben zwar nicht deutlich hören, aber man fühlt sie ...‹

›Unser altes Dienstmädchen‹, fuhr sie fort, ›glaubt, das Ende der Welt sei gekommen.‹

›Für uns kann es auch das Ende sein‹, sagte ich.

Sie antwortete nicht.

Ich blickte in ihr Gesicht, und meine erregten Sinne begannen zu toben.

Und dann sprach ich mit einer Einfalt und Offenheit zu ihr, wie das in jenem scheuen und unklaren Zeitalter nur selten geschah. Dabei schlug mir das Herz heftig. ›Seit Jahren‹, sagte ich, ›habe ich von der Liebe zu einem Mädchen geträumt, und diese Liebe hätte die Krone meines Lebens werden sollen. Ich habe auf sie gewartet. Ich habe wohl ein paar Freundinnen gehabt, aber das war nicht Liebe. Und nun bin ich nahe daran fortzuziehen. Da hinaus. Und gerade in dem Augenblick, da mir alle Hoffnung geschwunden ist, treffe ich jemanden ... Bitte, halten Sie mich nicht für verrückt. Und denken Sie nicht, daß ich lüge. Ich liebe Sie. Ja, wirklich. Sie erscheinen mir vollkommen schön. Ihre Augen, Ihre Stimme, alles. Ich möchte Sie anbeten ...‹

Ich konnte einige Augenblicke kein Wort mehr hervorbringen. Ich stürzte auf den Rasen nieder und blickte in ihr Antlitz. ›Verzeihen Sie,‹ sagte ich, ›ich bin ein dummer, junger Soldat, der plötzlich von Liebe erfaßt worden ist, oh, von ganz verzweifelter Liebe.‹

Sie betrachtete mich mit ernstem Gesicht. Sie sah weder erschreckt, noch verwirrt aus. Vielleicht klopfte ihr das Herz schneller, als ich ahnte. Ihre Stimme klang gepreßt, als sie nach einer Weile wieder sprach.

›Wie können Sie nur so zu mir reden? Sie haben mich ja kaum erst gesehen ... Wie können Sie mich lieben? Es ist unmöglich, daß man sich so schnell verliebt.‹

›Ich habe Sie schon lange genug gesehen –‹

Ich konnte nicht sprechen. Ich sah ihr in die Augen. Sie senkte den Blick vor dem meinen, und ein warmes Rot färbte ihre Wangen. Sie biß sich auf die Lippen.

›Sie,‹ sagte sie mit ganz leiser Stimme, ›Sie sind nur in die Liebe verliebt.‹

›Wie dem auch sei, ich bin verliebt‹, sagte ich.

Sie pflückte wieder einige der winzigen Blumen und behielt sie achtlos in der Hand.

›Ist das heute Ihr letzter Tag?‹ fragte sie, und mir begann das Herz schneller zu klopfen.

›Es wird vielleicht der allerletzte sein, der mir das Glück bringen kann, von dem ich träume. Wer weiß es ...? Der letzte für lange Zeit jedenfalls. Kann es Sie verletzen, sich einen Tag lang von mir lieben zu lassen? Warum sollten Sie nicht gut sein zu mir? Freundlich wenigstens? Ich verlange gar nicht viel. Wenn wir zum Beispiel miteinander spazieren gingen? Einen recht langen Spaziergang miteinander machten? Wenn wir den größten Teil des Tages miteinander verbrächten? Vielleicht könnten wir irgendwo etwas zu essen bekommen ...‹

Sie saß da und betrachtete mich ernst.

›Wenn ich das täte‹, sagte sie, gleichsam zu sich selbst. ›Nehmen wir an, ich täte es –‹

›Was wäre Schlimmes dabei?‹

›Was wäre Schlimmes dabei?‹ wiederholte sie und blickte mir in die Augen.

Wenn ich älter und erfahrener gewesen wäre, hätte ich wohl aus ihrem warmbewegten Gesicht und dem Ausdruck ihrer Augen erraten können, daß auch sie an jenem Tage verliebt war, verliebt in die Liebe, und daß die Begegnung sie ebenso erregte wie mich. Plötzlich lächelte sie und zeigte sich mit einem Mal bereit gleich mir. Ihre Befangenheit war verschwunden.

›Ich komme mit‹, entschied sie und erhob sich mit anmutiger Leichtigkeit. Doch als sie die wilde Bewegung sah, mit der ich aufsprang, sagte sie: ›Sie müssen aber brav sein. Wir wollen nur spazieren gehen und miteinander plaudern ... Warum sollten wir das nicht? ... Wenn wir uns nur dem Dorf fernhalten.‹«

3

»Es würde eine sonderbare Geschichte abgeben, wenn ich euch erzählen wollte, wie wir zwei Kinder jenen Tag verbrachten, wie wir, die wir einander so wenig kannten, daß wir einer des anderen Namen nicht wußten, doch schon so innig miteinander verbunden waren. Das Wetter war schön und mild, und wir wanderten westwärts, bis wir auf einem Bergrücken angekommen waren, der gegen einen silberglänzenden und von Bäumen eingesäumten Kanal abfiel. Wir gingen auf der Kammhöhe weiter und gelangten in ein Dorf und zu einem freundlichen Gasthaus, wo wir Zwieback, Käse und Äpfel zum Frühstück bekamen. Nach dem ersten offenen Gespräch hatte uns eine gewisse Schüchternheit befallen, dann erzählte Hetty von ihrem Heim und ihrer Lebensweise. Erst nachdem wir miteinander gegessen hatten, fühlten wir uns frei und vertraut. Und als die Sonne sank und unser Tag seinem goldenen Ende entgegenging, umarmten wir einander plötzlich, während wir auf einem gefällten Baum im Walde saßen. Ich lernte von ihr, wie süß und wunderbar ein Kuß der Liebe sein kann.«

4

Sarnac schwieg eine Weile.

»Zweitausend Jahre sind seitdem vergangen, mir aber scheinen es nicht mehr als sechs. Noch einmal sitze ich in jenem Wald in den langen, warmen Schatten des Abends, und noch einmal werden all die Träume und Pläne in mir lebendig, die erwachten, als ich Hettys Körper in meinen Armen und ihre Lippen auf den meinen fühlte. Bis jetzt war ich imstande, euch meine Geschichte fast wie ein verwunderter und unbeteiligter Betrachter mitzuteilen, gleichsam als zeigte ich euch die Vergangenheit durch ein Fernrohr. Ich habe euch vielleicht viel zu viel von Fanny und Matilda Good erzählt, weil ich eine Art Scheu davor empfand, von Hetty zu sprechen. Sie ist mir so frisch im Gedächtnis, daß ich, wenn ich ihren Namen nenne, meine, sie müßte hier vor mir auftauchen. Störend tritt sie zwischen mich und Heliane, die ihr so ähnlich und doch auch wieder so unähnlich ist. Ich liebe sie wieder und hasse sie wieder, als ob ich noch der Zeitungsschreiber von damals wäre, der kleine Redaktionsgehilfe aus dem Thunderstone House im längst entschwundenen alten London ...

Und nun kann ich euch die Dinge und Geschehnisse nicht mehr so schildern wie bisher. Es ist nicht mehr, als ob ich auf Vergangenes zurückblickte. Die Erinnerung ist leidvoll lebendig in mir, sie schmerzt und quält mich. Ich liebte Hetty, sie war mir alles Glück der Liebe. Ich heiratete sie, ich ließ mich von ihr scheiden, ich bereute diese Scheidung, und ich wurde um ihretwillen getötet. Es ist mir, als wäre ich erst gestern getötet worden ...

Ich heiratete sie, während ich nach meiner Verwundung einige Zeit in der Heimat verbrachte, um dann wieder an die Front zu gehen. Ich war am Arm verwundet worden –«

Sarnac hielt inne und griff sich an den Arm. Heliane sah ihn scharf an und tastete dann mit der Hand von seiner Schulter bis zum Ellbogen hinunter, wie um sich von seiner Unversehrtheit zu überzeugen. Die anderen brachen in ein Gelächter aus, als ihre Besorgnis offenbar wurde und ihr Gesicht gleich darauf ein Ausdruck der Erleichterung zeigte; besonders der Herbergsmeister war belustigt.

