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Viertes Kapitel
Die Witwe Smith übersiedelt nach London

1

»Damals«, sagte Sarnac, »wurden die Toten zumeist in Särge gelegt und in der Erde begraben. Nur wenige wurden verbrannt, denn die Feuerbestattung war noch neu und stand im Widerspruch zu den sehr materialistischen religiösen Anschauungen jener Zeit. Ihr müßt nämlich wissen, daß die Menschen damals sich noch gutgläubig an ein Bekenntnis hielten, das ›die Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben‹ versprach. Die Masse der Bevölkerung Europas war in geistiger Hinsicht noch von dem alten Ägypten und seinen träumenden Mumien beherrscht, die christlichen Glaubensbekenntnisse selbst waren sozusagen Mumien aus dem alten Ägypten. Als bei uns einmal die Frage der Leichenverbrennung besprochen wurde, sagte mein Vater: ›Es könnte bei der Auferstehung etwas störend sein, gleichsam wie wenn man bei der Hochzeit keinen anständigen Anzug hätte ...‹

›Wohl gibt's auch Haifische‹, sagte mein Vater, dessen Denkweise manchmal etwas Sprunghaftes hatte. ›Und dann werden manche von Löwen aufgefressen. Gerade die besten christlichen Märtyrer sind seinerzeit von Löwen aufgefressen worden ... Die bekommen ihre Körper bestimmt wieder ...‹

›Und wenn einer einen neuen Körper bekommt, warum dann nicht auch ein anderer?‹ fragte mein Vater und schaute mit übergroßen Augen milde vor sich hin.

›Es ist eine schwierige Frage‹, entschied er sodann.

Jedenfalls dachte man in seinem Fall nicht an Verbrennung. Er wurde in einem Leichenwagen nach dem Friedhof gefahren; der Sarg stand vorne auf dieser Art von Wagen, und hinten konnten noch meine Mutter und Prue sitzen. Mein älterer Bruder Ernst, der zu diesem Anlaß aus London gekommen war, unser Onkel und ich gingen voraus, warteten beim Friedhofstor auf den Wagen und folgten dann dem Sarge bis zum Grabe. Wir trugen alle schwarze Kleider, sogar schwarze Handschuhe, obwohl wir jämmerlich arm waren.

›Das wird in dem Jahr nicht mein letzter Besuch an diesem Ort sein‹, sagte mein Onkel trübe; ›wenn's nämlich Adelaide so weiter treibt.‹

Ernst blieb stumm. Er mochte den Onkel nicht leiden und verhielt sich mürrisch gegen ihn. Seit dem Augenblick seiner Ankunft hatte er eine stetig wachsende Abneigung gegen das Vorhandensein des Onkels gezeigt.

›Es heißt, ein Leichenbegängnis bringt Glück‹, sagte der Onkel nach einer Weile, indem er einen fröhlicheren Ton anzuschlagen versuchte. ›Wenn ich die Augen offen halte, fliegt mir vielleicht was Gutes zu.‹

Ernst schwieg hartnäckig.

Wir folgten den Männern, die den Sarg zur Friedhofskapelle trugen, in einer kleinen Prozession, an deren Spitze Mr. Snapes in geistlichem Kleide schritt. Er begann Worte vorzulesen, die, wie ich begriff, schön und rührend waren und seltsame, weitab liegende Dinge betrafen: ›Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, ob er gleich stürbe ...‹

›Ich weiß, daß mein Erlöser lebt und daß er am Jüngsten Tage auf Erden erscheinen wird ...‹

›Wir haben nichts mitgebracht in diese Welt und werden sicherlich nichts mit uns nehmen. Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gepriesen.‹

Da vergaß ich mit einem Male die Hecheleien zwischen meinem Onkel und meinem Bruder, Zärtlichkeit für meinen Vater und Kummer um ihn überwältigten mich. Mit Heftigkeit erinnerte ich mich plötzlich seiner unbeholfenen Güte zu mir, und ich wurde mir bewußt, daß ich ihn für immer verloren hatte. Ich gedachte des Glücks vieler Sonntagsspaziergänge an seiner Seite, im Frühling, an goldenen Sommerabenden oder im Winter, wenn der Rauhreif im Dünenland jedes Zweiglein an den Hecken hervortreten ließ. Seine langen, erbaulichen Reden über Blumen, Kaninchen, Hügelabhänge und ferne Sterne kamen mir wieder in den Sinn. Und nun war er geschieden, nie mehr würde ich seine Stimme hören, nie mehr seine lieben, alten Augen sehen, wie sie, durch die Brillengläser vergrößert, maßlos verwundert in die Welt schauten. Und nie mehr würde ich ihm sagen können, wie lieb ich ihn hätte. Ich hatte ihm nie gesagt, daß ich ihn liebte; bis zu diesem Augenblick war es mir niemals zum Bewußtsein gekommen. Und jetzt lag er starr, still und demütig in seinem Sarge, ein Ausgestoßener. Das Leben hatte ihm übel mitgespielt, kein bißchen Glück war ihm zuteil geworden. Meine Einsicht steigerte sich in diesem Augenblick weit über meine Jahre hinaus, und ich erkannte, daß sein ganzes Dasein eine Kette kleinlicher Demütigungen, Enttäuschungen und Herabwürdigungen gewesen war. So klar wie heute erfaßte ich mit einem Male den ungeheuren Jammer eines solchen Lebens. Schmerz überwältigte mich, und ich weinte, während ich hinter dem Sarge her stolperte. Nur mit größter Mühe zwang ich mich, nicht laut aufzuschluchzen.«

2

»Nach dem Begräbnis hatten mein Bruder Ernst und mein Onkel einen heftigen Streit über die Zukunft meiner Mutter. Da Tante Adelaide nichts mehr leisten konnte, schlug der Onkel vor, daß man den größten Teil seiner Einrichtung verkaufe; er wolle ›sein Vermögen‹ in das Gemüsegeschäft stecken und zu seiner Schwester ziehen. Ernst aber erklärte den Gemüsehandel für ein schlechtes Geschäft und war dafür, daß Mutter nach Cliffstone ziehe, wo sie Zimmer vermieten könne; Prue werde dabei eine prächtige Hilfe sein. Dem widersetzte sich Onkel zuerst, dann ging er auf diesen Plan ein, jedoch unter der Bedingung, daß er am Gewinn beteiligt sei. Das lehnte Ernst aber ab, indem er ziemlich grob fragte, welche Hilfe der Onkel wohl beim Zimmervermieten zu leisten gedächte. ›Gar keine,‹ sagte er, ›da du nie vor zehn aufstehst.‹ Woher er das wisse, erwähnte er nicht.

Ernst lebte in London, wo er in einer Garage beschäftigt war. Er fuhr Mietswagen, die fallweise oder für einen ganzen Monat vergeben wurden. Der Respekt vor den oberen Ständen war ihm irgendwie abhanden gekommen, und die Würde des Sir John Cuthbertson, die der Onkel nachäffte, erweckte in ihm nur kalte Verachtung. ›Meine Mutter wird nicht für dich arbeiten und dich bedienen, das ist sicher‹, sagte er.

Während dieses Streites machte meine Mutter mit Prues Hilfe eine kalte Mahlzeit zurecht; eine solche war nämlich in jenen Tagen die angenehme Seite jedes Begräbnisses. Es gab kalten Schinken und Huhn. Der Onkel verließ nun seinen dominierenden Platz – er war bisher auf dem von Vater verfertigten Kaminteppich gestanden –, und wir setzten uns alle zu dem außergewöhnlichen Mahl.

Eine kleine Weile hindurch schufen Schinken und Huhn eine Art Waffenstillstand zwischen Ernst und dem Onkel. Bald aber seufzte Onkel, trank sein Bier aus und eröffnete die Diskussion aufs neue. ›Ich finde, Martha,‹ sagte er, indem er eine Kartoffel mit der Gabel säuberlich von der Schüssel spießte, ›daß du auch ein Wort mitreden solltest bei der Entscheidung über deine Zukunft. Ich und dieser junge Mann aus London sind nicht ganz einig darüber, was du am besten tätest.‹

Aus dem Ausdruck des bleichen Gesichts meiner Mutter, aus einer Blässe der Erregung, die durch die Witwenhaube noch verstärkt schien, wurde mir plötzlich klar, daß sie nicht nur überhaupt ein Wort in der Angelegenheit, sondern sogar ein sehr entscheidendes mitzureden gedachte. Ehe sie aber den Mund auftun konnte, fuhr Ernst dazwischen.

›Siehst du, Mutter,‹ sagte er, ›etwas mußt du unternehmen, nicht wahr?‹

Meine Mutter wollte etwas erwidern, doch Ernst nahm ihre Zustimmung vorweg und fuhr fort: ›Da frage ich mich nun selbstverständlich, was du wohl unternehmen könntest, und die Antwort lautet ebenso selbstverständlich: Zimmer vermieten. Beim Gemüsehandel kannst du nicht bleiben, das ist keine Beschäftigung für eine Frau, weil schwere Lasten, Kohlen und so weiter zu heben sind.‹

›Das wird schon gehen,‹ sagte der Onkel, ›wenn eben ein Mann ihr hilft.‹

›Ein Mann, ja, wenn's wirklich einer ist‹, sagte Ernst sarkastisch.

›Das heißt –?‹ fragte der Onkel von oben herab.

›Was ich eben sage, nicht mehr und nicht weniger‹, war die Antwort. ›Wenn du also auf mich hörst, Mutter, wollen wir folgendes tun. Du gehst morgen früh nach Cliffstone und schaust dich nach einem passenden kleinen Haus um, groß genug, daß du Mieter aufnehmen kannst, aber doch nicht so groß, daß die Arbeit dich zugrunde richtet. Und ich gehe zu Mr. Bulstrode und bespreche mit ihm, daß du von hier ausziehen willst. Dann werden wir wissen, woran wir sind.‹

Wieder versuchte die Mutter etwas zu sagen, kam aber nicht zu Wort.

›Wenn du glaubst, daß ich mich hier als ein Niemand behandeln lasse,‹ sagte der Onkel, ›dann bist du sehr im Irrtum. Verstanden? Nun hör' auf mich, Martha –‹ ›Halt' den Mund!‹ unterbrach ihn Ernst. ›Ich hab' mich vor allem um Mutter zu kümmern, ich und wiederum ich.'

Halt' den Mund!‹ wiederholte der Onkel. ›Was für Manieren! Bei einem Leichenbegängnis. Ein Bursch', der kein Drittel so alt ist wie ich, ein dummer Junge, der so daher schwätzt. Halt' den Mund! Du halt' den Mund, mein Lieber, und hör' auf die, die etwas mehr vom Leben wissen als du. Du hast in früheren Jahren manches Kopfstück von mir gekriegt, nicht nur eins oder zwei; und ich hab' dich tüchtig vorgenommen, als du mir damals die Pfirsiche geklaut hattest – was dir nur gut getan hat. Krumm und lahm hätt' ich dich prügeln sollen. Wir sind nie sehr gut miteinander ausgekommen, und wenn du nicht in höflichem Ton mit mir redest, dann wird's fortan gar nicht gehen zwischen uns.‹

›In Anbetracht dessen‹, sagte Ernst mit drohender Ruhe, ›wird es für alle Beteiligten um so besser sein, je früher du dich aus dem Staube machst.‹

›Ich denke nicht daran, die Angelegenheiten meiner Schwester in den Händen eines grünen Jungen zu lassen, wie du einer bist.‹

Wieder versuchte die Mutter dazwischen zu reden, doch die zornigen Stimmen beachteten sie nicht.

›Ich sag' dir, du hast hier nichts zu suchen, und wenn du nicht von selber gehst, dann werd' ich dir zur Tür hinaushelfen müssen.‹

›Bedenkt, daß ihr in Trauer seid‹, sagte Mutter. ›Und außerdem –‹

Doch nun waren beide zu erregt, um auf sie zu hören. ›Du nimmst den Mund recht voll,‹ sagte Onkel, ›aber bau' nicht zu sehr auf meine Nachsicht. Ich hab' nun bald genug.‹

›Ich auch‹, sagte Ernst und erhob sich.

Der Onkel stand ebenfalls auf, und sie starrten einander ins Gesicht.

›Dort ist die Tür‹, sagte mein Bruder finster.

Der Onkel ging auf seinen gewohnten Platz auf dem Kaminteppich zurück. ›Wir wollen an einem Tag wie diesem nicht streiten‹, sagte er. ›Wenn du schon keine Rücksicht für deine Mutter übrig hast, so könntest du wenigstens an den Heimgegangenen denken. Ich bin nur in der Absicht hier, die Dinge so einzurichten, wie es für alle am besten ist. Und ich sage dir, die Idee, daß deine Mutter allein, ohne männliche Hilfe, Zimmer vermieten soll, ist lächerlich, einfach lächerlich. Und nur so ein unbedachter junger Esel –‹

Ernst ging auf den Onkel zu und blieb dicht vor ihm stehen. ›Jetzt ist's genug‹, sagte er. ›Die Sache wird zwischen mir und Mutter ausgemacht, und du hast zu gehen. Verstanden?‹

Wieder wollte Mutter sprechen, Ernst aber schnitt ihr abermals die Rede ab: ›Laß mich nur machen, Mutter. Wird's bald, Onkel?‹

Der Onkel trotzte dieser Drohung. ›Ich habe Pflichten gegen meine Schwester –‹

Daraufhin, muß ich euch leider sagen, legte Ernst Hand an ihn. Er faßte ihn am Kragen und beim Handgelenk, und einen Augenblick lang schwankten die beiden schwarzgekleideten Gestalten.

›Laß meinen Rock aus‹, schrie der Onkel. ›Laß meinen Rockkragen aus.‹

Aber die Wut trieb meinen Bruder zur Gewalt. Mutter, Prue und ich waren ganz entsetzt.

›Erni,‹ rief Mutter, ›du vergißt dich.‹

›Schon gut, Mutter‹, sagte Ernst und beförderte den Onkel gewaltsam vom Kaminteppich bis zur Treppe. Dann ließ er das Handgelenk des Onkels fahren, packte ihn beim schwarzen Hosenboden, und ihn hochhebend, zwang er ihn die Treppe hinauf. Der Onkel fuchtelte mit den Armen wild durch die Luft, gleichsam als wolle er seine verlorene Würde wieder erfassen.

›John,‹ rief die Mutter, ›hier ist dein Hut.‹

Ich sah einen Augenblick lang die Augen des Onkels, als er die Treppe hinauf verschwand – sie schienen den Hut zu suchen. Er leistete der Behandlung, die ihm widerfuhr, keinen ernstlichen Widerstand mehr.

›Gib ihm den Hut, Harry,‹ sagte Mutter, ›und hier sind auch seine Handschuhe.‹

Ich nahm den schwarzen Hut und die schwarzen Handschuhe und folgte den Ringenden die Treppe hinauf. Verblüfft und widerstandslos ließ sich der Onkel zur Eingangstür und auf die Straße hinaus drängen und stand dann keuchend da und blickte Ernst an. Sein Kragen war aufgegangen und seine schwarze Krawatte in Unordnung geraten. Auch Ernst atmete schwer. ›Nun geh und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten‹, sagte er.

Ernst fuhr zusammen, als ich mich an ihm vorbeidrängte. ›Hier sind deine Handschuhe und dein Hut, Onkel‹, sagte ich und reichte sie ihm. Er nahm sie mechanisch, den Blick immer noch starr auf Ernst gerichtet.

›Und du bist der Junge, mit dem ich mir solche Mühe gegeben habe, um einen anständigen Menschen aus ihm zu machen‹, sagte er sehr bitter. ›Ich hab' jedenfalls getan, was ich konnte. Du bist der kleine Wurm, der sich in meinem Garten gemästet hat, dem ich so viel Güte erwiesen habe. Ja, Dankbarkeit!‹

Er betrachtete eine Weile den Hut, den er in der Hand hielt, als ob er ein ihm unbekannter Gegenstand wäre. Dann kam er auf den glücklichen Gedanken, ihn aufzusetzen.

