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Zweites Kapitel
Der Anfang des Traumes

1

»Mein Traum begann,« sagte er, »wie unser aller Leben beginnt, in Bruchstücken, mit einer Reihe unzusammenhängender Eindrücke. So entsinne ich mich zum Beispiel, daß ich einmal auf einem Sofa lag, auf einem Sofa, das mit einem merkwürdig harten, rot und schwarz gemusterten, schon fadenscheinigen Stoff bezogen war; ich schrie – warum, weiß ich nicht mehr. Mein Vater erschien in der Tür des Zimmers und blickte mich an. Er sah unheimlich aus, war halb bekleidet, in Hosen und einem Flanellhemd, und das blonde Haar stand ihm ungebürstet in die Höhe; er rasierte sich eben und hatte das Kinn voll Seifenschaum. Und er war böse, weil ich schrie. Ich glaube, ich hörte alsbald zu schreien auf, bin dessen aber nicht sicher. Ein andermal kniete ich auf demselben harten, rot und schwarz gemusterten Sofa neben meiner Mutter, sah zum Fenster hinaus – das Sofa stand gewöhnlich mit der Rückseite gegen das Fensterbrett – und beobachtete, wie der Regen auf die Straße fiel. Das Fensterbrett roch ein wenig nach Farbe – weiche, schlechte Farbe war es, die in der Sonne Blasen geworfen hatte. Es regnete heftig und die Straße, aus sandigem, gelblichem Lehm, war schlecht. Sie war mit schmutzigem Wasser bedeckt, und der Regenguß verursachte eine Menge glänzender Blasen, die der Wind vor sich her trieb, bis sie platzten und ihnen wieder neue folgten.

›Schau sie dir an, Liebling,‹ sagte meine Mutter, ›wie Soldaten.‹

Ich glaube, ich war noch sehr klein, als sich dies ereignete, aber ich hatte doch schon oft Soldaten mit Helmen und Bajonetten vorübermarschieren gesehen.«

»Das dürfte also einige Zeit vor dem Großen Krieg und dem sozialen Zusammenbruch gewesen sein«, sagte Beryll.

»Ja, einige Zeit«, erwiderte Sarnac. Er dachte nach. »Einundzwanzig Jahre vorher. Das Haus, in dem ich geboren wurde, war kaum drei Kilometer von dem großen britischen Militärlager zu Lowcliff in England entfernt; zur Eisenbahnstation Lowcliff hatten wir nur einige hundert Schritt zu gehen. ›Soldaten‹ waren die auffälligste Erscheinung in meiner Welt außerhalb meines Heims. Sie trugen lebhaftere Farben als andere Leute. Meine Mutter pflegte mich jeden Tag in einem sogenannten Kinderwagen spazieren zu fahren, damit ich an die frische Luft käme, und so oft Soldaten auftauchten, rief sie: ›Ei, die schönen Soldaten!‹

›Soldaten‹ muß eines meiner frühesten Wörter gewesen sein. Ich zeigte mit meinem in Wolle gehüllten Fingerchen auf sie – damals zog man nämlich den Kindern ganz unglaublich viel an, und ich trug sogar Handschuhe – und sagte: ›Daten.‹

Ich will versuchen, euch zu schildern, wie mein Heim beschaffen und was für Leute meine Eltern waren. Dergleichen Haushalte, Wohnhäuser und Orte gibt es nun seit langem nicht mehr, es sind uns kaum Überreste von ihnen erhalten, und wenn ihr auch wahrscheinlich viel über die damalige Lebensweise gehört und gelernt habt, so bezweifle ich doch, daß ihr euch die Dinge, die mich umgaben, richtig vorstellen könnt. Der Name des Ortes war Cherry Gardens; er gehörte zu dem größeren Ort Sandbourne und war etwa drei Kilometer vom Meer entfernt. Auf der einen Seite lag die Stadt Cliffstone, von der aus Dampfschiffe nach Frankreich hinüber verkehrten, auf der andern Lowcliff mit seinen endlosen Reihen häßlicher roter Ziegelbauten für das Militär und einem großen Exerzierplatz. Landeinwärts erstreckte sich eine Art Plateau, von neuen, roh beschotterten Straßen durchzogen – ihr könnt euch nicht vorstellen, was für Straßen das waren! – und bedeckt von Gemüsegärten und eben fertiggestellten oder noch im Bau begriffenen Häusern; und dahinter kam eine Hügelkette, nicht sehr hoch, aber ziemlich steil, mit Gras bewachsene, sonst jedoch kahle Hügel, die Downs. Die Downs bildeten einen reizvollen Abschluß meiner kleinen Welt gegen Norden, während sie im Süden von einem saphirfarbenen Meeresstreifen begrenzt wurde, und diese ihre beiden Grenzlinien waren wohl das einzig wahrhaft Schöne in ihr. Alles übrige war von menschlicher Verworrenheit berührt und entstellt worden. Schon als ganz kleiner Junge dachte ich oft, was wohl hinter jenen Hügeln liegen möge, doch erst in meinem siebenten oder achten Jahre trieb mich die Wißbegier, sie zu besteigen.«

»Gab es damals noch keine Aeroplane?« fragte Beryll.

»Die ersten Flugversuche wurden gemacht, als ich elf oder zwölf Jahre alt war. Ich sah den ersten Aeroplan, der den Kanal zwischen dem europäischen Festland und England überquerte. Er galt als etwas ganz Wunderbares. (»Das war er wohl auch«, meinte Heliane.) Ich zog mit einer Schar anderer Knaben aus, und wir drängten uns durch die Menge, die sich rings um die sonderbare Maschine gesammelt hatte und sie anstarrte – sie glich einer riesigen Heuschrecke aus Segeltuch mit ausgespannten Flügeln –, es war auf einem Feld in der Nähe von Cliffstone. Man bewachte das Wunderding, die Leute wurden mittels Stangen und Seilen davon ferngehalten.

Es fällt mir schwer, euch zu schildern, was für Orte Cherry Gardens und Cliffstone waren – obwohl wir eben die Ruinen von Domodossola besucht haben. Auch die Stadt Domodossola muß recht planlos angelegt gewesen sein, aber jene beiden Orte breiteten sich noch weit zweck- und sinnloser über Gottes Erdboden hin aus. Ihr müßt wissen, daß die dreißig oder vierzig Jahre, die meiner Geburt vorangingen, eine Zeit verhältnismäßigen Wohlstands, eine Periode der Produktivität gewesen waren. Selbstverständlich war dies in jenen Tagen keineswegs das Resultat irgendwelcher Staatskunst oder Voraussicht; es ergab sich zufällig – etwa so, wie sich mitten im Lauf eines Regen-Sturzbaches da oder dort ein ruhiger kleiner Tümpel bildet.

Die Geld- und Kreditgebarung funktionierte leidlich gut; Handel und Verkehr blühten; es gab keine weit um sich greifenden Seuchen, nur wenige größere Kriege und etliche besonders gute Ernten. Das Ergebnis dieses Zusammenwirkens günstiger Bedingungen war ein deutlich wahrnehmbarer Aufschwung in der Lebensführung der Allgemeinheit; doch wurde dieser Fortschritt durch eine starke Bevölkerungszunahme zum größten Teil wieder aufgehoben. ›Damals wurde der Mensch sich selbst zur Heuschreckenplage‹, wie es in unseren Schulbüchern heißt. In meinem späteren Leben sollte ich des öftern über ein verbotenes Thema leise flüstern hören, nämlich über eine vernünftige Einschränkung der Geburten; in den Tagen meiner Kindheit jedoch befand sich die ganze Menschheit in einem Zustand völliger und sorgfältig behüteter Unwissenheit über die grundlegenden Tatsachen des menschlichen Lebens und Glücks. Die Menschen um mich herum standen unter dem Druck einer unvorhergesehenen und ungehemmten Vermehrung. Sinnlose Vermehrung, das war das Grundmotiv meiner Umgebung, mein Drama, meine Atmosphäre.«

»Sie hatten aber doch Lehrer, Priester, Ärzte und Herrscher, die sie eines Bessern hätten belehren können«, sagte Salaha.

»Die belehrten sie keines Bessern«, erwiderte Sarnac. »Die Führer und Lenker des Lebens waren damals höchst absonderliche Leute. Es gab ihrer zahllose, aber sie leiteten niemanden. Weit davon entfernt, Männer und Frauen über eine Einschränkung der Geburten oder die Abwehr von Krankheiten zu belehren oder ein edelmütiges Zusammenarbeiten der Allgemeinheit zu fordern, traten sie solchem Fortschritt vielmehr hindernd in den Weg. Der Ort Cherry Gardens war etwa fünfzig Jahre vor meiner Geburt entstanden; aus einem winzigen Dörfchen war er zu einem sogenannten städtischen Vorort geworden. In jener alten Welt, in der es weder Freiheit noch Führung gab, wurde der Grund und Boden in Flecken der verschiedensten Art und Größe aufgeteilt, und die Besitzer konnten, abgesehen von einigen wenigen ärgerlichen und zwecklosen Einschränkungen, die ihnen auferlegt waren, damit tun, was sie wollten. In Cherry Gardens nun kauften sogenannte Häuserspekulanten Grundstücke – oftmals ganz ungeeignet für ihre Zwecke, und bauten Wohnhäuser für den zunehmenden Schwarm der Bevölkerung, die kein anderes Obdach hatte. Dieses Bauen erfolgte völlig planlos. Der eine Spekulant baute hier, der andere dort, jeder aber baute so billig als möglich und verkaufte oder vermietete, was er gebaut hatte, so teuer er konnte. Manche dieser Häuser standen in Reihen, andere voneinander getrennt, mit kleinen Privatgärten ringsherum – man nannte sie Gärten, in Wirklichkeit aber waren es verwilderte oder öde Grundstücke – eingezäunt, um fremde Leute davon fernzuhalten.«

»Warum wollte man fremde Leute davon fernhalten?«

»Es freute den Hausbesitzer, das zu tun – es war ihm eine Befriedigung. Dabei aber waren die Gärten keineswegs den Blicken Neugieriger verschlossen, jedermann konnte über den Zaun gucken, wenn es ihm beliebte. Und jedes Haus hatte seine eigene Küche – es gab keine öffentliche Speiseanstalt in Cherry Gardens –, sowie seine besonderen Haushaltungsgeräte. In der Regel bestand der Haushalt aus einem Mann, der außer Haus arbeitete, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen – man lebte damals eigentlich nicht, um zu leben, sondern vielmehr, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen –, und nur zum Essen und zum Schlafen heimkam, und aus einer Frau, seinem Weib, die allen Dienst versah, für Nahrung sorgte, das Haus rein hielt, und so weiter, und auch Kinder gebar, eine Menge ungewollter Kinder – sie verstand es eben nicht besser. Sie war viel zu beschäftigt, als daß sie sie hätte gut pflegen können, und viele von ihnen starben. Den größten Teil des Tages verbrachte sie mit der Zubereitung der Mahlzeiten. Sie kochte – nun, immerhin, es war ja wohl eine Art Kochen!«

Sarnac machte eine Pause und runzelte die Stirn. »Das Essen damals! Nun ja! Jetzt hab' ich es ja jedenfalls überstanden.«

Beryll lachte belustigt.

»Fast jedermann litt an Verdauungsstörungen, und die Zeitungen wimmelten von Heilmittelanzeigen«, fuhr Sarnac fort, immer noch ganz düster in seiner rückblickenden Betrachtung.

»Es wäre mir niemals eingefallen, diese Seite des Lebens der Vergangenheit ins Auge zu fassen«, meinte Heliane.

»Sie war aber von grundlegender Bedeutung«, sagte Sarnac. »Die damalige Welt war in jeder Hinsicht krank.