»Ich wurde wirklich verwundet, wenn auch nur leicht. Ich könnte allerlei von den Pflegerinnen und dem Spital, in dem ich lag, erzählen und von der durch das Erscheinen eines Unterseebootes hervorgerufenen Panik auf dem Schiff, das mich nach England brachte ... Ich heiratete Hetty, ehe ich wieder ins Feld zurückging, denn wir waren nunmehr wirklich Liebesleute, und es bestand die Möglichkeit, daß sie ein Kind bekommen würde. Überdies gewann sie durch die Heirat Anspruch auf eine staatliche Unterstützung, falls ich getötet werden sollte. In jenen Tagen, da so viele junge Leute eines gewaltsamen Todes starben, herrschte auf der ganzen Welt ein Liebes- und Heiratsfieber, und eine Unzahl übereilter Ehen wurde geschlossen.

Sie war nicht, wie sie gewünscht hatte, nach Frankreich hinübergeschickt worden, sondern arbeitete in London bei der sogenannten Lebensmittel-Verteilungsstelle als Chauffeuse. Wir verbrachten zwei Tage wilder Verliebtheit auf dem Pachthof ihrer Mutter in Payton Links, einem Weiler bei Chessing Hanger. Mehr Zeit war uns nicht vergönnt. Ich weiß nicht, ob ich euch gesagt habe, daß Hetty die einzige Tochter eines Landwirtes war. Frau Marcus, ihre Mutter, war Witwe. Hetty war ein kluges Kind gewesen; sie hatte einige Zeit an einer Volksschule unterrichtet und war recht belesen und unternehmend für ein Mädchen vom Lande. Erst als wir uns zu heiraten beabsichtigten, hatte sie ihrer Mutter brieflich von mir erzählt.

Die Mutter fuhr uns von der Bahnstation zu ihrem Hof, und nachdem ich ihr das Pony ausspannen geholfen hatte, gab sie ihre vorsichtig-zurückhaltende Miene auf und sagte: ›Nun, es hätte schlimmer sein können. Sie sehen ganz gut aus und haben recht breite Schultern für einen Stadtmenschen. Umarmen Sie mich, mein Junge. Zwar ist der Name Smith recht gewöhnlich im Vergleich zu Marcus, und ich kann mir auch nicht recht denken, wie eine Stellung in so einem windigen Unternehmen, wie ein Verlag es ist, Mann und Frau ernähren soll. Ob Sie alt genug sind für Hetty, wird die Zeit beweisen.‹

Die Zeit sollte sehr bald beweisen, daß ich nicht alt genug für Hetty war, obwohl ich mich mit leidenschaftlichem Nachdruck dagegen verwahrte, für zu jung zu gelten.

Verglichen mit den damaligen Menschen sind wir heutzutage äußerst einfach und offen. Unsere Einfalt und Offenheit würde bei ihnen Anstoß erregt haben. Nicht nur, daß sie ihren Körper mit allen möglichen sonderbaren Kleidungsstücken bedeckten, auch ihren Geist verhüllten, entstellten und verbargen sie. Und während heute die ganze Welt über Freiheit und notwendige Einschränkung auf sexuellem Gebiet die gleichen einfachen und sauberen Ansichten hat, gab es bei den Völkern der alten Zeiten die mannigfachsten und kompliziertesten Gesetze, die noch dazu halb geheim gehalten und nur halb eingestanden wurden. Und nicht nur, daß sie halb geheim blieben, die meisten Menschen wurden sich gar nicht recht klar über sie, halb unbewußt folgte man ihnen, sie wurden nicht zu Ende gedacht und waren nicht fest bestimmt. Und unter diesen Gesetzen war kaum eines, das die Freiheit des Nebenmenschen zu achten gebot oder den schlimmsten Auswüchsen der Eifersucht eine Grenze gesetzt hätte. Während Hettys Ansichten über Liebe und Ehe erst von der Lebensauffassung ihrer bäuerlichen Umgebung, später von gierig verschlungenen Romanen und Gedichten bestimmt worden waren, um schließlich in der laxen Atmosphäre des Londons der Kriegszeit starke Wandlungen zu erfahren, hatte ich mir trotz meiner anhänglichen Liebe zu Fanny, fast ohne es zu wissen, die strengen Grundsätze meiner Mutter zu eigen gemacht. Hetty hatte, wie man in jenen Tagen zu sagen pflegte, viel mehr Künstlerisches in ihrem Temperament als ich. Ich für mein Teil glaubte mehr gefühls- als verstandesmäßig, daß die Anbetung eines Mannes für eine Frau ihm, sobald ihre Liebe gewonnen war, vollkommene Herrschaft über sie gäbe, und daß das Problem völliger Treue für ihn durch unbedingte Ergebenheit auf ihrer Seite erleichtert werden müsse. Sie sollte sozusagen, wo immer sie ging, von einem zwar unsichtbaren, aber deshalb doch wirksamen klösterlichen Bann umgeben sein. Ferner wurde stillschweigend angenommen, daß sie, ehe sie dem ihr vorher bestimmten und nunmehr siegreichen Liebhaber begegnet war, noch niemals an Liebe gedacht habe. Lächerlich und unmöglich, werdet ihr sagen. Doch Heliane, die die alten Romane studiert hat, kann euch bezeugen, daß der damalige Ehrenkodex solches vorschrieb.«

Heliane nickte. »Ja, ja, das ist der Geist, der sie erfüllt«, sagte sie.

»Nun, Hetty war zwar nur ein halbes Jahr älter als ich, in Dingen der Liebe aber war sie mir weit voraus und wurde hierin meine Führerin. Während ich mit Atomen, mit Darwin, mit wissenschaftlicher Forschung und mit Fragen des Sozialismus beschäftigt gewesen war, hatte sie aus offenen und versteckten Anspielungen in alten Romanen, in den Dichtungen Shakespeares und vielen anderen den Honig sinnlicher Leidenschaft gesogen. Und nicht nur aus Büchern hatte sie, wie ich jetzt erkenne, gelernt. Sie nahm mich, wie man ein Tier fängt und zähmt, und meine Sinne und meine Phantasie wurden ihr untertan. Die Stunden der Liebe, die wir miteinander verlebten, waren zauberhaft und wunderbar. Sie freute sich an mir und machte mich trunken vor Seligkeit. Und dann trennte ich mich von ihr in märchenhaft verzauberter Stimmung, den salzigen Geschmack ihrer Tränen auf den Lippen, und begab mich wieder an die Front, um die letzten fünf Monate des Krieges über mich ergehen zu lassen.

Ich sehe sie jetzt noch vor mir, schlank wie ein Junge in ihren Khaki-Breeches und ihrer Chauffeurjacke, wie sie meinem Zug nachwinkte, als er vom Bahnhof in Chessing Hanger abfuhr.

Sie schrieb mir entzückende, an reizenden und wunderlichen Einfällen reiche Liebesbriefe, die in mir schmerzliche Sehnsucht nach ihr wachriefen, und gerade in den Tagen, da wir die sogenannte Hindenburg-Linie der Deutschen zu durchbrechen im Begriff waren, kam einer, in dem sie mir sagte, daß uns ein Kind geschenkt werden würde. Sie habe bisher darüber geschwiegen, schrieb sie, weil sie dessen nicht ganz sicher gewesen sei. Nun aber sei sie sicher. Ob ich sie noch lieben würde, wenn sie nun nicht mehr schlank und flink beweglich sein werde? Ob ich sie noch lieben würde! Ich war von ungeheuerem Stolz erfüllt.

