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Siebentes Kapitel
Liebe und Tod

1

»Im Laufe der folgenden zwei Jahre lernte ich meine streng denkende Gattin immer mehr lieben und schätzen. Sie war in bewußter und wohl durchdachter Art sehr tapfer, dabei klaren Geistes und ehrlich. Ich sah mit an, wie sie unseren Sohn in die Welt setzte – es war kein leichter Kampf –, und die Geburt eines Kindes bedeutete damals ebenso wie heute eine Besiegelung des Bundes zwischen Mann und Frau. Wenngleich ihr ein volles Verständnis für mein Denken und Fühlen versagt blieb, so gewann ich meinerseits wenigstens Einsicht in das ihrige. Ich lernte ihren Ehrgeiz verstehen und vermochte mit ihr zu fühlen, was sie kränkte. Emsig arbeitete sie daran, unser Heim recht hübsch zu gestalten; es sollte auf jedermann einen angenehmen Eindruck machen. Sie liebte gute, ›solide‹ Dinge und eine maßvolle Harmonie. In jener alten Welt mit ihrem Ballast von Besitztümern aller Art und ihrer sehr weitgehenden Haushaltsautonomie waren Dienstboten etwas sehr Wichtiges. Milly verstand es ausgezeichnet, die ihren den sozialen Traditionen der Zeit entsprechend zu behandeln, das heißt, in einer gemessen freundlichen Art, die durchaus wohlwollend war, dabei aber jedwede Intimität ausschloß. Stets hatte sie ein lebhaftes Interesse für die internen Angelegenheiten des Thunderstone House, und meine Erfolge dort lagen ihr sehr am Herzen. ›In spätestens zehn Jahren wirst du Direktor sein‹, sagte sie. Und ich arbeitete auch wirklich sehr fleißig, aber nicht nur um des Ehrgeizes willen. Ich hatte die Möglichkeiten, die mein Beruf bot, erkannt und glaubte an die erzieherische Bedeutung des Unternehmens, so wahllos es in vieler Hinsicht auch sein mochte. Newberry fand in mir einen Widerhall seiner eigenen Ideen. Er besprach neue Pläne mit mir und Abänderungen der alten Arbeitsmethoden. Immer stärker stützte er sich auf mich, und unsere Unterredungen wurden immer häufiger. Heute kommt es mir sehr sonderbar vor, daß in einer Art von stillschweigendem Übereinkommen meine Schwester Fanny zwischen uns niemals erwähnt oder auch nur auf sie angespielt wurde.

Ich veränderte mich während der ersten zweieinhalb Jahre meiner Ehe ziemlich stark. Mein Charakter reifte und festigte sich, und ich wurde ein Mann von Welt. Ich trat in einen guten Klub ein und entwickelte meine rednerische Begabung. Ich lernte eine bunte Menge von Menschen kennen, manche darunter waren recht vornehme Leute, und fühlte mich in jedweder Gesellschaft frei und unbefangen. Eine Neigung, sarkastische Bemerkungen zu machen, trug mir den Ruf eines witzigen Menschen ein, und ich fühlte ein wachsendes Interesse an dem prahlerischen und unfruchtbaren Spiel der Parteipolitik. Mein Ehrgeiz wuchs. Ich war tätig und selbstzufrieden, und die böse Demütigung, die mir in sexueller Hinsicht widerfahren war, hatte ich fast völlig vergessen. Trotz alledem war ich kein wirklich glücklicher Mensch. Mein Leben glich einem hübschen, gut ausgestatteten Zimmer, das gegen Norden liegt; Vasen voll Schnittblumen schmückten es, aber kein Sonnenstrahl drang durch die Fenster.«

2

»Zweieinhalb Jahre lang sah und hörte ich nichts von Hetty, und es lag nicht an mir, daß ich sie überhaupt noch einmal wieder zu Gesicht bekam. Ich tat, was ich konnte, um sie aus meinem Leben zu streichen; ich vernichtete die Photographien, die ich von ihr besaß, und auch sonst alles, was mich an sie hätte erinnern können. Wenn sie in meinen Träumereien auftauchte, zwang ich mich, an anderes zu denken. Manchmal, wenn ich irgendeinen neuen Erfolg erntete, zuckte in mir der Wunsch auf, sie davon wissen zu lassen. Häßlich? Ich gebe es zu. Aber sind wir heute im Grunde viel besser? Wir sind nur zivilisierter. Mitunter träumte ich von ihr, aber es waren stets zornerfüllte Träume, in denen sie erschien. Und ich pflegte meine Liebe zu Milly, sagte mir immer wieder, wie stolz ich auf sie sein dürfe. Da mein Einkommen wuchs, entwickelte Milly immer mehr Geschmack in ihrer Kleidung; sie wurde eine sehr hübsche und elegante Frau. Sie schenkte sich mir, Seele und Leib, und war sich des Wertes der maßvollen Gabe lächelnd bewußt.

Die Menschen jener Tage hatten noch nicht gelernt, die Beweggründe ihres Handelns zu analysieren; sie beobachteten sich weit weniger als wir heutzutage. Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, Milly zu lieben, und blieb blind dagegen, daß Liebe sich nicht durch unser Wollen erzwingen läßt. Fanny und Hetty liebte ich notwendig, aus meiner Natur heraus. Doch waren meine Tage nunmehr von meiner Arbeit und Milly so sehr ausgefüllt, daß mir kaum irgendwelche Zeit für Fanny übrig blieb. Und Hetty glich in meinem Herzen den armen verschrumpften Leichnamen jener Mönche, die einst in den Klöstern des christlichen Europa wegen irgendeines Vergehens eingemauert wurden. Zu meiner Verwunderung war jedoch mein Interesse an Frauen im allgemeinen sehr rege. Ich fragte mich nicht, was dieses Abirren meiner Aufmerksamkeit bedeuten mochte. Ich schämte mich der Verlockung, gab ihr aber dennoch nach. Selbst in Millys Gesellschaft sah ich nach anderen Frauen und empfand ein unbestimmtes Gefühl der Erregung, wenn meine Blicke erwidert wurden.

Ich begann, auf eine neue Art Romane zu lesen, wußte aber nicht, was mich zu dieser Lektüre hinzog; erst heute erkenne ich, daß ich sie um der Frauengestalten willen las, die ich in ihnen fand. Ich weiß nicht, Heliane, ob du dir darüber klar geworden bist, in welchem Ausmaß die Romane und Schauspiele jener Zeit dazu dienten, Männern und Frauen Liebesphantome vorzuspiegeln, die sie in ihren Träumen weiterspannen. Die Ehrbaren und Erfolgreichen unter uns gingen würdevoll und zufrieden ihres Weges und besänftigten die matten Empörungsversuche ihrer darbenden Triebe und Wünsche mit solch dürftiger Nahrung.

Und gerade weil mein Auge so oft nach Frauen blickte, traf ich Hetty wieder. Es war im Frühling, im März oder in den ersten Tagen des April, als ich Hetty in einem öffentlichen Garten in der Nähe von Chester Terrace sah. Dieser Park lag nicht unmittelbar auf meinem Weg zu der Station der Untergrundbahn, die mich alltäglich von meinem Heim ins Büro und wieder zurück führte; ich hatte es aber nicht besonders eilig, mich zu einer Teegesellschaft zu begeben, die Milly an jenem Nachmittage abhielt, und Wärme und Sonnenschein verlockten mich zu einem Spaziergang zwischen blühenden Bäumen und knospenden Sträuchern. Wir würden einen solchen Park heute einen Frühlingsgarten nennen. Er war klein, aber hübsch angelegt, zeigte eine Fülle von gelben und weißen Narzissen, Hyazinthen, Mandelblüten und dergleichen mehr und war von Kieswegen durchzogen; Bänke und Stühle luden den Spaziergänger zu längerer Betrachtung besonders schöner Beete ein. Auf einer der Bänke saß eine Frau, die mir den Rücken zukehrte und ein buntes Boskett betrachtete. Die Lieblichkeit ihrer anmutig nachlässigen Haltung fesselte mich. Der plötzliche Anblick solcher Schönheit griff mir oft ans Herz wie ein beschwörender Ruf, um gleich darauf ein schmerzliches Gefühl in mir wach werden zu lassen. Sie war sehr ärmlich und einfach gekleidet, doch die häßliche Hülle kam nur dem geschwärzten Glase gleich, das man benützt, um in die strahlende Sonne zu blicken.

Ich verlangsamte meine Schritte, indem ich an ihr vorüberging, und blickte dann zurück, um ihr Gesicht zu sehen. Da erblickte ich das ruhige Antlitz Hettys. Ernst und sorgenvoll saß sie da, kein Mädchen mehr, sondern eine Frau, betrachtete die Blumen vor sich und empfand meinen Blick nicht.

Ein Gefühl, das größer war als Stolz oder Eifersucht, ergriff mich. Ich tat noch einige Schritte, dann hielt ich inne und ging zurück; ich konnte nicht anders.

Da wurde sie meiner gewahr. Sie blickte auf, Zweifel malte sich in ihren Zügen, und dann erkannte sie mich.

Sie betrachtete mich mit dem ihr eigenen unbewegten Gesicht, während ich herankam und mich neben ihr niederließ. Ich sprach mit einer Stimme, durch die ein Sturm von Gefühlen zitterte. ›Hetty,‹ sagte ich, ›ich konnte nicht an dir vorübergehen!‹

Sie antwortete nicht gleich. ›Bist du –?‹ begann sie und hielt wieder inne. ›Wir mußten wohl wieder einmal zusammentreffen,‹ sagte sie, ›früher oder später. Du siehst aus, als ob du noch gewachsen wärst, Harry. Und es geht dir gut, nicht wahr?‹

›Wohnst du in diesem Teil von London?›‹ fragte ich.