Jeden Morgen, den Sonntag ausgenommen, nachdem der Mann sich an seine Arbeit begeben hatte und die Kinder aus den Betten geholt und angezogen und die größeren in die Schule geschickt worden waren, machte die Hausfrau ein wenig Ordnung, und dann kam die Frage der Lebensmittelbeschaffung – für ihr häusliches Kochen. Jeden Werktagmorgen fuhren Männer mit kleinen Pony-Wagen oder Handkarren, die sie vor sich herschoben, die Straßen von Cherry Gardens entlang. Sie hatten Fleisch, Fische, Gemüse und Obst zum Verkauf auf ihren Karren – all das dem Wetter ausgesetzt und jeglichem Schmutz, der daher geweht kam – und riefen mit lauter Stimme aus, welche Art von Ware sie feilboten. Die Erinnerung läßt mich wieder auf dem schwarz-roten Sofa am Fenster stehen, ich bin noch einmal ein kleiner Junge. Es gab da einen Fischverkäufer, der mir besonderen Eindruck machte. Was für eine Stimme der hatte! Ich versuchte, sein prächtiges Geschrei mit meinem schrillen Kinderstimmchen nachzuahmen: ›Makrelen, kauft Makrelen, schöne Makrelen! Drei ein Shilling. Makrelen!‹

Die Hausfrauen kamen aus den geheimen Schlupfwinkeln ihrer Wohnstätten hervor, um zu kaufen oder zu feilschen, und vertrieben sich, wie man damals sagte, bei dieser Gelegenheit ein wenig die Zeit mit den Nachbarinnen. Doch war nicht alles, was sie brauchten, bei den Straßenverkäufern zu haben. Hier setzte die Tätigkeit meines Vaters ein. Er hatte einen kleinen Laden, war ein sogenannter Krämer. Er verkaufte Obst und Gemüse, armseliges Obst und erbärmliches Gemüse, von der Art eben, wie man es damals zu ziehen verstand, ferner Kohlen, Petroleum (man benützte damals Petroleumlampen), Schokolade, Ingwerbier und andere Dinge, die für die barbarische Haushaltung jener Zeit nötig waren. Überdies handelte er mit Schnittblumen und Topfpflanzen, sowie mit Samen, Stöckchen, Bindfaden und Harken für die kleinen Gärten. Sein Laden befand sich in einer Reihe mit einer Anzahl anderer; die Häuserzeile war genau so wie eine gewöhnliche Häuserzeile im Ort, nur hatte man die Erdgeschoßräume zu Laden gemacht. Mein Vater erwarb seinen und unseren Lebensunterhalt, indem er seine Waren so billig einkaufte, als er konnte, und möglichst viel dafür zu bekommen trachtete. Es war ein sehr ärmlicher Verdienst, denn Cherry Gardens hatte außer ihm noch einige Krämer aufzuweisen, tüchtige Kerle, und wenn er zuviel Profit auf seine Waren schlug, gingen seine Kunden weiter und kauften bei seinen Konkurrenten, und er verdiente dann überhaupt nichts.

Ich, mein Bruder und meine beiden Schwestern – meine Mutter hatte sechs Kinder geboren und vier davon waren am Leben – verbrachten unsere Tage in diesem Laden oder in dessen nächster Nähe. Im Sommer waren wir meist vor dem Hause oder in einem Zimmer oberhalb des Geschäftes, in der kalten Jahreszeit aber kostete es zuviel Geld und zuviel Mühe, in jenem Zimmer Feuer anzumachen – man heizte in ganz Cherry Gardens mit offenem Kohlenfeuer – und da mußten wir denn in die finstere unterirdische Küche, in der meine Mutter, die Ärmste, kochte, so gut sie es verstand.«

»Ihr wart ja Höhlenbewohner!« rief Salaha.

»Tatsächlich. Wir nahmen alle unsere Mahlzeiten in dem unterirdischen Raum ein. Im Sommer waren wir wohl sonnverbrannt und rotbäckig, im Winter aber wurden wir infolge dieses – Höhlenlebens blaß und recht mager. Mein Bruder, der zwölf Jahre älter war als ich und mir riesengroß erschien, hieß Ernst, meine beiden Schwestern Fanny und Prudence. Ernst fing bald an, außer Haus zu arbeiten, etwas später ging er dann nach London, und ich sah ihn nur selten, bis zu der Zeit, da ich selbst nach London kam. Ich war das jüngste Kind. Als ich neun Jahre alt war, faßte mein Vater Mut, verwandelte Mutters Kinderwagen in einen kleinen Schubkarren und benützte ihn fortan zur Lieferung von Kohlen und ähnlichen Waren.

Fanny, die ältere von meinen beiden Schwestern, war ein sehr hübsches Mädchen; ihre zarte Hautfarbe stand in lieblichem Gegensatz zu den natürlich gewellten braunen Haaren, die ihr Gesicht anmutig umrahmten, und sie hatte sehr dunkle blaue Augen. Auch Prudence hatte eine helle, aber viel mattere Gesichtsfarbe, und ihre Augen waren grau. Sie neckte mich viel oder nörgelte an mir herum, Fanny hingegen beachtete mich entweder gar nicht oder war sehr freundlich mit mir, und ich liebte sie innig. Merkwürdigerweise kann ich mich an das Aussehen meiner Mutter nicht deutlich erinnern, obwohl sie selbstverständlich die Hauptrolle in meinem jungen Leben spielte. Sie war mir wohl zu vertraut, als daß ich ihr die Art von Aufmerksamkeit zugewendet hätte, die dem Gedächtnis ein Bild einprägt.

Ich lernte von meiner Familie, und zwar hauptsächlich von meiner Mutter sprechen. Keiner von uns sprach gut. Die Redewendungen, deren wir uns bedienten, waren dürftig und schlecht, wir sprachen vieles falsch aus, und lange Wörter vermieden wir, denn sie waren uns zu gefährlich und dünkten uns anmaßend. Ich hatte sehr wenig Spielzeug; ich entsinne mich einer kleinen Blechlokomotive, einiger Zinnsoldaten und einer recht spärlichen Menge von hölzernen Bauklötzen. Niemand wies mir einen bestimmten Platz an, wo ich hätte spielen können; hatte ich mein Spielzeug auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet, so kam sicherlich gerade eine Mahlzeit und fegte mir alles hinweg. Ich weiß noch ganz genau, wie gerne ich mit Gegenständen aus dem Laden gespielt hätte, besonders mit den Brennholzbündeln, die es da gab, und mit gewissen radförmigen Zündspänen, die sehr verlockend auf mich wirkten. Mein Vater aber entmutigte derartige Wünsche. Er sah mich nicht gern im Laden, solange ich noch zu klein war, um ihm zu helfen, und so hielt ich mich, wenn ich nicht ins Freie durfte, meist in dem erwähnten oberen Zimmer auf oder in dem Kellerraum, der als Küche diente. Wenn der Laden geschlossen war, wurde er für meine Knabenphantasie ein kalter, dunkler, höhlenartiger Ort; düstere Schatten lauerten darin, in denen Schreckliches verborgen sein mochte, und selbst wenn ich auf dem Weg zur Schlafstube die Hand meiner Mutter ganz fest hielt, fürchtete ich mich hindurchzugehen. Es war da auch immer ein unangenehm dumpfer Geruch von verfaulendem Zeug; er änderte sich stets ein wenig, je nach dem Obst oder Gemüse, das gerade am meisten verlangt wurde, das Petroleum war aber ein ständiges Element darin. An Sonntagen, wenn der Laden den ganzen Tag geschlossen blieb, machte er einen andern Eindruck auf mich. Er war dann nicht so drohend dunkel, nur sehr, sehr still. Wenn ich zur Kirche oder zur Sonntagsschule geführt wurde, kam ich hindurch. (Ja, ja, von der Kirche und der Sonntagsschule will ich euch sofort erzählen.) Als ich meine Mutter auf dem Totenbette liegen sah – sie starb, da ich noch nicht ganz sechzehn Jahre alt war –, kam mir alsbald der sonntägliche Laden in den Sinn ...

So war das Heim geartet, liebste Heliane, in dem ich mich im Traume sah. Und ich glaubte fest, daß mein Leben dort angehoben habe. Es war der tiefste Traum, den ich jemals träumte. Sogar dich hatte ich vergessen.«

2

»Und wie wurde das zufällig in die Welt gesetzte Kind für das Leben vorbereitet?« fragte Beryll. »Wurde es in einem Kindergarten erzogen?«

»Es gab damals keine Kindergärten, wie wir sie heute besitzen«, sagte Sarnac. »Man hatte sogenannte Elementarschulen, und eine solche besuchte ich, nachdem ich das sechste Lebensjahr vollendet hatte; meine Schwester Prudence brachte mich zweimal täglich hin.

Auch hier fällt es mir schwer, euch ein getreues Bild der Wirklichkeit zu vermitteln. Unsere Geschichtsbücher berichten euch von den Anfängen einer allgemeinen Erziehung in jener fernen Zeit und von dem eifersüchtigen Groll der alten Priesterschaften und gewisser privilegierter Personen gegen die neue Art von Lehrern; doch können sie euch keine lebendige Vorstellung von den elend ausgestatteten Schulhäusern geben, in denen eine viel zu spärliche Zahl von Lehrpersonen wirkte, noch von der tapferen Arbeit dieser schlecht bezahlten und für ihre Aufgabe schlecht vorbereiteten Männer und Frauen, denen die Menschheit die ersten rohen Versuche auf dem Gebiete der Volkserziehung zu danken hat. In der Schule zu Cherry Gardens hatte ein hagerer, dunkelhaariger Mann, der immer hustete, die größeren Knaben unter sich, und ein sommersprossiges kleines Frauchen von etwa dreißig Jahren plagte sich mit den kleineren ab. Heute sehe ich ein, daß sie Märtyrer waren. Wie er geheißen, habe ich vergessen, der Name des kleinen Frauchens war Miß Merrick. Sie hatten riesengroße Klassen zu leiten und bewerkstelligten den Unterricht größtenteils mit Hilfe von Stimme und Gebärde und mit einer schwarzen Tafel, auf der sie mit Kreide schrieben. Ihre Ausstattung mit Lehrmitteln war erbärmlich. Die einzigen, die ihnen in genügender Menge zur Verfügung standen, waren abgegriffene schmutzige Lesebücher, Bibeln und Gesangbücher und eine Anzahl von kleinen Schiefertafeln in Holzrahmen, auf denen wir mit Griffeln schrieben, um Papier zu sparen. Zeichenmaterial hatten wir eigentlich gar nicht; die meisten von uns lernten niemals zeichnen. Ihr könnt es mir glauben! Viele normal entwickelte Erwachsene jener Zeit waren nicht imstande, auch nur eine Schachtel zu zeichnen. Es gab in jener Schule nichts, woran die Schüler hätten zählen lernen können; es gab auch keinerlei geometrische Modelle. Bilder waren nur sehr spärlich vorhanden: eines, das die Königin Victoria darstellte, und ein Blatt mit Tieren; zwei sehr vergilbte Landkarten von Europa und Asien waren um zwanzig Jahre veraltet. Die Grundregeln der Mathematik lernten wir, indem wir sie im Chor aufsagten. Wir standen in Reihen und leierten ein sonderbares Lied, das Einmaleins genannt:

›Einmalzwei–sinzwei,
zweimalzwei–sinvier,
dreimalzwei–sinsechs,
viermalzwei–sinacht.‹