Ich schrieb zurück, daß mir meine Stellung im Thunderstone House gesichert bleibe, daß wir bestimmt ein kleines Haus finden würden, ein ›trauliches, kleines Heim‹ in irgendeinem Londoner Vorort, und daß ich sie über alles lieben und zärtlich behüten würde. Ihre Antwort war zugleich liebevoll und absonderlich. Sie sagte, ich sei zu gut mit ihr, viel zu gut, und wiederholte mit außerordentlicher Leidenschaft, daß sie mich liebe, daß sie niemals einen anderen geliebt habe und niemals einen anderen lieben würde, daß ihr meine Abwesenheit schrecklicher sei, als sie sagen könne, daß ich Himmel und Erde in Bewegung setzen möge, um freizukommen, und zu ihr zurückkehren und sie nie, nie, nie wieder verlassen solle. Nie habe es sie nach meiner Umarmung so sehr verlangt wie gerade jetzt. Ich konnte nicht zwischen den Zeilen dieses leidenschaftlichen Ausbruchs lesen. Er schien mir nichts weiter als eine neue Stimmung unter ihren vielen wechselnden Launen.

Im Thunderstone House wollte man mich sobald als möglich wieder zurück haben; der Krieg hatte Macht und Einfluß der Zeitungsmänner beträchtlich gehoben. Drei Monate nach Abschluß des Waffenstillstandes wurde ich aus dem Heer entlassen und fand daheim eine sehr sanfte, zärtliche und hingebungsvolle Hetty, eine neue Hetty, die mir noch wunderbarer schien als die alte. Und sie liebte mich offenkundig leidenschaftlicher als je zuvor. Wir mieteten eine möblierte Wohnung in Richmond, einem an der Themse und in der Nähe eines großen Parks gelegenen Teil Londons, aber wir suchten vergebens nach einem hübschen kleinen Haus, in dem unser Kind das Licht der Welt erblicken sollte. Kleine Häuser waren damals sehr schwer zu bekommen.

Und langsam fiel ein dunkler Schatten in die strahlende Helle unserer Wiedervereinigung. Die Tage, da Hettys Kind geboren werden sollte, verstrichen. Es kam zwei volle Monate später, viel zu spät, als daß es mein Kind hätte sein können.«

5

»Wir werden heute von frühester Kindheit an dazu erzogen, im Umgang mit unseren Nebenmenschen verständnisvolle Duldsamkeit zu üben, gegen unsere unsteten Triebe auf der Hut zu sein und sie im Zaum zu halten, und sehr früh schon lehrt man uns die Gefahren unserer verwickelten Wesensart kennen. Ihr werdet nur schwer begreifen, wie rauh und unredlich die Menschen der alten Zeit waren. Wir heute sind weitaus besser erzogen. Ihr werdet euch kaum vorstellen können, welch ein plötzlicher Sturm von Versuchung, Erregung und Vergessen sich in Hettys zur Liebe erwachten Natur erhoben und sie zur Treulosigkeit gegen mich verleitet hatte. Und noch unerklärlicher wird euch das Gemisch von Furcht und verzweifelter Verlogenheit erscheinen, das sie eine offene Aussprache mit mir nach meiner Rückkehr vermeiden ließ. Aber wenn sie auch, anstatt mich argwöhnen und schließlich entdecken zu lassen, was geschehen war, ein ehrliches Geständnis abgelegt hätte, so würde sie, fürchte ich, doch nicht mehr Erbarmen oder Verständnis für ihren traurigen und häßlichen Fehltritt in mir gefunden haben.

Heute weiß ich, daß Hetty vom Tag meiner Heimkehr an versuchte, mir von ihrem Unglück zu erzählen, das Bekenntnis jedoch nicht über die Lippen brachte. Halbe Andeutungen in ihren Worten und ihrem Gehaben sanken gleich Samen in mein Gemüt und keimten dort. Meine Rückkehr hatte sie leidenschaftlich erregt und beglückt, und die ersten Tage, die wir miteinander verbrachten, waren die glücklichsten in meinem ganzen damaligen Leben. Fanny besuchte uns und lud uns zu sich, und wir gingen zum Abendessen zu ihr. Auch sie war an jenem Tage aus irgendeinem mir unbekannten Grunde besonders glücklich, und Hetty gefiel ihr sehr. Als sie mich beim Abschied umarmte, flüsterte sie mir zu: ›Sie ist ein liebes Geschöpf. Ich dachte, ich würde auf deine Frau eifersüchtig sein, Harry, nun aber habe ich sie sehr lieb.‹

Ja, eine Woche lang waren wir über alle Maßen glücklich. Wir gingen zu Fuß in unsere Wohnung zurück, anstatt ein Auto zu nehmen, denn Hetty sollte viel gehen. Ja, eine Woche des Glückes war es oder fast zwei. Dann wuchsen die Schatten des Argwohns empor und wurden immer drohender.

In der Dunkelheit der Nacht, im Bette liegend, fand ich endlich den Mut, offen mit Hetty zu sprechen. Ich war erwacht und lag lange Zeit ganz still, in starrem Entsetzen über die Erkenntnis dessen, was uns geschehen war. Dann setzte ich mich im Bette auf und sagte: ›Hetty. Das Kind ist nicht von mir.‹

Sie antwortete sofort. Es war klar, daß auch sie wach gelegen hatte. Sie antwortete mit erstickter Stimme, als hätte sie das Gesicht in die Kissen gedrückt: ›Nein.‹

›Hast du nein gesagt?‹

Sie machte eine Bewegung, und ihre Stimme wurde klarer.

›Ich habe nein gesagt. O mein Junge, mein Mann, ich wünschte, ich wäre tot. Ich bete zu Gott, daß er mich sterben lassen möge.‹

Ich saß still, und sie sagte nichts mehr. Wie zwei durch Furcht erstarrte Lebewesen in den Dschungeln verharrten wir regungslos inmitten eines ungeheuerlichen Schweigens und einer ungeheuerlichen Dunkelheit.

Endlich machte Hetty eine Bewegung. Ihre Hand tastete nach mir, ich aber wich zurück. Einen Augenblick schwankte ich zwischen zwei verschiedenen Regungen des Gefühls, dann gab ich mich der Wut hin. ›Wagst du es, mich zu berühren?!‹ schrie ich, sprang aus dem Bett und begann im Zimmer auf und ab zu rennen.

›Ich wußte es‹, brüllte ich. ›Ich wußte es längst, ich fühlte es! Und dich habe ich geliebt! Du Betrügerin! Du schlechtes, du verlogenes Frauenzimmer!‹«

6

»Ich habe euch im ersten Teil meiner Geschichte berichtet, wie meine Familie sich betrug, als Fanny uns verließ, habe euch geschildert, wie wir alle damals eine halb geheuchelte Empörung zur Schau trugen und laut werden ließen, gewissermaßen als hätten wir Angst gehabt, daß eine neue und störende Erkenntnis die Schranken unserer Scheinmoral durchbrechen könnte. In der tragischen Krise, die zwischen Hetty und mir ausgebrochen war, benahm ich mich nun ganz genau so, wie seinerzeit meine Eltern sich in unserer unterirdischen Küche in Cherry Gardens aufgeführt hatten. Ich stürmte im Zimmer umher und schleuderte ihr Beleidigungen ins Gesicht. Ich übersah geflissentlich, daß sie ein gebrochenes und weinendes Geschöpf war, daß sie mich ohne Zweifel liebte und daß ihr Schmerz auch mir weh tat; es galt mir einzig und allein, eine harte Pflicht gegen meinen beleidigten Stolz zu erfüllen.

Schließlich, ich weiß nicht mehr, wann, zündete ich das Gaslicht an, und die Szene spielte nun bei der wässerigen Beleuchtung des Victorianischen Zeitalters weiter. Ich begann mich anzukleiden, denn nie mehr wieder wollte ich neben Hetty im Bett liegen. Sobald ich angekleidet sein und gesagt haben würde, was ich zu sagen hatte, wollte ich das Haus für immer verlassen. Trotz der zornigen Empörung und den Scheltreden, die ich für nötig hielt, mußte ich also meine verschiedenen Kleidungsstücke suchen, das Hemd über den Kopf ziehen und meine Stiefel zuschnüren. Infolgedessen traten Pausen in meinem Getobe ein, und Hetty hatte die Möglichkeit, auch etwas zu sagen.