›Nein, gegenwärtig eben in Camden Town‹ erwiderte sie. ›Wir ziehen dauernd um.‹

›Hast du – hast du Sumner geheiratet?‹

›Was hätte ich sonst tun sollen? Ich hab' den Becher bis zur Neige geleert, Harry!‹

›Und das Kind?‹

›Das Kind ist gestorben – und das ist gut. Armer kleiner Wurm. Und meine Mutter starb vor einem Jahr.‹

›Nun, du hast ja Sumner.‹

›Ja, ich habe Sumner.‹

Vor diesem Zusammentreffen hätte ich jederzeit über den Tod von Sumners Kind frohlockt. Nun aber, da ich Hettys Elend sah, erstarb der alte Haß in mir. Ich blickte in ihr Antlitz, das so vertraut und doch so verändert schien, und mir war, als ob ich nach zweieinhalb Jahren der Gefühllosigkeit zu neuer Liebe erwacht wäre. Wie traurig und unglücklich war sie doch – sie, die ich so innig geliebt und so bitter gehaßt hatte!

›Kent und das Gut meiner Mutter, Harry, – das liegt jetzt weit zurück‹, sagte sie.

›Hast du es aufgegeben?‹

›Der Hof und die ganze Einrichtung – fast alles ist dahin. Sumner setzt bei den Rennen, er hat fast alles, was wir besaßen, verspielt. Eine Arbeit zu finden, weißt du, ist schwer, auf einen Gewinn zu hoffen, leichter. Aber man hofft vergebens ...‹

›Ja, ja, mein Vater hat's ebenso gemacht‹, sagte ich. ›Ich hätte Lust, alle Rennpferde Englands niederzuschießen.‹

›Es war mir schrecklich, den Gutshof zu verkaufen‹, fuhr sie fort. ›Aber ich tat's und zog in das schmutzige alte London. Sumner hat mich hierhergeschleppt, und er richtet mich zugrunde. Er kann nichts dafür, er ist nun einmal so und nicht anders. Aber wenn ein Frühlingstag kommt wie der heutige –! Da denke ich an Kent und an den Wind auf den Dünen und den Schlehdorn an den Hecken, an die kleinen gelben Näschen der knospenden Primeln und die ersten Blättchen an den Fliederbüschen, und dann möchte ich weinen. Aber was nützt es mir? Hier sitz' ich. Ich bin hergekommen, um die Blumen zu betrachten. Wozu eigentlich? Sie tun mir nur weh.‹

Sie starrte auf die Blumen.

›O Gott,‹ sagte ich, ›welch ein Jammer. Ich habe nicht gedacht –‹

›Was hast du nicht gedacht?‹ fragte sie und wandte mir ihr stilles Antlitz zu. Das Wort erstarrte mir im Munde.

›Du sollst nicht traurig sein über mich‹, sagte sie. ›Ich hab' mich selbst ins Unglück gestürzt, nicht du. Es ist mir eben geschehen. Es war meine Schuld. Obgleich ich nicht weiß, warum Gott mir die Liebe für alles Gute und Schöne ins Herz gelegt hat und mir dann eine Falle stellte und mich töricht genug sein ließ, hineinzutaumeln –!‹

Eine Zeitlang schwiegen wir beide.

›Daß ich dich so wiederfinden muß,‹ hob ich schließlich wieder an, ›läßt mich mit einem Male alles anders sehen. Weißt du, damals, in den vergangenen Tagen, da schien es mir, als wärest du mir in vieler Hinsicht überlegen; du schienst mir die Stärkere von uns beiden. Ich hab' es nicht verstanden ... Nun weiß ich – nun begreife ich – ich hätte dich besser behüten sollen.‹

›Oder Erbarmen mit mir haben. Ich war von Schmutz und Schmach bedeckt – ja, ja, das war ich, du aber hattest kein Erbarmen, Harry. Ihr Männer seid erbarmungslos gegen uns Frauen. Trotz allem liebte ich dich, Harry, – all die Zeit liebte ich dich. In gewissem Sinne habe ich dich immer geliebt und liebe dich heute noch. Als ich eben vorhin aufblickte und dich auf mich zukommen sah – einen Augenblick lang sahst du ganz so aus wie mein alter Harry, einen Augenblick lang – es war, als ob mit einem Mal der Frühling wirklich käme ... Aber solche Reden haben jetzt keinen Sinn mehr, Harry. Es ist zu spät.‹

›Ja‹, stimmte ich zu. ›Zu spät ...‹

Sie sah mir ins Gesicht, während wir eine geraume Weile schwiegen. Dann hob ich wieder zu sprechen an und wog jedes meiner Worte. ›Bis heute‹, sagte ich, ›hatte ich dir nicht verziehen. Jetzt – jetzt, da ich dich hier vor mir sehe, wünsche ich – wünsche ich zu Gott – ich hätte dir verziehen. Und hätte die Sache mit dir durchgefochten. Wir hätten – o Hetty, wenn ich dir damals verziehen hätte –?‹

›Harry, mein Liebster,‹ sagte sie leise, ›du möchtest doch nicht, daß ich hier zu weinen anfange. Wir wollen davon nicht weiter sprechen. Erzähle mir lieber von dir. Ich habe gehört, daß du dich wieder verheiratet hast. Mit einer schönen Frau. Sumner sorgte dafür, daß mir das zu Ohren kam. Bist du glücklich, Harry? Du siehst ausgezeichnet aus, und nicht jeder kann das in dieser Nachkriegszeit von sich behaupten.‹

›Ach, Hetty, man kann, wenn man will, finden, daß es mir recht gut geht. Ich arbeite sehr fleißig. Ich bin ehrgeizig geworden. Ich arbeite immer noch in derselben Firma und werde nun wohl bald Direktor werden. Ich bin recht schön vorwärts gekommen, meine Frau – sie ist ein liebes Geschöpf und hilft mir in allem und jedem ... Doch, da ich dich nun wieder sehe ... o Gott, Hetty! Wie haben wir doch alles so verkehrt gemacht! So eine zweite Heirat, weißt du – ach, es ist nicht wie das erste Mal. Du und ich – wie soll ich es nur sagen? Ich bin so etwas wie ein Blutsbruder von dir, und daran ist nichts zu ändern. Der Wald damals – das kleine Wäldchen, in dem du mich küßtest! O warum haben wir all das zerstört? Warum nur? Zwei Narren, denen ein so kostbares Gut geschenkt worden war! Das alles ist vorbei. Nun aber ist auch der Haß tot zwischen uns, auch der ist endlich vorbei. Wenn ich irgendetwas für dich tun könnte, Hetty, ich täte es.‹

Ein Abglanz der alten Lebhaftigkeit zeigte sich in ihrem Gesicht. ›Wenn du Sumner töten, die ganze Welt in Stücke schlagen und die Erinnerung an die letzten drei Jahre wegblasen könntest ... Es nützt nichts, Harry. Ich hätte mich reinhalten müssen, und du – du hättest milder mit mir verfahren sollen.‹

›Ich konnte nicht, Hetty.‹

›Ich weiß, daß du nicht konntest. Und ich konnte nicht voraussehen, daß mein heißes Blut mich eines Abends verführen würde. Und so sitzen wir beide nun hier! Es ist, als ob wir einander nach dem Tode wieder begegnet wären. Der Frühling kommt, aber er kommt für andere Menschen. All diese kleinen Krokus-Trompetchen – wie eine winzige Blechmusikkapelle kommt mir das Beet vor – sie trompeten andere, neue Liebesleute herbei. Mögen die mehr Glück haben als wir!‹

Wieder saßen wir eine Weile schweigend da. In mir regte sich eine leise Mahnung an Milly und ihre Teegesellschaft. ›Wie spät du doch kommst‹, würde sie sagen.

›Wo wohnst du, Hetty?‹ fragte ich. ›Wie lautet deine Adresse?‹

Sie überlegte eine Weile und schüttelte dann den Kopf. ›Es ist besser, wenn du es nicht weißt.‹

›Aber vielleicht kann ich irgendetwas für dich tun.‹

›Nein, nein, das würde nur Böses schaffen. Was ich mir eingebrockt habe, muß ich auslöffeln. Ich muß ertragen, was ich angerichtet habe. Was könntest du auch tun, um mir zu helfen?‹

›Nun,‹ sagte ich, ›auf jeden Fall ist meine Adresse leicht zu merken. Es ist dieselbe wie seinerzeit, als wir – wie in den Tagen, da wir miteinander – Meine Adresse ist Thunderstone House. Vielleicht ist eines Tages irgendetwas –‹

›Es ist lieb von dir –‹

Wir standen und sahen einander an. Alles rings um uns herum versank, nichts blieb übrig als wir zwei kummervollen und gequälten Menschenwesen. ›Leb' wohl, Hetty‹, sagte ich.

Unsere Hände fanden sich. ›Ich wünsche dir alles Gute, Harry. Mir ist nicht zu helfen, aber ich bin froh, daß ich dich wieder gesehen habe, und daß du mir nun verziehen hast.‹«

3

»Dieses Zusammentreffen hatte eine tiefe Wirkung auf mich. Es verbannte die ziellose Träumerei aus meinem Gemüt und befreite eine Unmenge verbotener Gedanken aus dem Gefängnis, in das ich sie eingeschlossen hatte. Ich dachte viel, unendlich viel an Hetty. Es waren unbestimmte und unmögliche Gedanken; sie kamen in der Nacht, auf meinem Weg ins Büro, ja sogar in Augenblicken der Ermattung während meiner Arbeitszeit. Immer wieder stellte ich mir neuerliche Begegnungen vor, plante Auseinandersetzungen, erfand ganz unwahrscheinliche Wechselfälle des Schicksals, die mir Hetty wieder schenkten. Ich versuchte solche Phantasien zu unterdrücken, doch es gelang mir nicht; sie tauchten immer wieder auf, wie ich mich auch gegen sie wehren mochte. Immer wieder ging ich in jenen Garten, der Umweg von der Bahn nach Hause wurde mir schließlich zur alltäglichen Gewohnheit. Mitunter schwenkte ich sogar von dem Hauptwege, der mich durch den Park führte, ab und verlor mich auf Seitenpfade, weil ich in der Ferne zwischen Bäumen und Blumenbeeten eine einsame Frauengestalt erblickt hatte. Hetty aber kam nicht wieder.

Und während meine Gedanken sich immer mehr mit Hetty beschäftigten, wuchs in mir ein eifersüchtiger Haß gegen Sumner. Ich begehrte Hetty nicht für mich, aber auch Sumner sollte sie nicht haben. Die Feindseligkeit gegen Sumner war eine häßliche Unterströmung in meiner Reue und meiner wiedererwachten Liebe zu Hetty. Er war der Bösewicht, der mir Hetty weggenommen hatte, und ich überlegte nicht, daß ich selbst sie durch mein starrköpfiges Betreiben der Scheidung so gut wie gezwungen hatte, zu ihm zurückzukehren.