›Gott helfe deiner armen Mutter‹, sagte mein Onkel John Julip. ›Gott helfe ihr.‹

Das war sein letztes Wort. Er blickte die Straße hinauf und hinunter und wandte sich dann, wie von unsichtbarer Hand geführt, in die Richtung des Wellington-Wirtshauses. Auf diese Weise wurde mein Onkel John Julip am Begräbnistag meines Vaters auf die Straße gesetzt, schon halb Witwer und ein erbärmliches und unglückliches Männchen. Noch heute quält mich die Erinnerung an die schäbige, schwarzgekleidete Gestalt. Selbst von hinten sah er ganz verblüfft aus; nie hat ein Mann so sehr den Eindruck eines Verprügelten gemacht, ohne wirklich Prügel bekommen zu haben. Ich sah ihn nicht wieder. Zweifellos hat er seinen Schmerz ins ›Wellington‹ getragen und sich tüchtig besoffen. Und zweifellos hat er dabei meinen Vater furchtbar vermißt.

Mein Bruder Ernst kam nachdenklich in die Küche zurück. Schon war er etwas beschämt über seine Heftigkeit. Ich ging voll Respekt hinter ihm her.

›Das hättest du nicht tun sollen‹, sagte die Mutter. ›Hat er ein Recht, sich dir aufzudrängen, damit du ihn pflegst und aushältst?‹

›Gar nicht aufgedrängt‹, entgegnete die Mutter. ›Du kommst in Hitze, Erni, es war immer so mit dir, und dann willst du nichts hören.‹

›Ich hab' Onkel nie mögen‹, sagte er.

›Wenn du in Hitze kommst, dann scheinst du alles zu vergessen‹, sagte die Mutter. ›Du hättest daran denken können, daß er mein Bruder ist.‹

›Ein schöner Bruder‹, erwiderte Erni. ›Wie? Wer hat mit der ganzen Stehlerei angefangen? Wer hat den armen Vater zum Trinken und Wetten verleitet?‹

›Ganz gleich,‹ sagte Mutter, ›so hättest du ihn nicht behandeln dürfen. Und dein Vater ist kaum unter der Erde!‹ Sie weinte. Sie zog ein schwarzgerändertes Taschentuch hervor und wischte sich die Augen. ›Ich hatte gehofft, der arme Vater würde ein schönes Begräbnis haben – die viele Mühe und das viele Geld! Und jetzt hast du's verdorben. Ich werde keine schöne Erinnerung an den Tag behalten, und wenn ich hundert Jahre alt werde, immer werde ich daran denken müssen, daß du Vaters Begräbnis verdorben hast. So über den Onkel herzufallen!‹

Ernst ging nicht auf ihre Vorwürfe ein. ›Warum hat er gestritten? Warum war er nicht still?‹ fragte er.

›Und alles so unnütz! Immerfort habe ich versucht, euch zu sagen, ihr sollt euch um mich nicht kümmern. Ich will nicht in Cliffstone Zimmer vermieten – weder ohne den Onkel, noch mit dem Onkel. Letzten Dienstag schrieb ich an Matilda Good, und alles ist mit ihr abgemacht, alles. Die Sache ist abgemacht.‹

›Wieso?‹ fragte Ernst.

›Nun, sie hat das Haus in Pimlico. Seit langem sucht sie eine verläßliche Hilfe, denn mit ihren Krampfadern treppauf, treppab und dies und jenes – kaum hatte sie meinen Brief über den armen, lieben Vater, da schrieb sie an mich. »Du sollst nie um ein Heim verlegen sein,« schreibt sie, »so lange ich einen Mieter habe. Du und Prue sind mir willkommen als Hilfe, und der Junge kann hier leicht Arbeit finden, viel leichter als in Cliffstone.« Immerfort, während ihr vom Zimmervermieten und dergleichen geredet habt, versuchte ich euch zu sagen –‹

›Das ist wirklich abgemacht?‹

›Jawohl.‹

›Und was tust du mit deinen paar Möbeln hier?‹

›Manches verkaufen, manches mitnehmen.‹

›Das läßt sich machen‹, sagte Ernst nach einiger Überlegung.

›Ja, dann hätte das eigentlich nicht sein müssen,‹ fuhr er nach einer Pause fort, ›diese ganze Streiterei zwischen mir und dem Onkel?‹

Meinetwegen sicher nicht‹, sagte Mutter.

›Na, geschehen ist geschehen‹, sagte Ernst nach einer weiteren Pause und ohne sichtbares Zeichen von Reue.«

3

»Wenn mein Traum wirklich ein Traum war,« sagte Sarnac, »dann war es ein höchst umständlicher Traum. Ich könnte euch hundert Einzelheiten unserer Reise nach London erzählen, könnte euch berichten, was mit den ärmlichen Einrichtungsgegenständen unserer Wohnung in Cherry Gardens geschah. Jede Einzelheit würde seltsame und aufschlußreiche Unterschiede zwischen unseren Anschauungen und denen jener fernen Tage aufzeigen. Bruder Ernst, herrschsüchtig und reizbar, ging uns an die Hand. Er hatte eine Woche Urlaub von seinem Arbeitgeber bekommen, um Mutter bei der Ordnung ihrer Angelegenheiten behilflich zu sein; und meine Mutter setzte es, glaube ich, während dieser Zeit unter anderm auch durch, daß er sich mit dem Onkel wieder aussöhnte. Von dieser bedeutsamen Szene weiß ich jedoch nichts, ich wohnte ihr nicht bei, ich hörte nur im Zug nach London davon sprechen. Gerne würde ich euch auch von dem Mann erzählen, der den größten Teil unserer Möbel kaufte, darunter auch das schwarz-rot gestreifte Sofa, das ich euch geschildert habe. Er und mein Bruder hatten einen lauten und erregten Wortwechsel über eine schadhafte Stelle an einem der Sofabeine. Mr. Crosby erschien und wies eine Rechnung vor, auf deren Bezahlung er, wie meine Mutter geglaubt, Fanny zuliebe längst verzichtet hatte. Es gab auch Streit zwischen meinem Bruder und unserem Hausherrn, Mr. Bulstrode, über etwas, was ›Inventarbeschädigung‹ hieß, wobei es fast zu Tätlichkeiten kam. Der Hausherr behauptete, daß wir sein Gebäude beschädigt hätten; er erhob phantastische Schadenersatzansprüche und mußte mit einiger Heftigkeit abgewiesen werden. Schließlich hatten wir Schwierigkeiten wegen der Beförderung unseres Gepäcks zum Bahnhof, und als wir am Viktoria-Bahnhof, der Londoner Endstation, ankamen, blieb Ernst, wie mir schien, nichts anderes übrig, als mit einem Gepäckträger – ihr habt wohl schon von Gepäckträgern gelesen? – einen Kampf zu bestehen, worauf wir dann anständig bedient wurden.

Doch kann ich euch alle diese kuriosen und bezeichnenden Vorfälle jetzt nicht erzählen, denn sonst wären unsere Ferien vorbei, ehe ich mit meiner Geschichte zu Ende komme. Ich muß euch jetzt von London, jener großen Stadt, berichten – es war damals die größte Stadt der Welt –, in die das Schicksal uns nunmehr verpflanzte. Fortan ist London der Schauplatz meiner Geschichte, abgesehen von ungefähr zweieinhalb Jahren, die ich während des ersten Weltkrieges bei der Militärabrichtung und dann in Frankreich und Deutschland verbrachte. Ihr wißt, was London war: eine ungeheure Ansammlung von Menschen. Ihr wißt, daß innerhalb eines Durchmessers von fünfzehn Meilen eine Bevölkerung von siebeneinhalb Millionen zusammengepfercht war, Geschöpfe, die zur Unzeit in eine für sie schlecht bereitete Welt hinein geboren worden waren, geboren meist infolge der Unbelehrtheit ihrer Erzeuger, und zusammengepfercht auf einer Fläche ziemlich reizlosen Lehmbodens durch den drückenden Zwang, ihr Leben zu fristen. Und ihr wißt, welch scheußliches Schicksal diese frevelhafte Anhäufung von Menschen schließlich ereilte. Ihr habt von Westend und von den Slums gelesen und habt im Film das Gewühle in den Straßen jener Tage gesehen, die Scharen müßiger Gaffer sowie den mächtigen Verkehr von plumpen Automobilen und bedauernswerten Pferden in engen und unzulänglichen Gassen, und euer Gesamteindruck ist wohl wie ein Alb von Menschenmassen, eine erstickende Verkörperung von Gedränge und Unbehagen, von Unreinlichkeit, von einer unerträglichen Anstrengung der Augen, Ohren und Nerven. Der Geschichtsunterricht unserer Kindheit erweckt sehr lebhaft diese Vorstellung.

Obwohl alles tatsächlich genau so war, wie man uns lehrt, habe ich durchaus nicht in Erinnerung, daß ich mich in London so elend gefühlt hätte, wie ihr's vermuten werdet. Ich erinnere mich vielmehr sehr genau, mit welcher Abenteuerlust, mit welcher geistigen Erregung ich diese Stadt bestaunte; ich fand London schön. Ihr müßt bedenken, daß ich in diesem meinem seltsamen Traum alle unsere gegenwärtigen Maße vergessen hatte; ich ließ Schmutz und Verwirrung als in der Natur der Dinge begründet gelten. Der Anblick der Stadt, ihre wunderbare Riesengröße, eine gewisse wechselnde, hie und da plötzlich auftauchende Schönheit erhoben sich aus dem Meer des Kampfes und der Beschränkung, wie eine Silberbirke aus dem Sumpf emporwächst, der sie trägt.

Der Teil Londons, in den wir zogen, hieß Pimlico. Er war am Fluß gelegen, es hatte dort dereinst eine Werft gegeben, wo amerikanische Schiffe nach der Fahrt über den Atlantischen Ozean zu landen pflegten. Der Name Pimlico war nebst allerlei Handelsgütern von diesen Schiffen herübergebracht worden; zu meiner Zeit war es das einzige noch erhaltene Wort der Sprache der Algonquin-Indianer, die damals schon völlig von der Erde verschwunden waren. Die Pimlico-Werft gab es nicht mehr, der amerikanische Handel war in Vergessenheit geraten, und Pimlico war nunmehr ein großes Straßengewirr mit schmutziggrauen Häusern, in denen meist ärmliche Leute wohnten, die Zimmer vermieteten. Die Häuser waren ursprünglich nicht für diesen Zweck erbaut worden. Die Außenseite war mit Kalkmörtel beworfen, den man Stuck nannte und der Stein vortäuschen sollte; jedes Haus hatte ein tiefliegendes Erdgeschoß, das ursprünglich für die Dienerschaft bestimmt gewesen war, eine Tür mit einer Säulenhalle und mehrere Stockwerke, zu denen man auf einer Treppe emporstieg. Neben jeder Säulenhalle lief eine mit einem Gitter versehene Erdvertiefung die Hausfront entlang, wodurch die Vorderzimmer des tiefliegenden Erdgeschosses Licht erhielten. Ging man durch die Straßen von Pimlico, so bot sich einem der Anblick endloser Reihen solcher Häuser, und jedes von ihnen beherbergte etwa zehn oder zwölf irregeleitete, unvollkommene und recht unsaubere Bewohner, Menschen, die geistig und moralisch krank waren. Über den schmutzigen, grauen Gebäuden hing Dunst oder Nebel, nur selten schien die liebe Sonne auf sie. Da und dort sah man einen Krämer, Gemüsehändler oder Fischeverkäufer seine Ware über das Gitter den unterirdischen Hausbewohnern hineinreichen, oder es guckte eine Katze durch die Gitterstäbe – es gab damals eine Unmenge Katzen –, wohl auf der Hut, ob nicht ein Hund vorbeilaufe. Man sah nur wenige Fußgänger, hie und da fuhren Droschken durch die Straßen, morgens kam ein Müllwagen, der die Abfälle sammelte – man stellte den Kehricht in Kisten oder Blechgefäßen an den Rand des Fußwegs hinaus, so daß der Wind den Unrat in die Luft wirbeln konnte –, oder ein Mann in Uniform reinigte die Straßen mit Hilfe eines Wasserschlauchs. Die trostloseste Stätte, die ihr euch vorstellen könnt, nicht wahr? Und doch war sie so trostlos nicht, wenngleich ich euch das kaum klar machen kann. Ich wanderte durch Pimlico und fand es recht schön und unendlich interessant. Ihr müßt mir glauben: Am frühen Morgen schien es, mir zumindest, groß in seiner grauen Weite und würdevoll. Später allerdings fand ich diese typische Bauweise Londons in Belgravia und in der Gegend des Regent's Parks weit besser ausgeführt.

Ich muß zugeben, daß es mich aus den Gassen und Plätzen dieses Wohnviertels hinauszog in die Straßen, wo es Geschäfte und Wagen gab, oder auf den Kai längs der Themse. Vor allem lockten mich die grell beleuchteten Schaufenster, wenn es zu dämmern begann, und so seltsam es euch scheinen mag, meine Erinnerung an solche Spaziergänge ist reich an Schönheit. Wir schwächlichen Kinder jenes Zeitalters der Menschenschwärme müssen, glaube ich, einen fast krankhaften Herdentrieb in uns gehabt haben; wir fühlten uns froh und sicher in einem Menschengedränge; allein zu sein, war uns tatsächlich unangenehm. Meine Eindrücke von London, von dem seltsamen Reiz dieser Stadt sind, ich muß gestehen, zumeist Erinnerungen an dichte Menschenmassen, an ein Getriebe, wie die Welt es heute nicht mehr kennt, oder zumindest Eindrücke, zu denen ein von Menschen erfüllter Vorder- oder Hintergrund gehört. Trotzdem waren sie schön.

Nicht weit von uns gab es zum Beispiel einen großen Bahnhof, die Endstation einer Eisenbahnlinie. Vor dem Bahnhof war ein großer, unordentlicher Hof, in dem sich Mietautomobile und Omnibusse stauten; immer wieder kamen welche, und andere fuhren ab. Im Zwielicht eines Herbstabends war dieser Hof eine bewegte Masse schwarzer Schatten und schimmernder Lichter, und mittendurch strömten in endloser Folge hüpfende schwarze Hüte, Fußgänger, die zu den Zügen hasteten. Wenn sie an den Laternen vorbeieilten, sah man einen Augenblick ihre Gesichter im Lichtschein aufschimmern und dann wieder verschwinden. Hinter diesem Hof erhoben sich die großen bräunlichgrauen Umrisse des Bahnhofsgebäudes und die Fassade eines riesigen Hotels, die den Lichtschein drunten widerspiegelte und da und dort von einem erleuchteten Fenster unterbrochen wurde; dahinter sah man den Himmel, der sich scharf abhob, blau noch und hell, ruhig und fern. Und die zahllosen Geräusche, die Menschen und Fahrzeuge verursachten, verschmolzen zu einem tiefen, wundersamen und stets wechselnden Gedröhne. Schon als Knabe war ich überzeugt davon, daß Einheitlichkeit und Sinn in diesem Schauspiel seien.

Auch die Geschäftsstraßen schienen mir wunderbar und schön, sobald das nüchterne und erbarmungslose Tageslicht zu verblassen begann. Die zahlreichen Lichter in den Schaufenstern, in denen die mannigfaltigsten Dinge zum Verkaufe ausgestellt waren, erzeugten einen seltsamen Widerschein auf Fußwegen und Fahrdamm; besonders wenn Regen oder Nebel den Boden naß gemacht hatte, sahen die Lichtreflexe darauf wie Edelsteine aus. Eine dieser Straßen – sie hieß Lupus Street, doch kann ich nicht begreifen, warum sie wohl den Namen einer abscheulichen Hautkrankheit führte, die nun längst von der Erde verschwunden ist, – befand sich in nächster Nähe unseres neuen Heims, und ich weiß noch genau, welch romantischen Eindruck sie mir machte. Am Tage war es eine außerordentlich schmutzige Straße, und spät in der Nacht war sie leer, und es widerhallte in ihr. In den magischen Stunden Londons aber glich sie einem Beet voll schwarzer und leuchtender Blumen, die zahlreichen Fußgänger wurden schwarze Kobolde, und mittendurch schwankten die großen schimmernden Omnibusse, die Schiffe der Straße, von Licht erfüllt und Licht widerspiegelnd.