Wir sangen auch im Chor – einstimmig – meist religiöse Hymnen. Die Schule besaß ein altes, aus zweiter Hand gekauftes Klavier, auf dem man unser Geheul begleitete. Als dieses Instrument erstanden wurde, gab es in Cliffstone und Cherry Gardens große Aufregung, man nannte den Kauf einen Luxus, eine Verwöhnung der arbeitenden Klassen.«

»Eine Verwöhnung der arbeitenden Klassen!« wiederholte Iris. »Es wird wohl stimmen. Aber es ist mir völlig unbegreiflich.«

»Ich kann euch nicht alles und jedes erklären«, sagte Sarnac. »Aber ihr dürft mir's glauben: England bedachte die Kinder seines eigenen Volkes mit einem äußerst dürftigen Unterricht und das nur widerwillig; übrigens verfuhren andere Länder ziemlich ähnlich. Man sah die Dinge damals ganz anders als heute. Die ganze Menschheit war besessen von der Idee des Wettbewerbs. Amerika, das sich eines viel größeren Wohlstands erfreute als England – so weit man in Bezug auf die damalige Zeit überhaupt von Wohlstand reden kann –, hatte wenn möglich noch schlechtere und schäbigere Schulen für die Masse des Volks ... Ja, meine Lieben! Ich sage euch, es war so. Ich bin daran, euch eine Geschichte zu erzählen, nicht euch das Universum zu erklären ... Selbstverständlich lernten wir Kinder trotz der hingebungsvollen Bemühungen so tapferer Menschen wie Miß Merrick sehr wenig und dieses Wenige schlecht. Der größte Teil meiner Erinnerungen an die Schulzeit bedeutet Langeweile. Wir saßen auf Holzbänken an abgenutzten Pulten, zahllose Reihen hintereinander. Ich sehe noch all die kleinen Köpfe vor mir – und ganz vorn stand Miß Merrick und versuchte, uns Interesse an den Flüssen Englands beizubringen:

›Tai. Weer. Tihsömber.‹«

»Hast du nun eben das getan, was man damals fluchen nannte?« fragte Salaha.

»Ach nein! Das ist Geographie. Und Geschichte war so:

›Willemdaroberer – tausendsechsundsechzig
Willemrufiß – tausendsiebnundachtzig.‹«

»Was hat das bedeutet?«

»Für uns Kinder? Ziemlich dasselbe, was es für euch bedeutet – Kauderwelsch. O die Stunden, diese nicht endenwollenden Stunden der Kindheit in der Schule! Wie endlos lange sie schienen! Habe ich gesagt, ich hätte in meinem Traume ein ganzes Leben durchlebt? In der Schule durchlebte ich Ewigkeiten. Selbstverständlich erfanden wir allerlei, um uns zu unterhalten. Wir zwickten oder pufften zum Beispiel unseren Nachbarn und sagten: ›Gib's weiter.‹ Oder wir spielten verstohlen mit kleinen Kugeln. Es ist komisch, wenn ich bedenke, daß ich nicht durch den Rechenunterricht, sondern durch das verbotene Kugelspiel zählen lernte, addieren, subtrahieren, und so weiter.«

»Aber was leisteten Miß Merrick und der hustende Märtyrer nun eigentlich?« fragte Beryll.

»Ach, sie konnten ja nicht, wie sie wollten. Sie waren in eine Maschine eingespannt. Es gab regelmäßige Inspektionen und Prüfungen, um festzustellen, ob sie sich an die Vorschriften hielten.«

»Der Singsang ›Willemdaroberer‹ und so weiter,« sagte Heliane, »das bedeutete doch etwas? Dem lag doch, wenn auch verborgen, irgendeine vernünftige oder halbwegs vernünftige Idee zugrunde?«

»Wohl möglich«, meinte Sarnac nachdenklich. »Ich habe sie aber nie entdecken können.«

Iris versuchte, ihm zu Hilfe zu kommen. »Du sagtest, es sei Geschichte gewesen ...?«

»Ja, ja«, bestätigte Sarnac. »Ich glaube, die Kinder sollten Interesse am Tun und Treiben der Könige und Königinnen von England gewinnen. Wahrscheinlich war das eine der langweiligsten Reihen von Monarchen, die die Welt je gesehen hat. Interessant wurden sie uns nur zeitweise, wenn sie Gewalttätigkeit an den Tag legten. Es gab da besonders einen Herrscher, den wir gerne mochten, Heinrich VIII. hieß er; der hatte eine derartige Liebesgier in sich und besaß dabei so viel Ehrfurcht vor der Heiligkeit der Ehe, daß er seine Gemahlin jeweils ermordete, bevor er die nächste nahm. Und dann gab es einen gewissen Alfred, der Kuchen backen sollte – ich weiß nicht, warum – und sie anbrennen ließ, was seinen Feinden, den Dänen, auf irgendeine rätselhafte Weise Schaden brachte.«

»Aber das kann doch nicht alles gewesen sein, was man euch an Geschichte lehrte!« rief Heliane.

»Königin Elisabeth von England trug eine Halskrause, und Jakob der Erste von England und Schottland küßte seine Günstlinge.«

»Aber Geschichte!«

Sarnac lachte. »Ja, es ist absonderlich. Nun, da ich wieder wach bin, sehe ich das sehr gut ein. Ihr könnt mir's aber glauben, mehr wurde uns nicht gelehrt.«

»Erzählte man euch nichts über Anfang und Ende des Lebens, nichts über seine unendlichen Freuden und Möglichkeiten?«

Sarnac schüttelte den Kopf.

»In der Schule nicht«, sagte Stella, die offenbar noch gut wußte, was in ihren Lehrbüchern gestanden hatte. »Das geschah in der Kirche. Sarnac vergißt die Kirchen. Ihr müßt bedenken, daß jenes Zeitalter eines intensiver Religiosität war. Es gab allenthalben Stätten der Andacht. Ein ganzer Tag von sieben wurde der Betrachtung des Menschheitsschicksals und dem Studium der göttlichen Absichten gewidmet. Der Arbeiter feierte an diesem Tage. Von einem Ende des Landes bis zum andern war die Luft erfüllt vom Klange der Kirchenglocken und vom Gesang der Gläubigen. Lag darin nicht eine gewisse Schönheit, Sarnac?«

Sarnac lächelte sinnend. »Es war nicht ganz so, wie du sagst. Unsere Geschichtsbücher bedürfen in dieser Hinsicht einer kleinen Revision.«

»Aber man sieht doch zahllose Kirchen und Kapellen auf alten Photographien und kinematographischen Bildern. Auch besitzen wir ja noch eine Menge der damaligen Kathedralen. Manche von ihnen sind recht schön.«

»Sie mußten allesamt gestützt, die Mauern mit Stahlklammern zusammengeheftet werden,« sagte Heliane, »weil sie nachlässig oder gewissenlos erbaut worden waren. Und sie stammen nicht aus Sarnacs Zeit.«

»Mortimer Smiths Zeit«, verbesserte Sarnac. »Sie wurden Jahrhunderte früher erbaut.«

3

»Ihr dürft die Religiosität eines Zeitalters nicht nach seinen Tempeln oder Kirchen beurteilen«, fuhr Sarnac fort. »Ein ungesunder Körper birgt in der Regel mancherlei in sich, was er abzustoßen nicht die Kraft hat; je schwächer er ist, desto weniger vermag er dem Wachstum abnormer und unnützer Gebilde zu steuern, die an sich mitunter ganz schön sind.

Ich will versuchen, euch das religiöse Leben in meiner Heimat und die religiöse Seite meiner Erziehung zu schildern. Es gab in England eine Art Staatskirche, doch hatte diese zu meiner Zeit ihr offizielles Ansehen bei der Gesamtheit des Volkes bereits zum größten Teil eingebüßt. Sie besaß zwei Gotteshäuser in Cherry Gardens; das eine, ältere, stammte aus den Tagen, da der Ort ein Dörfchen gewesen war, es hatte einen viereckigen Turm und war, verglichen mit anderen Kirchen, recht klein; das andere war neuer, geräumiger und mit einem spitzen Turm versehen. Überdies hatten zwei nicht der Staatskirche angehörende christliche Sekten, die Kongregationalisten und die Methodisten, sowie auch die alte römisch-katholische Glaubensgemeinde ihre Kapellen in Cherry Gardens. Jede dieser Kirchen gab vor, die einzig wahre Form des Christentums zu vertreten, und jede unterhielt einen Geistlichen, das größere Gotteshaus der Staatskirche sogar zwei, einen Pfarrer und einen Unterpfarrer. Ihr denkt nun gewiß, daß in diesen Kirchen Ähnliches dargeboten wurde wie in den Geschichtsmuseen und Visionstempeln, die unsere heutige Jugend besucht; ihr denkt, daß dort die Geschichte der Menschheit und das große Abenteuer des Lebens, an dem wir alle teilhaben, so eindrucksvoll und schön als möglich geschildert, daß die Zuhörer an die Bruderschaft aller Menschen gemahnt und aus dem Kreis selbstsüchtiger Gedanken emporgehoben wurden ... Laßt mich euch berichten, was Religion und Kirche für mich bedeuteten.

Der ersten religiösen Unterweisungen, die ich erhielt, entsinne ich mich nicht mehr. Sehr früh lernte ich ein kleines Gebet in Versen auswendig, das mit den Worten anhob:

›Sanfter Jesus, lieb und lind,
Blick auf mich, dein kleines Kind!‹

Ein anderes Gebet, das ich lernte, blieb mir fast völlig unverständlich. Schon die Anfangsworte ›Vater unser – der du – bis in den Himmel –‹ waren mir ein Rätsel. Es war darin von ›Schulden‹ die Rede, ferner enthielt es die Bitte ›Gib uns unser tägliches Brot‹ und den Wunsch ›Zu uns komme dein Reich‹. Meine Mutter muß mich diese Gebete gelehrt haben, als ich noch ganz klein war, und ich sagte sie jeden Abend auf, manchmal auch des Morgens. Sie hielt offenbar die altehrwürdigen Worte viel zu sehr in Ehren, als daß sie sie mir erklärt hätte. Als ich einmal nicht nur um das tägliche Brot, sondern auch um etwas Butter dazu bat, schalt sie mich heftig. Sehr gerne hätte ich sie gefragt, was wohl mit der guten Königin Victoria geschehen würde, sobald das Reich Gottes käme, doch fand ich nie den Mut dazu. Ich hatte die sonderbare Idee, daß dann eine Heirat geschlossen werden müßte, daß aber noch niemand an diese Lösung gedacht habe. Ich muß damals noch recht jung gewesen sein, denn Victoria die Gute starb, als ich fünf Jahre alt war, während des sogenannten Burenkrieges, eines heute fast vergessenen, aber ziemlich langwierigen Kampfes in Afrika.

Meine kindlichen Zweifel wuchsen, doch als ich das Alter erreicht hatte, in dem Kinder die Kirche und die Sonntagsschule zu besuchen begannen, machten sie einer Art selbstschützerischer Gleichgültigkeit Platz.