All dies Träumen, Brüten und zwecklose Planen, alle die Wünsche nach irgendwelchen neuen Beziehungen zwischen Hetty und mir verschloß ich in meiner Brust, keiner Menschenseele sagte ich auch nur ein Wort davon. Doch bedrückte mich die Untreue gegen Milly, die darin lag, und ich machte sogar einen schwachen Versuch, ihr zu gestehen, daß ich Hetty wiedergesehen und von Kummer über ihre Armut und ihr Unglück erfüllt sei. Ich hatte den Wunsch, etwas von meinem Empfinden auf Milly zu übertragen, sie fühlen zu machen, was ich fühlte. Eines Tages äußerte ich auf einem Spaziergang in der Umgebung Londons, daß ich während meines letzten Urlaubs vom Felde mit Hetty denselben Weg gewandert sei. ›Wie es ihr jetzt wohl gehen mag?‹ fügte ich hinzu.

Milly antwortete nicht gleich, und als ich aufsah, entdeckte ich einen harten Ausdruck in ihrem geröteten Gesicht. ›Ich hatte gehofft, du habest sie vergessen‹, sagte sie mit erstickter Stimme.

›Der Weg hier hat die Erinnerung an sie in mir wachgerufen.‹

›Ich bemühe mich, niemals an sie zu denken. Du ahnst nicht, welche Demütigung diese Frau für mich bedeutet. Und nicht nur eine Demütigung für mich,‹ fügte sie hinzu, ›sondern auch für dich.‹

Sie sagte nichts weiter, aber es war klar, daß die bloße Erwähnung von Hettys Namen sie in heftige Erregung versetzt hatte.«

»Ihr ärmsten Geschöpfe!« rief Iris. »Von welch irrsinniger Eifersucht wart ihr doch allesamt besessen!«

»Ich ging nicht zu Fanny, um mit ihr über Hetty zu sprechen. Ich hatte ihr Hetty als ein durch und durch verdorbenes Geschöpf geschildert und wußte nicht recht, wie ich ihr nun meine veränderte Meinung erklären sollte. Überdies sah ich sie nur selten, sie wohnte in einem weit von meinem Hause entfernten Stadtteil Londons. Ihre Beziehung zu Newberry war kein so unbedingtes Geheimnis mehr wie früher, und sie hatte einen Kreis von Bekannten und Freunden um sich versammelt. Aber gerade die größere Öffentlichkeit der Beziehung machte Millys Haltung gegen meine Schwester noch steifer. Sie fürchtete einen Skandal in Bezug auf Fanny und meine Stellung in der Firma. Newberry hatte ein Landhaus in der Nähe von Pangbourne gemietet, und Fanny verbrachte dort oft mehrere Wochen hintereinander, wodurch sie noch weiter aus unserem Bereich rückte.

Bald aber sollten sich die Dinge so entwickeln, daß ich mich eilends zu Fanny begab, um Rat und Hilfe zu holen.«

4

»Es war Juli geworden, und ich hatte schon zu glauben begonnen, daß ich Hetty nie mehr wiedersehen würde. Da kam ein Brief von ihr, in dem sie mich um Hilfe bat. Ob ich sie eines Abends beim großen Brunnen des Parkes beim Zoologischen Garten treffen könne, fragte sie. Wir könnten dort Stühle mieten, und sie würde mir dann berichten, was sie auf dem Herzen habe. Sie bat mich, ihr nicht zu schreiben, denn Sumner sei sehr eifersüchtig; ich solle ihr vielmehr durch eine Anzeige im Daily Expreß unter der Chiffre ›A B C D‹ Tag und Stunde des Zusammentreffens bekanntgeben. Ich bestimmte den nächsten Abend, den ich frei hatte.

An Stelle der traurigen und mutlosen Hetty, die ich im Frühling getroffen hatte, fand ich nun ein hochgespanntes und erregtes Geschöpf vor mir. ›Wir wollen einen Platz suchen, wo wir nicht so leicht gesehen werden‹, sagte sie, als ich auf sie zukam. Sie nahm mich beim Arm und führte mich einen von der Hauptallee des Parkes abzweigenden Nebenweg entlang zu zwei abseits stehenden grünen Stühlen. Ich bemerkte, daß sie immer noch dasselbe schäbige Kleid trug wie bei unserer ersten Begegnung. Ihr Gehaben und die Art, wie sie mit mir sprach, waren anders als das letzte Mal. Sie war ungezwungen und zutraulich, als ob sie mir seither in der Phantasie oft begegnet wäre – was ohne Zweifel auch wirklich der Fall war.

›Hast du alles, was du das letzte Mal zu mir sagtest, auch wirklich ernst gemeint, Harry?‹ hob sie an.

›Gewiß.‹

›Willst du mir helfen, wenn du kannst?‹

›Ja, das will ich.‹

›Und wenn ich dich um Geld bäte?‹

›Das schiene mir nur selbstverständlich.‹

›Ich möchte von Sumner loskommen, und es bietet sich mir eben jetzt eine Gelegenheit. Jetzt wäre es möglich.‹

›Erzähle mir alles, Hetty. Ich will dir helfen, wie ich nur kann.‹

›Seit unserem letzten Zusammentreffen bin ich eine andere geworden, Harry. Vorher hatte ich mich in einem Zustand dumpfer Verzweiflung befunden. Ich nahm alles hin, wie es eben kam. Doch das Wiedersehen mit dir hat mich verändert; ich weiß selbst nicht, warum, aber es ist so. Vielleicht lag die Wandlung schon in mir vorbereitet. Ich kann das Zusammensein mit Sumner nicht mehr ertragen, und jetzt bietet sich mir eine Gelegenheit, von ihm loszukommen. Ich werde aber eine Menge Geld brauchen – sechzig oder siebzig Pfund.‹

Ich überlegte. ›Das geht, Hetty. Wenn du etwa eine Woche oder, sagen wir, zehn Tage warten kannst.‹

›Du mußt nämlich wissen, ich habe eine Freundin, die einen Kanadier geheiratet hat. Sie ist hiergeblieben, um die Geburt ihres Kindes abzuwarten, während er schon zurück mußte, und nun fährt sie ihm nach. Sie ist krank gewesen, und weil sie noch nicht ganz bei Kräften ist, möchte sie die Reise nicht gern allein machen. Es wäre ganz leicht für mich, als ihre Cousine oder ihre Begleiterin mit hinüberzufahren, nur brauche ich eine Ausstattung. Wir haben alles schon genau überlegt und besprochen. Sie kennt jemanden, der mir einen Paß beschaffen würde. Auf meinen Mädchennamen. Das ist mein Plan. Die Sachen, die ich brauche, ein paar Kleider und so weiter, könnte man in ihre Wohnung schaffen lassen, und ich würde mich heimlich von zuhause fortstehlen.‹

›Du willst deinen Mädchennamen wieder annehmen? Und drüben ein neues Leben beginnen?‹

›Ja ...‹

Ich saß und überlegte. Der Plan gefiel mir. ›Wegen des Geldes mache dir keine Sorgen‹, sagte ich.

›Ich kann mit Sumner nicht weiterleben. Du hast ihn nie gesehen. Du weißt nicht, wie er ist.‹

›Er soll ein hübscher Kerl sein.‹

›Ja, ja. Oh, wie kenn' ich sein Gesicht so genau! Aufgedunsen, gerötet und schwach ist es. Er ist ein Lügner und ein Betrüger, und er bildet sich ein, er könne jedermann Sand in die Augen streuen. Er trinkt. Gott weiß, warum ich ihn geheiratet habe. Irgendwie schien es selbstverständlich, da du dich von mir hattest scheiden lassen. Das Kind sollte doch einen Vater haben ... Aber es ekelt mir vor ihm, Harry, es ekelt mir vor ihm. Ich kann nicht mehr; ich kann's nicht mehr ertragen. Du weißt nicht, wie das ist – in der kleinen Wohnung – und bei dem heißen Wetter. Du weißt nicht, was das heißt, einen weinerlich-betrunkenen Mann von sich fernzuhalten ... Wenn sich mir nicht jetzt dieser Ausweg geboten hätte, wäre vielleicht Ärgeres geschehen.‹

›Kannst du nicht sofort von ihm weggehen?‹ fragte ich. ›Warum überhaupt noch zu ihm zurückkehren?‹

›Nein. Sowie ich aus dem Hause bin, muß ich London verlassen, sonst gibt es ein Unglück. Und es darf absolut nicht herauskommen, daß du mir geholfen hast. Er wird sofort an dich denken und darf nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür haben, daß du irgendwie die Hand mit im Spiele hattest. Das Geld, Briefe oder was immer es sei, darf nicht direkt von dir an mich gelangen. Und du mußt mir Bargeld beschaffen, nicht Schecks. Wir dürfen nicht miteinander gesehen werden. Sogar hier in diesem Park ist es gefährlich. Sumner hat sich mit einer Bande übler Kerle eingelassen und verstrickt sich immer mehr in ihre Machenschaften. Sie begehen allerlei Schwindeleien bei den Pferderennen, betrügen die Buchmacher. Erpresser sind sie. Und sie laufen mit Revolvern in der Tasche herum und halten fest zusammen. Mit Wetten bei den Rennen fing es an. Nun wollen sie zurückgewinnen, was sie verloren haben; das sei ihr gutes Recht, behaupten sie ... Wenn sie Wind davon bekommen, daß du etwas mit mir zu tun hast, lauern sie dir allesamt auf.‹

›Schützengrabenkrieg innerhalb Londons. Der Gefahr will ich trotzen.‹

›Du sollst dich keinerlei Gefahr aussetzen und brauchst es auch nicht, wenn wir nur vorsichtig sind. Wüßtest du nicht irgendjemand, dem du das Geld für mich übergeben und bei dem ich es mir abholen könnte?‹

Ich dachte sofort an Fanny.