›Es geschah an einem einzigen Abend‹, sagte sie. ›Du darfst nicht denken, ich hätte die Absicht gehabt, dich zu betrügen. Es war sein letzter Tag, bevor er ins Feld ging, und er war so verzweifelt. Gerade der Gedanke an dich veranlaßte mich, nett und freundlich mit ihm zu sein. Zwei von unseren Mädchen gingen an dem Abend mit ihren Liebsten aus. Sie forderten mich auf mitzukommen, und auf die Art lernte ich ihn kennen. Alle drei waren Offiziere und Schulkameraden; alle drei aus London. Sie mußten am nächsten Tage nach Frankreich abgehen – gerade so wie du. Es kam mir unfreundlich vor, die Einladung abzulehnen.‹

Ich kämpfte eben mit Kragen und Kragenknöpfchen und versuchte, gleichzeitig sarkastisch zu sein. ›Ich verstehe,‹ sagte ich, ›unter diesen Umständen war das, was du tatest, ein Gebot der Höflichkeit ... O Gott!‹

›Hör' doch nur, wie es geschehen ist, Harry. Schrei' mich eine Minute lang nicht an. Nach dem Abendessen forderte er mich auf, in seine Wohnung mitzukommen. Er sagte, die anderen kämen auch; er schien mir ganz harmlos.‹

›Sehr harmlos!‹

›Er sah aus wie einer, der bestimmt getötet werden wird. Er tat mir leid. Er war so blond wie du, noch blonder, und alles schien anders an jenem Abend als sonst. Er nahm mich in die Arme und küßte mich. Ich wehrte mich, aber ich fand nicht die Kraft, ihn wirklich abzuschütteln. Ich war mir nicht ganz klar darüber, was ich tat.‹

›Nein, darüber warst du dir nicht klar! Das ist das erste Wort, das ich dir glaube.‹

›Du hast kein Mitleid mit mir, Harry, doch vielleicht ist das nur gerecht. Ich hätte die Gefahr voraussehen müssen. Aber wir sind nicht alle stark wie du. Es gibt Menschen, die hin und her gerissen werden, und mancher tut zuweilen etwas, was er im Grunde selbst verabscheut. Es war wie ein plötzliches Aufwachen, als ich begriff, was geschehen war. Er sagte, ich solle bei ihm bleiben; ich aber rannte aus seiner Wohnung weg. Und ich hab' ihn seither nicht wieder gesehen. Er hat mir zwar geschrieben, aber ich hab' ihm nicht geantwortet.‹

›Er wußte, daß du die Frau eines Soldaten bist.‹

›Ja, er wußte es. Er ist ein schlechter Kerl. Er hatte den Plan gefaßt, während wir beim Abendessen saßen, und dann hat er gebettelt und Versprechungen gemacht und gelogen. Er sagte, er wolle nur einen Kuß haben, einen einzigen Kuß zum Abschied. Und mit dem Kuß fing es an. Ich hatte Wein getrunken, und ich bin an Wein nicht gewöhnt. O Harry! Mein Junge, mein Mann, wenn ich nur gestorben wäre! Ehe ich dich kannte, Harry, habe ich mich auch mitunter von einem Jungen küssen lassen und hab' mit ihm herumgespielt. Ich fand das nicht so schlimm, auch diesmal nicht – bis es zu spät war.‹

›Bis es zu spät war!‹ wiederholte ich.

Ich setzte mich auf den Rand des Bettes und starrte in Hettys wildverzweifeltes Antlitz. Sie schien mir mit einem Male erbarmungswürdig und schön. ›Ich glaube, ich sollte hingehen und den niederträchtigen Kerl totschlagen‹, sagte ich. ›Ich verspüre aber noch größere Lust, dich umzubringen.‹

›Ja, töte mich‹, erwiderte sie. ›Es wäre mir nur recht.‹

›Wie heißt er? Und wo ist er jetzt?‹

›Laß ihn aus dem Spiel, er kommt überhaupt nicht in Betracht‹, sagte Hetty. ›Mich magst du vernichten, wenn du willst. Seinetwegen aber sollst du kein Verbrechen begehen, das wäre er nicht wert. Ich sage dir, er ist nichts. Er ist ein schmutziger Unfall, der mir zugestoßen ist.‹

›Du hast wohl Angst um ihn?‹

›Um ihn!‹ rief sie. ›Ich habe Angst um dich. Dich will ich beschützen.‹

Ich starrte sie an. Ein zweites Mal schwankte ich unentschlossen zwischen zwei verschiedenen Gefühlen, und wieder trug die Wut in mir den Sieg davon. ›Mein Gott!‹ schrie ich und wiederholte aufspringend mit noch lauterer Stimme: ›Mein Gott!‹ Und dann erging ich mich in neuen Schmähreden. ›Ich hab' mir das alles wohl selber zuzuschreiben. Wußte ich denn überhaupt etwas von dir, als ich dich heiratete? Wahrscheinlich war ich nicht der erste und wahrscheinlich wird er nicht der letzte sein. Was liegt dir an verschiedenen Namen? Du wirst wohl von Herzen froh gewesen sein, einen so dummen Kerl wie mich gefunden zu haben!‹ Und so weiter. Und während ich tobte, rannte ich aufs neue im Zimmer auf und ab.

Sie saß mit unordentlichem Haar und tränenerfüllten Augen im Bett und betrachtete mich still und traurig. ›O Harry, o mein Junge!‹ sagte sie immer wieder, indes meine plumpe Phantasie mich immer neue Vorwürfe und Schmähungen erfinden ließ. Von Zeit zu Zeit rannte ich zu ihr hin und beugte mich über sie. ›Seinen Namen sag' mir‹, schrie ich. Sie aber schüttelte den Kopf.

Endlich war ich fertig angekleidet. Ich sah auf die Uhr. ›Fünf‹, sagte ich.

›Was willst du tun?‹ fragte sie.

›Ich weiß nicht. Auf jeden Fall fortgehen. Hier kann ich nicht bleiben. Ich würde ersticken. Ich werde meine Sachen zusammenpacken und fortgehen. Irgendwo werde ich wohl eine Unterkunft finden. Es dämmert schon. Bleib' du nur liegen. Ich setze mich ins Nebenzimmer, bis es heller wird. Ich kann mich auch eine Weile aufs Sofa legen.‹

›Da draußen ist aber nicht eingeheizt,‹ sagte sie, ›und es ist kalt, die Asche ist noch nicht einmal aus dem Kamin gefegt. Und du mußt doch Kaffee trinken.‹

Sie blickte mich in kummervoller Besorgtheit an.

Und dann erhob sie sich schwerfällig aus dem Bett, schlüpfte in ihre Pantoffel und zog einen bunten Morgenrock an, der vor zehn Tagen noch unser beider Entzücken gewesen war. Demütig ging sie an mir vorbei, ihr armer, schwerer Körper schien müde. Sie holte etwas Holz herbei, kniete vor dem Kamin hin und begann die Asche vom vorhergehenden Tag herauszufegen. Ich tat nichts, sie daran zu hindern, sondern machte mich daran, meine Bücher und verschiedene mir gehörige Dinge, die ich mitzunehmen gedachte, zusammenzusuchen.

Langsam nur begann sie die Lage der Dinge zu erfassen. Mitten im Feueranzünden wandte sie sich fragend zu mir. ›Du wirst mir doch ein wenig Geld da lassen?‹ sagte sie.

Das war mir ein neuer Anlaß, sie zu schmähen. ›Ja, ja, ich werd' dir schon Geld da lassen‹, zischte ich höhnisch. ›Ich habe ja wohl die Verpflichtung, dich auszuhalten, bis ich nach dem Gesetz von dir losgekommen bin. Dann wird das seine Sache sein oder die des nächsten Liebhabers.‹

Sie beschäftigte sich mit dem Feuer, füllte den Wasserkessel und setzte ihn zum Kochen auf. Dann ließ sie sich auf einen Lehnstuhl neben dem Kamin nieder. Ihr Gesicht war blaß und zeigte einen Ausdruck der Erschöpfung, doch vergoß sie keine Tränen mehr. Ich ging zum Fenster, zog den Rolladen hoch und starrte auf die Straße hinaus, auf der die Laternen noch brannten. Alles war kahl und öde in der kalten, unheimlichen Farblosigkeit der ersten Dämmerung.