Die Ufer des Flusses waren reich an Schönheit. Der Fluß hatte Ebbe und Flut und wurde durch einen Steinkai eingedämmt. Die Straße längs dieses Kais war am Rande des Fußweges mit Platanen bepflanzt und durch große elektrische Lampen auf hohen Pfosten beleuchtet. Diese Platanen gehörten zu den wenigen Bäumen, die in der trüben Luft Londons gediehen, doch taugten sie schlecht für eine dichtbevölkerte Stadt, denn sie sondern winzige Staubteilchen ab, die dem Menschen ein Kratzen im Halse verursachen. Das wußte ich aber nicht; ich wußte nur, daß die Schatten der Blätter im grellen elektrischen Licht die wunderbarsten Muster auf das Pflaster zeichneten, die ich je gesehen. An warmen Abenden ging ich längs des Kais spazieren und freute mich an ihnen, besonders wenn dann und wann ein leichter Windhauch sie tanzen und zittern machte.

Von Pimlico aus konnte man diesen Themsekai entlang meilenweit nach Osten wandern. Stellenweise sprang der Damm etwas vor, und Öllampen baumelten an diesen schwarzen Vorsprüngen. Die Kähne und Dampfer auf dem Fluß schienen mir höchst geheimnisvoll und romantisch. Die Fronten der Häuser waren sehr mannigfach, und die Reihe wurde immer wieder durch eine belebte Seitenstraße unterbrochen, durch die sich schimmernd und glitzernd eine Woge des Verkehrs auf eine Brücke ergoß. Unaufhörlich kamen auf den Eisenbahnbrücken Züge über den Fluß gefahren; sie bildeten im allgemeinen Dröhnen Londons ein ständiges Motiv von Geklirr und Gerassel, und die Lokomotiven sandten Stöße feurigen Dampfes und mitunter plötzlich den Glutschein eines Hochofens in die Nacht hinaus. Ging man den Kai immer weiter entlang, so kam man zu den großen Gebäuden von Westminster: bei Tageslicht eine Masse von Bauwerken in imitiertem gotischem Stil, von einem hohen Turm mit beleuchteter Uhr überragt, gewannen diese Bauten im bläulichen Zwielicht etwas Würdevolles und glichen bei Nacht einer Schar von Edlen in militärischer Haltung, einem Walde von Speeren. Das war das Parlamentsgebäude; in seinen Sälen gaben sich ein Schattenkönig, ein unedler Adel und eine betrügerisch erwählte Körperschaft von Juristen, Finanzleuten und Abenteurern inmitten der allgemeinen geistigen Umnachtung jener Zeit den Anschein von Weisen und Herrschern. Ging man über Westminster hinaus, noch weiter den Kai entlang, so kam man zu großen bräunlich-grauen Palästen und Häusern mit grünen Vorgärten, zu einer Eisenbahnbrücke und dann zu zwei riesenhaften Hotels, die hoch emporragten und weit zurücklagen und eine Unzahl erleuchteter Fenster aufwiesen. Vor ihnen befand sich etwas wie ein Graben, eine breite Vertiefung, ich weiß nicht mehr recht, was, ganz schwarz, so daß die beiden Gebäude besonders hoch und dabei zauberhaft entfernt aussahen. Davor stand ein ägyptischer Obelisk; alle Hauptstädte meiner Zeit, so ehrlich wie die Elstern und originell wie die Affen, schmückten sich mit Obelisken, die sie in Ägypten gestohlen hatten. In einiger Entfernung erhob sich das beste und edelste Gebäude Londons, die Sankt-Pauls-Kathedrale. Sie war bei Nacht nicht sichtbar, an einem klaren, blauen, windigen Tage aber erblickte man sie in ruhiger Schönheit. Auch einige Brücken waren anmutig, es war Schwung in ihren Bogen aus rußigem grauem Stein; andere allerdings waren so plump, daß sie nur in der Nacht einen gewissen Zauber gewannen.«

»Indem ich erzähle, fällt mir immer mehr ein«, sagte Sarnac. »Ehe mich eine Anstellung meiner freien Zeit beraubte, dehnte ich meine kindlichen Streifzüge recht weit aus. Ich wanderte den ganzen Tag, oft nahm ich bis zum Abend nichts zu mir; wenn ich etwas Geld hatte, leistete ich mir ein Brötchen und ein Glas Milch. Die Schaufenster Londons waren für mich ein Wunder ohne Ende; sie wären es auch für euch, wenn ihr sie sehen könntet wie ich; sie müssen sich Hunderte, wenn nicht Tausende von Meilen weit erstreckt haben. In den ärmlicheren Stadtteilen gab es hauptsächlich Nahrungsmittelgeschäfte und Läden, in denen billige Kleidung und dergleichen verkauft wurde, und das Interesse an ihnen erschöpfte sich bald. In den Hauptstraßen aber, wie in der Regent Street oder in Piccadilly, in der engen Bond Street und in der Oxford Street, waren alle Bedarfsartikel einer glücklichen Minderheit aufgehäuft, all das, was die Wohlhabenden zum Leben brauchten. Ihr könnt euch kaum vorstellen, welch wichtige Rolle der bloße Einkauf von Gegenständen im Leben jener Menschen spielte. Ihre Häuser waren vollgepfropft mit Dingen, die weder zum Schmucke noch zu irgendeinem anderen Zwecke dienten. Sie waren eben Einkäufe, und die Frauen verbrachten einen großen Teil jedes Wochentages damit, alles Mögliche einzukaufen, Kleider, Tischzeug, Fußbodendecken, Wandbehänge und zahllosen Kram. Sie hatten keine Arbeit; sie waren zu unwissend, als daß sie sich für irgendetwas Wirkliches hätten interessieren können; so wußten sie nichts anderes zu tun. Das war der Sinn des Lebens, der Inhalt des Erfolges – Einkäufe. Durch sie kamen die Menschen zum Bewußtsein ihres Wohlstandes. Ein schäbiger halbwüchsiger Junge, drängte ich mich durch jene Geldverschwender, durch Scharen von Frauen, die in Kleider gehüllt waren und völlig eingewickelt in ›Einkäufe‹, parfümiert und geschminkt. Die meisten Frauen schminkten sich, um ein in Gesundheit blühendes Gesicht vorzutäuschen, die Nase puderten sie sich krankhaft weiß.

Eines läßt sich übrigens zu Gunsten des alten Brauchs reichlicher Bekleidung sagen: In jenem Menschengedränge verhinderte sie, daß einer den Körper des anderen berührte.

Durch diese Straßen pflegte ich ostwärts zu wandern. In der Oxford Street traf ich auf weniger wohlhabende Leute, in Holborn war die Menge schon eine völlig andere. Je weiter man nach Osten kam, desto mehr verschwand die weibliche Note. In Cheapside bekam man alles, was zur äußeren Erscheinung eines jungen Mannes des zwanzigsten Jahrhunderts gehörte. In den Schaufenstern waren sozusagen die Einzelheiten seiner Person ausgestellt und mit Preisen versehen: Ein Hut fünf Shilling und sechs Pence, Beinkleider achtzehn Shilling, eine Krawatte ein Shilling und sechs Pence; Zigaretten zehn Pence per Unze; eine Zeitung ein halber Penny, ein billiger Roman sieben Pence. Und auf dem Pflaster außerhalb des Schaufensters stand der junge Mann fix und fertig da, mit brennender Zigarette im Mund, wähnend, daß er ein einzigartiges, unsterbliches Wesen, und daß seine Ideen wirklich ganz und gar seine eigenen seien. Und über Cheapside hinaus kam man nach Clerkenwell mit seinen sonderbaren kleinen Läden, in denen kaum etwas anderes als alte Schlüssel oder die Teile alter zerbrochener Taschenuhren oder ähnlicher Kleinkram verkauft wurden. Dann kam man zu großen Lebensmittelmärkten in der Leadenhall Street, in Smithfield und in Covent Garden; sie wiesen unglaubliche Mengen roher Eßwaren auf. In Covent Garden wurden Obst und Blumen verkauft, die wir heute als armselig und schlecht entwickelt bezeichnen würden, die damals jedoch jedermann für schön und köstlich hielt. Auf dem Caledonian-Market gab es zahllose Buden, in denen alte, zerbrochene oder beschädigte Waren aller Art feilgeboten wurden; die Leute kauften das wirklich, zerbrochenen Zierat, schmutzige, alte Bücher mit zerrissenen Seiten, getragene Kleider! Es war ein Wunderland des seltsamsten Krams für einen neugierigen kleinen Jungen ...

Ich könnte euch von diesem meinem alten London stundenlang weitererzählen, ihr aber wollt, daß ich mit meiner Geschichte fortfahre. Ich habe versucht, euch ein wenig von jener endlosen, rastlosen, glitzernden Bewegtheit mitzuteilen und euch zu schildern, wie wechselnde Beleuchtung und Atmosphäre in jener Stadt tausend seltsame und liebliche Wirkungen hervorbrachten. Mir schien sogar Londons Nebel romantisch, jener gefürchtete Nebel, von dem ihr in Büchern lesen könnt; ich war damals eben ein Junge und voller Abenteuerlust. In Pimlico war der Nebel oft sehr dicht. Gewöhnlich verursachte er eine weiche, ölige Finsternis, die selbst die Lichter in nächster Nähe in schimmernde Flecken verwandelte. Sechs Schritte vor einem tauchten die Menschen plötzlich aus dem Nichts auf, und bevor man sie noch richtig sah, wurden sie zu rätselhaften Silhouetten. Es kam vor, daß man sich, keine zehn Minuten von seiner Wohnung entfernt, verirrte; manchmal stieß man auf einen völlig ratlosen Lenker eines Automobils, ging im Schein seiner Vorderlichter weiter und bedeutete ihm, wo der Fußweg zu Ende war. Das war die eine Art Nebel, der trockene Nebel, es gab aber noch etliche andere. Es gab eine gelbliche Dunkelheit, wie geschwärzte Bronze etwa, die über einem schwebte, sich aber nicht ganz herabsenkte, so daß man seine nähere Umgebung, tiefbraun oder schwarz gefärbt, erkennen konnte. Und dann gab es einen schmutzig-nassen Nebel, der gewöhnlich zu einem Nieselregen wurde und jede glatte Fläche in einen Spiegel verwandelte.«

»Manchmal aber gab es doch auch helles Tageslicht«, sagte Salaha.

»Ja,« sagte Sarnac in Gedanken versunken, »es gab auch Tageslicht. Dann und wann. Und manchmal schien sogar die Sonne freundlich und erlösend über London. Im Frühling, im Frühsommer oder im Oktober. Sie brannte nicht heiß hernieder, aber sie erfüllte die Luft mit milder Wärme; was sie beschien, glänzte zwar nicht golden, aber doch bernstein- und topasfarbig. Ja, es gab auch heiße Tage in London, an denen der Himmel tiefblau leuchtete, doch die waren sehr selten. Und mitunter war es heller Tag, ohne daß die Sonne schien –«

»Ja, ja«, sagte Sarnac. Und nach einer Pause fuhr er fort: »Dann und wann entblößte ein grelles Tageslicht London all seines Reizes, zeigte seinen Schmutz, seine Unzulänglichkeit, zeigte die klägliche Armseligkeit seiner Gebäude, zeigte, wie roh und abscheulich die schreiend bunten Plakate in Wirklichkeit waren, ließ die Erbärmlichkeit der ungesunden Menschenleiber und der schlechtsitzenden Kleider erkennen ...

Das waren dann schreckliche, unselige Tage der Ernüchterung. London faszinierte nicht mehr, sondern wurde ermüdend und qualvoll, und selbst in mir unwissendem Jungen stieg dann eine Ahnung davon auf, welch langen und mühseligen Weg unser Geschlecht noch gehen müsse, bis es auch nur so viel Frieden, Gesundheit und Weisheit erringen werde, wie wir heute genießen.«

4

Sarnac hielt inne und erhob sich mit einem Lachen, das in einen Seufzer ausklang. Er blickte gegen Westen, Heliane stand neben ihm.

»Diese Geschichte wird niemals ein Ende nehmen, wenn ich so abschweife. Seht! In zehn Minuten wird die Sonne hinter jenem Bergrücken verschwunden sein. Ich kann heute abend nicht bis zum Schluß kommen, denn der größte Teil der eigentlichen Geschichte bleibt mir noch zu erzählen übrig.«

»Es gibt gebratenes Geflügel mit Mais und Kastanien«, sagte Iris. »Auch Forellen und allerlei Obst.«

»Und trinken wir von dem goldenen Weine?« fragte Beryll.

»Ja, von dem goldenen Weine wollen wir trinken.«

Heliane, die sehr still und aufmerksam gewesen war, erwachte aus ihrer Versunkenheit. »Lieber Sarnac,« sagte sie, und legte ihren Arm in den seinen, »was wurde aus Onkel John Julip?«

Sarnac besann sich. »Ich weiß es nicht mehr«, sagte er.

»Starb Tante Adelaide Julip?« fragte Salaha.

»Sie starb sehr bald, nachdem wir Cherry Gardens verlassen hatten. Ich erinnere mich, daß uns der Onkel von ihrem Tode schrieb, und weiß auch noch genau, wie Mutter den Brief beim Frühstück feierlich vorlas und dann sagte: ›Es scheint also, daß sie doch krank war.‹ Wenn sie nicht wirklich krank war, dann hat sie das Simulieren bis zum äußersten getrieben. Die Einzelheiten über Onkels Ende sind mir völlig aus dem Gedächtnis entschwunden. Wahrscheinlich überlebte er meine Mutter, und nach ihrem Heimgang mag die Nachricht von seinem Tode nicht zu mir gedrungen sein.«

»Du hast den wunderbarsten Traum der Welt geträumt, Sarnac«, sagte Stella. »Ich möchte die ganze Geschichte ohne Unterbrechung hören; doch tut's mir leid, daß Onkel John Julip nicht mehr vorkommen wird.«

»Der war ein ausgemachtes kleines Ungeheuer«, sagte Iris ...

Unsere Ferienwanderer verweilten noch, bis die glutrote Sonne hinter den scharfen Bergesrand zu sinken begann, und betrachteten die Schatten, die rasch die Abhänge emporkletterten. Dann machten sich die sechs, über diese oder jene Einzelheit aus Sarnacs Geschichte sprechend, auf den Weg zu der Herberge, wo das Abendbrot auf sie wartete.

»Sarnac wurde erschossen«, sagte Beryll. »Doch auf diesen Ausgang deutet bisher nichts in seiner Geschichte hin. Es bleibt ihm wohl noch sehr viel zu erzählen übrig.«

»Sarnac,« fragte Iris, »du bist doch nicht im Großen Krieg getötet worden? Durch plötzlichen Zufall? In sinnloser Weise?«

»Keineswegs«, sagte Sarnac. »Ich habe den Teil meiner Geschichte, der zu meinem Tode führt, schon begonnen, wenn auch Beryll nichts davon merkt. Aber laßt mich nur auf meine Art weiter erzählen.«

Beim Abendbrot erklärte man dem Herbergsvater, was vorging. Wie viele Herbergsleiter, war er eine frohe, gesellige, einfache Seele. Das angebliche Abenteuer Sarnacs belustigte ihn und erweckte seine Neugier. Er lachte über die Ungeduld der anderen; gleich den Kleinen in einem Kindergarten, sagte er, seien sie darauf erpicht, vor dem Zubettgehen ein Märchen zu hören. Nach dem Kaffee gingen alle für eine Weile ins Freie, um zu beobachten, wie das letzte Abendrot über den Bergen dem Lichte des Mondes wich; dann schritt der Herbergsmeister den anderen voran ins Haus zurück, machte mit Nadelholz ein helles Feuer an, legte Kissen davor, goß Wein ein, verlöschte das Licht und war bereit für eine Nacht des Erzählens.