›Ach ja,‹ sagte Hetty, ›da wäre ich völlig beruhigt. Und wie gerne möchte ich sie wiedersehen. Sie hat mir so gut gefallen ... O Harry, wie lieb bist du doch mit mir! Ich verdiene all diese Güte gar nicht.‹

›Unsinn, Hetty. Ich hab' dich doch in den Schmutz gestoßen.‹

›Ich sprang hinein.‹

›Du fielst hinein. Und es ist wirklich keine sehr große Tat, Hetty, wenn ich dir nun die Hand reiche, damit du wieder herauskommst.‹«

5

»Am nächsten Tage ging ich zu Fanny, um sie auf Hettys Besuch vorzubereiten. In einem Lehnstuhl sitzend, hörte mir Fanny aufmerksam zu und beobachtete mich, während ich ihr meine Geschichte erzählte, ihr beichtete, wie ich Hettys Vergehen übertrieben hatte, und sie um Hilfe bat. ›Ich hätte damals auch sie hören sollen, Harry, ehe ich deinen Worten unbedingten Glauben schenkte‹, sagte sie. ›Zwar kann ich auch heute noch nicht begreifen, wie eine Frau, wenn sie einen Mann liebt, sich von einem anderen auch nur küssen lassen mag; aber sie hatte ja, wie du mir nun sagst, an dem Abend getrunken. Und dann sind wir Frauen nicht alle gleich geartet. Die Welt ist bunt, und manche Mädchen verlieren schier den Verstand, wenn sich irgendein Mann ihnen nur nähert. Du und ich, Harry, wir sind anders. Während du eben jetzt sprachst, fiel mir plötzlich ein, wie ähnlich wir beide doch unserer Mutter sind – trotz all des Zwistes, den ich mit ihr hatte. Und wenn wir uns nicht sehr in acht nehmen, können auch wir hart und unduldsam werden. Deine Hetty aber war jung, und sie hat nicht recht gewußt, was sie tat. Ein einziges Mal nur hat sie gesündigt und muß ihr ganzes Leben dafür büßen! ... O hätte ich doch gewußt, wie es war, Harry!‹

Und nun begann sie von dem Eindruck zu sprechen, den Hetty auf sie gemacht hatte. Sie lobte ihr feurig beseeltes Wesen und ihre Lebhaftigkeit im Gespräch. ›Als sie damals wegging, sagte ich mir, sie hat Phantasie; sie ist die erste phantasievolle Frau, der ich begegnet bin. Etwas Poetisches ist an ihr. Alles, was sie sagt, kommt ein wenig anders heraus als die Sätze, die man gewöhnlich hört. Ihre Aussprüche gleichen den Blüten an einem Strauch. Ja, so war sie. Ist sie noch so?‹

›Ich habe sie nie auf diese Weise betrachtet‹, erwiderte ich. ›Aber du hast recht, es ist etwas Phantasievolles, etwas Poetisches an ihr. Auch neulich – als ich sie das erste Mal wieder traf – was war es nur, was mir besonders auffiel? Irgendeine Wendung –‹

›Nein, nein, such' nicht danach in deinem Gedächtnis. Originelle Aussprüche soll man nicht wiederholen. Sie blühen nur dort, wo sie wachsen, als abgeschnittene Blumen taugen sie nichts. Du und ich, Harry, wir sind nicht dumm, sind recht flinken Geistes, aber Hettys Art ist uns nicht gegeben.‹

›Ja, ihre Ausdrucksweise hat mich seit jeher entzückt.‹

Nun schilderte ich Fanny die Lage der Dinge ganz ausführlich und erklärte ihr, auf welche Weise sie helfen könne. Ich sollte Hetty nicht mehr wiedersehen; Fanny sollte ihr die hundert Pfund geben, die wir gemeinsam für sie erübrigen konnten, sollte sich mit der Freundin Hettys ins Einvernehmen setzen und ihr bei der Abreise behilflich sein. Fanny hörte mich ernst an und willigte ein.

Dann versank sie in Gedanken.

›Warum fährst du nicht selbst mit nach Kanada?‹ fragte sie plötzlich.«

6

»Einige Augenblicke lang antwortete ich nicht. Dann sagte ich: ›Ich will nicht.‹

›Ich sehe aber, daß du Hetty noch liebst.‹

›Ja, ich liebe sie, aber mit ihr gehen – nein, das will ich nicht.‹

›Du möchtest nicht wieder mit ihr vereint sein?‹

›Es ist unmöglich. Warum eine so schmerzliche Frage an mich stellen? All das ist tot.‹

›Wenn aber Vergangenes neu auferstehen könnte? Warum ist es unmöglich? Ist dein Stolz das Hindernis?‹

›Nein.‹

›Was sonst?‹

›Milly.‹

›Du liebst Milly nicht.‹

›Ich will darüber mit dir nicht sprechen, Fanny. Ich liebe Milly doch.‹

›Nicht so wie Hetty.‹

›Ganz anders. Und Milly vertraut mir. Sie ist mir treu. Ich würde eher Geld stehlen, Geld aus der Sparbüchse eines armen Kindes, als Milly verraten.‹

›Es ist wunderbar, wie edelmütig Männer gegen eine Gattin sein können, die sie nicht lieben‹, meinte Fanny bitter.

›Mit Newberry ist es anders‹, sagte ich. ›Ich habe meinen kleinen Jungen und meine Arbeit. Und wenn du es auch nicht wahrhaben willst, ich liebe Milly.‹

›Auf gewisse Weise wohl. Aber ist sie dir ein Kamerad? Ist sie dir eine Freude?‹

›Ich vertraue ihr und liebe sie. Und was Hetty anbetrifft – du verstehst nicht, wie das jetzt ist. Ich liebe sie, ich liebe sie über alle Maßen. Aber sie und ich, wir gleichen zwei Geistern, die einander im Mondschein begegnen. Wir sind tot für einander und sind traurig. Es ist nicht im geringsten so wie in deinem Fall. Hetty lebt in einer Hölle, und ich würde alles tun, was ich nur kann, um sie aus dieser Qual zu befreien. Aber ich wünsche mir nicht einmal, mit ihr zusammenzutreffen. Ich will ihr nur aus all dem Schmutz, aus dem sinnlosen Leben, das sie führt, heraushelfen, damit sie irgendwo von neuem anfange. Mehr wünsche ich nicht und sie auch nicht. Wie könnten wir zwei, sie und ich, je wieder zueinander gelangen? Wie könnten wir je wieder Küsse der Liebe tauschen? Wir armen, besudelten Geschöpfe! Und ich – wie grausam ich doch war! – Du denkst an etwas anderes, Fanny, denkst nicht an Hetty und mich.‹ ›Möglich, daß ich das tue‹, sagte Fanny. ›Ja, ja, ich geb' es zu. Sie soll also nach Kanada auswandern und dort ein neues Leben beginnen – sie wird sich bald wieder frisch und gesund fühlen, und ihr alter Mut wird zurückkehren. Es ist wider die Natur, wenn eine Frau ihres Temperaments ohne einen Mann lebt, der sie liebt.‹

›Möge sie leben und lieben‹, sagte ich. ›Sie ändert ihren Namen. Ihre Freunde werden zu ihr halten, werden sie nicht verraten. Möge sie das Vergangene vergessen. Möge sie ein neues Leben beginnen.‹

›Mit einem anderen Mann?‹

›Vielleicht.‹

›Es macht dir nichts, dir das auszudenken?‹

Ich fühlte mich getroffen, bezwang mich aber. ›Habe ich irgendein Recht, mich gegen diese Vorstellung aufzulehnen?‹

›Du wirst dich aber gegen sie auflehnen. Und wirst weiter mit dieser Frau leben, der du vertraust und die du achtest – und deren Gemüt dumpf ist, dumpf und trüb wie das Wasser in einem Tümpel.‹

›Nein. Die die Mutter meines Sohnes ist, der man in jeder Hinsicht vertrauen darf, der ich Treue gelobt habe. Und dann habe ich meine Arbeit. Sie mag dir nichtig scheinen, mir aber bedeutet sie genug, um mich ihr ganz hingeben zu können. Meinst du denn, ich könne Hetty nicht lieben, sie aus dem Netz, in das sie verstrickt ist, nicht befreien wollen, ohne dabei unmögliche Wünsche in mir emporkeimen zu lassen?‹

›Graue Montagmorgenstimmung‹, meinte Fanny.

›Als ob nicht das ganze Leben grau und trüb wäre‹, erwiderte ich.«

»Und dann«, sagte Sarnac, »sprach ich eine Prophezeiung aus. Wann war es nur – vor zweitausend Jahren oder vor zwei Wochen? Ich saß in Fannys kleinem Wohnzimmer, ein Geschöpf der alten Welt, inmitten von Möbeln und Dingen der alten Welt, und ich sagte, daß Männer und Frauen nicht immer so leiden würden, wie sie damals litten. Ich sagte, daß wir immer noch arme Wilde seien, daß das erste trübe Licht der Zivilisation eben erst heraufdämmere und daß wir leiden müßten, weil wir roh und ungebildet seien und von unserer eigenen Wesensart nichts wüßten; daß aber die Erkenntnis unseres Elends die Verheißung besserer Zeiten in sich berge und ein Tag kommen werde, da Erbarmen und Verständnis die Welt erleuchten und die Menschen sich und andere nicht mehr sinnlos quälen würden, quälen durch Gesetz und Zwang, durch Eifersucht und Haß, sowie es jetzt allüberall auf Gottes weiter Welt geschehe.

›Heute ist die Welt noch zu dunkel,‹ sagte ich, ›als daß wir sehen könnten, wohin wir gehen, und jeder von uns strauchelt, schwankt und tut unrecht. Jeder. Ist es nicht müßig, wenn ich mich frage, welcher Weg in meiner Lage der rechte sei? Was immer ich tue, ein Unrecht wird dabei sein. Ich sollte mit Hetty gehen, sollte wieder ihr Liebster werden – oh, welches Glück wäre das! Warum sollte ich es leugnen? Aber ich soll auch bei Milly bleiben und bei meiner Arbeit. Rechter Weg oder linker Weg, beide führen zu Kummer und Reue. Aber es gibt kaum eine Seele auf dieser dunklen Erde, Fanny, die nicht früher oder später vor solch eine schwere Wahl gestellt würde. Ich will Milly nicht ins Unglück stürzen, ich kann es nicht, denn sie glaubt an mich und vertraut mir. Du bist meine geliebte Schwester Fanny, wir haben einander immer lieb gehabt. Weißt du noch, wie du mich als kleinen Jungen zur Schule brachtest und meine Hand festhieltest, wenn wir eine Straße überquerten? Mach' es mir jetzt nicht zu schwer. Hilf mir, damit ich Hetty helfen kann. Zerreiß' mir nicht das Herz. Sie lebt, sie ist jung und ist – Hetty. Sie wenigstens kann da drüben nochmals von neuem anfangen.‹«

7

»Ich sah Hetty doch noch einmal, ehe sie England verließ. Ich bekam einen Brief ins Thunderstone House, in dem sie mir ein Zusammentreffen vorschlug.