›Ich werde zu Mutter gehen‹, sagte sie und zog fröstelnd den Morgenrock fester um die Schultern. ›Es wird schrecklich für sie sein, wenn sie erfährt, was geschehen ist, aber sie ist gütig, gütiger als sonst irgendwer ... Ich werde zu ihr gehen.‹

›Du kannst gehen, wohin du willst‹, sagte ich.

›Harry!‹ sagte sie. ›Ich habe nie, niemals einen anderen Mann liebgehabt als dich. Wenn ich – das Kind töten könnte – wenn dir damit ein Gefallen geschähe –‹

Ihre Lippen waren weiß, indem sie sprach. ›Ich habe allerlei versucht. Zu einigen Mitteln aber, von denen ich hörte, konnte ich mich nicht entschließen. Und nun ist es schon ein lebendiges Wesen ...‹

Einige Augenblicke hindurch starrten wir einander schweigend an.

›Nein!‹ sagte ich schließlich. ›Ich kann mich nicht damit abfinden, ich kann es nicht ertragen. Und es ist nun nicht mehr zu ändern. Du schwindelst mir etwas vor. Wie soll ich wissen, was die Wahrheit ist? Du hast mich einmal betrogen und kannst mich immer wieder betrügen. Du hast dich diesem Schwein hingegeben, und wenn ich hundert Jahre alt werde, kann ich dir das nie verzeihen. Du hast dich ihm hingegeben. Wie kann ich wissen, ob nicht du ihn verführt hast? Du hast dich weggeworfen, du kannst gehen. Geh' dorthin, wo du dich entehren ließest. Es gibt Dinge, die ein anständiger Mann nicht vergeben kann, Dinge, die zu verzeihen schmählich wäre. Er hat dich mir gestohlen, du hast es zugelassen, nun mag er dich haben. Ich wünschte –. Wenn du nur einen Funken Ehrgefühl im Leibe hättest, so würdest du mich nicht zu dir haben zurückkommen lassen. Oh, an diese letzten zwei Wochen hier zu denken! Du – du – mit diesem Geheimnis auf dem Herzen! Wie schmutzig, pfui, wie schmutzig ist das Ganze! Du – die ich so geliebt habe!‹

Ich weinte.«

Sarnac hielt inne und starrte ins Feuer. »Ja,« hob er nach einer Weile wieder an, »ich weinte. Und – so erstaunlich es ist – nichts anderes als Mitleid mit mir selbst ließ mich diese Tränen vergießen.

All die Zeit betrachtete ich das, was geschehen war, nur von meinem Standpunkt aus. Für die Tragödie, die sich im Herzen Hettys abspielen mußte, war ich blind. Und das Groteske dabei war, daß sie mir inzwischen Kaffee kochte, und daß ich ihren Kaffee trank, als er fertig war. Am Ende wollte sie mir noch einen Kuß geben, einen Abschiedskuß, wie sie sagte. Ich aber stieß sie zurück. Ich schlug sie, als sie sich mir näherte. Eigentlich wollte ich sie nur von mir wegschieben, aber meine Hand schlug zu, eh' ich mich dessen versah. ›Harry!‹ flüsterte sie. Wie vom Donner gerührt stand sie da und sah zu, wie ich mich zu gehen anschickte, dann wandte sie sich plötzlich um und stürzte ins Schlafzimmer.

Ich schlug die Wohnungstür krachend zu, ging die Treppe hinunter und in die morgendlich leeren Straßen von Richmond hinaus; öde lagen sie im rosigen Licht der Dämmerung, kein einziger Wagen war noch zu sehen.

Ich trug meinen Koffer zu dem Bahnhof, von welchem aus ich nach London fahren wollte. Der Koffer war schwer, ich hatte eine Menge Dinge hineingestopft; ich schleppte ihn mühsam und fühlte mich dabei als tragisch schwer geprüfter, aber ehrenwerter Mann. Einer, der schweres Unrecht erlitten, seine Ehre aber gerettet hat.«

7

»Oh, ihr ärmsten Menschenkinder!« rief Stella. »Ihr ärmsten, bemitleidenswerten und mitleidslosen Geschöpfe! Diese Geschichte tut mir weh. Ich könnte sie nicht ertragen, wenn sie doch mehr wäre als ein Traum. Warum nur wart ihr alle so hart zueinander, ein jeder so taub gegen den Kummer des anderen?«

»Wir verstanden es nicht besser. Unsere heutige Welt ist gemäßigter. Mitleid und Nachsicht umgeben uns von unserer frühesten Kindheit an. Man erzieht uns dazu, an die anderen zu denken, man lehrt uns, fremden Schmerz nachzuempfinden. Vor zweitausend Jahren aber standen Männer und Frauen der rohen Natur noch sehr nahe; unsere Triebe packten uns, ehe wir uns dessen versahen. Wir atmeten verpestete Luft ein, unsere Nahrung war vergiftet, unsere Leidenschaften ergriffen uns wie ein böses Fieber. Wir fingen eben erst an, Menschlichkeit zu erlernen.«

»Aber hat denn nicht Fanny –?« begann Iris.

»Ja,« fiel Salaha ein, ›hat denn nicht Fanny, die doch mehr von Liebe wußte, dich belehrt und dich zu Hetty zurückgeschickt, damit du der Ärmsten verzeihen und ihr helfen mögest?«

»Fanny hörte nur meine Darstellung dessen, was geschehen war«, erwiderte Sarnac. »Den wirklichen Sachverhalt begriff sie erst, als es schon zu spät war, die Scheidungsklage zurückzuziehen. Ich erzählte ihr, Hetty habe, während ich draußen im Schützengraben stand, in London ein verworfenes Leben geführt; sie war wohl starr, als sie das vernahm, zweifelte aber nicht an meinen Worten.

›Und sie schien ein so liebes Geschöpf,‹ sagte Fanny, ›schien dich so innig zu lieben. Merkwürdig, wie verschieden geartet die Frauen doch sind. Und manche verwandeln sich, kaum daß man sie zehn Schritte weit an der nächsten Straßenecke aus dem Gesicht verliert. Ich habe deine Hetty wirklich lieb gehabt, Harry. Es war etwas Reizendes an ihr, was immer sie getan haben mag. Nicht im Traum wäre mir jemals eingefallen, zu denken, daß sie dich betrügen könnte. Unglaublich, in London herumzustreifen und sich mit fremden Männern einzulassen! Mir ist's so, als hätte sie auch mir die Schmach angetan.‹

Auch Matilda Good war voll herzlichen Mitgefühls. ›Eine Frau gerät gewöhnlich nicht nur einmal auf Abwege‹, sagte sie. ›Du tust ganz recht daran, ein Ende zu machen.‹ Die Miltons seien eben im Begriffe, auszuziehen, ich könne also, wenn ich wolle, das erste Stockwerk wieder für mich haben. Ich war nur zu froh, daß ich in mein altes Heim zurückkehren durfte.

Hetty packte vermutlich ihre Habe, so gut sie konnte, zusammen. Sie verließ Richmond und ging zu ihrer Mutter nach Payton Links, und dort wurde ihr Kind geboren.