Der Sonntag-Morgen bedeutete für meine Mutter die allergrößte Anstrengung der ganzen Woche. Den Abend vorher bekamen wir allesamt in der unterirdischen Küche eine Art Bad, die Eltern ausgenommen, die sich, glaube ich, niemals am ganzen Körper wuschen – ich kann das aber nicht mit Bestimmtheit behaupten –, und am Sonntag-Morgen standen wir etwas später auf als gewöhnlich und zogen reine Wäsche an sowie die besten Kleider, die wir besaßen. (Man trug in jenen Tagen eine erschreckende Menge von Kleidungsstücken. Jedermann war infolge schwächlicher Gesundheit überaus empfindlich gegen Nässe oder Kälte.) In Erwartung größerer Dinge war das Frühstück ein hastiges und durchaus nicht feiertägliches Mahl. Dann mußten wir uns hinsetzen und still verhalten, damit unsere Kleider weder schmutzig würden noch sonst irgendwie Schaden nähmen, und dabei so tun, als ob wir eines der zehn oder zwölf Bücher, die unser Heim besaß, mit Interesse betrachteten oder läsen – bis es Zeit war, zur Kirche zu gehen. Die Mutter bereitete das Sonntagsmahl, meist eine bestimmte Art von Fleischgericht, das Prudence zu einem benachbarten Bäcker trug, wo es gebraten wurde, während wir dem Gottesdienst beiwohnten. Der Vater erhob sich noch später als wir anderen und erschien, seltsam verwandelt, in einem schwarzen Rock, mit Kragen, Vorhemd und Manschetten und mit niedergebürsteten, gescheitelten Haaren. In der Regel gab es irgendeinen unvorhergesehenen Zwischenfall, der unseren Abgang verzögerte. Eine meiner Schwestern hatte ein Loch im Strumpf, oder meine Schuhe waren noch nicht zugeknöpft und der Schuhknöpfer nirgends zu finden, oder eines der Gebetbücher war verlegt worden. Solches verursachte allgemeine Verwirrung, und es gab angstvolle Augenblicke, wenn die Kirchenglocken zu läuten aufhörten und ein monotones Bimmeln ertönen ließen, das den Beginn des Gottesdienstes anzeigte.

›Ach, nun kommen wir wieder zu spät!‹ rief meine Mutter. ›Nun kommen wir wieder zu spät!‹

›Ich geh' mit Prue voraus‹, pflegte der Vater zu sagen.

›Und ich geh' auch mit‹, sagte Fanny.

›Nicht, ehe du mir den Schuhknöpfer gefunden hast, Fräulein Hurlebusch,‹ schrie meine Mutter, ›ich weiß genau, du hast ihn gehabt.‹

Fanny zuckte die Achseln.

›Warum hat der Junge nicht Schnürstiefel wie andere Kinder, das möcht' ich wissen‹, meinte Vater unfreundlich.

Und Mutter, blaß vor Aufregung, erwiderte zusammenfahrend: ›Schnürstiefel in seinem Alter! Abgesehen davon, daß er die Schnürbänder zerreißen würde.‹

›Und was ist das dort auf der Kommode?‹ rief Fanny dann plötzlich.

›Aha, natürlich weißt du, wo er ist.‹

›Ich gebrauch' eben meine Augen.‹

›Um eine Antwort bist du nie verlegen, du schlechtes Geschöpf!‹

Fanny zuckte wieder die Achseln und schaute zum Fenster hinaus. Zwischen ihr und Mutter bestand eigentlich eine weit bösere Verstimmung als dieser Zwist wegen des verlegten Schuhknöpfers. Am Abend vorher war ›Fräulein Hurlebusch‹ noch lange nach Einbruch der Dämmerung außer Haus gewesen, ein arges Vergehen, vom Standpunkt einer Mutter aus betrachtet, wie ich euch später noch erklären werde.

Schwer atmend und mit strenger Miene knöpfte mir Mutter die Schuhe zu, und dann zogen wir endlich los. Prue hängte sich an den Vater, der vorausging, Fanny schritt, verächtlich dreinblickend, etwas abseits dahin, und ich bemühte mich unterwegs, meine in weißen Baumwollhandschuhen steckende kleine Hand dem festen Griff meiner Mutter zu entwinden.

Wir besaßen einen eigenen Platz in der Kirche, eine Bank mit Binsenmatten darauf; an der Rückseite der Bank vor uns war unten eine breit vorspringende Leiste angebracht, auf der wir zum Gebete niederknieten. Wir schoben uns auf unsere Plätze, knieten einen Augenblick nieder, erhoben uns dann und waren nunmehr bereit für den sogenannten Sonntagsmorgen-Gottesdienst.«

4

»Dieser Gottesdienst war nun auch etwas sehr Sonderbares. Wir lesen in unseren Geschichtsbüchern über die alten Kirchen und den damaligen Gottesdienst und vereinfachen und idealisieren das Bild, das wir gewinnen. Wir nehmen alles für bare Münze. Wir sind der Meinung, daß die Menschen die absonderlichen Glaubensbekenntnisse der alten Religionen verstanden und wirklich glaubten; daß sie voll einfältiger Inbrunst zu ihrem Gott beteten; daß ihr Herz erfüllt war von geheimnisvollen Tröstungen und Illusionen – Vorstellungen, die mancher von uns heute wieder zu gewinnen strebt. Doch das Leben ist stets komplizierter als ein Bericht darüber, als jedwede Schilderung. Der menschliche Geist dachte damals trüber und verworrener, er vergaß seine primären Betrachtungen über sekundären, nahm häufig wiederholte, gewohnheitsmäßige Handlungen für beabsichtigte und verlor seine ursprünglichen Regungen aus dem Gesicht. Das Leben ist im Laufe der Zeit klarer und deshalb einfacher geworden. Wir damaligen Menschen hatten ein komplizierteres Leben, weil wir selbst verworrener waren. Und so saßen wir am Sonntagmorgen in den Kirchenbänken, fügsam, aber gleichgültig, ohne wirklich an das zu denken, was wir taten, die Vorgänge um uns mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstande erfassend – und unsere Gedanken kamen und gingen, wie Wasser durch ein undichtes Gefäß sickert. Wir beobachteten die anderen verstohlen, aber genau und waren uns stets bewußt, daß wir ebenso beobachtet wurden. Wir standen auf, beugten die Knie und setzten uns, wie es die rituellen Gepflogenheiten erforderten. Ich erinnere mich noch lebhaft an das lange andauernde und vielfältige Geräusch, das entstand, so oft die versammelte Gemeinde sich hinsetzte oder erhob.

Der Vormittagsgottesdienst bestand aus Gebeten der Priester – Vikar und Kurat nannten wir sie – und aus Wechselreden zwischen ihnen und der Gemeinde, ferner wurden Hymnen in Versen gesungen und einzelne Stellen aus der hebräisch-christlichen Bibel gelesen; und schließlich folgte eine Predigt. Von dieser Predigt abgesehen, hatte der Gottesdienst eine genau festgelegte Form, die vorschriftsmäßigen Gebete, Wechselreden und so weiter standen in den Gebetbüchern, doch war die Abfolge nicht immer dieselbe, wir mußten oft Seiten überschlagen oder zurückblättern, und für mich kleinen Jungen, der ich noch dazu zwischen einer übergeschäftigen Mutter und Prue saß, war das Auffinden der richtigen Stellen eine schwere geistige Anstrengung.

Der Gottesdienst hob traurig an und behielt in der Regel bis zum Ende sein düsteres Wesen. Wir waren allesamt elende Sünder, weit entfernt vom Heile, und wir äußerten eine gelinde Verwunderung darüber, daß unser Gott uns gegenüber nicht zu gewaltsamen Maßregeln griff. In einem umfangreichen Teil des Gottesdienstes, die Litanei genannt, zählte der Priester mit offensichtlichem Wohlbehagen alles erdenkliche Unheil auf, das die Menschheit betreffen kann, Krieg, Pestseuchen, Hungersnot und so weiter, und die Gemeinde rief in gleichmäßigen Abständen ›O Herr, erlöse uns‹ dazwischen. Eigentlich hätte man meinen sollen, daß derlei nicht so sehr das höchste Wesen als vielmehr die Verwalter unserer internationalen Beziehungen sowie unseres Gesundheits- und Ernährungswesens angehe. Dann sprach der den Gottesdienst leitende Priester eine Reihe von Gebeten – für die Königin, die Lenker des Staates, die Ketzer, alle Unglücklichen, Reisende – und schließlich eines, das eine gute Ernte erflehte. Ich schloß daraus, daß die göttliche Vorsehung all die genannten Personen sowie auch die Ernte gefährlich vernachlässige. Die Gemeinde verstärkte die Anstrengungen des Priesters, indem sie immer wieder im Chor dazwischen rief: ›Wir flehen zu dir, o Gott! Erhöre uns.‹ Die Hymnen waren von verschiedener Art, die meisten jedoch brachten ein überschwengliches Lob unseres Schöpfers zum Ausdruck, und eine wie die andere wimmelte von unrichtigen Reimen und falschen Silbenmaßen. Wir dankten dem Himmel für seine Wohltaten, und zwar ohne jedweden ironischen Hintergedanken, doch hätte uns eine allmächtige Gottheit den Dank für den recht unsichern Kohlen- und Gemüsehandel in Cherry Gardens, sowie für all die Arbeit und Sorge meiner Mutter und die Mühe meines Vaters wohl erlassen können.

Im Grunde schob dieser Gottesdienst bei aller äußerlichen Lobhudelei dem angebeteten göttlichen Wesen die Schuld an jedwedem Unglück auf Erden zu und machte es verantwortlich für den Zustand der Verworrenheit und des Elends, in dem sich die Menschheit befand. Sonntag für Sonntag wurde da dem Geiste junger Menschen, soweit der Gottesdienst ihre instinktive, selbstschützerische Gleichgültigkeit zu durchbrechen vermochte, durch Gesang, Gebet und Gebärde eingeprägt, daß die Menschheit nichtswürdig und hoffnungslos sei, das hilflose Spielzeug eines launischen, reizbaren, eitlen und unwiderstehlichen höheren Wesens. Die Macht dieser Suggestion verdunkelte ihnen die Sonne des Lebens, verbarg das Wunderbare vor ihrem Blick und nahm ihnen allen Mut. So fremd jedoch blieb diese Lehre der Erniedrigung dem Menschenherzen, daß der größte Teil der Gemeinde, in den langen Reihen der Kirchenbänke sitzend, stehend oder kniend, ganz mechanisch nur Sätze hersagte oder Lieder sang und dabei an tausend näherliegende Dinge dachte, die Nachbarn beobachtete, Geschäfte und Vergnügungen plante oder sich in Träumereien erging.

Manchmal, aber nicht immer, wurden in den Sonntagsmorgen-Gottesdienst Teile einer anderen Kirchenzeremonie, der sogenannten Kommunion, eingeschoben. Die Kommunion war ein zusammengeschrumpftes Überbleibsel der katholischen Messe, die wir aus unsern Geschichtsbüchern kennen. Wie ihr wißt, quälte sich die Christenheit neunzehn Jahrhunderte, nachdem das Christentum angehoben hatte, immer noch vergebens, den eingewurzelten Gedanken eines mystischen Blutopfers loszuwerden, jene Tradition der Opferung eines Gottmenschen zu vergessen, die so alt war wie der Ackerbau und die Seßhaftigkeit des Menschen. Die englische Staatskirche war so sehr ein Gebilde des Kompromisses und der Tradition, daß in den beiden Gotteshäusern, die sie in Cherry Gardens besaß, das Problem jenes Opfers in ganz verschiedener Weise betrachtet wurde. Das eine, die neue und prächtige St. Jude-Kirche, übertrieb die Wichtigkeit der Kommunion, nannte sie Messe, nannte den Tisch, an dem sie zelebriert wurde, Altar, nannte den Geistlichen, Mr. Snapes, Priester und betonte im allgemeinen die altheidnische Auslegung der ganzen Sache. Das andere hingegen, die alte kleine St. Osyth-Kirche, nannte ihren Priester einen Prediger, ihren Altar den Tisch des Herrn und die Kommunion das heilige Abendmahl, leugnete jede mystische Bedeutung dieser Zeremonie und ließ sie nur als eine Erinnerung an das Leben und den Tod Christi gelten. Diese Gegensätze zwischen dem uralten Tempelkult des Menschengeschlechtes und der neuen geistigen Freiheit, die seit drei oder vier Jahrhunderten emporzudämmern begann, gingen zur Zeit, da ich als kleiner Junge in der Kirche saß und bemüht war, mich anständig zu betragen, weit über meinen jungen Verstand. Für mich bedeutete die Zeremonie der Kommunion nichts weiter als eine arge Verlängerung des normalerweise schon sehr beschwerlichen Gottesdienstes. Ich war damals von einem rührenden Glauben an die Kraft des Gebetes erfüllt, und ohne zu bedenken, wie wenig schmeichelhaft der Inhalt meiner Bitte war, pflegte ich während der Eingangsgebete des Gottesdienstes zu flüstern: ›Lieber Gott, laß heute keine Kommunion sein! Lieber Gott, laß heute keine Kommunion sein!‹

Zum Schluß kam die Predigt. Sie war eine Originalkomposition des Geistlichen, Mr. Snapes, und das einzige im ganzen Gottesdienst, das nicht vorschriftsmäßig festgesetzt und nicht schon tausende Male wiederholt worden war.