›Du bist so lieb und gut mit mir gewesen‹, schrieb sie. ›Es ist fast so schön, als ob Du mich niemals verlassen hättest. Du hast ein großmütiges Herz. Und Du hast mich wieder froh gemacht. Ich bin freudig erregt bei dem Gedanken an den großen Dampfer und an das Meer, und mein Herz ist voll Hoffnung. Wir haben eine Abbildung des Schiffes bekommen, es gleicht einem riesigen Hotel; und unsere Kabine ist auf dem Bild bezeichnet. Kanada wird wunderbar sein. Und wir fahren über New York, das doch einzig dasteht auf der Welt, mit seinen ungeheuren, fast in den Himmel ragenden Häusern. Und wie schön ist es, endlich wieder neue Sachen zu haben. Immer wieder lauf ich zu Fanny, nur um die Dinge berühren zu können. Ich bin erregt, ja, und dankbar und voll froher Hoffnung. Und, Harry, das Herz tut mir weh, so weh. Ich möchte Dich noch einmal wiedersehen. Ich verdiene es nicht, aber ich möchte es trotzdem. Mit einem Spaziergang fing es an zwischen uns, warum sollte es nicht mit einem Spaziergang enden? Donnerstag und Freitag wird die ganze Bande in Leeds sein. Da könnte ich fort, und es müßte nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn jemand meine Abwesenheit bemerkte. Es wäre so schön, wenn wir unseren alten Spaziergang noch einmal machen könnten, das ist aber unmöglich, es ist zu weit. Wir wollen uns das aufsparen, bis wir beide ganz tot sind, Harry, dann werden wir dort als zwei kleine Luftwirbelchen über das Gras gleiten oder als zwei Distelfläumchen nebeneinander dahinschweben. Wir haben aber noch einen anderen großen Spaziergang miteinander gemacht, weißt Du noch, von Shere aus über die North Downs nach Leatherhead. Ganz in der Ferne konnten wir unsere heimatlichen South Downs sehen, Nadelwald und Heide gab's dort und Hügel hinter Hügel. Und dann der Rauch von verbranntem Herbstlaub!‹

Ich sollte unter Fannys Adresse antworten.

Selbstverständlich machten wir den Spaziergang, wir zwei halb wieder zum Leben erweckten Liebenden. Wir betrugen uns nicht wie ein Liebespaar, obwohl wir einander küßten, als wir uns trafen, und uns zum Abschied noch einmal zu küssen gedachten. Wir sprachen miteinander, wie die Seelen zweier Hingeschiedener von der Welt reden mögen, die einst wirklich war. Wir sprachen von hundert Dingen – auch von Sumner. Nun, da sie so nahe daran war, ihm zu entkommen, waren Furcht und Haß verflogen. Ein leidenschaftliches Verlangen nach ihr erfülle ihn, sagte sie, er bedürfe ihrer wirklich, und es sei traurig und sehr schlecht für ihn, daß sie ihn verabscheue und verachte. Das habe ihn gewalttätig und trotzig gemacht. Eine Frau, die ihn gern hätte, die über ihn wachte und für ihn sorgte, wie es einer liebenden Frau geziemt, die hätte etwas aus ihm machen können. ›Ich aber habe ihn niemals gern gehabt, Harry, obwohl ich mir alle Mühe gab, es zu lernen. Aber ich kenne ihn und weiß, daß es ihm schlecht geht – innerlich meine ich. Ich weiß, daß er sich zuweilen über alle Maßen elend fühlt. Er leidet so gut wie ein anderer, obwohl er üble Dinge tut.‹ Er sei auch sehr eitel, sagte sie, und schäme sich seiner Unfähigkeit, einen ordentlichen Verdienst zu finden. Er treibe einem Leben des Verbrechens zu, und sie habe keine Macht über ihn, könne ihn nicht davor bewahren.

Ich sehe Hetty noch vor mir, höre noch ihre Stimme, wie sie einen breiten, von großen Rhododendronbüschen eingesäumten Reitweg entlang ging und ernst, gerecht und gütig von dem Elenden sprach, der sie betrogen, vergewaltigt und mißhandelt hatte. Es war eine neue Hetty, die ich da mit einem Male vor mir sah, und dabei doch auch immer noch die alte, meine Hetty, die ich über alles geliebt und die ich verstoßen und verloren hatte. Hellen Geistes war sie und lebendig, und ihr Verstand war stärker als ihr Wille.

Lange Zeit saßen wir auf der Höhe eines Hügels, der eine wundervolle Fernsicht bot, und gedachten vergangener Tage des Glücks in Kent, sprachen auch von der Zeit, die vor uns lag, von Hettys Fahrt über den Ozean, von Frankreich und von der ganzen weiten Welt. ›Mir ist zu Mute,‹ sagte sie, ›wie in der Kinderzeit, wenn das Schuljahr zu Ende ging. Ich sehe etwas Neuem entgegen. Zieh' den Mantel an, setz' den Hut auf – das große Schiff wartet. Ich fürchte mich ein wenig, freue mich aber trotzdem. Ich wünschte – aber davon wollen wir nicht reden.‹

›Du wünschtest –?‹

›Wie könnt' ich anders?‹

›Was meinst du –?‹

›Es hat keinen Sinn, es zu wünschen.‹

›Ich muß bei dem bleiben, was ich auf mich genommen habe. Ich muß durchhalten. Wenn du es aber wissen willst, Hetty, ich wünsche dasselbe wie du. O Gott! – Wenn Wünsche die Fesseln zerreißen könnten, die man trägt!‹

›Du hast deine Arbeit hier. Ich möchte dich gar nicht von hier fortnehmen, Harry, selbst wenn ich es könnte. Du bist tapfer, Harry, du wirst es überwinden und wirst die Arbeit tun, für die du geschaffen bist – und ich will hinnehmen, was kommt. Da drüben werde ich Sumner vergessen, glaube ich, und alles, was in der Zwischenzeit geschehen ist – und werde an dich denken und an unsere South Downs und an diese Stunde, da wir hier nebeneinander saßen.‹

›Vielleicht‹, fuhr sie fort, ›sieht's im Himmel so aus wie hier. Eine weite Hügellandschaft, in die man endlich gelangt, wenn alle Mühe und Plage, alle Hoffnung und alle Enttäuschung, all das gierige Verlangen und all die grausame Eifersucht vorbei sind. Dann darf man sich niedersetzen und ruhen. Und man ist nicht allein. Der Liebste ist auch da und sitzt neben einem. Ganz leise nur lehnt man sich Schulter an Schulter, nah beieinander sitzt man und ganz still, und alle Sünden sind einem vergeben. Alle Irrtümer und alle Mißverständnisse haben keine Bedeutung mehr, und die Schönheit ringsum ergreift und durchdringt einen; Hand in Hand gleitet man in sie hinein, miteinander vergißt man und schwindet dahin, bis nichts mehr von all dem Unglück, all der Qual und all der Trauer übrig bleibt, und nichts mehr von einem selbst, als der Wind über den weiten Hügeln und Sonnenschein und immerwährender Friede ...‹

›Aber all das‹, sagte sie, indem sie plötzlich aufsprang und nun hoch neben mir emporragte, ›ist nichts als leeres Gerede. Oh, Harry, Harry. Man fühlt diese Dinge, aber wenn man sie zu sagen versucht, dann ist es weiter nichts als Worte und Unsinn. Wir haben unseren Marsch nach Leatherhead kaum erst begonnen, und du mußt um sieben zurück sein. Steh' also auf, alter Harry. Steh' auf und komm'. Du bist das Liebste, was es auf der Welt gibt, und ich bin so froh, daß du heute diesen Spaziergang mit mir machst. Ich hab' ein wenig Angst gehabt, du würdest es vielleicht unvernünftig finden ...‹

Am späten Nachmittage kamen wir in einen kleinen Ort, der Little Bookham hieß, und dort tranken wir Tee. Eine Meile davon entfernt war eine Eisenbahnstation. Es sollte eben ein Zug nach London kommen, er fuhr in dem Augenblick ein, als wir den Bahnsteig betraten.

Bisher war alles gut gegangen, nun aber kam das erste Anzeichen drohenden Unheils. In Leatherhead blickten wir beide auf den Bahnsteig hinaus, als ein kleiner Mann dahertrabte, um in das Abteil neben uns einzusteigen. Es war ein gewöhnlich aussehender kleiner Kerl, wie ein Schnapsbudenbesitzer etwa, mit rötlichem Gesicht und einer Zigarre unter der roten Nase. Als er eben im Begriff war einzusteigen, erblickte er uns. Zweifel erst und dann Erkennen malte sich in seinen Zügen, und Hetty wich zurück, als sie ihn sah.

›Einsteigen!‹ rief der Schaffner und blies in seine Pfeife, und der kleine Kerl entschwand unserem Blick.