Und nun«, fuhr Sarnac fort, »will ich euch sagen, was mich das Allerbemerkenswerteste in meiner Geschichte dünkt. Soweit ich mich erinnere, empfand ich all die Zeit von jener Nacht an bis zu meiner Scheidung kein einziges Mal Mitleid mit Hetty; nicht das geringste Wohlwollen, von Liebe gar nicht zu reden, regte sich in mir. Und trotzdem war ich in meinem Traum so ziemlich derselbe Mensch wie heute, ein Mann der gleichen Art wie jetzt. Beleidigter Stolz jedoch und eine wahnwitzige geschlechtliche Leidenschaft rissen mich zu einem Vorgehen hin, dessen Gehässigkeit uns heute kaum begreiflich ist. Ich tat, was ich konnte, um eine Form der Scheidung durchzusetzen, die Hetty geradezu zu einer Heirat mit Sumner – das war der Name des Mannes – zwang, denn ich hatte in Erfahrung gebracht, daß er ein Mensch von hoffnungslos schlechtem Charakter war, und dachte infolgedessen, er werde sie für alle Zeit unglücklich machen und ihr Leben völlig zerstören. Ich wollte sie zur Strafe in diese Heirat hineinhetzen, sie sollte bitter bereuen, was sie mir angetan hatte. Gleichzeitig aber brachte mich der Gedanke, daß er sie aufs neue besitzen sollte, an den Rand des Wahnsinns. Wenn meinen Wünschen Schöpferkraft verliehen gewesen wäre, so würde Hetty entstellt und krank zu Sumner zurückgekehrt sein. Nur unter den gräßlichsten Begleitumständen hätten sie zueinander gelangen dürfen!«

»Sarnac,« schrie Heliane, »wie konntest du so Entsetzliches auch nur träumen

»Träumen! So waren die Menschen, und so sind sie auch noch. Nur daß Erziehung und freies Glück uns erlöst haben. Achtzig Generationen bloß trennen uns von jenem Zeitalter der Verwirrung, und nicht mehr als ein paar tausend von dem haarigen Affenmenschen, der in den Urwäldern Europas den Mond anbellte. Damals herrschte der ›Alte Mann‹ in Sinnenlust und wildem Zorn über die Herde seiner Frauen und Kinder. Er ist unser aller Urvater. Im Zeitalter der Verwirrung, das auf die großen Kriege folgte, so wie auch heute, war und ist der Mensch ein Abkömmling des haarigen alten Affenmenschen. Muß ich mich nicht jeden Tag rasieren? Und arbeiten wir nicht unausgesetzt mit aller Kraft und allem Wissen, das uns zu Gebote steht, an Erziehungsformeln und Gesetzen, um das Tier in uns in Fesseln zu schlagen? Die Schulen aber in den Tagen des Harry Mortimer Smith waren noch nicht sehr weit hinaus über die Vorstellungen der Höhlenmenschen, die Wissenschaft begann eben erst zu keimen. Keinerlei sexuelle Erziehung wurde dem damaligen Menschen zuteil, er kannte nur Geheimhaltung und Verbote. Der Sittenkodex beruhte auf kaum verhüllter Eifersucht. Stolz und Selbstgefühl des Mannes waren immer noch aufs engste verknüpft mit dem körperlichen Besitz von Frauen – und durch eine Art Wechselwirkung waren auch der Stolz und das Selbstgefühl der meisten Frauen mit dem körperlichen Besitz eines Mannes verknüpft. Dieser Besitz war dem allgemeinen Empfinden nach der Grundpfeiler des ganzen Lebens. Wer immer in dieser Hinsicht irgendeine Enttäuschung erfuhr, fühlte sich über alle Maßen erniedrigt und suchte blind nach irgendeinem, oft ganz törichten und absonderlichen Trost. Wir Ärmsten, wir verbargen unser Mißgeschick, wir verzerrten es und stellten es in falschem Lichte dar und gingen meist einer ehrlichen Entscheidung der Sache aus dem Wege. Der Mensch ist ein Geschöpf, das unter jedweder Art von Bedrückung Haß und Bosheit in sich entwickelt, und wir damaligen Menschen standen allesamt in verschiedenster Hinsicht unter schwerem Druck.

Ich will aber Harry Mortimer Smith nicht weiter verteidigen. Er war, was die Welt aus ihm gemacht hatte – uns heute geht es nicht anders. In meinem Traume lebte ich in jener alten Welt, ich tat meine Arbeit, nahm mich äußerlich zusammen und verschwendete die ganze Kraft meiner verwundeten Liebe zu Hetty darauf, sie elend zu machen.

Und eines schien meinem verletzten Gemüt von besonderer Wichtigkeit: daß ich recht bald eine neue Liebste fände, um den Zauber der Umarmungen Hettys zu zerstören, das quälende Verlangen nach ihr in mir zu ertöten. Ich redete mir ein, daß ich sie niemals wirklich geliebt hätte, und ging daran, sie durch irgendeine andere Frau aus meinem Herzen zu verdrängen, eine Frau, die nunmehr angeblich wahre Liebe in mir zu erwecken imstande sein sollte. Ich suchte die Gesellschaft Milly Kimptons wieder auf, wir hatten vor dem Kriege recht gut zueinander gestanden, und es fiel mir nicht schwer, mir einzureden, daß ich seit jeher ein wenig in sie verliebt gewesen sei. Sie ihrerseits war tatsächlich seit langem recht sehr in mich verliebt. Ich erzählte ihr die Geschichte meiner Ehe, und sie war in meinem Namen verletzt und beleidigt und über alle Maßen empört über die Hetty, die ich ihr schilderte.

Eine Woche nach meiner Scheidung von Hetty heiratete sie mich.«

8

»Milly war treu und Milly war gütig. Bei ihr fand ich kühle Zuflucht vor den brennenden Qualen der Leidenschaft. Sie hatte ein offenes, ehrliches Gesicht, das niemals böse oder unzufrieden dreinsah; sie trug den Kopf hoch und lächelte in freundlicher Zuversicht und Selbstzufriedenheit zum Himmel empor. Sie war sehr blond und hatte recht breite Schultern für eine Frau. Sie war zärtlich, aber nicht leidenschaftlich; recht klugen Sinnes, interessierte sie sich für vielerlei, doch ohne dabei Temperament oder Eigenart an den Tag zu legen. Sie war fast ein und ein halbes Jahr älter als ich. Gleich bei meinem Eintritt in die Firma hatte sie für mich ungeschickten und unerfahrenen jungen Kerl ›eine große Vorliebe gefaßt‹, wie man zu sagen pflegte. Sie hatte mitangesehen, wie ich mich sehr rasch zur Stellung des Mr. Cheeseman im Redaktionsbüro hinaufgearbeitet hatte – dieser selbst war in die Druckerei versetzt worden –, und mir gelegentlich in freundschaftlicher Weise geholfen. Wir waren beide sehr beliebt im Thunderstone House, und als wir heirateten, wurde für Milly, die ihre Stellung im Kontor nunmehr aufgab, ein Abschiedsessen veranstaltet. Es wurden Reden gehalten, und man überreichte uns ein schönes Hochzeitsgeschenk, Silberbesteck in einem messingbeschlagenen Kasten aus Eichenholz, der eine schmeichelhafte Inschrift auf dem Deckel trug. Unter den Angestellten des Thunderstone House, besonders den Mädchen, hatte anläßlich meiner ersten Eheschließung herzliches Bedauern für Milly und große Empörung über mich geherrscht, und nun betrachtete man mein verspätetes Erkennen meines wahren Glücks als einen sehr romantischen und befriedigenden Abschluß der ganzen Geschichte.

Wir mieteten ein bequemes kleines Haus in einer zu einem einheitlichen Gebäudekomplex zusammengefaßten Gruppe von Einfamilienhäusern, die den Namen Chester Terrace trug und in nächster Nähe des Regent's Park, eines der inneren Parks von London, gelegen war. Milly besaß ein kleines Vermögen von fast zweitausend Pfund und konnte daher das Haus im Geschmack der Zeit recht hübsch einrichten. Und in diesem Heim gebar sie mir nach Ablauf eines Jahres einen Sohn, und ich trug meine ganz ehrliche Freude über die Ankunft des Jungen sehr nachdrücklich zur Schau. Ihr werdet verstehen, wie wichtig es mir in meinem krankhaften Bemühen, Hetty in mir zu überwinden, sie ganz und gar zu vergessen, war, daß Milly mir ein Kind schenkte.