Sarnac blickte nachdenklich in die Flammen, bis Heliane fragend flüsterte: »Pimlico?«

5

»Ich will euch so kurz als möglich das Hauswesen in Pimlico schildern,« fuhr Sarnac fort, »in das uns Matilda Good, die alte Freundin meiner Mutter, aufnahm. Doch muß ich euch gestehen, daß es mir nicht leicht fällt, mich kurz zu fassen, denn in meiner Erinnerung sind tausend merkwürdige Einzelheiten lebendig.«

»Ausgezeichnet!« rief der Herbergsmeister. »Das lob' ich mir an einem rechten Geschichtenerzähler!« Und er nickte Sarnac aufmunternd zu.

»Wir alle fangen an zu glauben, daß er ein wirkliches Erlebnis schildert«, flüsterte Beryll dem Herbergsmeister abwehrend zu. »Und er selbst ist völlig überzeugt davon.«

»Wahrhaftig?« flüsterte der Herbergsmeister zurück. Es hatte den Anschein, als ob er etliche nicht leicht zu beantwortende Fragen zu stellen wünsche, doch unterdrückte er sie und wandte seine Aufmerksamkeit dem Erzähler zu, ein wenig gezwungen zuerst, bald aber unwillkürlich gefesselt.

»Die Häuser von Pimlico stammten zum größten Teil aus einer Epoche übermäßig reger Bautätigkeit, siebzig bis hundert Jahre vor dem Großen Krieg. Es war damals während einiger Jahrzehnte in London unmäßig viel und ganz planlos gebaut worden, und zwar, wie ich glaube, in der Annahme, daß es stets genug wohlhabende Familien geben würde, die sich derartige Häuser leisten und drei oder vier Dienstboten beschäftigen können. Jedes dieser Häuser besaß eine unterirdische Küche und daneben Räume für die Dienerschaft, ferner ein Eßzimmer und ein Arbeitszimmer für den Hausherrn im Erdgeschoß, außerdem zwei bis drei Wohnzimmer oder Salons im ersten Stock, die gewöhnlich durch Schiebetüren miteinander verbunden waren, so daß man sie in einen einzigen Raum verwandeln konnte. In den oberen Stockwerken befanden sich die Schlafzimmer, die um so einfacher wurden, je höher sie gelegen waren. Meistens gab es auch noch unter dem Dach einige für die Dienstboten bestimmte Zimmer, die nicht einmal einen Ofen oder Kamin aufzuweisen hatten. In vielen Gebieten Londons, insbesondere in Pimlico, tauchten jene wohlhabenden Familien samt Dienerschaft, die der Phantasie des Baumeisters vorgeschwebt hatten, niemals auf, und die für sie erbauten Wohnstätten wurden von Anfang an von ärmeren Leuten bezogen. Es kam niemandem in den Sinn, Häuser zu bauen, die den Bedürfnissen der ärmeren Klassen angepaßt gewesen wären, und so richteten sich diese Leute eben, so gut es ging, in jenen verhältnismäßig weitläufigen und prächtig sein wollenden Gebäuden ein. Matilda Good, die Freundin meiner Mutter, war ein typisches Beispiel für die Einwohnerschaft von Pimlico. Sie hatte jahrelang in den Diensten einer reichen, alten Dame in Cliffstone gestanden, und diese hatte ihr einige hundert Pfund hinterlassen –«

Der Herbergsvater war über alle Maßen erstaunt und konnte eine fragende Geste nicht unterdrücken.

»Privatbesitz,« erklärte Beryll in knappen Worten, »Erblassungsrecht. Die Geschichte spielt vor zweitausend Jahren. Man machte ein Testament – du verstehst? Weiter, Sarnac.«

»Diese Summe und ihre Ersparnisse«, fuhr Sarnac fort, »hatten es ihr ermöglicht, ein Haus in Pimlico zu mieten und es mit Möbeln von einer gewissen schäbigen Eleganz einzurichten. Sie selbst bewohnte das Kellergeschoß und die Dachzimmer. Alle anderen Räume des Hauses hatte sie an reiche oder zumindest wohlhabende ältere Damen zu vermieten gehofft, entweder einzeln oder mehrere zusammen, je nach Bedarf, und sie hatte beabsichtigt, diese Mieterinnen zu bedienen und mit allem Nötigen zu versorgen und dabei ihren eigenen Lebensunterhalt und obendrein noch einen Gewinn herauszuschlagen – eine Beschäftigung, die ein ewiges Treppauf- und Treppabrennen nötig machte. Man könnte Matilda Good mit einer Ameise vergleichen, die beständig an einem Rosenstengel hinauf- und hinunterläuft, um ihre Blattläuse zu betreuen. Doch alte Damen von irgendwelchem nennenswerten Wohlstand zogen nicht nach Pimlico. Es lag sehr tief und dicht am Fluß und war infolgedessen besonders neblig, und die Kinder in seinen ärmeren Straßen waren rohe und ungezogene Rangen. So mußte sich Matilda Good mit weniger einträglichen und fügsamen Mietern zufriedengeben.

Ich erinnere mich noch genau, wie sie uns diejenigen schilderte, die sie damals hatte, als wir am Abend unserer Ankunft in ihrem vorderen Kellerzimmer saßen und einen Imbiß einnahmen. Ernst hatte die Aufforderung, auch etwas zu essen, abgelehnt; seine Aufgabe als Reisebegleiter war erledigt und er hatte sich von uns verabschiedet. Mutter, Prue und ich, alle drei in düsteres Schwarz gekleidet, waren zunächst etwas steif und befangen, tauten aber bei Tee, Eiern und geröstetem Brot mit Butter langsam auf. Wir aßen sehr emsig, hörten dabei aber Matilda Good äußerst aufmerksam zu. Sie kam mir an jenem Abend sehr würdig vor, geradezu wie eine Dame. Jedenfalls war sie weit umfangreicher als irgendein weibliches Wesen, das ich bis dahin kennengelernt hatte. Die Weitläufigkeit und Mannigfaltigkeit ihrer Formen erinnerte mehr an die Linien einer Landschaft als an die eines menschlichen Körpers. Daß sie an Krampfadern litt, das heißt, daß ihre Adern und nicht nur die, sondern eigentlich ihr ganzer Körper krankhaft und absonderlich erweitert war, leuchtete einem ein, sobald man sie nur ansah. Sie war schwarz gekleidet, da und dort quollen nicht sehr saubere Spitzen aus ihrem Gewand hervor, und eine große, goldgeränderte Brosche hielt ihr Kleid am Halse zusammen. Sie trug eine goldene Kette, und ihren Kopf zierte ein sogenanntes Häubchen, ein Ding, das wie eine umgekehrte Austernmuschel aussah, aus mehreren Schichten schmutziger Spitze bestand und von einer schwarzen Samtschleife mit goldener Schnalle gekrönt wurde. Auch ihr Gesicht erinnerte mehr an eine Landschaft als an die Linien des menschlichen Schädels; sie hatte einen recht ansehnlichen Schnurrbart, einen herabhängenden, etwas boshaften Mund und zwei verschieden große, dunkelgraue Augen, die etwas schräg standen und sehr dichte und lange Wimpern aufwiesen. Sie saß seitwärts auf ihrem Stuhl. Mit dem einen Auge sah sie einen von der Seite an, das andere schien etwas über dem Kopfe des Angesprochenen Befindliches anzustarren. Sie sprach im Flüsterton und verfiel leicht in ein schnaufendes, aber nicht unfreundliches Lachen.

›Du wirst auf meinen Treppen reichlich viel Bewegung machen, meine Liebe,‹ sagte sie zu Prue, ›reichlich viel. Manchmal, wenn ich abends zu Bett gehe, zähle ich die Stufen nach, um mich zu vergewissern, daß nicht am Ende tagsüber ihrer mehr geworden sind. Du wirst hier kräftige Beine bekommen, meine Liebe, darauf kannst du dich verlassen. Du mußt zusehen, daß sie nicht zu stark werden, verglichen mit deinem übrigen Körper. Zu diesem Zwecke rate ich dir, immer irgend etwas zu tragen, so oft du die Treppe hinauf- oder hinuntergehst. Ho – ho. Das wird dich gleichmäßig kräftig machen, und zu tragen gibt's immer was, Stiefel, heißes Wasser, einen Eimer Kohlen oder ein Paket.‹

›Das Haus macht wohl viel Arbeit‹, meinte meine Mutter, die ihre Röstbrotschnitte so fein verzehrte wie eine Dame.

›Schrecklich viel Arbeit‹, erwiderte Matilda Good. ›Ich will dir nichts vormachen, Martha, schrecklich viel Arbeit.‹

›Aber es ist ein Haus, in dem sich's gut vermieten läßt‹, fuhr sie nach einer Weile fort, indem sie mich mit einem Auge ansah und mit dem anderen über mich wegblickte. ›Ich hab' alle Zimmer besetzt, seit vorigem Herbst hab' ich ununterbrochen alle besetzt gehabt. Zwei Dauermieter wohnen schon volle drei Jahre bei mir, und zwar in meinen allerbesten Zimmern. Alles in allem muß ich wohl zufrieden sein. Na, und jetzt wird es mir ja wunderbar gehen, wo ich keines der gräßlichen Dienstmädchen mehr ins Haus zu nehmen brauche, die man hier gewöhnlich trifft. Mädel sind das, sage ich euch! Eine ist einmal auf einem Teebrett die Stiege heruntergerutscht und eine andere hat mir unten in der Küche den Zucker abgeleckt, Stück für Stück – sie wußte, daß ich die Stücke zähle, aber daß ich merken würde, daß alle naß sind, daran hat sie nicht gedacht. Gräßliche Frauenzimmer hab' ich im Haus gehabt, Martha! Alle Jahre kommen sie in Scharen aus den Schulen heraus, Gott ein Abscheu und den Menschen eine Plage. Ich kann's dir kaum schildern. Ein wahres Glück, wenn man einmal ein Mädchen sieht, das, wie ich wohl bemerke, etwas auf sich hält. Komm, nimm dir Brunnenkresse zu deinem Röstbrot, das wird deinem Teint gut tun.‹

Prue errötete und nahm von der angebotenen Brunnenkresse.

›Im ersten Stock‹, fuhr Matilda Good fort, ›hab' ich eine Dame. Es kommt wirklich nicht oft vor, daß man eine Dame drei Jahre lang behält, denn die bilden sich ja immer ein, daß sie alles besser verstehen, aber die im ersten Stock, die hab' ich drei volle Jahre, und sie ist eine wirkliche Dame – von Geburt aus. Bumpus heißt sie – Miß Beatrice Bumpus. Ich weiß nicht, ob du sie gern haben wirst, Martha, wenn du sie das erste Mal siehst. Man muß sie studieren. Ihre Familie stammt aus Warwickshire. Diese Bumpus sind richtige Adelige, sie gehen sogar auf die Jagd. Gleich, wenn sie dich das erste Mal sieht, Martha, wird sie dich bestimmt fragen, ob du für das Frauenstimmrecht bist.‹ Die flüsternde Stimme wurde weich und schmelzend, und ein einschmeichelndes Lächeln breitete sich über Matilda Goods ganzes umfangreiches Gesicht aus. ›Wenn es dir nichts ausmacht, Martha, ist es am besten, du sagst ja.‹

Meine Mutter trank eben die vierte Tasse Tee aus. ›Ich weiß nicht,‹ sagte sie dann, ›ob ich ganz und gar für das Frauenstimmrecht bin.‹

Die großen, roten Hände Matilda Goods, die bisher fast wie leblos in ihrem Schoße gelegen hatten, erhoben sich plötzlich samt Spitzenmanschetten und kurzen Unterarmen und fuchtelten durch die Luft, um Mutters Einwände zu zerstreuen. ›Sei im ersten Stock dafür‹, flüsterte sie.

›Wenn sie mich aber auszufragen beginnt?‹

›Sie wird sich niemals die Zeit nehmen, deine Antworten abzuwarten. Es wird nicht schwer sein, Martha. Ich werde dich niemals in irgendeine schwierige Lage bringen, wenn ich es vermeiden kann. Stimm' du ihr nur mit einem kurzen Ja zu, und alles übrige wird sie selber sagen.‹

›Mutter,‹ sagte Prue, zu schüchtern noch, um sich an Matilda Good selbst zu wenden, ›Mutter, was ist das Frauenstimmrecht?‹

›Daß auch Frauen bei der Wahl der Parlamentsmitglieder ihre Stimme abgeben dürfen, meine Liebe‹, antwortete Matilda Good.

›Wann werden wir denn das Stimmrecht kriegen?‹ fragte meine Mutter.

›Überhaupt nicht, wahrscheinlich‹, meinte Matilda Good.

›Und wenn aber doch, was hätten wir dann davon?‹

›Nichts‹, erwiderte Matilda Good verächtlich. ›Trotzdem ist das eine große Bewegung, Martha, das darf man nicht vergessen. Miß Bumpus arbeitet Tag und Nacht dafür und schlägt sich mit Polizisten herum, und einmal war sie sogar eine Nacht lang eingesperrt – alles nur, um uns Frauen das Stimmrecht zu verschaffen.‹

›Sie meint es wahrscheinlich sehr gut‹, bemerkte Mutter.

›Im Parterre habe ich einen Herrn. Das Schlimmste an ihm sind seine Bücher, die man abstauben muß, Bücher über Bücher, sag' ich dir. Nicht, daß er etwa viel in ihnen liest ... Jetzt wird er wahrscheinlich gleich auf seinem Pianola zu spielen anfangen. Man hört es hier unten so gut, als ob man in dem Ding drin säße. Mr. Plaice heißt er. Er hat in Oxford studiert und arbeitet hier bei einem Verleger. Eine ganz erstklassige Firma, hab' ich mir sagen lassen, die sich nicht mit Annoncen abgibt oder mit irgendetwas Ordinärem. Über seinen Bücherbrettern hat er Photographien von griechischen und römischen Statuen und Ruinen hängen, und Schilder mit Studentenwappen. Einige von den Statuen sind ganz nackt, aber trotzdem sind sie alle schön und fein, ganz fein, man sieht sofort, daß er auf der Universität war. Auch Photographien aus der Schweiz hat er, er macht Bergtouren in der Schweiz und versteht die Sprache dort. Er raucht, Abend für Abend sitzt er mit seiner Pfeife und schreibt oder liest und macht dabei mit einem Bleistift Notizen; er liest Manuskripte und sogenannte Bürstenabzüge. Pfeifen hat er, für jeden Tag in der Woche eine andere, und dazu ein Raucherservice aus wunderschönem Stein, der Serpentin heißt, grün mit roten Adern drin; ferner eine Tabaksdose und einen Topf für die Federn, mit denen er die Pfeifen putzt, und dann kleine Behälter für die Pfeifen, einen für jede, und alles aus dem Stein; wie ein Monument schaut das Ganze aus. Und beim Abstauben, weißt du, wenn man so ein Ding aus Serpentin fallen läßt, so zerbricht es wie Töpferware; fast jedes von den Mädeln, die ich gehabt hab', hat was zerbrochen an dem Tabaksfriedhof. Und eins mußt du wissen –‹ Matilda Good beugte sich vor und streckte die Hand aus, um Mutters Aufmerksamkeit noch stärker zu fesseln – ›er ist nicht für das Frauenstimmrecht! Verstehst du?‹

›Ah, da muß man aber vorsichtig sein‹, meinte meine Mutter.

›Ja, das muß man. Und dann hat er einige Schrullen, der Mr. Plaice, doch wenn man ein bißchen Rücksicht nimmt auf sie, sind sie nicht so schlimm. Eine dieser Schrullen ist, daß er angeblich jeden Tag badet. Jeden Morgen muß eine ganz niedrige Blechwanne voll kalten Wassers in seinem Zimmer aufgestellt werden, und er tut dann so, als ob er darin herumplantschte, ganz wild ist er dabei und macht einen Lärm wie ein Meerschwein, das eine Hymne singt. Er ist sehr stolz auf seine Wanne, wie er sie nennt, in Wirklichkeit sieht sie mehr einem Futternapf für einen Kanarienvogel ähnlich als einer Wanne. Und er sagt, das Bad muß so kalt sein wie nur möglich, und wenn auch Eis obendrauf schwimmt. Und dabei –‹

Matilda Good neigte sich noch weiter vor, wodurch etwas wie ein Erdrutsch über der Armlehne ihres Sessels entstand; dazu nickte sie mit dem Kopfe, und ihr Geflüster wurde noch vertraulicher. ›Und dabei badet er gar nicht wirklich‹, schnaufte sie.