Hetty war erblaßt. ›Ich kenne den Mann,‹ sagte sie, ›und er mich auch. Er heißt Barnado. Was soll ich tun?‹

›Nichts. Kennt er dich gut?‹

›Er ist drei- oder viermal bei uns gewesen!‹

›Vielleicht weiß er nicht bestimmt, ob du es warst.‹

›Ich glaube doch. Wenn er nun in der nächsten Station zum Fenster kommt, um sich zu vergewissern – soll ich so tun, als ob ich nicht ich wäre? Ihn nicht zu kennen vorgeben?‹

›Wenn er aber trotz solcher Spiegelfechterei überzeugt ist, daß du es bist, so würde ihn das sofort argwöhnisch machen, und er würde erst recht zu deinem Mann rennen. Wenn du jedoch die Sache ruhig nimmst, etwa sagst, ich sei dein Vetter oder dein Schwager, dann denkt er sich wahrscheinlich nichts Schlimmes und erwähnt Sumner gegenüber gar nicht, daß er dich gesehen hat. Du darfst ihn nicht neugierig oder argwöhnisch machen, sonst stürzt er womöglich noch heute abend zu Sumner. Übrigens fährst du ja schon morgen nach Liverpool. Es macht eigentlich gar nichts, wenn er dich erkennt.‹

›Nein, für mich ist es eigentlich gleichgültig, aber ich denke an dich.‹

›Ja, aber er weiß doch nicht, wer ich bin. Es hat mich doch keiner von der ganzen Bande je gesehen ...‹

Langsam fuhr der Zug in die nächste Station ein. Mr. Barnado erschien, die Zigarre im Mund, und in seinen Augen funkelte Neugier.

›Verdammt will ich sein, sagte ich zu mir, wenn das nicht Hetty Sumner ist‹, rief er. ›Wie man sich doch trifft!‹

›Mein Schwager, Mr. Dyson‹, stellte Hetty mich vor. ›Wir haben eben gemeinsam seine kleine Tochter besucht.‹

›Ah, ich wußte gar nicht, daß Sie eine Schwester haben, Mrs. Sumner.‹

›Ich habe sie nicht mehr,‹ erwiderte Hetty mit einem kummervollen Ton in der Stimme, ›Mr. Dyson ist Witwer.‹

›O Verzeihung‹, sagte Mr. Barnado. ›Wie ungeschickt von mir. Und wie alt ist denn Ihre kleine Tochter, Mr. Dyson?‹

Ich war also gezwungen, mir eine halb verwaiste Tochter anzudichten und von ihr zu erzählen. Mr. Barnado hatte selbst drei Sprößlinge und wußte unangenehm viel über Kinder und ihre Entwicklungsphasen. Er war offenkundig das Muster eines Vaters. Ich zog mich, so gut ich konnte, aus der Klemme, bemühte mich, das Gespräch so viel als möglich auf Barnados Familie und von der meinen abzulenken, war aber doch recht sehr erleichtert, als er ausrief: ›O Gott, schon Epsom! Sehr erfreut, Sie kennen gelernt zu haben, Mr. – Mr. –?‹

›Verflucht!‹ dachte ich bei mir. Ich hatte den Namen vergessen.

›Dixon‹, sagte Hetty hastig, und nach einer recht umständlichen Verabschiedung stieg Mr. Barnado endlich aus dem Wagen.

›Gott sei Dank!‹ sagte Hetty, ›Gott sei Dank, daß er nicht bis London mitgefahren ist. Du bist der schlechteste Lügner, Harry, der mir jemals begegnet ist. Aber es ist ja nichts Schlimmes geschehen.‹

›Nein, es ist nichts geschehen‹, stimmte ich ihr bei. Doch während der Fahrt bis zu der Londoner Station, an der wir uns für immer trennen sollten, kamen wir noch einige Male auf die unliebsame Begegnung zu sprechen und wiederholten den tröstlichen Satz, daß ja nichts geschehen sei.

An der Station Victoria trennten wir uns ohne viel Rührung. Mr. Barnado hatte uns in die Atmosphäre des Alltags zurückversetzt. Wir küßten einander nicht mehr, denn wir fühlten uns nun ringsum von beobachtenden Augen belauert. Die letzten Worte, die ich an Hetty richtete, waren: ›Es ist alles in Ordnung‹ – ich sagte sie in einem geschäftlichen und beruhigenden Tone. Am nächsten Tage fuhr Hetty zu ihrer Freundin nach Liverpool und entschwand für immer aus meinem Leben.«

8

»Drei oder vier Tage lang fühlte ich die zweite Trennung von Hetty nicht sehr stark. Ich war noch zu sehr mit den Einzelheiten ihrer Abreise beschäftigt. Am dritten Tage schickte sie mir ein drahtloses Telegramm, wie man das damals nannte, ins Thunderstone House. ›Gut abgefahren, schönes Wetter. Alles Liebe und tausend Dank‹, lautete es. Allmählich aber, indem die Tage verstrichen, wuchs die Empfindung des Verlustes, ein Gefühl ungeheurer Einsamkeit stieg in mir empor, verdichtete sich und lastete immer schwerer auf mir. Ich war überzeugt, daß kein menschliches Wesen außer Hetty mich jemals würde glücklich machen können – und ich hatte nun zum zweiten Mal auf das Zusammenleben mit ihr verzichtet. Es wurde mir klar, daß ich vom Schicksal Liebe verlangt hatte, ohne dafür etwas opfern zu wollen, und in jener alten Welt konnte Liebe nur um einen ungeheuren Preis erkauft werden. Wer Liebe wollte, mußte seine Ehre opfern oder die Arbeit, die ihm am Herzen lag, und mußte Demütigung und Kummer auf sich nehmen. Mir war der Preis zu hoch erschienen, und nun ging Hetty von mir, und mit ihr schwand all das Zarte, Unnennbare aus meinem Leben, das das Wesentliche der Liebe ist, all die kleinen süßen Worte, die beglückenden Zärtlichkeiten, die heiteren Gebärden und munteren Launen, die Augenblicke des Lachens, des glücklichen Stolzes und des vollkommenen Einanderverstehens. Tag für Tag wanderte meine Liebe ein Stück weiter gegen Westen. Und Tag und Nacht verfolgte mich das Bild eines großen Dampfers, der stampfend und keuchend über die Wasser des Atlantischen Ozeans fährt. Ich sah den schwarzen Rauch aus seinen Schornsteinen qualmen und im Wind verwehen, sah ihn bald im Tageslicht, bald hell erleuchtet unter dem Sternenhimmel immer weiter ziehen.

Die reuevolle Sehnsucht in meinem Herzen war durch nichts zu stillen. Immer wieder träumte ich von einer Flucht über das Meer, träumte, wie ich plötzlich vor Hetty stehen und ihr sagen würde: ›Hetty, ich habe es nicht mehr ertragen können, hier bin ich.‹ Dabei hielt ich aber tagaus, tagein zähe an dem Leben fest, für das ich mich entschieden hatte. Ich arbeitete unermüdlich im Thunderstone House, oft bis in die späte Nacht hinein, und versuchte, so gut ich konnte, meine Phantasie in andere Bahnen zu lenken, indem ich Pläne für zwei neue Belehrungszeitschriften entwarf. Ich ging mit Milly abends aus, in ein Restaurant oder ins Theater, oder wir besuchten Ausstellungen und dergleichen mehr. Aber mitten auf dem Rundgang durch eine Galerie zum Beispiel überraschte ich mein widerspenstiges Herz bei dem Gedanken, was Hetty wohl zu diesem oder jenem Kunstwerk gesagt haben würde. Einmal entdeckte ich ein Bild, das die Landschaft der Downs darstellte, sonniges Hügelland unter leichten weißen Wolken, – da war es mir, als sähe ich Hetty leibhaftig vor mir.

Genau eine Woche nach Hettys Ankunft in New York hatte ich meine erste Begegnung mit Sumner. Ich begab mich zur gewohnten Stunde ins Büro und bog eben aus der Tottenham Court Road in die kleine Seitenstraße ein, die nach dem Hof des Thunderstone House führte. In dem Gäßchen befand sich ein kleines Wirtshaus, und vor diesem standen zwei Männer, die anscheinend auf jemand warteten. Der eine von ihnen trat auf mich zu – es war ein kleiner Mann mit rötlichem Gesicht –, im ersten Augenblick erkannte ich ihn nicht.

›Mr. Smith?‹ fragte er und musterte mich eigentümlich.

›Sie wünschen?‹

›Nicht etwa Mr. Dyson oder Dixon, wie?‹ fuhr er grinsend fort.

›Barnado!‹ rief es in mir, und ich begriff, woran ich war. Es muß deutlich genug in meinem Gesicht zu lesen gewesen sein, daß ich ihn jetzt erkannte. Unsere Augen begegneten sich, und wir hatten kein Geheimnis mehr voreinander. ›Nein, Mr. Barnado,‹ entfuhr es mir unglaublich albern, ›mein Name ist ganz einfach Smith.‹

›Entschuldigen Sie, Mr. Smith, entschuldigen Sie‹, sagte Mr. Barnado übertrieben höflich. ›Ich bildete mir ein, ich hätte Sie schon irgendwo einmal getroffen.‹ Dann wendete er sich zu seinem Gefährten und fuhr mit etwas erhobener Stimme fort: ›Er ist es, Sumner, so sicher wie zweimal zwei vier sind.‹

Sumner! Ich blickte auf den Mann, der mein Schicksal so unheilvoll beeinflußt hatte. Er war von meiner Größe und ähnelte mir in der Gestalt, war blond und hatte einen unsauberen Teint. Er trug einen abgenützten grau karierten Anzug und einen noch schäbigeren grauen Filzhut. Er hätte ganz gut ein etwas verunglückter Halbbruder von mir sein können. Wir musterten einander neugierig und feindselig. ›Ich fürchte, ich bin nicht der, den Sie suchen‹, sagte ich zu Barnado und ging meines Weges weiter. Eine sofortige Auseinandersetzung an Ort und Stelle schien mir gar nicht von Vorteil. Ich fühlte wohl, daß eine Begegnung unvermeidlich sein werde, wünschte aber, daß sie unter von mir selbst gewählten Umständen und erst, nachdem ich Zeit gehabt haben würde, die Lage zu überdenken, stattfinde. Ich hörte eine Bewegung hinter mir; dann sagte Barnado: ›Schweig' doch still, du Narr! Was du wissen willst, hast du herausgefunden.‹ Ich ging durch die Gänge und Räume des Thunderstone House in mein Zimmer, setzte mich in meinen Lehnstuhl und fluchte aus vollem Herzen. Seit Hettys Abreise hatte ich von Tag zu Tag zuversichtlicher geglaubt, daß mir dies wenigstens erspart bleiben würde. Ich hatte gedacht, daß Sumner endlich völlig aus meinem Leben gestrichen sei.

Ich nahm meinen Schreibblock und begann, die Lage schriftlich zu skizzieren. ›Was vor allem im Auge zu behalten ist‹, schrieb ich oben auf ein Blatt.