Ich arbeitete sehr fleißig während des ersten Jahres meiner Ehe und fühlte mich im großen und ganzen glücklich. Doch war es kein sehr reiches, kein sehr tiefes Glücklichsein; es war ein hartes und ziemlich oberflächliches Gefühl der Befriedigung. In gewissem Sinne liebte ich Milly recht herzlich; ihr Wert stand außer Zweifel, sie war aufrichtig, liebevoll und freundlich. Sie hing sehr an mir, und meine ritterliche Artigkeit ihr gegenüber machte sie glücklich. Sie half mir, tat, was sie konnte, um mir das Leben behaglich zu machen, und freute sich über Frische und Kraft meiner Arbeitsleistungen. Trotzdem war ich niemals ganz ungezwungen offen mit ihr. Ich vermochte ihr gegenüber meine Empfindungen niemals ganz freimütig zu äußern. Stets paßte ich, was ich zu ihr sagte, ihren Gefühlen und Ansichten an, und diese waren in jeder Hinsicht durchaus anders geartet als die meinen. Sie war in jeder Beziehung eine ausgezeichnete Gattin, nur eines war sie mir nicht: der geliebte Gefährte, nach dem eines jeden Menschen Herz sich gierig sehnt, jener Gefährte, mit dem man sich glücklich, frei und sicher fühlt. Solch ein Lebenskamerad war mir ja begegnet, ich hatte ihn aber von mir gestoßen. Kann man zweimal in einem Leben solches Glück finden?«

»Ich weiß nicht«, sagte Heliane.

»Man muß sich hüten, es von sich zu stoßen«, meinte Beryll.

»Nach vielen Jahren vielleicht,« sagte Salaha, auf Sarnacs Frage eingehend, »wenn die Wunde geheilt und man selbst ein anderer geworden ist.«

»Milly und ich waren herzlich befreundet, wirkliche Kameraden aber waren wir nicht. Hetty hatte ich schon am Abend unseres ersten gemeinsam verbrachten Tages, jenes Tages, da wir miteinander über die Hügel gewandert waren, von Fanny erzählt, und ihr Herz hatte sich sofort Fanny zugewandt, Fanny war ihrer Phantasie als ein liebes und tapferes Geschöpf erschienen. Milly jedoch erzählte ich erst kurz vor unserer Heirat von Fanny. Diese ängstliche Scheu in mir könne nicht als ein Mangel Millys gelten, werdet ihr sagen, ohne Zweifel aber war sie ein Mangel unserer Beziehung. Es war auch völlig klar, daß Milly Fannys besondere Lebensumstände nur mir zuliebe als annehmbar gelten ließ, sich nur mir zuliebe einer scharfen Kritik enthielt. Milly war eine überzeugte Anhängerin der Institution der Ehe; jede unverheiratete Frau war ihrer Meinung nach zu einem Leben unbedingter Keuschheit moralisch verpflichtet. ›Ein Jammer, daß sie den Mann nicht heiraten kann‹, sagte sie im Vorgefühl kommender Schwierigkeiten. ›Wie peinlich für sie und für alle ihre Bekannten. Es muß doch zum Beispiel sehr schwierig sein, sie jemandem vorzustellen.‹

›Das mußt du ja nicht tun‹, meinte ich.

›Meine Leute sind sehr altmodisch, weißt du.‹

›Sie brauchen nichts davon zu erfahren.‹

›Ja, das wäre wirklich angenehmer für mich, Harry.‹

Ich stockte in der Schilderung meiner liebevollen Gefühle für Fanny, ernüchtert durch Millys offensichtliches Bemühen, die Sache mit großmütiger Nachsicht zu behandeln.

Noch schwieriger wurde es mir, ihr mitzuteilen, daß Newberry Fannys Geliebter war.

›Ach, auf diese Weise bist du also ins Thunderstone House gekommen?‹ fragte sie, als ich auch diese Eröffnung endlich über die Lippen gebracht hatte.

›Ja, durch Newberry bot sich mir diese Möglichkeit‹, gab ich zu.

›Ich hatte gemeint, du habest aus eigener Kraft deinen Weg gemacht.‹

›Das habe ich auch, sobald ich im Thunderstone House angestellt war. Ich bin nie begünstigt worden.‹

›Ja – aber – Glaubst du, daß die Leute wissen, wie du angestellt worden bist, Harry? Sie würden allerlei zu reden haben!‹

Sehr gescheit war Milly nicht, wie ihr seht. Nur um meine Ehre war sie ängstlich besorgt. ›Ich glaube nicht, daß irgend jemand davon weiß‹, sagte ich. ›Weder ich noch Fanny haben den Wunsch, das zu verbreiten.‹

Jedenfalls war es klar, daß Milly die Lage der Dinge als peinlich empfand. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn es Fanny nicht gegeben hätte. Sie hatte nicht den geringsten Wunsch, meine Schwester, die ich so sehr liebte, kennen zu lernen oder etwas Gutes an ihr zu finden. Den geplanten Besuch bei ihr schob sie eine ganze Woche hindurch immer wieder auf, und sie kam niemals von selbst auf Fanny zu sprechen, sondern überließ es mir, dieses Thema anzuschlagen. In allem und jedem war sie reizend und zuvorkommend, aber Fanny versuchte sie, soweit sie nur konnte, aus unserem Leben zu verbannen. Sie begriff nicht, daß dadurch ein gut Teil meines Empfindens ebenfalls in die Verbannung geschickt wurde.

Das Zusammentreffen der beiden war, als es endlich zustandekam, mehr zeremoniell als herzlich. Ich hatte ein Gefühl, als hätte sich ein die Wärme hemmender Vorhang nicht nur zwischen Milly und Fanny, sondern auch zwischen Fanny und mir gesenkt. Milly hatte sich ohne Zweifel vorgenommen, trotz der mißlichen Lage Fannys großmütig und freundlich zu sein, doch geriet sie, glaube ich, durch Fannys Kleidung und Einrichtung ein wenig aus der Fassung. Milly hatte nämlich eine Vorliebe für schöne Möbel, und ihr Interesse daran war in letzter Zeit, da wir uns bemüht hatten, unser Heim für eine ganz ansehnliche, aber doch nicht allzu große Summe so hübsch als möglich einzurichten, noch gewachsen. Ich hatte Fannys Möbel immer sehr hübsch gefunden, daß sie aber, wie Milly sich ausdrückte, ›unerhört fein‹ seien, war mir niemals aufgefallen. Sie besaß unter anderem eine Mahagonikommode. Von diesem Stück behauptete Milly nachher, es müsse an die hundert Pfund wert sein, und sie fügte einen jener Aussprüche hinzu, die man wie einen Spinnwebfaden empfindet, der einem plötzlich ins Gesicht geweht wird: ›Es scheint irgendwie ungerecht.‹

Auch Fannys einfaches Kleid war, nach Millys Bemerkungen zu schließen, zu fein und kostbar gewesen. In jenen Tagen, da den Menschen reichlich viel Material zur Verfügung stand, die Handfertigkeiten aber unzulänglich waren, kosteten nämlich die einfachsten Kleider am allermeisten.

All das jedoch wurde mir erst später klar. Während unseres Besuches begriff ich nicht recht, warum sich in Millys Gehaben ein leiser Unterton des Grolles zeigte, noch warum Fanny eine steife Liebenswürdigkeit zur Schau trug, die ich sonst durchaus nicht an ihr kannte.

›Wie schön, daß ich Sie endlich kennen lerne‹, sagte Fanny. ›Aus Gesprächen mit Harry weiß ich schon seit Jahren von Ihnen. Ich erinnere mich, daß er mir in Hampton Court das erste Mal von Ihnen erzählte, lange vor – lange vor dem Krieg – und allem anderen. Wir saßen miteinander unten am Flusse, und da begann er von Ihnen zu sprechen.‹

›Ja, ich erinnere mich auch daran‹, sagte ich, obgleich mir eigentlich der Milly betreffende Teil unseres damaligen Gespräches nicht im Gedächtnis haften geblieben war.

›Wir pflegten damals lange Spaziergänge miteinander zu machen‹, fuhr Fanny fort, ›er war der liebste Bruder, den man sich denken kann.‹

›Ich hoffe, das wird er immer bleiben‹, sagte Milly sehr freundlich.

›Ein Sohn ist ein Sohn, bis er eine Frau bekommt‹, meinte Fanny, ein altes Sprichwort zitierend.