›Was? Steigt er nicht hinein in die Badewanne?‹

›Nein. Wenn er es einmal wirklich tut, dann sieht man nasse Fußspuren auf dem Fußboden. Er steigt nur manchmal wirklich hinein. Ich denke mir, daß er als junger Mensch an der Universität vielleicht jeden Tag gebadet hat. Trotzdem muß die Wanne tagaus, tagein aufgestellt werden, man muß das Wasser hinaufschleppen, das Bad einfüllen und nachher wieder ausgießen, und man darf ihn ja nicht fragen, ob das Wasser vielleicht ein bißchen wärmer sein soll. Wahrscheinlich darf ein Herr, der auf der Universität war, nach so was nicht gefragt werden. Dabei habe ich ihn einige Male erwischt, wie er im Winter sein Rasierwasser in die Wanne gegossen hat, nachdem er vorher eine Woche lang ungebadet herumgelaufen ist, aber einen Krug warmen Wassers für das Bad verlangen – er denkt nicht daran! Sonderbar, was? Aber das ist eben eine seiner Schrullen.‹

›Manchmal bilde ich mir ein,‹ fuhr Matilda Good noch vertraulicher fort, ›daß er vielleicht all die Berge in der Schweiz ebenso wenig wirklich besteigt, wie er sein Bad nimmt ...‹

Sie wälzte die über die Armlehne des Stuhles hängenden Massen ihrer Person wieder in die ursprüngliche Lage zurück. ›Dieser Mr. Plaice hat, müßt ihr wissen,‹ fuhr sie fort, ›eine Art zu reden, wie ein Geistlicher oder ein Lehrer, so zwischen den beiden, könnte man sagen, streng und überlegen. Wenn man zu ihm was sagt, so gibt er mitunter ein sonderbares Geräusch von sich: »Arrr ... Arrr ... Arrr«. Es klingt fast so, wie wenn ein Pferd wiehert, als ob er einem zu verstehen geben wollte, daß er nicht viel von einem hält, das aber nicht gerade heraussagen will und jedenfalls keine Zeit hat, einem ordentlich zuzuhören. Du mußt dich nicht ärgern darüber, es kommt daher, weil er so gebildet ist. Dann hat er auch die Gewohnheit, lange und herablassende Sätze zu einem zu reden und einem beleidigende Namen zu geben. Es fällt ihm manchmal ein, einen »meine edle Abigail« zu nennen, oder wenn man in der Früh an seine Tür klopft, zu rufen: »Tritt ein, o rosenfingrige Aurora.« Wahrscheinlich bildet er sich ein, daß ein Dienstmädchen saubere und rosige Finger haben kann, trotzdem es in allen Zimmern einheizen muß. Auch mit mir macht er allerlei Späße. Er hat nicht die Absicht, unhöflich zu sein, glaubt vielmehr, seine Reden sind witzig. Er meint es sicher freundlich, will einen fühlen machen, daß er ganz zahm mit einem scherzt, wo er doch fürchterlich streng sein könnte, wenn er wollte. Ich denk' mir immer, da er gut zahlt und eigentlich wenig Arbeit macht, werde ich mich hüten, mich mit ihm zu überwerfen. Manchmal frag' ich mich allerdings auch, wie es ihm wohl ginge, wenn ich zu seinem Gerede nicht den Mund hielte, und wer von uns wohl den kürzeren zöge, wenn ich mich mit ihm einließe und ihm seine Scherzreden heimzahlte. Ich wüßte ihm herrliche Dinge zu sagen! Aber das‹, fuhr sie fort, indem sie über ihr ganzes weitläufiges Gesicht hin lächelte und dazu das eine Auge rollte, mit dem sie mich eben anblickte – ›ist nur so eine Phantasie, eine Phantasie, die man sich hier in diesem Hause eigentlich gar nicht erlauben sollte. Ich geb' aber zu, daß ich mir so einen Wortwechsel mit ihm zuweilen ausmale. Wenn er zum Beispiel sagt – aber einerlei, was er sagt und was ich erwidern könnte ... Ho ho ... Er zahlt gut und zahlt auch regelmäßig, meine Liebe. Und er wird kaum so bald seine Stellung verlieren, glaub' ich, oder sich eine andere suchen. Und so muß man eben seine Schrullen mit in den Kauf nehmen. Und außerdem –‹

Matilda Good setzte die Miene eines Menschen auf, der eine Schwäche eingesteht. ›Sein Pianola, wißt ihr, das ist mir oft eine Freude, das muß ich ihm zugute halten, und dabei ist es fast der einzige Lärm, den er überhaupt macht. Außer, wenn er sich die Stiefel auszieht.‹

›Das ist also Mr. Plaice. Im zweiten Stock wohnt nach vorn hinaus der Ehrwürden Moggeridge mit seiner Frau. Sie sind schon fünf Monate lang bei mir, und es schaut so aus, als ob sie Wurzel fassen wollten.‹

›Doch nicht ein Geistlicher?‹ fragte meine Mutter in ehrfurchtsvollem Ton.

›Ein ganz armer Geistlicher,‹ erwiderte Matilda, ›aber eben doch ein Geistlicher. Es gereicht uns allen zur Ehre, daß er hier wohnt. Ach, aber sie sind ganz arm, die beiden alten Leute. Er ist viele Jahre lang Hilfspfarrer oder etwas dergleichen gewesen in irgendeinem abseits gelegenen kleinen Nest, und er hat seine Stellung verloren. Ich kann ja nicht verstehen, daß jemand das Herz gehabt haben soll, ihn hinauszuwerfen. Vielleicht hat er irgendetwas angestellt, wer kann es wissen, er ist ein komischer alter Mann ...‹

›Fast jeden Sonnabend torkelt er davon, um am Sonntag irgendwo als stellvertretender Geistlicher, wie das heißt, Gottesdienst zu halten, und wenn er dann zurückkommt, ist sein Katarrh gewöhnlich schlechter als je, und er hört nicht auf zu schnauben und zu niesen. Es ist grausam, wie diese alten stellvertretenden Geistlichen behandelt werden, gewöhnlich holt man sie in einem offenen Wagen von der Bahnstation ab, und wenn das Wetter noch so miserabel ist, und dann gibt es im Pfarrhaus nur Tee, nicht einen Tropfen Alkohol gegen Erkältung. Und das heißt christliche Nächstenliebe! Aber was will man machen ... Den ganzen Tag humpeln die zwei da oben herum und kochen sich, so gut es geht, ihr bißchen Essen über dem Feuer in ihrem Zimmer. Gewöhnlich wäscht sie sich auch ihr Zeug selber. So schleppen sie sich hin, die zwei armen Alten. Verlassen und vergessen sind sie. Aber sie machen mir sehr wenig Mühe, und wie gesagt, er ist immerhin ein Geistlicher. Und dann das Hinterzimmer im zweiten Stock, da wohnt eine Deutsche, die unterrichtet – was immer einer gerade lernen will, glaub' ich. Sie ist erst einen Monat hier, und ich weiß nicht recht, ob ich sie eigentlich mag oder nicht, aber sie kommt mir ganz anständig vor und recht zurückgezogen, und schließlich, wenn man ein Zimmer leer stehen hat, darf man eben nicht wählerisch sein.‹

›Das ist also die ganze Gesellschaft, meine Liebe. Und morgen wollen wir anfangen. Ihr geht jetzt bald hinauf und richtet euch in eueren zwei Zimmern oben ein. Es ist da ein kleines für Mortimer und ein größeres für dich und Prue. Ihr findet Haken an der Wand für euere Kleider, auch Vorhänge sind da, damit die Sachen nicht verstauben. Mein Zimmer ist neben euerem. Ich werde euch meinen alten Wecker geben und euch zeigen, wie er zu stellen ist, und morgen sind wir dann Punkt sieben unten. Du, Martha, und ich und Prue. Der junge Herr hat die Vorrechte seines Geschlechts und kommt erst um halb acht herunter! Ja, ja, Martha, ich bin auch eine Frauenrechtlerin – ganz wie Miß Bumpus. Zu allererst muß das Feuer hier angemacht werden, und da müssen wir zusehen, daß wir die Asche ordentlich wegputzen, sonst bringen wir den Teekessel nie zum Kochen. Dann kommt das Einheizen in den anderen Zimmern, Stiefelputzen, in den Vorderzimmern abstauben, und dann die Frühstücke. Mr. Plaice kriegt seins Punkt acht, ja nicht später, Miß Bumpus ihres um halb neun, und wir müssen das Tablett von Mr. Plaice möglichst schnell wieder kriegen, denn wir sind mit den Teelöffeln sehr knapp. Fünf habe ich im ganzen. Bevor mein letzter Mieter im dritten Stock ausgezogen ist, habe ich sieben gehabt, feiner Herr, was? Die Alten machen sich ihr Frühstück selbst und Frau Buchholz bekommt eine Tasse Tee und ein Butterbrot, sobald wir mit dem Aufräumen fertig sind. Das ist unser Programm, Martha.‹

›Ich werde mir alle Mühe geben, Tilda,‹ sagte meine Mutter, ›das weißt du ja.‹

›Hallo!‹ rief Matilda, indem sie nach der Decke wies. ›Nun fängt das Konzert an. So einen Bums gibt es immer, wenn er die Pedale von dem Pianola herunterläßt.‹

Gleich darauf drang Klavierspiel durch die Decke zu der unterirdischen Teegesellschaft herunter – ich kann es schwer beschreiben.

Zu dem wenigen wirklich Guten, was jenes Zeitalter besaß, gehörte seine Musik; auf manchen Gebieten hat die Menschheit sehr früh große Vollkommenheit erreicht. Ich glaube, in der Edelsteinschleiferei und der Goldschmiedekunst ist das, was vor vielen Jahrtausenden im Ägypten der siebzehnten Dynastie geleistet wurde, kaum jemals übertroffen worden, und die Bildhauerei zeitigte ihre wunderbarsten Blüten in Athen vor der Zeit Alexanders des Großen. Ich bezweifle, daß es heute schönere oder edlere Musik gibt als die herrlichen Tonwerke aus jenem fernen Zeitalter der Verwirrung. Was Mr. Plaice uns als erstes hören ließ, waren Bruchstücke aus Schumanns Karnevalsmusik; diese Komposition wird heute noch auf dem Klavier gespielt, und es war die erste gute Musik, die ich zu hören bekam. Die Blechmusik der Kapelle auf der Promenade von Cliffstone hatte mir keinen großen Eindruck gemacht, ich hatte sie eigentlich nur als fröhlichen Lärm empfunden. Ich weiß nicht, ob euch klar ist, was ein Pianola war. Es war eine Art Klavier, dessen Hammer mittels perforierter Rollen in Bewegung gesetzt wurden, und das Instrument diente dem Gebrauch von Leuten, die weder Noten lesen konnten, noch geschickt genug waren, richtig mit den Händen Klavier zu spielen. Die meisten Menschen jener Zeit waren nämlich unglaublich ungeschickt. Das Ding machte verschiedene Nebengeräusche, und manche Töne und Akkorde klangen verschwommen und unrein, aber im großen ganzen machte Mr. Plaice seine Sache recht gut, und das Ergebnis seiner Bemühung drang durch die Zimmerdecke zu uns. Es hätte schlimmer sein können, wie man damals zu sagen pflegte.

Mit der Erinnerung an jenes Musikstück kommt mir sofort auch das Bild des Kellerzimmers, in dem wir damals saßen, lebendig in den Sinn – ich glaube, beim Klange irgendeiner Schumannschen Komposition wird's mir fortan so gehen. Deutlich sehe ich das Zimmer vor mir, sehe den kleinen Kamin, mit einer besonderen Vorrichtung für den Teekessel über dem Feuer, die Röstgabel daneben, das Kamingitter aus Stahl, die Asche dahinter, den fleckigen, kleinen Spiegel über dem Kaminsims, kleine Porzellanhunde davor und das Gaslicht in einer matten Glaskugel, die von der Decke herabhing und das Teegeschirr auf dem Tisch beleuchtete. (Jawohl, das Haus hatte Leuchtgas; elektrisches Licht kam damals eben erst auf ... Liebste Iris, ich kann wirklich nicht meine Geschichte unterbrechen, um dir zu erklären, was Leuchtgas war! Du solltest das auch längst gelernt haben.)

Matilda Good saß da und lauschte in einer Art von idiotischer Ekstase den Tönen, die aus dem oberen Stockwerk zu uns herunterdrangen. Ihr Häubchen wackelte, sie wiegte den Kopf und lächelte. Mit den Händen vollführte sie rhythmische Bewegungen der beifälligen Freude, und das eine Auge blickte mich froh, Verständnis suchend an, indes das andere die schmutzige Tapete hinter mir betrachtete. Ich war tief bewegt. Meine Mutter und Prue hingegen saßen in ihren schwarzen Kleidern da und zeigten Mienen erzwungener Andacht; sie sahen sehr korrekt und fein aus, genau so hatten sie fünf Tage vorher bei Vaters Beerdigung in der Kirche gesessen.

›Sehr schön‹, flüsterte Mutter, als ob sie eine zum Gottesdienst gehörende Formel hersagte, sobald das erste Stück zu Ende war ...

Ich legte mich an jenem Abend in meinem Dachkämmerchen zur Ruhe, indes Bruchstücke aus Schumann, Bach und Beethoven mir abwechselnd durch den Kopf summten. Ich war mir klar darüber, daß ein neuer Lebensabschnitt für mich begonnen hatte ...«

»Juwelen und Geschmeide,« sagte Sarnac, »einige Skulpturen und einige Musikwerke – das waren die ersten wunderbaren Anzeichen dessen, was der Mensch aus dem Leben machen kann. Es waren, ich erkenne es jetzt, die verheißungsvollen Anfänge, die Samen einer neuen Welt im dunklen Schoße der alten.«

6

»Der nächste Morgen enthüllte eine neue, höchst emsig tätige Matilda Good in einem losen und nicht sehr sauberen braungrauen Kattunschlafrock und mit einer Art Turban aus bunter Seide auf dem Kopf. Dieses Kostüm behielt sie den ganzen Tag an, abgesehen davon, daß sie am Nachmittag ihr Haar in Ordnung brachte und ein Häubchen aus baumwollener Spitze aufsetzte. (Das schwarze Kleid und das Häubchen aus Zwirnspitze, sowie die Brosche dienten, wie ich bald merkte, nur für den Sonntag und für irgendwelche besonderen Anlässe während der Woche.) Meine Mutter und Prue hatten grobe Schürzen um, die Matilda sehr vorsorglich für sie angeschafft hatte.

Im Kellergeschoß des Hauses ging es sehr emsig zu, und einige Minuten vor acht mußte Prue mit Matilda zu Mr. Plaice hinaufgehen, um zu lernen, wie sie ihm das Frühstück zu servieren habe. Ich machte seine Bekanntschaft etwas später am Tage, als ich ihm eine Abendzeitung hinaufbrachte. Er war ein großer, schlanker Mensch mit gebeugtem Rücken und einem sehr blassen Gesicht, das sozusagen hauptsächlich nur ein Profil hatte. Er witzelte über meinen zweiten Vornamen, den er zu aristokratisch für mich fand, und begleitete seine Reden mit jenen sonderbaren schnaubenden Tönen, die ich bereits aus Matilda Goods Schilderung kannte.