  1. ›Hettys Spur darf nicht aufgefunden werden.
  2. Milly darf nichts von alledem erfahren.
  3. Keine Erpressung dulden.‹

Ich überlegte. ›Wenn jedoch die Zahlung einer größeren Summe –‹ begann ich, strich das aber wieder durch.

Dann schrieb ich die wesentlichen Fragen nieder. ›Was weiß S.? Welche Beweise gibt es? Wofür? Führt irgendein Fingerzeig zu Fanny? Er hat keinen Anhaltspunkt außer jener Fahrt im Zug. Er hat zwar die moralische Gewißheit für sich, wird er aber irgendjemand anderen überzeugen können?‹

Dann nahm ich ein neues Blatt und überschrieb es: ›Wie habe ich mich zu verhalten?‹

Ich begann allerlei Figuren und Arabesken auf mein Papier zu zeichnen, während ich überlegte. Schließlich zerriß ich die Blätter in ganz kleine Stückchen und warf sie in den Papierkorb. Es klopfte. Eines unserer Mädchen erschien und überreichte mir einen Zettel, auf dem die Namen Fred Sumner und Arthur Barnado standen.

›Die Herren haben nicht aufgeschrieben, in welcher Angelegenheit sie mich zu sprechen wünschen‹, bemerkte ich.

›Sie sagten, Sie wüßten, worum es sich handelt.‹

›Das ist keine Entschuldigung. Jeder hat das Formular auszufüllen. Sagen Sie, ich sei zu beschäftigt, um Fremde zu empfangen, die ihre Wünsche nicht vorher äußern. Und bitten Sie sie, das Formular vollständig auszufüllen.‹

In kurzer Zeit kam das Mädchen wieder. ›Erkundigung über Mr. Sumners abgängige Frau‹, stand auf dem Formular.

Ich überlegte ruhig. ›Ich glaube nicht, daß wir das Manuskript jemals hier gehabt haben. Sagen Sie, ich sei bis halb eins beschäftigt. Dann könne ich zehn Minuten für eine Unterredung mit Mr. Sumner erübrigen, mit Mr. Sumner allein, wohlgemerkt. Betonen Sie das. Ich sehe durchaus nicht ein, was Mr. Barnado dabei zu tun hätte. Und betonen Sie, daß es eine besondere Gunst sei, mich sprechen zu dürfen.‹

Das Mädchen kam nicht wieder. Ich wandte mich aufs neue der Betrachtung der Lage zu. Bis halb eins mochte ein gut Teil der ersten Angriffswut verraucht sein. Beide Männer waren aus fernabliegenden Teilen Londons gekommen und würden nun auf der Straße oder in einer Schenke zu warten haben. Barnado würde vielleicht vor der angegebenen Zeit nach seinem Geschäft in Epsom zurück müssen. Seine Rolle war ja auch nur gewesen, meine Identität festzustellen. Auf keinen Fall wollte ich vor einem Zeugen mit Sumner sprechen. Wenn er wieder mit Barnado erschiene, würde ich ihn abweisen lassen. Ich hatte einen Plan für ein Gespräch mit Barnado allein, und einen für Sumner allein, für beide zusammen aber hatte ich keinen.

Meine Aufschubpolitik erwies sich als gut. Um halb eins kam Sumner allein. Er wurde in mein Zimmer geführt.

›Setzen Sie sich‹, sagte ich kurz, lehnte mich in meinen Stuhl zurück, starrte ihm ins Gesicht und wartete schweigend darauf, daß er beginne.

Einige Augenblicke lang sagte er nichts. Er hatte offenbar erwartet, daß ich das Gespräch mit einer Frage eröffnen würde, und sich eine Entgegnung zurechtgelegt. In einen Stuhl gesetzt und angeschaut zu werden, brachte ihn ein wenig aus der Fassung. Er versuchte, mich zornig anzustarren, und ich betrachtete sein Gesicht so etwa, wie man eine Landkarte studiert. Und während ich das tat, fühlte ich, wie mein Haß schwand oder sich verwandelte; er war nicht der Mann, Haß zu erwecken. Er hatte ein so armes, gemeines, dummes Gesicht, ganz hübsche, aber schwächliche Züge; von Zeit zu Zeit ging ein nervöses Zucken darüber. Sein strohfarbiger Schnurrbart war auf der einen Seite stärker gestutzt als auf der anderen, und seine recht schäbige Krawatte hatte sich verschoben und ließ den Kragenknopf und die Unsauberkeit des Kragens sehen. Er hatte den Mund ein wenig verzogen und in dem Bemühen, möglichst wild zu blicken, den Kopf vorgeschoben; er riß die wässrig-blauen Augen auf, so weit er konnte, und starrte mich an.

›Wo ist meine Frau, Smith?‹ sagte er schließlich.

›Sie ist mir wie Ihnen unerreichbar, Mr. Sumner.‹

›Wo haben Sie sie versteckt?‹

›Sie ist fort‹, sagte ich. ›Aber es ist nicht mein Werk.‹

›Sie ist zu Ihnen zurückgelaufen.‹

Ich schüttelte den Kopf.

›Sie wissen, wo sie ist?‹

›Sie ist fort, Sumner. Lassen Sie sie in Frieden. Geben Sie sie auf.‹

›Ich sie aufgeben? Geben Sie sie auf! Ich denke nicht daran. Da haben Sie das Mädel geheiratet und mit ihr schöngetan, und wie sie dann endlich einen trifft, der ein richtiger Mann ist, nicht so einer wie Sie, und der mit ihr umgeht, wie man mit einer Frau umgehen muß, kommen Sie daher, setzen sie vor die Tür, lassen sich von ihr scheiden, und das gerade dann, wo ihr Kind kommen soll, und nachher fangen Sie an, Ränke zu spinnen, um sie von dem Mann wieder los zu kriegen, den sie liebt –‹

Er hielt inne, weil er nicht weiter wußte oder weil ihm der Atem ausgegangen war. Er wollte mich in Wut versetzen und zu einer heftigen Gegenrede reizen. Ich sagte nichts.

›Ich will Hetty zurückhaben‹, fuhr er fort. ›Sie ist meine Frau, und ich will sie zurückhaben. Sie gehört mir. Und dieser Unsinn muß aufhören, je eher, desto besser.‹

Ich lehnte mich vor und stützte die Ellbogen auf meinen Schreibtisch.

›Sie werden sie nicht zurückbekommen‹, sagte ich sehr ruhig. ›Wie wollten Sie es bewerkstelligen?‹

›Bei Gott, ich werde sie zurückbekommen – und wenn es mich den Kopf kostet.‹

›Schön. Was wollen Sie also tun?‹

›Was ich tun werde? Das ist sehr einfach. Ich bin ihr Gatte.‹

›Nun?‹

›Sie haben sie.‹

›Nicht ein Zipfelchen von ihr.‹

›Sie ist abgängig. Ich werde auf die Polizei gehen.‹

›Gut. Gehen Sie zur Polizei. Und was kann die tun?‹

›Ich werde sie auf Sie hetzen.‹

›Da irren Sie. Die Polizei wird sich nicht im geringsten um mich kümmern. Wenn Sie die Polizei davon verständigen, daß Ihre Frau abgängig ist, dann müssen notwendigerweise Nachforschungen angestellt werden, und dabei wird man Ihrer Bande auf die Spur kommen. Die Polizei wird sehr erfreut sein über die Gelegenheit, die sich ihr da bietet. Mich wird man belästigen, meinen Sie? In Ihrem Haus wird man den Keller aufgraben, um nach dem Leichnam zu suchen. Sie werden verhört, Ihre Wohnung wird durchstöbert werden, und was die Polizei zu tun unterläßt, das werden Ihre Spießgesellen besorgen.‹

Sumner lehnte sich vor und schnitt eine Grimasse, um seinen Worten stärkeren Nachdruck zu verleihen.

›Mit Ihnen ist sie zuletzt gesehen worden‹, sagte er.

›Dafür gibt es keinen Beweis.‹

Sumner stieß einen Fluch aus.

›Er hat Sie gesehen.‹

›Das kann ich vollkommen leugnen. Ihr Freund Barnado taugt nicht viel als Zeuge. Seien Sie nicht allzu sicher, daß er seine Behauptung aufrecht halten wird. Das Ganze sieht nicht gut aus. Eine Frau verschwindet, und da soll einer etwas noch dazu nicht sehr Stichhaltiges gegen den Mann aussagen, dem der Gatte der Vermißten feindselig gesinnt ist. Nein, Sumner, diesen Weg würde ich an Ihrer Stelle nicht einschlagen. Und selbst wenn Barnado zu Ihnen hält, was ist damit bewiesen? Wissen Sie sonst noch jemanden, der behauptet, mich mit Hetty gesehen zu haben? Sie werden niemanden finden! ...‹

Sumner streckte die Hand gegen meinen Tisch hin aus. Er saß zu weit ab, um darauf schlagen zu können, darum schob er seinen Stuhl etwas näher heran. Dann schlug er los, aber die Wirkung war gering. ›Hören Sie,‹ sagte er, und befeuchtete sich die Lippen, ›ich will Hetty wiederhaben und werde sie wiederhaben. Sie sind jetzt wunderbar gelassen und tun sehr patzig, aber bei Gott, ich werde Ihnen die Hölle noch heiß machen. Sie glauben, Sie können sie mir wegnehmen und mir dann noch was vorschwindeln. Da irren Sie sich aber gewaltig. Wenn ich nun nicht zur Polizei gehe? Wenn ich die Sache selber in die Hand nehme? Wenn ich mich in Ihre Wohnung begebe und dort Ihrer Frau den Fall vortrage – he, was dann?‹

›Das wäre unangenehm‹, sagte ich.

Er sah seinen Vorteil. ›Aber schon sehr unangenehm.‹

Ich beobachtete den erzwungen zornigen Ausdruck seines Gesichtes.