Mr. Snapes war ein rosiger junger Mann, mit rötlichblondem Haar; sein glatt rasiertes Gesicht zeigte rundliche Formen wie ein Büschel Champignons und trug einen Ausdruck glückseliger Selbstzufriedenheit; seine Stimme klang fettig. Er hatte eine Art, den weiten Ärmel seines weißen Priesterrockes zurückzuschlagen, indem er eine gezierte Handbewegung nach oben machte, die in mir eine jener unerklärlichen Abneigungen erweckte, wie Kinder sie zuweilen haben. Ich haßte diese Gebärde, lauerte auf sie und krümmte mich, so oft sie kam.

Die Predigten gingen so sehr über meinen Verstand, daß ich eigentlich nichts über ihren Inhalt sagen kann. Snapes sprach von Dingen wie den ›Tröstungen des allerheiligsten Sakramentes‹ oder der ›Tradition der Kirchenväter‹. Sehr weitläufig ließ er sich über die Kirchenfeste aus, über die Adventzeit, den Tag der heiligen drei Könige und Pfingsten, und er benützte eine stehende Formel des Übergangs zur Betrachtung unserer Zeit: ›Und auch wir, liebe Brüder, haben unsere Adventzeit und unser Fest der heiligen drei Könige.‹ Dann kam er auf den bevorstehenden Besuch König Eduards in Lowcliffe zu sprechen, oder auf Kontroversen, die den Bischof von Natal oder den von Zanzibar betrafen. Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie fernab das alles von den wichtigen Angelegenheiten unseres täglichen Lebens lag.

Und dann, wenn ich armer kleiner Kerl bereits kaum mehr zu hoffen wagte, daß die glatte Stimme jemals zu reden aufhören werde, kam plötzlich eine kleine Pause und gleich darauf die erlösenden Worte: ›Und nun, im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes –‹

Es war überstanden! Eine Bewegung ging durch die Kirche. Wir erhoben uns, knieten noch einen Augenblick, scheinbar betend, hin, suchten dann nach Hüten, Überröcken und Regenschirmen und traten schließlich ins Freie hinaus. Da gab es ein großes Fußgetrappel auf dem Pflaster, die Leute zerstreuten sich da und dort hin, Bekannte begrüßten einander steif, Prue lief zum Bäcker, um den Sonntagsbraten zu holen, und wir anderen gingen geradewegs nachhause.

Gewöhnlich gab es köstliche Bratkartoffeln zur Fleischspeise, manchmal auch eine Obsttorte. Im Frühling aber war diese gewöhnlich aus Rhabarber gemacht, was ich nicht leiden konnte. Es hieß, Rhabarber sei mir besonders zuträglich, und ich mußte immer besonders viel von der Rhabarbertorte essen.

Am Nachmittag war Sonntagsschule oder ›Kindergottesdienst‹, und von der Gegenwart der Eltern befreit, begaben wir drei Kinder uns ins Schulgebäude oder wieder in die Kirche, um in den Besonderheiten unseres Glaubensbekenntnisses unterrichtet zu werden. In der Sonntagsschule lehrten Personen, die für diese Aufgabe weder vorbereitet, noch sonst im geringsten geeignet waren; werktags kannten wir sie als Ladenverkäufer oder dergleichen, einer war Schreiber bei einem Auktionator, ein anderer ein schwerhöriger Greis mit buschigem Haar. Sie teilten uns in Klassen auf und hielten uns Vorträge über das Leben und die recht zweifelhaften Taten des Königs David von Israel, Abrahams, Isaks und Jakobs, über die schlechte Aufführung der Königin Jesabel und dergleichen Themen mehr. Auch sangen wir leichte Hymnen im Chor. Mitunter erzählten uns unsere Lehrer auch von Christus, aber ohne jedwedes Verständnis; sie schilderten ihn als eine Art Zauberkünstler, der Wunder wirkte und die Toten auferweckte. Somit habe er uns ›erlöst‹, behaupteten sie – trotz der offenkundigen Tatsache, daß wir wahrhaftig nicht erlöst waren. Ihr wißt ja, daß die Lehre Christi zwei Jahrtausende hindurch unter einem Wust von Geschichten über Auferstehung und Wundertaten begraben lag. Er war ein Licht, das in der Finsternis schien, und die Finsternis wußte nichts davon. Von der großen Vergangenheit des Menschen, von den langsamen Fortschritten der Völker und Rassen auf dem Gebiete des Wissens, von ihren trüben Ängsten, ihrem dunklen Aberglauben und den ersten Siegen der Wahrheit, von der Niederkämpfung und Veredlung der menschlichen Leidenschaften im Verlaufe langer Zeitalter, von Forschung und Entdeckung, von den schlummernden Kräften unseres Körpers und unserer Sinne und von den Gefahren und den Aussichten, unter denen wir selbst, die Menschenscharen unserer Zeit, dumpf dahinlebten, schwer irrend und doch immer wieder von Hoffnung und Verheißung erfüllt: von all dem erfuhren wir nichts. Man deutete uns nicht im entferntesten an, daß es eine Gemeinschaft aller menschlichen Wesen gebe und letzten Endes ein gemeinsames Schicksal der ganzen Menschheit. Unsere Lehrer wären entsetzt gewesen, wenn man derlei in der Sonntagsschule erwähnt hätte.«

»Und wohlgemerkt,« sagte Sarnac, »eine bessere Vorbereitung auf das Leben als die Art Unterricht, den ich empfing, gab es damals überhaupt nicht. Die alte St. Osyth-Kirche wurde von einem Geistlichen, namens Thomas Benderton, geleitet, dessen Gemeinde von Jahr zu Jahr abnahm, weil er die Leute durch Drohungen mit den Schrecknissen der Hölle in Angst zu versetzen pflegte. Er hatte meine Mutter in die St. Jude-Kirche hinübergescheucht, indem er in seinen Drohpredigten immer wieder den Teufel erwähnte. Sein Lieblingsthema war die Sünde der Götzendienerei, und wenn er davon sprach, bezog er sich stets im besonderen auf das Gewand, das Mr. Snapes bei Zelebrierung der Kommunion trug, überdies auch auf eine dunkle Prozedur mit Brot und Wein während dieser Zeremonie.

Was die Kongregationalisten und Methodisten in ihren Gotteshäusern und Sonntagsschulen taten und lehrten, weiß ich nicht genau, denn meine Mutter wäre in einen Paroxismus religiösen Entsetzens verfallen, wenn ich irgendeiner Versammlung einer fremden Sekte beigewohnt hätte. Ich weiß aber, daß ihre Riten nichts als eine Vereinfachung unserer Kirchengebräuche waren, wobei sie sich noch etwas weiter von der alten Messe entfernten, dafür aber um so zäher am Teufel festhielten. Die Methodisten insbesondere legten großen Nachdruck auf den Glauben, daß die meisten Menschen nach den Entbehrungen und dem Elend dieses Lebens in die Hölle kommen und dort die entsetzlichsten Qualen zu erdulden haben würden. Ich wurde darüber genau belehrt, als ein Junge aus einer Methodistenfamilie, ein wenig älter als ich, mir eines Tages während eines gemeinsamen Spazierganges nach Cliffstone von seinen Befürchtungen in dieser Hinsicht erzählte.

Es war etwas Geducktes in seiner Haltung, und er hatte eine eigentümliche Art, die Luft durch die Nase zu ziehen. Gewöhnlich trug er einen langen, weißen Schal um den Hals, eine Erscheinung wie die seine gibt es nun seit Jahrhunderten nicht mehr auf der Welt. Wir schlenderten über die Strandpromenade, die sich längs der Klippen hinzog, an einem Musikpavillon vorbei und an Reihen von Strandstühlen, auf denen Leute saßen oder lagen. Scharen von Menschen in den sonderbaren Festtagskleidern der damaligen Zeit bevölkerten die Strandpromenade, dahinter erhoben sich die blaßgrauen Häuser, in denen sie wohnten. Und mein Gefährte sprach: ›Mr. Molesly sagt, das Jüngste Gericht kann jeden Augenblick hereinbrechen – kann anbrechen in feuriger Pracht, bevor wir noch bis hinunter ans Ende des Strandwegs gelangt sind. Und dann werden all die Leute gerichtet ...‹

›So wie sie da sind?‹

›Ja, so wie sie da sind! Die Frau dort mit dem Hund und der Dicke, der da in seinem Stuhl schläft, und – der Polizist.‹

Er hielt inne, selbst ein wenig erstaunt über die hebräische Kühnheit seiner Gedanken. ›Auch der Polizist‹, wiederholte er. ›Sie werden gewogen und zu leicht befunden werden, und dann kommen die Teufel und martern sie. Martern den Polizisten, verbrennen ihn und schneiden ihn in Stücke. Und jeden andern auch. Schreckliche, schreckliche Martern ...‹

Ich hatte bis dahin die Anwendung der christlichen Lehre niemals in solcher Weise ausmalen gehört und ich war bestürzt.

›Ich würde mich verstecken‹, sagte ich.

›Er würde dich aber sehen. Er würde dich sehen und dich den Teufeln zeigen‹, sagte mein kleiner Freund. ›Er sieht auch jetzt die bösen Gedanken in uns.‹«

»Ja, aber glaubten denn die Menschen derartigen Unsinn?« rief Heliane.

»Soweit sie überhaupt an etwas glaubten«, erwiderte Sarnac. »Ich gebe zu, es ist schrecklich, aber es war so. Könnt ihr euch vorstellen, welch verkrampfte Gemüter sich unter solchen Lehren in unseren unterernährten und infizierten Körpern entwickelten?«

»Nur wenige können das groteske Märchen der Hölle wirklich geglaubt haben«, meinte Beryll.

»Mehr Menschen, als man denken sollte, glaubten es«, sagte Sarnac. »Selbstverständlich beschäftigten sich nur wenige andauernd damit – sonst wären sie ja wohl verrückt geworden –, aber latent schlummerte es in vielen Gemütern. Und die anderen? Bei den meisten hatte diese grauenhafte Auffassung der Welt und des Daseins eine Art passiver Abwehr zur Folge. Sie leugneten jene Vorstellung nicht, unterließen es aber, sie ihrem Gedankenkreis wirklich einzuverleiben. So entstand etwas wie eine tote Stelle in ihnen, eine Narbe, da, wo ein Empfinden für das Menschheitsschicksal hätte sein sollen, eine Vision des Lebens über die individuelle Existenz hinaus ...