Im Verlauf der nächsten Wochen wurde es klar, daß Matilda Good einen für sie ganz ausgezeichneten Handel eingegangen war, als sie uns ins Haus genommen hatte. Meine Mutter bekam keinerlei Entlohnung für ihre Arbeit, und es zeigte sich, daß sie für den Dienst in einem Logierhause vortrefflich geeignet war. Sie arbeitete so tüchtig, als ob sie am Gewinn des Unternehmens beteiligt wäre, und Matilda gab ihr nur gelegentlich ein bißchen Geld, etwa, wenn sie irgendeinen Weg zu machen hatte oder sich irgendeinen Gegenstand kaufen wollte, den sie dringend benötigte. Prue hingegen hatte mit unerwarteter Hartnäckigkeit darauf bestanden, daß sie einen Lohn bekommen müsse, und hatte ihren Anspruch durchgesetzt, indem sie auf Stellungsuche ausgezogen war und fast bei einer Schneiderin aufgenommen worden wäre. Nach einiger Zeit wurde Matilda eine ihren Mietern unsichtbare, im Kellergeschoß waltende oberste Hausherrin, und alle Arbeit in den oberen Stockwerken blieb meiner Mutter und Prue überlassen. Mitunter kam Matilda den ganzen Tag aus ihrem unterirdischen Reich nicht hervor und stieg erst des Abends, wenn sie, wie sie zu sagen pflegte, ins Bett torkelte, die Treppen hinauf.

Sie versuchte sehr schlau, auch mich zu Dienstleistungen in ihrem Hause heranzuziehen. Ich mußte Kohleneimer die Treppen hinaufschleppen, Stiefel putzen und mich überhaupt nützlich machen. Eines Tages fragte sie mich, ob ich nicht einen hübschen Anzug mit Knöpfen haben wolle – es war damals nämlich Sitte, daß kleine Jungen, die man als Diener verwendete, eng anliegende Anzüge aus grünem oder braunem Tuch trugen, mit zwei dichten Reihen goldener Knöpfe über Brust und Magen. Doch erinnerte mich der Vorschlag zu sehr an Chessing Hanger, wo ich eine heftige Abneigung gegen allen ›Dienst‹ und gegen ›Livreen‹ gefaßt hatte, und ich beschloß, mir irgendeine andere Stellung zu suchen, bevor Matilda Good ihre Absichten würde durchsetzen können. Merkwürdigerweise bestärkte mich ein Gespräch mit Miß Beatrice Bumpus in meinem Entschluß.

Miß Bumpus war eine schlanke, junge Dame von etwa fünfundzwanzig Jahren. Sie hatte kurzes, braunes Haar, das sehr hübsch von ihrer breiten Stirn zurückfiel; ihre Nase zeigte Sommersprossen, und ihre hellen, braunen Augen waren freundlich und lebhaft. Gewöhnlich trug sie ein Kostüm aus kariertem Wollstoff, bestehend aus einem ziemlich kurzen Rock und einer Jacke von sehr männlichem Schnitt. Dazu hatte sie grüne Strümpfe und braune Schuhe an – ich hatte bis dahin noch niemals grüne Strümpfe gesehen –, und sie pflegte ganz in derselben Haltung vor ihrem Kamin zu stehen wie Mr. Plaice, ein Stockwerk tiefer, vor dem seinen; oder sie saß an einem Schreibtisch am Fenster und rauchte Zigaretten. Sie fragte mich, was ich zu werden gedächte, und ich antwortete mit einer Bescheidenheit, die man mir, als meinem Rang entsprechend, beigebracht hatte, ich hätte darüber noch gar nicht nachgedacht.

Darauf erwiderte Miß Bumpus: ›Lügner.‹

Diese Bemerkung machte mir Eindruck, und ich sagte: ›Fräulein, ich – ich möchte gerne etwas lernen und weiß nicht recht, wie ich das anfangen soll. Ich weiß nicht, was ich beginnen soll.‹

Miß Bumpus hob bedeutungsvoll die Hand und blies den Rauch ihrer Zigarette durch die Nase. Dann sagte sie: ›Du darfst dich auf keine Sackgassenbeschäftigung einlassen.‹

›Ja, Fräulein.‹

›Weißt du denn, was eine Sackgassenbeschäftigung ist?‹

›Nein, Fräulein.‹

›Eine Beschäftigung, die einen Lohn einbringt, aber zu nichts führt. Eine der zahllosen Fallen der blödsinnigen Pseudo-Zivilisation, die die Menschheit geschaffen hat. Nimm niemals eine Arbeit auf dich, die zu nichts führt, und steck' dir ein hohes Ziel. Ich muß über deinen Fall nachdenken, Harry Mortimer, vielleicht kann ich dir helfen ...‹

Diesem Gespräch folgte eine ganze Reihe weiterer, und Miß Bumpus gewann beträchtlichen Einfluß auf meine Jugend. Sie erklärte mir, daß es trotz der vorgerückten Jahreszeit verschiedene Abendkurse gebe, denen ich mit Nutzen beiwohnen könnte. Sie erzählte mir von allerlei hervorragenden und erfolgreichen Menschen, die ihre Laufbahn so bescheiden und mit so geringen Hoffnungen begonnen hatten, wie ich die meine, und sagte, ich hätte es verhältnismäßig leicht, da mir doch durch mein Geschlecht keinerlei Hindernisse in den Weg gelegt würden. Sie fragte mich, ob ich Interesse für die Frauenstimmrechtsbewegung hätte, und gab mir Karten für zwei Versammlungen, bei denen ich sie sprechen hörte. Sie sprach meiner Meinung nach sehr gut und wehrte die Angriffe verschiedener Personen, die ihre Rede unterbrachen, äußerst wirksam ab. Ich klatschte ihr Beifall, bis mich die Hände schmerzten. Etwas in ihrer leichten und mutigen Haltung dem Leben gegenüber erinnerte mich an Fanny, was ich ihr eines Tages auch sagte, und bevor ich recht wußte, wie mir geschah, hatte ich ihr, wenn auch stockend und beschämt, die Geschichte unserer Familienschande erzählt. Sie zeigte großes Interesse.

›Sah sie Prue ähnlich?‹

›Nein, Fräulein.‹

›Sie war hübscher?‹

›Viel hübscher. Prue kann man ja eigentlich überhaupt nicht hübsch nennen.‹

›Na, hoffentlich geht's ihr gut‹, sagte Miß Bumpus. ›Sie hat ganz recht gehandelt, hoffentlich hat sie keine Enttäuschung erlebt.‹

›Ich würde viel darum geben, wenn ich wüßte, daß es Fanny gut geht ... Ich hab' Fanny sehr gern, Fräulein ... Ach, und ich würde was drum geben, wenn ich sie wiedersehen könnte ... Und nicht wahr, Fräulein, Sie sagen meiner Mutter nicht, daß ich Ihnen von Fanny erzählt habe? Es ist mir nur so entschlüpft.‹

›Mortimer,‹ sagte Miß Bumpus, ›du bist ein anhänglicher Kerl. Ich wünschte, ich hätte auch so einen kleinen Bruder. Sei ganz ruhig, ich werde nichts verraten.‹

Ich fühlte, daß wir herzliche Freundschaft miteinander geschlossen hatten, und die Überzeugung, daß den Frauen das Stimmrecht zuteil werden müsse, wurde meine erste politische Ansicht. Ich folgte ihrem Rat und zog Erkundigungen ein über Kurse in der Nähe, in denen Geologie, Chemie, sowie Französisch und Deutsch gelehrt wurde, und sehr schüchtern brachte ich schließlich die Frage meiner weiteren Ausbildung im Kellergeschoß zur Sprache.«

7

Sarnacs Blick glitt über die vom Feuer beschienenen Gesichter seiner Zuhörer.

»Meine Geschichte muß euch höchst verwunderlich scheinen. Es ist aber eine Tatsache, daß ich, noch keine vierzehn Jahre alt, selbst dafür sprechen mußte, wie nötig mir weiterer Unterricht sei, und bei meinen Angehörigen auf großen Widerstand stieß. Matilda und meine Mutter zogen das ganze Haus von oben bis unten mit in den Streit hinein. Außer Miß Bumpus und Frau Buchholz waren alle gegen mich.

›Bildung‹, sagte Matilda und wiegte den Kopf mit mißbilligendem Lächeln. ›Bildung! Die ist ja ganz schön für Leute, die nichts Besseres zu tun haben. Aber du willst doch vorwärtskommen in der Welt, du mußt verdienen, mein Junge.‹

›Je mehr ich aber gelernt habe, desto besser werde ich verdienen können.‹

Matilda spitzte verächtlich die Lippen und wies gegen die Decke, über der sich das Zimmer des Mr. Plaice befand. ›Das hat man von der Bildung, mein Junge. Ein Zimmer, das mit Büchern vollgestopft ist, und einen kleinwinzigen Gehalt, so winzig, daß man sich das ganze Jahr kaum irgendeine Freude leisten kann. Nur die Nase kann man hoch tragen, aus Stolz auf die Bildung. Was du brauchst, mein Junge, ist eine Anstellung in einem Geschäft, nicht Bildung.‹

›Und wer soll denn für die Kurse zahlen?‹ fragte meine Mutter. ›Das möchte ich wissen.‹

›Ja, das möchten wir alle wissen‹, meinte Matilda Good.

›Wenn ich nichts mehr lernen darf –‹, stieß ich hervor, ließ aber meinen verzweifelten Satz unbeendet; ich war dem Weinen nahe. In meiner Unwissenheit verharren zu müssen, war mir fast so, als ob ich zu lebenslänglichem Kerker verurteilt worden wäre. Ich war nicht der einzige, der solches erlitt, Tausende von armen vierzehn- oder fünfzehnjährigen Jungen damals waren klug genug, um ihre trostlose Unwissenheit zu empfinden, und wußten sich doch keinen Rat gegen die Unterdrückung ihrer geistigen Regsamkeit.

›Hört doch nur,‹ sagte ich schließlich, ›wenn ich tagsüber irgendeine Arbeit bekomme, darf ich dann eine Abendschule besuchen und mir sie selbst zahlen?‹

›Wenn du genug verdienst,‹ sagte Matilda, ›warum schließlich nicht? Es ist nicht schlimmer als ins Kino gehen oder irgend einem Mädel Süßigkeiten kaufen.‹

›Zu allererst mußt du aber hier etwas für dein Zimmer bezahlen und für dein Essen, Mortimer‹, sagte Mutter. ›Es wäre häßlich gegen Fräulein Good, wenn du das nicht tätest.‹

›Das weiß ich wohl‹, entgegnete ich, und mein Mut sank immer mehr. ›Ich werde für Kost und Quartier zahlen, irgendwie wird's schon gehen, ich möchte niemandem zur Last fallen.‹

›Was glaubst du nur eigentlich, daß es dir nützen wird?‹ fragte Matilda Good. ›Vielleicht wirst du einiges lernen, das gebe ich ja zu, und ein Zeugnis bekommen und allerlei Ideen, die nicht zu deinem Stand passen. Alle deine Energie wirst du auf die Lernerei verschwenden, anstatt zu trachten, daß du es zu einer guten Stellung bringst. Und du wirst einen krummen Rücken kriegen und kurzsichtig werden und ewig unzufrieden sein. Aber mach', was du willst. Das Geld, das du dir selbst verdienst, kannst du ausgeben, wie es dir gut scheint ...‹

Mr. Plaice machte mir auch nicht gerade Mut. ›Nun, mein edler Mortimer,‹ sagte er, ›du strebst ja, Arr, wie ich höre, ein höheres Studium an.‹

›Ich weiß sehr wenig und möchte gern noch etwas zulernen.‹

›Und so die Masse des halbgebildeten Proletariats vermehren, wie?‹

Das klang nicht gut. ›Hoffentlich nicht‹, erwiderte ich.

›Und was für Kurse willst du denn besuchen, Mortimer?‹

›Irgendwelche.‹

›Du hast gar keinen Plan, kein bestimmtes Ziel?‹

›Ich denke mir, man wird mich in der Schule beraten.‹

›So so, du willst an Gelehrsamkeit in dich aufnehmen, was immer man dir dort zu geben bereit ist? Wahrhaftig, ein unersättlicher Appetit! Aber indes du – indes du, Arr, an der reichhaltigen Tafel des Wissens schwelgst und einige Zeit mit den Kindern der wohlhabenden Stände wetteiferst, wird dich wohl irgendwer erhalten müssen. Findest du es nicht ein bißchen grausam gegen deine gute Mutter, die sich Tag und Nacht für dich abmüht, wenn du deinerseits nicht auch nützliche Arbeit leistest, wie? Unter den Dingen, Mortimer, die man in den vielgeschmähten Volksschulen lernt, gibt es ein Spiel namens Cricket, nicht wahr? Nun frage ich dich, verträgt sich diese – diese deine Abneigung, deiner Familie zu helfen, indem du möglichst bald tüchtig verdienst, Arr, mit dem Ehrgefühl eines Cricketspielers? Von einem Harry würde ich eine solche Aufführung wohl erwarten, nicht aber von einem Mortimer, mußt du wissen. Noblesse oblige. Überleg' es dir einmal genau, mein Junge. Die Bildung mag ja eine schöne Sache sein, es gibt aber auch so etwas wie Pflicht. Und viele von uns müssen sich mit einem Leben bescheidener Arbeit zufriedengeben, viele von uns, Menschen, die unter glücklicheren Umständen vielleicht Großes geleistet hätten ...‹

Die Moggeridges redeten mir in gleichem Sinne, wenn auch in etwas sanfteren Tönen zu. Meine Mutter hatte auch ihnen den Fall vorgetragen. Ich verspürte in der Regel keine Neigung, längere Zeit in der Atmosphäre der beiden Alten zu verweilen, sie hatten eine altmodische Angst vor Zugluft, und infolgedessen umgab sie stets ein sonderbar modriger Geruch. Überdies waren sie, um es geradeheraus zu sagen, recht schmutzige, alte Leute. Wahrscheinlich hatten sie in Bezug auf Reinlichkeit schon in jungen Jahren an sich und ihre Umgebung keine sehr hohen Anforderungen gestellt und diese mit zunehmendem Alter immer weiter heruntergeschraubt. Ich pflegte ihr Zimmer recht hastig zu betreten und ebenso rasch wieder zu verschwinden.

Doch hatten die beiden gebrechlichen und erbärmlichen Alten eine sehr eindrucksvolle Art, mit sozial niedriger Stehenden umzugehen – das hatten sie während eines halben Jahrhunderts geistlicher Führerschaft unter willfährigen Bauern wohl gelernt. ›Guten Morgen, gnädiger Herr und gnädige Frau‹, sagte ich, indem ich einen Eimer Kohlen absetzte und den leer gewordenen Eimer vom vorigen Tage aufnahm.

Mrs. Moggeridge näherte sich mir mit schwankenden Schritten, um meinen Rückzug aufzuhalten. Sie hatte silberweißes Haar, ein verrunzeltes Gesicht und zusammengekniffene, rotgeränderte Augen. Sie war kurzsichtig und trat, wenn sie mit mir sprach, stets ganz nahe an mich heran, so daß mir ihr Atem ins Gesicht schlug. Sie streckte eine zittrige Hand aus, um mich zum Stehenbleiben zu nötigen, und begann mit zitternder Stimme zu sprechen. ›Und wie geht's Master Morty heute?‹ fragte sie in gütig herablassendem Ton.

›Danke, gnädige Frau, sehr gut‹, erwiderte ich.

›Ich habe etwas recht Betrübliches über dich hören müssen, Morty, etwas recht Betrübliches.‹

›Das tut mir leid, gnädige Frau‹, sagte ich, hatte aber zu meinem Leidwesen nicht den Mut, hinzuzufügen, daß meine Angelegenheiten sie nichts angingen.

›Man sagt mir, daß du unzufrieden seist, Morty, daß du das Gute, das Gott dir gegeben, nicht zu schätzen wissest.‹

Mr. Moggeridge saß in einem Lehnstuhl am Fenster. Er war in Hemdärmeln und Pantoffeln und las Zeitung. Nun blickte er über seine silbergeränderten Brillengläser hinweg zu mir herüber und begann in salbungsvollem Ton zu sprechen.

›Es betrübt mich, zu hören, daß du deiner lieben Mutter Kummer bereitest,‹ sagte er, ›sehr betrübt mich das. Sie ist eine gute, fromme Frau.‹

›Ja, gnädiger Herr‹, entgegnete ich.

›Nicht alle Kinder haben das Glück, so liebevoll und gewissenhaft erzogen zu werden wie du. Vielleicht wirst du eines Tages einsehen, was du deiner Mutter verdankst.‹«

(»Jetzt erst beginne ich es wirklich einzusehen«, unterbrach Sarnac seine Erzählung.)