›Oh, sagen Sie das nicht‹, entgegnete Milly. ›Ich hoffe, Sie werden uns recht oft besuchen.‹

›Das will ich gerne‹, sagte Fanny. ›Sie haben Glück gehabt, daß Sie unter den heutigen schwierigen Verhältnissen ein passendes Haus gefunden haben.‹

›Wir sind noch nicht ganz in Ordnung‹, sagte Milly. ›Aber sobald wir alles fertig haben, müssen wir einen Tag ausfindig machen, an dem Sie frei sind.‹

›Ich bin fast immer frei‹, erwiderte Fanny.

›Wir wollen einen bestimmten Tag vereinbaren‹, fuhr Milly fort, offensichtlich entschlossen, unerwartete Besuche Fannys und somit ihr Zusammentreffen mit anderen Leuten zu verhindern.

›Wie schön, daß Sie im Kontor angestellt waren und daher volles Verständnis für Harrys Arbeit haben‹, sagte Fanny.

›Meine Familie war gar nicht damit einverstanden, daß ich mir eine Stellung suchte,‹ sagte Milly, ›aber es war ein Glück, daß ich es tat.‹

›Ein Glück für Harry‹, meinte Fanny. ›Lebt Ihre Familie in London?‹

›Nein, in Dorset. Meine Eltern waren sehr dagegen, daß ich nach London ging. Sie sind ein wenig altmodisch und fromm, müssen Sie wissen. Aber ich habe ihnen gesagt, entweder ich studiere oder ich suche mir eine Stellung. Zuhause bleiben, Staub wischen und Blumen begießen, das mag ich nicht. Man muß zuweilen energisch sein mit seinen Leuten, finden Sie nicht auch? Glücklicherweise habe ich eine Tante in London, die mich gern aufnahm – allein hätte ich nicht wohnen dürfen, das wäre zu unschicklich gewesen. Und ich entschloß mich für eine Stellung in einem Geschäft anstatt für ein Studium, weil mein liebster Onkel, Onkel Hereward – er ist Vikar in Peddlebourne – gegen die höhere Bildung der Frauen ist. Und dann war auch die finanzielle Seite der Frage in Betracht zu ziehen.‹

›Wie interessant für Harry, Ihre Familie kennen zu lernen‹, meinte Fanny.

›Tante Rachel hat er vollkommen bestrickt,‹ sagte Milly, ›obwohl sie anfänglich sehr ablehnend war. Da ich nämlich der einzige Sproß der ganzen Familie Kimpton bin, hatten meine Leute ihre Ansprüche recht hoch gestellt und mir einen Gatten mit einem langen Stammbaum zugedacht.‹

Ich wunderte mich im stillen, daß Milly ihre Familie mit einem Male als weiß Gott wie vornehm hinstellte – ihr Vater war Tierarzt in Wimborne –, aber ich wußte eben noch nicht, daß solch eine anmaßende Haltung ihr in Anbetracht von Fannys schöner Kleidung und Einrichtung nötig schien.

Dann sprachen die beiden in etwas gezwungenem Ton von den hygienischen und gesellschaftlichen Vorzügen des Stadtviertels, in dem Milly und ich wohnten. ›Es ist für Besucher so leicht zu erreichen‹, sagte Milly. ›Und eine Menge interessanter Leute wohnt in unserer nächsten Nähe, Schauspieler, Kritiker und Schriftsteller. Selbstverständlich muß Harry jetzt immer mehr Leute aus der Welt der Kunst und Literatur kennen lernen. Ich denke, wir werden uns einen Empfangstag einrichten müssen, an dem die Leute zum Tee kommen. So etwas ist freilich recht mühsam, aber notwendig, müssen Sie wissen. Harry muß Leute kennen lernen.‹

Sie lächelte mir halb stolz, halb gönnerhaft zu.

›Harry kommt vorwärts in der Welt‹, sagte meine Schwester.

›Ja, es ist ganz wunderbar‹, sagte Milly. ›Sie haben einen wunderbaren Bruder an ihm.‹

Dann begann sie Fannys Wohnung zu loben, und Fanny schlug vor, ihr auch die anderen Zimmer zu zeigen. So blieb ich eine Weile allein; ich ging ans Fenster, starrte hinaus und wünschte mir dabei in der kindischen Art eines Mannes, die beiden möchten auf irgendeinem Wege dahin gelangen, ein wenig anders, ein wenig herzlicher miteinander zu sein. Liebten sie mich denn nicht beide? Und das sollte doch ein schwesterliches Band zwischen ihnen bedeuten!

Dann kam der Tee, einer jener wundervollen Tees, wie es sie bei Fanny gab. Ich aber war nicht mehr der heißhungrige Gast aus früheren Jahren. Milly lobte alles gleich einer Herzogin, die eine Staatsvisite macht.

›Ich fürchte,‹ sagte sie schließlich mit der Miene eines Menschen, dessen Zeit sehr in Anspruch genommen ist, ›wir müssen nun gehen ...‹

Ich hatte Fanny während der ganzen Dauer unseres Besuches genau beobachtet, und dabei hatte sich mir ein Vergleich zwischen der kühlen und zurückhaltenden Höflichkeit, die sie jetzt zeigte, und der natürlichen Herzlichkeit, mit der sie ein halbes Jahr früher Hetty empfangen hatte, aufgedrängt. Ich mußte unbedingt ein paar Worte mit ihr allein sprechen, und das sofort. Ich küßte sie zum Abschied – sogar ihr Kuß war anders als sonst –, auch Milly und sie küßten einander nach einem Augenblick des Zögerns; dann ging ich mit Milly die Treppe hinunter, und oben fiel die Tür ins Schloß. ›Ach, nun habe ich meine Handschuhe vergessen‹, sagte ich, als wir ein Stockwerk tiefer angelangt waren. ›Geh' du nur hinunter, ich bin sofort wieder bei dir.‹ Und ich lief die Treppe nochmals hinauf.

Fanny öffnete mir nicht sogleich.

›Was ist denn, Harry?‹ fragte sie, als sie endlich erschien.

›Meine Handschuhe‹, sagte ich. ›Ach nein! Da habe ich sie ja in der Tasche. Wie dumm von mir! ... Gefällt sie dir, Fanny? Du findest sie doch nett, nicht? Sie ist dir gegenüber ein wenig scheu, aber sie ist ein liebes Geschöpf.‹

Fanny sah mich an. Ihr Blick schien mir hart. ›O ja, sie ist sehr nett,‹ sagte sie, ›wirklich sehr nett. Und von ihr wirst du dich niemals scheiden lassen müssen, Harry.‹

›Ich – wollte so gerne wissen, wie du sie findest. Ich wäre so froh, wenn – wenn du sie lieb gewännest. Ich hatte das Gefühl, als ob du nicht recht warm geworden wärest mit ihr.‹

›Dummer, alter Harry!‹ sagte Fanny, plötzlich in ihren alten Ton fallend. Sie nahm mich in die Arme und küßte mich, sie war wieder die liebevolle Schwester.

Ich ging einige Stufen hinunter und wandte mich dann nochmals um.

›Es wäre mir schrecklich,‹ sagte ich, ›wenn du sie nicht nett fändest.‹

›Sie ist nett‹, sagte Fanny. ›Du kannst zufrieden sein, Harry, nur – für mich, weißt du, bedeutet es etwas wie einen Abschied. Ich werd' nicht viel mehr von dir haben, jetzt, wo du alle deine freie Zeit mit deiner Frau verbringen wirst. Und sie hat ja so viele noble Beziehungen und wird dich mit allen möglichen Leuten bekannt machen. Viel Glück, lieber alter Bruder! Oh, ich wünsche dir immer das Allerbeste!‹

In ihren Augen glänzten Tränen.

›Gott gebe, daß du glücklich wirst, Harry – auf deine Art. Es ist – es ist so anders ...‹

Sie brach ab, sie weinte.

Plötzlich schlug sie mir die Tür vor der Nase zu. Ich stand einen Augenblick lang verblüfft da, dann ging ich zu Milly hinunter.«


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