Es fällt mir schwer, den Gemütszustand zu schildern, in den wir hineinwuchsen. Geist und Gemüt der Kinder nahmen durch jene Lehre Schaden; ein normales geistiges Wachstum wurde durch sie unmöglich gemacht, es wurde, in einer Hinsicht zumindest, unterbunden. Vielleicht nahmen wir das groteske Märchen von der Hölle gar nicht völlig in uns auf, glaubten nicht ernstlich daran; trotzdem bewirkte es, daß wir ohne lebendigen Glauben und ohne Lebensziel aufwuchsen. Der Kern unseres religiösen Empfindens war eine unterdrückte Angst vor der Hölle. Die wenigsten Menschen wagten es, diese Furcht ans Tageslicht zu bringen. Es galt als geschmacklos, von solchen Dingen oder überhaupt von irgendwelchen wesentlichen Fragen des Daseins zu sprechen, einerlei ob gläubig oder zweifelnd. Man durfte höchstens versteckt darauf anspielen oder darüber scherzen. Fortschrittliche Äußerungen wurden zumeist unter der Maske der Scherzhaftigkeit gemacht.

Geistig war die Welt in den Tagen des Mortimer Smith völlig verirrt; wie ein Hund, der sich verlaufen und jede Spur verloren hat. Wohl waren die damaligen Menschen, ihrer Veranlagung nach, den heutigen durchaus ähnlich, aber sie waren krank an Geist und Körper, sie hatten keinen Halt, keinen festen Boden unter den Füßen. Wir, die wir im Licht wandeln und vergleichsweise einfache und gerade Wege gehen, können die Verworrenheit, die verschlungene Vielfältigkeit des damaligen Denkens und Handelns kaum begreifen. Es gibt heute kein geistiges Leben mehr auf der Welt, das sich mit jenem vergleichen ließe.«

5

»Ich glaube, ich habe die Hügelkette der Downs bereits erwähnt, die die Welt meiner Kinderzeit gegen Norden hin abschloß. Lange, bevor ich imstande war, hinaufzuklettern, beschäftigte mich der Gedanke, was wohl jenseits dieser Bergkette liegen möge. Im Sommer ging die Sonne hinter ihrem westlichen Ende unter, goldene Pracht über sie verbreitend. In meinen kindlichen Phantasien tauchte die Vorstellung auf, daß das Jüngste Gericht auf jenen Hügeln gehalten werden würde, und daß hinter ihnen jene himmlische Stadt liegen müsse, in die uns Mr. Snapes eines Tages – in einer Prozession selbstverständlich und mit fliegenden Fahnen – führen werde.

Ich muß acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Male den Kamm jener Schranke meiner Kindheitswelt bestieg. Ich erinnere mich nicht, mit wem ich hinaufging, weiß auch sonst keine Einzelheiten mehr, doch ist mir die Enttäuschung sehr lebhaft im Gedächtnis, die ich empfand, als ich auf der anderen Seite der Hügel einen langen, sanften Abhang erblickte und nichts sah als Felder und Hecken und einzelne Gruppen weidender Schafe. Ich weiß nicht mehr, was ich eigentlich erwartet hatte. Das erste Mal betrachtete ich übrigens offenbar nur den Vordergrund des Bildes, das sich bot, und erst nach etlichen derartigen Ausflügen nahm ich die weitläufige Mannigfaltigkeit der Gegend nördlich der Downs in mich auf. Man hatte dort oben eine sehr weite Fernsicht, an einem klaren Tag sah man eine blaue Hügelkette, die dreißig bis vierzig Kilometer entfernt war, und der Blick schweifte über Wälder und Wiesen, über braungefurchtes Ackerland, das zur Sommerzeit goldenes Korn trug, über Dorfkirchen zwischen grünen Bäumen und über glitzernde Seen und Teiche. Im Süden hob sich der Horizont, indem man die Hügel emporstieg, und der Meeresgürtel wurde breiter. Darauf machte mein Vater mich aufmerksam, als ich einmal mit ihm über die Downs ging.

›Steig so hoch du willst, Harry,‹ sagte er, ›die See steigt mit dir. Da ist sie, siehst du, in gleicher Höhe mit uns, und trotzdem sind wir jetzt viel höher als Cherry Gardens. Dabei überschwemmt sie Cherry Gardens aber nicht. Warum überschwemmt sie es nicht, wenn sie es doch überschwemmen könnte? Sag mir das einmal, Harry.‹

Ich wußte keine Erklärung.

›Die Vorsehung,‹ sagte mein Vater triumphierend, ›die Vorsehung gebietet dem Meer Halt. So weit und nicht weiter. Und da drüben, guck, wie klar man es sehen kann, das ist Frankreich.‹

Man sah die französische Küste besonders deutlich an jenem Tage.

›Manchmal sieht man Frankreich und manchmal sieht man es nicht‹, sagte mein Vater. ›Daraus kann man auch etwas lernen, mein Junge, wenn man nur will.‹

Mein Vater hatte die Gewohnheit, jeden Sonntag, im Sommer wie im Winter, nach dem Tee über die Downs nach Chessing Hanger zu marschieren, einem Ort, der neun oder zehn Kilometer entfernt war. Er besuchte dort Onkel John, Onkel John Julip, den Bruder meiner Mutter, der bei Lord Bramble of Chessing Hanger Park Gärtner war. Ich wußte das schon als kleines Kind, aber erst später, als Vater mich mitzunehmen begann, wurde mir klar, daß weder schwägerliche Zuneigung den Hauptanlaß zu diesen Ausflügen bildete, noch das Bedürfnis nach Bewegung im Freien, wie es ein Mann, der die ganze Woche in seinem Laden verbringt, wohl haben mochte. Das Wesentliche an diesen Expeditionen waren die Bündel, mit denen beladen wir nach Cherry Gardens zurückkehrten. Wir aßen jedesmal Abendbrot in dem gemütlichen kleinen Gärtnerhäuschen, und wenn wir dann aufbrachen, bepackten wir uns stets mit einer nicht allzu auffälligen Menge von Blumen, Obst oder Gemüse, Sellerie, Erbsen, Pilzen und dergleichen mehr, und marschierten durch die Dämmerung, im Mondschein, durch völlige Dunkelheit oder im Regen, je nach der Jahreszeit und dem Wetter, nach unserem kleinen Laden zurück. Der Vater schwieg oder pfiff leise vor sich hin, manchmal verkürzte er den Weg durch einen Vortrag über die Wunder der Natur und die Güte der Vorsehung gegen den Menschen.

Einmal, an einem mondhellen Abend, sprach er vom Mond. ›Schau ihn dir an, Harry,‹ sagte er – ›er ist eine tote Welt, wie ein Totenschädel hängt er da droben, seiner Seele beraubt, die sozusagen sein Fleisch war, und aller seiner Bäume, die man, wenn du mich recht verstehst, als seine Haupt- und Barthaare hätte bezeichnen können – kahl und tot für alle Zeit. Ein ausgetrockneter Knochen. Und alle, die da lebten, sind auch dahin, sind Staub und Asche.‹

›Wo sind sie denn hingekommen, Vater?‹ fragte ich.

›Sie sind gerichtet worden‹, erklärte er mit Wohlbehagen. ›Könige und Krämer, Harry, alle, alle sind gerichtet, und die Guten sind in die ewige Seligkeit, die Bösen zu ewigem Leiden eingegangen. Zu ewigem Leiden infolge ihrer Gottlosigkeit. Sie sind gewogen und zu leicht befunden worden.‹

Lange Pause.

›Schade‹, sagte er.

›Wie, Vater?‹

›Schade, daß es vorbei ist. Es wär' hübsch, ihnen zuzuschauen, wenn sie da oben noch herumliefen. Gemütlich wär' es. Aber man darf an der Weisheit der Vorsehung nicht zweifeln. Am Ende würden wir immerfort hinaufgucken und dann stolpern ... Weißt du, Harry, wenn du was in der Welt anschaust und meinst, es ist verkehrt, dann mußt du eine Weile darüber nachdenken und du wirst finden, daß es viel weiser ist, als du zuerst geglaubt hast. Man kann die Vorsehung nicht immer ergründen, aber sie ist immer weise. Du, laß nicht die Birnen an dein Knie bammeln, mein Junge, das tut ihnen nicht gut.‹

Auch über verschiedene merkwürdige Gepflogenheiten der Tiere, besonders der Zugvögel, sprach mein Vater gern.

›Du und ich, Harry, wir haben die Vernunft, die uns leitet. Die Tiere aber, Vögel, Würmer und alle, die haben den Instinkt. Sie spüren einfach, daß sie dieses oder jenes tun müssen, und tun es. Der Instinkt hält den Walfisch im Wasser und läßt den Vogel durch die Luft fliegen. Wir dagegen gehen dorthin, wo die Vernunft uns hinführt. Ein Tier kannst du nicht fragen, warum hast du das oder jenes getan, du mußt es hauen. Einen Menschen aber kannst du fragen, und er muß antworten, weil er eben ein vernünftiges Wesen ist. Und darum, Harry, haben wir Gefängnisse und andere Strafen und sind für unsere Sünden verantwortlich. Für jede Sünde, ob sie groß ist oder klein, müssen wir uns verantworten. Ein Tier jedoch ist nicht verantwortlich. Es ist unschuldig. Man haut es, oder man läßt es eben sein, wie es ist ...‹

Er dachte eine Weile nach. ›Bei Hunden und manchen alten Katzen ist es anders‹, sagte er dann. ›Ich hab' einige sündige Katzen gekannt, Harry.‹

Über die Wunder des Instinktes ließ er sich weitläufig aus.

Er erklärte mir, wie Schwalben, Stare, Störche und andere Zugvögel durch den Instinkt Tausende von Meilen weit getrieben werden, und wie unterwegs viele von ihnen ertrinken oder sich an Leuchttürmen zu Tode stoßen. ›Wenn sie hier blieben, würden sie erfrieren oder verhungern‹, sagte er. Und jeder Vogel wisse instinktmäßig, welche Art von Nest er bauen müsse, niemand zeige es ihm. Das Känguruh werde vom Instinkt angewiesen, seine Jungen in seiner Beuteltasche mit sich herumzutragen, der Mensch hingegen mache sich als vernünftiges Geschöpf einen Kinderwagen. Die Küchlein liefen vom Instinkt geführt herum, sobald sie aus dem Ei gekrochen sind; wohingegen Menschenkinder getragen und versorgt werden müßten, bis ihnen die Vernunft kommt. Und es sei ein Glück für die Küchlein, daß sie gleich liefen, denn die Henne könne sie ja unmöglich herumtragen.

Ich erinnere mich, daß ich den Vater in Verlegenheit setzte, indem ich fragte, warum der Instinkt die Zugvögel nicht davor behüte, sich an Leuchttürmen die Köpfe einzustoßen, oder die Motten daran hindere, in Gas- oder Kerzenflammen zu fliegen. Es war nämlich sehr unangenehm, an einem Sommerabend in dem Zimmer über dem Laden zu lesen, denn es fielen einem immer wieder halb verbrannte Schnaken und Nachtfalter auf das Buch. ›Wahrscheinlich soll ihnen eine Lehre gegeben werden‹, sagte Vater schließlich. ›Aber was für eine, weiß ich eigentlich nicht recht, Harry.‹

Manchmal erklärte er mir an Beispielen, daß unrecht Gut nicht gedeihe. Oder er erzählte mir von Mordtaten – es geschahen damals noch ziemlich viele Morde auf der Welt – und wie sie immer entdeckt würden, so schlau der Mörder auch zu Werke gehe. Und immer wieder wies er mit bewunderndem Ernst auf die Güte, die Weisheit, die Umsicht und den Scharfsinn der Vorsehung hin.