»›Man sagt mir, du habest dir einen phantastischen Plan zurechtgelegt, wollest Kurse besuchen, anstatt dich einer Arbeit zuzuwenden, die deinem Stand entspricht. Stimmt das?‹

›Ich hab' das Gefühl, daß ich zu unwissend bin, gnädiger Herr‹, erwiderte ich. ›Ich möchte gern noch etwas lernen.‹

›Wissen bedeutet nicht immer Glück, Morty‹, sagte Mrs. Moggeridge, indem sie ganz nahe – viel zu nahe – an mich herantrat.

›Und was für Kurse verlocken dich denn dazu, die Ehrerbietung zu vergessen, die du deiner guten Mutter schuldest?‹ fragte Mr. Moggeridge.

›Das weiß ich noch nicht, gnädiger Herr. Es gibt, wie ich höre, Abendkurse in Geologie, Französisch und dergleichen mehr.‹

Der alte Mann machte eine abwehrende Handbewegung und setzte dazu eine Miene auf, als ob ich derjenige gewesen wäre, der einen üblen Geruch ausströmte. ›Geologie!‹ wiederholte er. ›Französisch – die Sprache Voltaires. Laß dir eines gesagt sein, mein Junge: deine Mutter hat völlig recht, wenn sie dich diese Kurse nicht besuchen lassen will. Die Geologie – die Geologie ist von Anfang bis zu Ende falsch, sie hat in den letzten fünfzig Jahren mehr Schaden angestiftet als sonst irgend etwas. Sie untergräbt den Glauben, sie sät Zweifel. Was ich dir sage, ist wohlbegründet, Mortimer; ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie diese Wissenschaft das Leben braver Menschen zerstört und ihre Seele der ewigen Verdammnis preisgegeben hat. Ich bin selbst ein alter Gelehrter und habe die Werke der meisten dieser sogenannten Geologen studiert – Huxley, Darwin und wie sie alle heißen –, ich habe ihre Bücher sehr sehr sorgfältig und mit allergrößter Duldsamkeit gelesen, und ich sage dir, sie irren, einer wie der andere ... Kann solches Wissen dir Nutzen bringen? Wird es dich glücklicher machen? Oder besser? Nein, mein Junge. Ich aber weiß etwas, was dir von größtem Nutzen sein kann. Etwas, was älter ist als die Geologie, älter und besser. Liebste Sarah, reiche mir, bitte, das Buch, das dort liegt. Ja,‹ fügte er ehrfurchtsvoll hinzu, ›das Buch.‹

Seine Frau reichte ihm eine schwarzgebundene Bibel, deren Deckel zum Schutze gegen allzu rasche Abnutzung an den Rändern mit Metall besetzt waren. ›Mein lieber Junge,‹ sagte er, ›nimm dieses Buch – dieses wohlvertraute alte Buch, nimm es mit meinem Segen. Es enthält alles Wissen, das zu erwerben sich lohnt, alles Wissen, das du hier auf Erden brauchen wirst. Du wirst immer wieder etwas Neues in dem Buche entdecken, immer wieder etwas Schönes.‹ Er hielt mir die Bibel hin.

Das Geschenk anzunehmen, schien mir das beste Mittel, so rasch als möglich aus dem Zimmer herauszukommen. Darum nahm ich es und sagte: ›Vielen Dank, gnädiger Herr.‹

›Versprich mir, daß du darin lesen wirst.‹

›O gewiß, gnädiger Herr.‹

Ich wandte mich zum Gehen, aber es war des Schenkens noch nicht genug.

›Mortimer,‹ ließ sich Mrs. Moggeridges Stimme aufs neue vernehmen, ›versprich auch mir, daß du dort Kraft suchen wirst, wo Kraft zu finden ist, und daß du dich bemühen wirst, deiner lieben, tapferen Mutter fortan ein besserer Sohn zu sein.‹ Und sie reichte mir eine außerordentlich harte, gelbe, kleine Orange hin.

›Danke, gnädige Frau‹, sagte ich, verstaute ihre Gabe in meiner Hosentasche, nahm die Bibel in die eine Hand, den leeren Kohleneimer in die andere und ging.

Zornerfüllt kehrte ich ins Kellergeschoß zurück und legte meine Geschenke auf eine Fensterbank. Irgendetwas trieb mich dazu, die Bibel aufzuschlagen. Auf der Innenseite des Deckels sah ich die halb ausradierten, aber doch noch leserlichen Umrisse eines Aufdrucks in violetter Tinte: ›Wartesaal-Bücherei‹, und zerbrach mir den Kopf, was das bedeuten mochte.«

»Und was bedeutete es denn?« fragte Iris.

»Ganz genau weiß ich es auch heute noch nicht«, entgegnete Sarnac. »Vermutlich hatte der ehrwürdige Herr das heilige Buch auf einer seiner Reisen als stellvertretender Geistlicher in irgendeiner Eisenbahnstation erworben.«

»Was soll das heißen?« fragte Iris.

»Nichts anderes, als was ich sage. Mr. Moggeridge war in vieler Hinsicht recht sonderbar, und seine Frömmigkeit ging, glaube ich, nicht sehr tief. Ich will ihn nicht geradezu der Unehrlichkeit zeihen, doch kann ich ihm eine Neigung zu unlauteren Machenschaften nicht absprechen. Und gleich vielen alten Leuten jener Zeit zog er ein anregendes Getränk einem nahrhaften vor; vielleicht hat das seine ethischen Begriffe etwas in Verwirrung gebracht. Absonderlich war zum Beispiel auch – Matilda Good hatte das als erste bemerkt –, daß er auf seine Reisen fast nie einen Regenschirm mitnahm, bei der Heimkehr aber stets einen in der Hand trug. Einmal hatte er sogar zwei, als er nach Hause kam. Doch behielt er seine Regenschirme nicht lange, er nahm sie auf einen Spaziergang mit und kehrte ohne sie zurück, und zwar stets in fröhlichster Laune. Ich erinnere mich, daß ich eines Tages gerade im Zimmer der alten Leute war, als er von einem solchen Ausflug heimkam. Es hatte geregnet, und sein Rock war ganz naß. Mrs. Moggeridge zwang ihn, sich umzukleiden, und klagte dabei, daß er nun schon wieder seinen Regenschirm verloren habe.

›Nicht verloren,‹ hörte ich den alten Mann mit unendlich sanfter Stimme sagen, ›nicht verloren, meine Liebe, nicht verloren. Aber trotzdem dahin ... dahin, bevor es zu regnen anfing ... Der Herr hat's gegeben ... der Herr hat's genommen.‹

Er schwieg eine Weile, den Rock in der Hand. In Hemdärmeln stand er am Kamin, den einen Arm auf das Kaminsims gestützt, den Fuß auf dem Kamingitter, und sein ehrwürdiges, bärtiges Gesicht starrte ins Feuer. Er schien tief in ernste Gedanken versunken. Dann bemerkte er in etwas weniger feierlichem Ton: ›Zehn Shilling und sechs Pence. Ein sehr guter Regenschirm.‹«

8

»Frau Buchholz war ein armes, mageres, jammervolles Geschöpf von etwa fünfundvierzig Jahren. Ihr Schreibtisch war zumeist von Schriftstücken bedeckt, die irgendeinen dunklen Rechtshandel betrafen. Sie riet mir nicht geradezu von meinem Plane ab, betonte aber sehr nachdrücklich, daß es aussichtslos sei, sich ohne die Kenntnis der deutschen Sprache irgendwelche ›Kultur‹ zu eigen machen zu wollen. Ich glaube, diese Behauptung wurde ihr vorwiegend durch eine verzweifelte Hoffnung eingegeben, daß ich bei ihr Unterricht im Deutschen nehmen würde.

Bruder Ernst war durchaus gegen mein Streben. Er war schüchtern, und das Reden fiel ihm schwer. Er nahm mich in ein Varieté mit und verbrachte einen ganzen langen Abend mit mir, ohne daß er die Sache zur Sprache brachte. Erst auf dem Heimwege, fünf Minuten von der Haustür entfernt, fing er davon an.

›Was ist das nur für eine Geschichte mit dir, Harry – du bist unzufrieden mit deiner Erziehung?‹ fragte er. ›Du hast doch, denke ich, einen recht guten Unterricht genossen.‹

›Ich hab' das Gefühl, daß ich viel zu unwissend bin‹, erwiderte ich. ›Ich kann weder Geschichte, noch Geographie, noch sonst irgendetwas. Nicht einmal die Grammatik der englischen Sprache kann ich ordentlich.‹

›Du kannst genug‹, meinte Ernst. ›Du weißt genug, um eine Stellung anzunehmen. Mehr Kenntnisse würden dich nur hochnäsig machen. Und wir brauchen weiß Gott nicht noch mehr hochnäsige Leute in der Familie.‹

Ich verstand sehr wohl, daß er auf Fanny anspielte, doch nannte selbstverständlich weder er noch ich ihren mit Schmach bedeckten Namen.

›Jedenfalls werd' ich meine Wünsche unterdrücken müssen‹, sagte ich bitter.

›Sehr richtig, Harry. Ich wußte ja, daß du im Grunde ein vernünftiger Kerl bist. Wohin man einmal gestellt worden ist, dort muß man bleiben.‹

Die einzige Aufmunterung, die mir in meinem Streben nach einer geistigen Weiterentwicklung zuteil wurde, kam von Miß Beatrice Bumpus; doch nach einiger Zeit sollte mir auch dieser Trost genommen werden. Meine Mutter begann Miß Bumpus in schmutziger und ganz unglaublicher Weise zu verdächtigen. Ich blieb nämlich, müßt ihr wissen, mitunter zehn Minuten oder sogar noch länger oben bei ihr im Zimmer, und eine so moralische Frau wie meine Mutter, erzogen zu den allerpeinlichsten Vorsichtsmaßregeln der Trennung zwischen männlichen und weiblichen Wesen, konnte sich nicht vorstellen, daß zwei junge Menschen verschiedenen Geschlechtes Gefallen an einander finden und gerne beisammen sind, wenn nicht irgendeine unanständige Vertraulichkeit zwischen ihnen besteht. Die Braven jener Zeit befanden sich infolge des ihnen auferlegten Zwanges in einem Zustande dauernder Überreiztheit und hatten daher die übertriebensten Vorstellungen von den Gelüsten und Neigungen und von der unkontrollierbaren Doppelzüngigkeit normaler menschlicher Wesen. So begann meine Mutter die umständlichsten Manöver, um Prue an meiner Statt hinaufzuschicken, so oft Miß Bumpus etwas zu bestellen oder zu überbringen war. Und wenn sie einmal wirklich oben in ihrem Zimmer ein paar Worte mit mir sprach und ich, meine Schüchternheit überwindend, ihr Rede stand, so beschlich mich bald immer stärker das Gefühl, daß meine Mutter, die arme, irregeführte Frau, draußen auf dem Treppenabsatz stand und in angstvoller Neugierde an der Tür horchte, bereit, plötzlich hereinzustürzen, um Miß Bumpus bloßzustellen, ihr wilde Beschuldigungen an den Kopf zu werfen und sich den Angriffen auf die moralische Reinheit meines Charakters zu widersetzen. Wahrscheinlich wäre mir all das gar nicht zu Bewußtsein gekommen, wenn meine Mutter nicht immer wieder Fragen an mich gestellt und Warnungen hätte laut werden lassen. Nach ihrer Meinung hatte eine richtige Erziehung junge Menschen in Bezug auf alles, was das Geschlechtsleben betrifft, in sorgfältig behüteter Unwissenheit zu halten, begleitet von Schamhaftigkeit und erbärmlicher Angst. Darum waren ihre warnenden Reden gleichzeitig sehr eindringlich und seltsam unklar. Wozu ich denn immer solange da oben bei dieser Frau bliebe? Ich sollte auf das, was sie zu mir sagte, nicht hören, ich müßte sehr vorsichtig sein da oben. Ehe ich mich versehe, könnte ich da in üble Geschichten verwickelt werden; es gäbe Frauen auf dieser Welt, so schamlos, daß man beim bloßen Gedanken an sie erröten müßte. Sie, meine Mutter, hätte sich stets die allergrößte Mühe gegeben, mir alles Böse und Häßliche fern zu halten.«

»Die arme Frau war verrückt!« rief Salaha.

»All die zahllosen Irrenhäuser, die es damals gab, hätten nicht ein Zehntel der Engländer zu fassen vermocht, die in dieser Hinsicht ebenso verrückt waren wie meine Mutter.«

»Mir ist, als wäre alle Welt damals nicht bei Sinnen gewesen«, meinte Heliane. Alle die Menschen, von denen du erzählst, Miß Bumpus vielleicht ausgenommen, sprachen über die Frage deiner Erziehung wie Wahnsinnige! Hatte denn keiner von ihnen ein Gefühl dafür, wie abscheulich, wie niederträchtig es ist, das geistige Wachstum eines jungen Menschen zu unterbinden?«

»Es war eine Welt der Unterdrückung und der Ausflüchte. Solange euch das nicht klar ist, könnt ihr das damalige Leben überhaupt nicht verstehen.«

»Aber daß alle so einsichtslos waren, einer wie der andere!« meinte Beryll.

»Die meisten waren es. Die Mehrzahl der damaligen Menschen war von Furcht erfüllt. ›Unterwirf dich,‹ flüsterte die Angst ihnen zu, ›tu dies nicht und jenes nicht, auf daß du nicht Anstoß erregst. Und vor deinen Kindern – verbirg, was du nur kannst.‹ Was ich euch von der Erziehung des Harry Mortimer Smith erzähle, gilt im allgemeinen für die überwiegende Mehrheit aller Menschen, die damals auf Erden lebten. Ihrem Geist wurde nicht nur alle Nahrung entzogen und dafür Gift gereicht, er wurde mit Füßen getreten und verstümmelt. Die damalige Welt war grausam und verworren, schmutzig und krank, denn sie war von erbärmlichster Furcht geknechtet und hatte nicht den Mut, irgend welche Abhilfe auch nur ins Auge zu fassen. Man pflegte damals in Europa ganz absonderliche Geschichten von der Grausamkeit der Chinesen zu erzählen. Eine davon berichtete, daß in China kleine Kinder in großen Porzellankrügen aufgezogen würden, damit ihr Körper groteske Formen annehme und sie später auf Jahrmärkten für Geld gezeigt oder an reiche Leute verkauft werden könnten. Es steht fest, daß die Chinesen aus irgendeinem dunklen Grunde jungen Frauen die Füße verkrüppelten, und dies mag der Ursprung jenes greulichen Märchens gewesen sein. Die Kinder Englands aber wurden auf ganz dieselbe Weise geistig zu Krüppeln gemacht ... Ihr könnt es mir glauben! Indem ich euch davon erzähle, höre ich auf, Sarnac zu sein, und all der Kummer, all der Zorn des geistig unterdrückten und in seinem Streben gehemmten Harry Mortimer Smith wird wieder lebendig in mir.«

»Hast du denn schließlich irgendwelche Kurse besucht?« fragte Heliane. »Hoffentlich gelang es dir, deine Wünsche durchzusetzen.«

»Es dauerte ein oder zwei Jahre, bis es so weit war. Miß Bumpus tat für mich, was sie konnte. Sie lieh mir eine Menge Bücher, und trotz einer ganz sinnlosen Zensur von seiten meiner Mutter las ich alles mit wilder Gier. Doch wurden – ich weiß nicht, ob ihr das verstehen werdet – meine Beziehungen zu Miß Bumpus durch die Auslegung, die meine Mutter ihnen gab, allmählich vergiftet. Ihr werdet wohl begreifen, daß sich ein Junge in meiner Lage in eine so reizende und ihm so freundlich gesinnte junge Frau verlieben, oder richtiger gesagt, daß er eine schwärmerische Verehrung für sie empfinden mußte. Heutzutage gilt die erste schwärmerische Neigung eines ganz jungen Mannes meist einer Frau, die älter ist als er. Sein Gefühl ist nicht so sehr Liebe als eben, wie gesagt, schwärmerische Verehrung. Wir suchen zunächst kaum eine Lebensgefährtin, sondern vielmehr eine gnädige Göttin, die sich liebevoll-hilfreich zu uns neigt. Ich war verliebt in Miß Bumpus. Aber ich dachte mehr daran, ihr zu dienen oder für sie in den Tod zu gehen, als sie zu umarmen. Nur wenn ich ihr fern war, verstieg sich meine Phantasie manchmal so weit, daß ich davon träumte, ihre Hände zu küssen.