Mit solchen Gesprächen verkürzten wir unsere langen und mühseligen Märsche zwischen Cherry Gardens und Chessing Hanger. Aus den Worten meines Vaters klang dabei stets so viel Begeisterung, daß ich mir nur mit wahrem Entsetzen schließlich eingestand, was wir eigentlich jeden Sonntagabend taten: Wir stahlen oder empfingen gestohlenes Gut aus den Gärten des Lord Bramble. Ich wüßte wahrhaftig nicht, wie wir ohne diesen allwöchentlichen Beutezug uns hätten durchschlagen sollen. Die Familie lebte hauptsächlich von dem Anteil meines Vaters am Gewinn aus diesen Geschäften. Wenn die Waren für Cherry Gardens zu gut oder zu teuer waren, brachte er sie nach Cliffstone und verkaufte sie dort einem Freund, der ein feineres Geschäft hatte.«

Sarnac machte eine Pause.

»Fahr' fort«, sagte Beryll. »Wir beginnen deine Geschichte zu glauben. Sie klingt immer mehr so, als hättest du sie wirklich erlebt. Sie ist eine so eingehende Schilderung. Wer war dieser Lord Bramble? Seit langem möchte ich mehr über die ehemaligen Lords erfahren.«

6

»Ihr müßt mich meine Geschichte auf meine Weise erzählen lassen«, sagte Sarnac. »Wenn ich auf eure Fragen eingehe, so verliere ich den Faden. Jeder von euch möchte hundert Fragen an mich stellen, über Dinge, die ich erwähnt habe, und Einzelheiten, die mir vertraut, euch aber unverständlich sind, weil unsere Welt sie vergessen hat. Wenn ich euch nachgebe, so werdet ihr mich immer weiter weglocken von meinem Vater und meinem Onkel Julip, und wir werden dann bei einem Gespräch über Sitten und Gebräuche und über Philosophie und historische Ereignisse enden. Ich aber will euch meine Geschichte erzählen.«

»Fahr' fort mit deiner Geschichte«, sagte Heliane.

»Dieser Onkel John Julip, der Bruder meiner Mutter, war ein zynischer und eigensinniger Mann. Er war recht klein und dicker, als Gärtner damals zu sein pflegten. Er hatte ein glattes, weißes Gesicht und ein erfahrenes, selbstzufriedenes Lächeln. Anfänglich sah ich ihn nur an Sonntagen, er war dann gewöhnlich in Hemdärmeln und trug einen großen Strohhut. So oft ich zu ihm kam, machte er herabsetzende Bemerkungen über meine Körperbeschaffenheit und über die Luft von Cherry Gardens. Seine Frau hatte irgendeiner Sekte angehört und war nur widerwillig der englischen Staatskirche beigetreten. Auch sie war blaß, und ihr Gesundheitszustand war nicht der beste, sie klagte stets über Schmerzen. Der Onkel aber verlachte sie und sagte, dort, wo sie Schmerzen zu haben vorgebe, könne man gar keine haben. Es gebe Magendrücken, Schmerzen im Rücken, Sodbrennen und Leibschmerzen, weiter nichts. Ihre Schmerzen seien nur Einbildung und könnten daher kein Mitleid erwecken.

Als ich etwa dreizehn Jahre alt war, faßten Vater und Onkel den Plan, daß ich nach Chessing Hanger übersiedeln und dort Gärtnergehilfe werden sollte. Mir mißfiel dieser Gedanke durchaus; nicht nur, daß ich den Onkel nicht gern hatte, ich fand auch Graben und Jäten und alle Gartenarbeit außerordentlich ermüdend und langweilig. Ich las sehr gerne und liebte Sprachen, hatte wohl auch etwas von der Redseligkeit meines Vaters geerbt, und ein kleiner Aufsatz hatte mir kurz vorher in der Schule besonderes Lob eingetragen. Dies hatte eine ehrgeizige Hoffnung in mir erweckt – ich wollte schreiben, Zeitungsartikel, wenn möglich sogar Bücher. In Cliffstone gab es eine sogenannte Leihbibliothek, die Einwohner des Ortes konnten dort lesen oder auch Bücher entlehnen – ich holte mir in der Ferienzeit fast jeden Tag ein neues Buch –; in Chessing Hanger gab es nichts dergleichen. Meine Schwester Fanny ermutigte mich, viel zu lesen; auch sie verschlang Bücher, namentlich Romane, und sie teilte meine Abneigung gegen den Plan, daß ich Gärtner werden sollte.

In jenen Zeiten, müßt ihr wissen, machte man keinerlei Versuch, die natürlichen Fähigkeiten eines Kindes abzuschätzen. Man erwartete von jedem menschlichen Wesen, daß es für eine beliebige Gelegenheit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, dankbar sei. Die Eltern zwangen ihre Kinder zu dieser oder jener Beschäftigung, die sich aus äußeren Umständen ergab, und infolgedessen hatten die meisten Menschen einen Beruf, der ihnen nicht taugte, ihren natürlichen Gaben keine Entfaltungsmöglichkeit bot und sie in der Regel zu verkrampften und unharmonischen Geschöpfen machte. Schon dies allein verbreitete eine latente Mißzufriedenheit über die ganze Welt. Die Mehrzahl der Menschen litt unter einem Zwang, der ihnen jede Möglichkeit positiven Glücks raubte. Die meisten jungen Menschen, Mädchen sowohl als auch Knaben, erfuhren, indem sie heranwuchsen, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine schmerzliche Verkürzung ihrer Freiheit; sie sahen sich plötzlich ohne eigene Wahl zu irgendeiner Berufsarbeit gezwungen, aus der sie nur schwer wieder herauskonnten. In meinem Leben kam ein Sommer-Ferientag, an dem ich meine bisherigen Freuden, meine Spiele und die beglückende Beschäftigung des Lesens in Cliffstone aufgeben und über die Hügel zu Onkel John Julip wandern mußte, um bei ihm zu bleiben und zu sehen, ob er mich brauchen könne. Ich kann heute noch den bitteren Widerwillen nachempfinden, das Gefühl, geopfert zu werden, das mich erfüllte, während ich mein kleines Köfferchen über die Downs nach Chessing Hanger schleppte.

Lord Bramble war einer jener Grundbesitzer, Beryll, die unter den hannoveranischen Königen bis zur Regierungszeit der Königin Victoria eine so große Rolle spielten. Weite Gebiete Englands gehörten ihnen als Privatbesitz; sie konnten damit tun, was ihnen beliebte. In den Tagen Victorias der Guten und ihrer unmittelbaren Vorgänger führten diese Grundbesitzer, die als Mitglieder des Oberhauses des englischen Parlaments das Reich regiert hatten, einen aussichtslosen Kampf um die Vorherrschaft gegen die neue Klasse der Industriellen. Diese Industriellen beschäftigten um ihres persönlichen Gewinnes willen die große Masse des Volkes in der Eisen- und Stahl-, Woll- und Baumwoll-Industrie sowie in der Bierbrauerei und der Schiffahrt. Sie wichen schließlich einem anders gearteten Spekulantentypus, der das Annoncenwesen, die politische und finanzielle Ausbeutung der Zeitungen und neue Finanzmethoden entwickelte. Die alten Grundbesitzerfamilien mußten sich den neuen Mächten anpassen oder wurden beiseite geschoben. Lord Bramble war einer der Beiseitegeschobenen, ein verbitterter, altmodischer, verarmter Gutsbesitzer, der tief in Schulden steckte. Sein Besitz, der viele Quadratkilometer umfaßte, bestand aus Bauerngehöften nebst den dazugehörigen Äckern und Wiesen, aus Wäldern, einem großen, unbequemen Wohnhause, das für seine zusammengeschrumpften Mittel viel zu weitläufig war, und aus einem Park von einigen Quadratkilometern. Der Park war arg vernachlässigt; viele der alten Bäume waren vom Holzschwamm zerfressen und faulten, es wimmelte darin von Kaninchen und Maulwürfen, und große Teile waren von Disteln und Nesseln überwuchert. Junge Bäume gab es überhaupt nicht. Die Umfriedungen und Tore waren übel zusammengeflickt, da und dort zogen sich schlecht gepflegte Straßen hin. Dafür waren aber zahlreiche Tafeln angebracht, auf denen drohende Warnungen an Unbefugte, insbesondere immer wieder die Aufschrift »Verbotener Durchgang« zu lesen stand. Denn die Bewegungsfreiheit des gewöhnlichen Mannes einschränken zu können, war das Vorrecht des britischen Grundbesitzers, an dem sein Herz am meisten hing, und Lord Bramble behütete seine Wüstenei mit Inbrunst. Weite Gebiete guten Grunds und Bodens in England befanden sich damals in einem ähnlichen Zustand der Abgeschlossenheit und des malerischen Verfalles.«

»In diesen Gebieten wurde gejagt«, sagte Beryll.

»Woher weißt du das?«

»Ich habe einmal ein Bild gesehen, das Jäger der damaligen Zeit darstellte. Sie standen in einer Reihe längs des Waldsaumes, die herbstliche Färbung der Bäume auf dem Bilde ließ einen leisen Fäulnisgeruch und einen Hauch von Feuchtigkeit in der Luft vermuten. Ich glaube, man schoß mit Bleikügelchen auf Vögel.«

»Ganz richtig. Und die sogenannten Treiber – ich wurde einige Male zu diesem Dienst gezwungen – trieben ihnen die Vögel, insbesondere Fasane, zu. Jagdgesellschaften pflegten regelmäßig nach Chessing Hanger zu kommen, und dann wurde einen Tag um den anderen gejagt. Die Schießerei vollzog sich mit großer Feierlichkeit.«

»Warum aber taten die Leute das?« fragte Salaha.