Und da kam nun meine Mutter, besessen von einem abscheulichen Verdacht und von eifersüchtiger Angst um meine sogenannte Reinheit erfüllt, und sprach in einer Weise von meinen demütig dankbaren Gefühlen, als ob sie etwa dem Trieb gleichzustellen gewesen wären, der eine Schmeißfliege zu einem Kehrichthaufen hinzieht. Eine wachsende Scham und Befangenheit trübte mein Verhältnis zu Miß Bumpus. Ich bekam rote Ohren in ihrer Gegenwart, die Zunge war mir gelähmt, und Möglichkeiten, an die ich ohne die Anspielungen meiner Mutter überhaupt niemals gedacht hätte, wurden in meiner Phantasie abscheulich lebendig. Ich träumte in grotesker Weise von Miß Bumpus. Als ich bald darauf eine Stellung außer Hause annahm, hatte ich nur selten mehr Gelegenheit, sie zu sehen. Aus einer individuellen Persönlichkeit und Freundin wurde sie mir, völlig gegen meinen Willen, immer mehr zu einem Symbol der Weiblichkeit.

Unter den Leuten, die sie besuchen kamen, fiel mir ein Mann von etwa vierunddreißig Jahren immer mehr auf, und ich wurde seinetwegen von heftiger und ohnmächtiger Eifersucht gequält. Er kam zum Tee zu ihr und blieb mitunter zwei Stunden oder noch länger. Meine Mutter ließ sich keine Gelegenheit entgehen, seine Besuche in meiner Anwesenheit zu erwähnen. Sie nannte ihn den Liebhaber der Miß Bumpus oder spielte mit schlauem Augenzwinkern auf ihn an: ›Prue, heute war schon wieder jemand da. Ja, ja, wenn ein hübscher junger Mann zur Tür hereinkommt, fliegt das Frauenstimmrecht zum Fenster hinaus.‹ Ich bemühte mich, gleichgültig zu scheinen, errötete aber bis über die Ohren. Haß mischte sich in meine Eifersucht, und tage-, ja wochenlang vermied ich jede Gelegenheit, Miß Bumpus zu sehen. Mit wahrer Wut suchte ich nach irgendeinem Mädchen, das ihr Bild aus meiner Phantasie verdrängen würde.«

Sarnac brach ab und starrte eine Weile ins Feuer. Seine Miene verriet belustigtes Bedauern. »Wie kleinlich und kindisch das alles jetzt scheint!« sagte er. »Und wie bitter – o wie bitter es damals war!«

»Armer, kleiner Junge!« sagte Heliane und strich ihm übers Haar. »Armer, verliebter, kleiner Junge!«

»Wie traurig, wie trostlos muß die damalige Welt allen jungen Geschöpfen geschienen haben!« sagte Salaha.

»Trostlos und erbarmungslos«, entgegnete Sarnac.

9

»Meine erste Stellung in London war die eines Laufburschen bei einem Tuchmacher in der Nähe des Victoriabahnhofes. Ich machte dort Pakete zurecht und trug sie an ihren Bestimmungsort. Etwas später wurde ich Gehilfe bei einem Apotheker, namens Humberg, dessen Laden sich in der Lupus Street befand. Solch ein Drogist und Apotheker – das war im damaligen England dasselbe – glich noch durchaus dem Apotheker, wie wir ihn in Shakespeares Dramen und ähnlichen alten Literaturwerken geschildert finden. Er handelte mit Drogen, Giften, Medizinen, allerlei Gewürzen, Farbstoffen und dergleichen mehr. Ich hatte endlose Reihen von Flaschen zu säubern, verkaufte Drogen und Heilmittel, hielt eine Art Hinterhof in Ordnung und tat, was sonst von mir gefordert wurde.

Unter all den sonderbaren Läden, die es in London gab, war solch eine Drogerie und Apotheke, glaube ich, am allersonderbarsten. Diese Art von Geschäften war seit dem sogenannten Mittelalter ziemlich unverändert geblieben, seit jener Epoche, in der das westliche Europa, abergläubisch, schmutzig, krank und degeneriert, der Reihe nach von den Arabern, den Mongolen und den Türken Prügel bekam, sich noch nicht auf die Ozeane hinauswagte, in schweren Eisenrüstungen kämpfte, sich hinter die Wälle seiner Städte und Schlösser duckte, stahl, vergiftete, mordete und an der Tortur festhielt, und sich dabei einbildete, die Fortsetzung des römischen Reiches zu sein. Das westliche Europa jener Tage schämte sich der ihm eigenen Mundarten und sprach lieber schlechtes Latein; es war zu feige, um den Dingen ins Gesicht zu blicken, und schnüffelte lieber zwischen Rätseln und unleserlichen Pergamenten nach Weisheit. Männer und Frauen wurden lebendig verbrannt, wenn sie die Auswüchse des herrschenden Glaubensbekenntnisses verlachten, und die Sterne des Himmels galten den Europäern von damals nicht mehr als ein Päckchen schmutziger Karten, aus denen die Zukunft geweissagt wird. In jene dunklen Tage also reichte die Tradition des Apothekers zurück, ihr kennt seine Gestalt aus ›Romeo und Julia‹; meine Zeit, die Zeit des Harry Mortimer Smith, war nur durch viereinhalb Jahrhunderte von der Shakespeares getrennt. Die Apotheker und die fast ebenso unwissenden Ärzte jener Tage arbeiteten einander in überheblicher Anmaßung in die Hände: diese schrieben Rezepte, dunkle Phrasen und symbolische Wendungen, und jene stellten die Medizinen her. Im Schaufenster der Apotheke, in der ich arbeitete, standen riesige Glasflaschen voll rot, gelb und blau gefärbten Wassers und warfen einen mystischen Lichtschein auf das Straßenpflaster, sobald die Gaslampen des Ladens durch sie hindurchschienen.«

»Gab's da auch einen ausgestopften Alligator?« fragte Iris.

»Nein, über ausgestopfte Alligatoren waren wir eben hinaus. Doch unterhalb der farbigen Flaschen im Schaufenster hatten wir erstaunliche Porzellangefäße mit vergoldeten Deckeln und geheimnisvollen Aufschriften – wartet einmal! Laßt mich einen Augenblick nachdenken! Eine lautete Sem. Coriand., eine andere Rad. Sarsap. Dann – was stand nur auf dem Tiegel in der Ecke? Marant. Ar., und der am andern Ende trug den Namen C. Cincordif. Und hinter dem Ladentisch, den Kunden sehr auffällig, stand ein Schrank mit hübschen, kleinen Schubladen, die auch wieder Aufschriften trugen: Pil. Rhabarb., Pil. Antibil. und so weiter. Und dann gab es noch endlose Reihen von Flaschen im Laden, mit Ol. Amyg. und Tinct. Iod., Flaschen über Flaschen, sage ich euch, geheimnisvoll und wunderbar. Ich erinnere mich nicht, daß Mr. Humberg jemals etwas aus all diesen gelehrten Schubladen und Flaschen genommen oder gar etwas daraus verkauft hätte. Die wirklich gangbaren Artikel waren saubere, kleine Päckchen von ganz anderem Aussehen; sie standen auf dem Ladentisch aufgeschichtet, nette, anziehend zurechtgemachte kleine Päckchen mit verlockenden Aufschriften wie: wohlriechende und verdauungsfördernde Zahnpasta von Gummidge; Hoopers Hühneraugenpflaster; Luxtones Frauentee; Allheil-Pillen von Tinker und dergleichen mehr. Diese Mittel wurden von den Kunden offen und laut verlangt, sie waren unsere Hauptartikel. Mitunter gab es aber auch Verhandlungen im Flüsterton, die ich niemals ganz verstand. Ich wurde stets unter irgendeinem Vorwand in den Hof hinausgeschickt, sobald ein Kunde mit irgendwelchen geheimnisvollen Anliegen auftauchte, und ich kann nicht umhin, zu vermuten, daß Mr. Humberg die seinem Berufe gesetzten Grenzen gelegentlich überschritt und Ratschläge und Unterweisungen erteilte, die dem Gesetze nach das Vorrecht der Ärzte waren. Ihr müßt bedenken, daß viele Dinge, die wir heutzutage jedermann schlicht und klar lehren, damals als Tabu galten – man stellte sie als dunkel und geheimnisvoll und höchst schmählich und schmutzig hin.

Meine Tätigkeit in dem Apothekerladen erweckte in mir bald den heftigen Wunsch, Latein zu lernen. Ich unterlag der Suggestion, daß die lateinische Sprache der Schlüssel zu allem Wissen sei, ja daß eine Feststellung erst dann echten Wert bekomme, wenn sie lateinisch abgefaßt wird. Für ein paar Kupfermünzen kaufte ich mir in einer antiquarischen Buchhandlung ein abgegriffenes altes Elementarbuch der lateinischen Sprache, von einem Namensvetter Smith verfaßt, und machte mich mit großem Eifer an das Studium. Ich fand, daß die gefürchtete Sprache weit verständlicher, vernünftiger und ehrlicher war als die anderen, in denen ich mich bis dahin versucht hatte, das in seiner schillernden Mannigfaltigkeit verwirrende Französisch und das derbe Deutsch mit seinen hustenden Lauten. Latein war eine tote Sprache, sozusagen nur das Skelett einer Sprache, scharf ausgeprägt in Formen und Wendungen; es lief nicht weg von einem, um stets verändert wiederzukehren, wie lebende Sprachen tun. Nach einiger Zeit konnte ich einzelne Wörter auf unseren Flaschen und Schubladen oder in den Inschriften der Denkmäler in der Westminster-Abtei verstehen, ja sogar ganze Sätze entziffern. Ich erstand allerlei lateinische Bücher in verschiedenen Antiquariaten, manche davon konnte ich lesen, manche auch nicht. Ich erwarb ein Geschichtsbuch, das Julius Caesar, der erste der Caesaren, verfaßt hatte, jener Abenteurer, der die letzten Spuren der römischen Republik vernichtet hat, und ein Neues Testament in lateinischer Sprache und kam mit beiden ziemlich gut zurecht. Ein lateinischer Dichter jedoch, Lucrez mit Namen, machte mir schwere Mühe, ich konnte seinen Satzbau nicht verstehen, nicht einmal mit Hilfe einer englischen Versübersetzung, die das Buch auch enthielt, gelang mir dies. Doch las ich die englische Übersetzung mit größtem Interesse. Es ist höchst bemerkenswert, daß dieser Lucrez, ein alter römischer Dichter, der zwei Jahrtausende vor meiner Zeit – also vier vor der jetzigen – lebte, eine weit richtigere und verständlichere Darstellung des Weltalls und der Anfänge des menschlichen Lebens gibt, als die alten semitischen Legenden, die mir in unserer Sonntagsschule beigebracht worden waren.

Zu den absonderlichsten Eigentümlichkeiten der Tage, da ich als Harry Mortimer Smith auf Erden wandelte, gehörte die Vermengung von Ideen der verschiedensten Zeitalter und Phasen der menschlichen Entwicklung; sie war bei der Unregelmäßigkeit und Zufälligkeit der bestehenden äußerst dürftigen Erziehung unvermeidlich. Verstockte Pedanterie verwirrte in der Schule wie in der Kirche den Geist des Menschen, Europäer des zwanzigsten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung vermengten die Theologie der Pharaonen und die Weltschöpfungsgeschichte der Priester-Könige von Sumerien mit der Politik des siebzehnten Jahrhunderts und der Ethik des Cricketplatzes und des Preisboxerrings, und das in einer Welt, die bereits Aeroplane und Telephone besaß.

Mein Fall ist typisch für die Beschränktheiten der Zeit. In einer Periode stetig um sich greifender neuer Errungenschaften war ich bemüht, mich mit Hilfe der lateinischen Sprache zu dem sehr mangelhaften Wissen des sogenannten Altertums durchzuringen. Ich begann auch Griechisch zu lernen, brachte es darin aber niemals sehr weit. Einmal in der Woche hatten wir früher Geschäftsschluß als die anderen Tage, und ich benützte diese Gelegenheit, um einen Abendkurs für Chemie zu besuchen. Was ich da über Kraft und Materie erfuhr, gehörte einem anderen, einem neueren Zeitalter an als meine bis dahin erworbenen Kenntnisse. Ich war fasziniert von der Offenbarung des Weltalls, die mir zuteil wurde, gab meine griechischen Studien auf und suchte in den schmutzigen Antiquariaten fortan nicht mehr nach lateinischen Klassikern, sondern nach modernen wissenschaftlichen Büchern. Daß Lucrez weniger veraltet war als die Genesis, erkannte ich sehr wohl. Unter den Büchern, aus denen ich viel lernte, war eines von einem Schriftsteller, namens Gregory, es trug den Titel Physiographie; ferner eine Schöpfungsgeschichte von einem gewissen Clodd. Ich weiß nicht, ob es besonders gute Bücher waren, sie kamen mir zufällig in die Hand und sagten meinem Verstand zu. Kommt es euch aus meiner Schilderung voll zum Bewußtsein, unter welch ungeheuerlichen Umständen die Menschheit damals lebte? Ein junger Bursche mußte gierig und verstohlen wie ein Mäuschen, das Futter sucht, sich abmühen, um auch nur zu den Kenntnissen über das Weltall und über sich selbst zu gelangen, die bis dahin erworben worden waren! Ich weiß noch genau, wie ich zum ersten Male von den Unterschieden und Ähnlichkeiten zwischen Affen und Menschen las und von den daraus sich ergebenden Vermutungen über die Beschaffenheit eines Sub-Menschen, der dem eigentlichen Menschen vorangegangen ist. Ich hatte das davon handelnde Buch in die Apotheke mitgenommen und las es in einem Schuppen im Hofe. Mr. Humberg hielt in seinem Privatzimmer hinter dem Laden sein Mittagsschläfchen, horchte dabei aber mit einem Ohr, ob nicht die Ladenglocke ertöne, und ich meinerseits spitzte beide Ohren, eines nach der Ladenglocke, das andere nach dem Hinterzimmer hin, und las dabei zum ersten Male von den Kräften, die mich zu dem gemacht hatten, was ich war – eigentlich aber hätte ich Flaschen auswaschen sollen.

In der Mitte unseres Schaukastens hinter dem Ladentisch befand sich eine Reihe besonders eindrucksvoller Glasgefäße, geschmückt mit wunderschönen Aufschriften in goldenen Lettern: Aqua Fortis, Amm. Hyd. und dergleichen Namen mehr. Als ich eines Tages eben den Laden ausfegte, sah ich, wie Mr. Humberg diese Gefäße kritisch betrachtete. Er hielt eines gegen das Licht und schüttelte mißbilligend den Kopf, weil der Inhalt ganz flockig war. ›Harry,‹ sagte er, ›du siehst hier diese Reihe Flaschen?‹

›Jawohl.‹

›Gieß' sie aus und füll' frisches Wasser ein.‹ Ich starrte ihn an, den Besen in der Hand und entsetzt über eine derartige Verschwendung. ›Werden sie nicht explodieren, wenn ich sie schüttle?‹ fragte ich.

›Explodieren!‹ rief Mr. Humberg. ›Sie enthalten weiter nichts als abgestandenes Wasser. Seit Jahrzehnten war nichts anderes in den Flaschen. Die Arzneistoffe, die ich wirklich brauche, stehen da hinten – es sind heutzutage auch ganz andere als seinerzeit. Wasch' die Flaschen aus – und dann wollen wir sie mit frischem Wasser füllen. Sie müssen da stehen, denn sie machen sich gut, und die alten Weiber, die zu uns kommen, wären trostlos, wenn sie sie nicht mehr sehen könnten.‹«


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