»Ja«, sagte Beryll. »Warum nur?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Sarnac. »Ich weiß nur, daß zu gewissen Jahreszeiten die Mehrzahl der englischen Herren, die als die Führer der Intelligenz des Landes galten, die angeblich sein Schicksal leiteten und seine Zukunft in Händen hatten, in die Wälder und in das Heideland hinauszogen, um dort mit Hilfe ihrer Schießwaffen Vögel verschiedener Art in Scharen hinzumorden, Vögel, die nur zum Zwecke dieser sogenannten Jagd unter beträchtlichem Kostenaufwand gezüchtet wurden. Die edlen Jäger wurden von Wildhütern begleitet; sie stellten sich in Reihen auf, und bald widerhallte der Wald vom Knall ihrer Gewehre. Die Höchstgestellten des Landes beteiligten sich würdevoll an dieser nationalen Funktion und handhabten ihre Mordwaffen mit vornehmem Ernst. Diese Klasse war tatsächlich gerade nur soweit über völlige geistige Stumpfheit hinaus, als nötig ist, um am Geknall eines Schießgewehres und am Anblick eines verwundet herabstürzenden Vogels Freude zu haben. Sie wurden dieses Vergnügens nicht müde. Der Knall eines Gewehres war anscheinend eine wunderbare Sensation für diese Leute. Es ging ihnen nicht um das Töten allein, denn dann hätten sie ja dem Schlachten von Schafen, Ochsen oder Schweinen beiwohnen können; diesen Sport überließen sie jedoch Männern einer niedrigeren sozialen Klasse. Das Wesentliche war ihnen das Schießen, insbesondere Vögel im Fluge zu schießen. Wenn Lord Bramble nicht gerade daran war, Fasane oder Waldhühner zu töten, dann schoß er in Südfrankreich auf angstvoll flatternde Tauben mit gestutzten Flügeln, die man eben erst aus ihren Käfigen herausgelassen hatte. Oder er jagte – es handelte sich dabei nicht um eine wirkliche Jagd, nicht um einen ehrlichen Kampf mit Bären, Tigern oder Elefanten in einem Dschungel – er machte Jagd auf Füchse, übelriechende kleine Tiere mit rötlichem Fell von der Größe eines Wasserhundes, deren Aussterben man eben wegen der Sportfreuden der adeligen Herren sorgfältig verhütete. Man jagte sie auf bebautem Grund und Boden, die Jäger waren zu Pferd und von einer Hundemeute begleitet. Lord Bramble kleidete sich für dieses famose Unternehmen stets sehr sorgfältig in eine rote Jacke und Kniehosen aus Schweinsleder. Seine übrige Zeit verbrachte der gute Mann mit Kartenspielen; er liebte besonders ein Spiel, Bridge genannt, das so beschränkt und mechanisch war, daß heutzutage jedermann nach einem Blick auf die Karten das wahrscheinliche Resultat der Partie vorauswüßte. Einen großen Teil seiner Zeit verbrachte er übrigens auch damit, Pferderennen beizuwohnen. Die Pferde, die für diese Rennen verwendet wurden, waren eine besonders schwächliche Zucht. Auch zu diesem Anlaß kleidete sich Lord Bramble sehr sorgfältig. In den illustrierten Zeitschriften unserer Leihbibliothek hatte ich des öfteren Bilder von ihm gesehen; mit einem sogenannten Zylinder auf dem Kopf, war er ›im Gestüt der Rennpferde‹ oder auch ›mit einer befreundeten Dame‹ photographiert worden. Um den Pferderennsport und die damit verknüpften Wetten, welches Pferd gewinnen würde, spann sich ein emsiges Getriebe der Eingeweihten. Die Ernährungsweise des edlen Lord Bramble war verhältnismäßig vernünftig, nur im Genuß von Portwein tat er etwas zu viel des Guten. Man rauchte damals noch. Lord Bramble rauchte drei bis vier Zigarren am Tag, Pfeifen hielt er für plebejisch, Zigaretten waren ihm zu weibisch. Er pflegte eine Zeitung zu lesen, niemals aber ein Buch, denn er war andauernder Aufmerksamkeit unfähig. In der Stadt pflegte er des Abends ein Theater oder ein sogenanntes Varieté zu besuchen, in dem es mehr oder weniger entkleidete Frauen zu sehen gab. Leute wie Lord Bramble waren nämlich infolge der damaligen Sitte, sich zu bekleiden, von einer zimperlichen Lüsternheit nach dem Anblick nackter Frauen erfüllt. Die normale Schönheit des menschlichen Körpers war ein Geheimnis, und ein gut Teil der Kunstgegenstände und des Zimmerschmucks im Herrenhause von Chessing Hanger spielte in anregender Weise Verstecken mit dem verbotenen Anblick.

In dem verflossenen Dasein, von dem ich euch erzähle, nahm ich die Lebensweise des Lord Bramble als etwas Selbstverständliches hin, jetzt aber beginne ich zurückblickend einzusehen, wie ungeheuerlich absurd diese Leute doch waren, die ihre Zeit damit verbrachten, erschreckte Vögel hinzumorden, Pferde und Stallknechte hielten und heimlich nach weiblichen Hüften und Schultern guckten. Die Frauen dieser Männer sympathisierten mit ihrer sinnlosen Schießerei, waren entzückt von den Pferden, liebten Schoßhunde, zwerghafte und erbärmliche kleine Geschöpfe, und ließen sich die erwähnten verstohlenen Blicke gerne gefallen.

Dieser Art war das Leben der damaligen Aristokraten. Sie waren tonangebend für das, was damals als gesunde und prächtige Lebensweise galt. Die anderen Klassen der Bevölkerung bewunderten sie sehr und ahmten sie, soweit sie nur konnten, nach. Der kleine Pächter schoß Kaninchen, wenn er schon nicht auf die Fasanenjagd gehen konnte; und da ihm Zwanzigpfundnoten für die eleganten Pferderennen zu Goodwood nicht zur Verfügung standen, setzte er doch bei dem bescheidenen Rennen in Cliffstone seine zwei Shilling auf ein Lieblingspferd und wohnte diesem Wettspiel stolz bei, den Hut möglichst ebenso in die Stirn gedrückt wie Lord Bramble und König Eduard.

Zahllose Menschen äfften in ihrer Lebensweise die Gepflogenheiten und Traditionen der führenden Aristokraten nach. Da war zum Beispiel mein Onkel John Julip. Sein Vater sowie auch sein Großvater waren Gärtner gewesen, und fast alle seine Verwandten mütterlicherseits gehörten der sogenannten dienenden Klasse an. Unter all den Leuten, die in Lord Brambles Diensten standen, zeigte kein einziger ein natürliches Gehaben; sie ahmten alle, mit mehr oder weniger Erfolg, irgendeine Dame oder einen Herrn der Aristokratie nach. Das Ideal Onkel Julips war ein gewisser allbekannter Sir John Cuthbertson. Er kaufte sich ebensolche Hüte wie dieser und versuchte sich in ähnlichen Gebärden.

Und gleich seinem Vorbild machte er große Wetten bei den Pferderennen, hatte dabei aber meist Pech. Darüber war meine Tante recht böse, doch daß ihr Gatte in Kleidung und Gehaben Sir John ähnelte, machte ihr entschieden Freude.

›Wenn er nur als Aristokrat auf die Welt gekommen wäre,‹ pflegte sie zu sagen, ›dann wär' ja alles in Ordnung gewesen. Er ist ein geborener Sportsmann; die Gartenarbeit ist nichts für ihn.‹

Jedenfalls überanstrengte er sich nicht bei der Gartenarbeit. Ich erinnere mich nicht, daß ich ihn jemals graben oder eine Karre schieben gesehen hätte. Er pflegte im Garten zu stehen, eine Harke in der einen Hand, mit der er herumfuchtelte, als ob sie eine Reitpeitsche wäre, mit der anderen gestikulierend und andere zur Arbeit antreibend.

Meinem Vater und mir gegenüber setzte er stets eine bewußt aristokratische und höchst würdevolle Miene auf. Dabei war mein Vater beträchtlich größer als er und auch weitaus gescheiter. Er sprach meinen Vater immer nur kurzweg ›Smith‹ an.

›Was willst du mit dem Jungen anfangen, Smith?‹ pflegte er zu fragen. ›Ich glaube, der braucht bessere Kost und frische Luft.‹

Mein Vater, der zwar insgeheim die allgemeine Ansicht teilte, daß Onkel John, unter einem glücklicheren Stern geboren, einen prächtigen Edelmann abgegeben hätte, war stets bemüht, sich, wie er sagte, nicht allzu viel von ihm gefallen zu lassen, und nannte ihn deshalb ›John‹. Er pflegte zu antworten: ›Ich habe noch keinen bestimmten Entschluß gefaßt, John. Vorläufig ist der Junge ein richtiger Bücherwurm, man kann ihm zureden, wie man will.‹

›Bücher!‹ rief Onkel John. Er besaß eine dem Engländer überhaupt eigene Verachtung für Bücher. ›Aus Büchern kannst du nichts herausholen, was nicht hineingetragen worden wäre. Das ist klar. Bücher sind bestenfalls gepreßte Blumen, sagte Seine Lordschaft erst neulich beim Dinner.‹

Der Gedanke machte Eindruck auf meinen Vater. ›Ja, das sage ich ihm auch‹, meinte er, welche Behauptung nicht ganz stimmte.

›Und dann, wer wird etwas Wissenswertes in ein Buch schreiben?‹ fuhr der Onkel fort. ›Da könnte man ebenso gut von den Kerlen, die in den Zeitungen über die Rennen schreiben, erwarten, daß sie einem einen nützlichen Wink geben. Den behalten sie aber lieber für sich!‹

›Ja, ja,‹ stimmte mein Vater zu, ›ich denke mir auch immer, daß die Leute, die Bücher schreiben, einem was aufbinden und einen obendrein noch auslachen.‹ Dann faßte ihn mitten in seiner Überlegung eine fromme Ehrfurcht. ›Trotzdem, John, gibt es Ein Buch.‹

Er dachte an die Bibel.

›Ach was, davon rede ich ja nicht, Smith‹, sagte der Onkel unwirsch. ›Jedem Tag das Seine – ich meine, mit der Bibel befass' ich mich am Sonntag.‹

Meine Probezeit als Gärtnergehilfe war mir schwer. Während jenes unerquicklichen Monats wurde ich einige Male mit einem Korb voll Gemüse oder Obst in das Herrenhaus hinübergeschickt. Ich ließ mir dort Mitteilungen entlocken, die für Onkel Julip unheilvoll werden und meine eigenen Aussichten in der Gärtnerlaufbahn vernichten sollten.

Mr. Petterton, der erste Diener im Herrenhause, war auch ein Aristokraten-Nachäffer, aber größeren Stils als mein Onkel. Er hatte eine imposante Figur und blickte einen von oben herab an. Der Halskragen, den er trug, bohrte sich in sein rosiges Doppelkinn, und sein Haar war gelb und glänzte von Pomade. Ich hatte ihm einen Korb Gurken abzuliefern und ein Bündel blauer Blüten, Gurkenkraut genannt, aus denen man ein Getränk bereitete. Er stand an einem Tisch und sprach ehrerbietig mit einem kleinen, rothaarigen Mann – Lord Brambles Agent, wie ich später erfuhr –, der ein Käsebrot aß und Bier dazu trank. Außerdem war noch ein junger Diener im Zimmer, einem unterirdischen Raum mit vergitterten Fenstern, und putzte mit großem Fleiße Silbergeschirr.

›Du bringst das also aus der Gärtnerei‹, sagte Mr. Petterton ironisch lächelnd zu mir. ›Und darf ich fragen, warum Mr. – warum Sir John sich nicht selbst herabläßt herzukommen?‹

›Er trug mir auf, die Sachen zu bringen‹, erwiderte ich.

›Und wer bist du, wenn ich fragen darf?‹

›Ich heiße Harry Smith. Mr. Julip ist mein Onkel.‹

›Ah!‹ sagte Mr. Petterton, und es schien ihm plötzlich ein bestimmter Gedanke zu kommen. ›Du bist der Sohn des Gemüsewarenhändlers Smith in Cliffstone?‹

›In Cherry Gardens, Herr.‹

›Ich hab' dich bisher noch nie gesehen, mein Junge. Bist du früher schon manchmal bei uns gewesen?‹

›Hier im Herrenhause nicht.‹

›Nein, hier nicht, aber vielleicht in der Gärtnerei?‹

›In der Gärtnerei war ich fast jeden Sonntag.‹

›So, so. Und hat es da nicht gewöhnlich etwas mit nachhause zu nehmen gegeben, mein Junge?‹

›Ja, fast immer.‹

›Etwas ziemlich Schweres, nicht wahr?‹

›Nicht allzu schwer‹, meinte ich.

›Sehen Sie wohl?‹ sagte Petterton zu dem rothaarigen Mann.

Dieser stellte nun, rasch und in scharfem Ton sprechend, ein Kreuzverhör mit mir an, und ich begann zu fühlen, daß etwas Bedrohliches in der Luft lag. Was ich heimgetragen hätte? Ich errötete bis über die Ohren und erklärte, ich wisse nicht, was es gewesen sei. Ob ich öfter Trauben mitgenommen hätte? Ich wisse es nicht. Birnen? Ich wisse es nicht. Sellerie? Das wisse ich auch nicht.

›Na, ich aber weiß es‹, sagte der Agent. ›Wozu sollte ich dich also weiter ausfragen? Und somit pack' dich.‹

Ich ging in die Gärtnerei zurück und sagte meinem Onkel nichts von diesem unangenehmen Gespräch. Ich wußte aber sehr genau, daß die Sache damit nicht zu Ende war.«


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