›Ich werde sagen, daß ich von dem Verschwinden Ihrer Frau nichts wisse und daß Sie ein Lügner und Erpresser seien. Man wird mir glauben. Meine Frau wird mir ganz bestimmt glauben. Und sie würde mir auch glauben, wenn die Geschichte, die Sie vorbringen, weit weniger unwahrscheinlich wäre. Ein hübsches Paar Ankläger, Ihr Freund Barnado und Sie! Ich werde sagen, daß Sie ein Narr und von Eifersucht besessen seien, und wenn Sie mich allzu lange belästigen, dann werde ich mich an die Polizei wenden, und es wäre mir nicht einmal sehr leid, wenn ich Ihnen diese Unannehmlichkeit bereiten müßte. Vergessen Sie nicht, daß ich eigentlich allerlei mit Ihnen abzurechnen hätte. Es wäre nur billig, wenn Sie nun doch noch für Vergangenes bezahlen müßten.‹

Ich hatte die Oberhand. Er war verwirrt und zornig, wirklichen Kampfesmut aber besaß er nicht. Das sah ich klar.

›Und Sie wissen, wo sie ist?‹ fragte er.

Ich war nun doch zu erregt, um vorsichtig zu sein. ›Ja, ich weiß, wo sie ist, und Sie werden sie nie wieder sehen – was immer Sie tun mögen. Und wie schon gesagt, was könnten Sie überhaupt tun?‹

›Himmelherrgott!‹ schrie er. ›Meine eigene Frau!‹

Ich lehnte mich mit der Miene eines Menschen in den Stuhl zurück, der eine Unterredung zum Abschluß gebracht hat. Ich sah auf meine Armbanduhr.

Er stand auf.

Ich blickte ihn freundlich an. ›Nun?‹ sagte ich.

›Hören Sie,‹ stammelte er, ›ich lass' mir das nicht gefallen. Bei Gott! Ich sage Ihnen, ich will Hetty wiederhaben, ich brauche sie. Ich will sie wiederhaben und mit ihr tun können, was mir beliebt. Glauben Sie, daß ich mich so abfertigen lasse, ich? Sie gehört mir! Sie – niederträchtiger Dieb!‹

Ich nahm den Entwurf einer Illustration in die Hand und betrachtete Sumner mit einem Ausdruck milder Nachsicht, der ihn in Wut versetzte.

›Hab' ich sie nicht geheiratet? Was ich gar nicht nötig hatte. Wenn Sie sie haben wollten, warum zum Teufel haben Sie sie nicht behalten, als sie noch bei Ihnen war? Ich sage Ihnen, ich werde mir das nicht gefallen lassen.‹

›Mein lieber Sumner, ich wiederhole Ihnen, was wollen Sie machen?‹

Er beugte sich über meinen Schreibtisch und streckte, den Lauf einer Pistole andeutend, einen Finger gegen mein Gesicht. ›Ich werde Ihnen eine Kugel durch den Kopf jagen‹, sagte er.

›Gut, ich bin gewarnt‹, erwiderte ich.

Er erging sich in einigen weiteren Schmähungen meiner Person.

›Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu streiten‹, sagte ich, ›und ich glaube, unsere Unterredung ist beendet. Bitte, benehmen Sie sich anständig, wenn mein Schreibfräulein hereinkommt.‹

Ich drückte auf die Klingel neben meinem Schreibtisch.

Sein Abgang war schwach. ›Sie werden noch von mir hören. Und was ich Ihnen sagte, meine ich ganz ernst.‹

›Bitte, beachten Sie die Stufe‹, sagte ich.

Die Tür schloß sich hinter ihm, und ich blieb zitternd vor Erregung, aber triumphierend zurück. Ich hatte ihn geschlagen und fühlte, daß er auch weiterhin den kürzeren ziehen würde. Immerhin war es möglich, daß er wirklich zu schießen versuchte – einen Revolver hatte er wahrscheinlich –, es war aber zehn zu eins zu wetten, daß er es nur in einem besonders günstigen Augenblick wagen würde. Und bei seinem nervös zuckenden Gesicht und seiner zittrigen Hand war die Aussicht, daß er mich treffen würde, gering. Jedenfalls würde er zielen und vermutlich zu früh schießen. Und selbst wenn es ihm gelänge, mich zu treffen, würde er mich höchstwahrscheinlich nur leicht verwunden. Und dann würde ich eben gegen ihn auftreten. Milly würde wohl eine böse Erschütterung erleben, aber ich würde das schon wieder in Ordnung bringen.

Lange saß ich da und erwog alle Möglichkeiten des Falles. Je mehr ich nachdachte, desto zufriedener war ich mit dem Stand der Dinge. Es war zwei Uhr, und meine gewöhnliche Mittagsstunde war längst vorüber, als ich endlich in meinen Klub ging. Ich leistete mir den ungewöhnlichen Luxus einer halben Flasche Champagner.«

9

»Ich glaubte nicht recht daran, daß Sumner mich erschießen würde, bis er mich tatsächlich erschoß.

Er lauerte mir in der schmalen Seitengasse auf, die zum Hof des Thunderstone House führte, als ich nach dem Mittagessen ins Büro zurückkehrte; es war genau eine Woche nach unserer ersten Begegnung, und ich hatte schon zu hoffen begonnen, er habe sich mit seiner Niederlage abgefunden. Er hatte getrunken, und als ich sein gerötetes, halb zorniges und halb beängstigtes Gesicht sah, ahnte ich, was kommen werde. Ich erinnere mich, wie mir sofort der Gedanke durch den Kopf zuckte, daß ich ihn entfliehen lassen müsse, wenn mir etwas geschehen sollte, denn sonst würde nach meinem Tode der ganze Sachverhalt aufgedeckt werden. Im Grunde aber glaubte ich eigentlich doch nicht, daß er Manns genug sei, um zu schießen. Ich glaube es auch heute noch nicht. Er schoß nur, weil er Nerven und Muskeln nicht in der Gewalt hatte.

Er zog die Pistole erst hervor, als ich dicht vor ihm stand. ›Jetzt hab' ich Sie aber! Wo ist meine Frau?‹ sagte er, hob die Pistole und richtete sie auf mich.

Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete. Wahrscheinlich sagte ich: ›Geben Sie das Ding da weg‹, oder etwas dergleichen, und dürfte danach gegriffen haben. Der Knall eines Schusses erfolgte sofort und schien mir sehr laut. Ich hatte ein Gefühl, als ob mir ein Tritt ins Kreuz versetzt worden wäre. Die Pistole war eine von denen, die automatisch weiterfeuern, solange der Hahn zurückgedrückt ist. Sie gab zwei weitere Schüsse ab, einer davon traf mich ins Knie und zerschmetterte es. ›Verfluchtes Ding‹, schrie Sumner und warf sie zu Boden, als ob sie ihn gestochen hätte. ›Mach', daß du fortkommst, Dummkopf! Lauf'!‹ sagte ich, indem ich auf ihn zuwankte. Im Fallen sah ich einen Augenblick sein entsetztes Gesicht knapp vor mir. Er stieß mich mit der Hand zurück, während ich schwankte, und stürzte an mir vorbei gegen die Hauptstraße.

Ich muß mich im Fallen gedreht haben und dadurch in eine halb sitzende Stellung gelangt sein, denn ich erinnere mich deutlich, wie er meinen Blicken entschwand, als er gleich einem davonjagenden Kaninchen in die Tottenham Court Road einbog. Ich sah einen Lastwagen und dann einen Omnibus die Einmündung der kleinen Seitenstraße passieren, der Pistolenschüsse, die meinen Ohren so entsetzlich laut geklungen hatten, nicht achtend; auch ein Mädchen und ein Mann gingen völlig gleichgültig vorüber. Sumner war entkommen, der arme Teufel! Ich hatte ihm seine Hetty gestohlen. Und nun –

Ich war ganz klar im Kopf. An der Stelle, wo ich getroffen worden war, hatte ich ein Gefühl von Erstarrung, Schmerz aber empfand ich nicht. Hauptsächlich kam mir mein zerschmettertes Knie zu Bewußtsein, es sah eklig aus, ein Gemisch von zerfetztem Stoff und verwundetem Fleisch rings um ein zersplittertes rötliches Ding, das ich als das Ende des Knochens erkannte.

Mit einem Mal standen Leute um mich herum und sprachen zu mir. Sie waren wohl aus dem Hof oder aus der Schenke herausgekommen. Mein Entschluß war schnell gefaßt. ›Meine Pistole ist mir in der Hand losgegangen‹, sagte ich und schloß die Augen.

Dann befiel mich die Angst, man könnte mich in ein Spital bringen. ›Meine Wohnung ist nicht weit von hier,‹ sagte ich, ›8, Chester Terrace, Regent's Park. Bringen Sie mich dorthin, bitte.‹

Ich hörte, wie jemand die Adresse wiederholte, und erkannte die Stimme des Portiers von Crane & Newberry. ›Ganz recht,‹ sagte er, ›es ist Mr. Mortimer Smith. Kann ich etwas für Sie tun, Mr. Smith?‹

An die Einzelheiten der nun folgenden Vorgänge erinnere ich mich kaum. Als man mich aufhob, fühlte ich Schmerzen. Ich klammerte mich offenbar mit aller mir noch zu Gebote stehenden Kraft an die Vorstellung dessen, was ich zu sagen und zu tun mir vorgenommen hatte; was sonst um mich herum geschah, vermochte mein Gedächtnis sich nicht mehr einzuprägen. Ein- oder zweimal dürfte ich das Bewußtsein verloren haben. Newberry hatte an den Vorgängen irgendwelchen Anteil; ich glaube, er brachte mich in seinem Wagen nachhause. ›Wie ist das nur geschehen?‹ fragte er. Daran erinnere ich mich ganz genau.

›Das Ding ist mir in der Hand losgegangen‹, erwiderte ich.

Zweierlei dachte ich immer wieder ganz klar. Was immer geschah, der arme dumme, gehetzte Betrüger Sumner würde nicht gehängt werden. Und was immer geschah, Hettys Geschichte durfte nicht ans Tageslicht kommen. Denn sonst würde Milly unbedingt glauben, ich sei ihr untreu gewesen, und Sumner habe mich deshalb erschossen. Hetty war fort. Um sie brauchte ich mich nicht mehr zu sorgen. Nur an Milly hatte ich zu denken – und an Sumner. Merkwürdigerweise scheine ich vom ersten Augenblick an gewußt zu haben, daß ich tödlich verwundet war.

Milly erschien, angstvoll und hilfsbereit.

›Ein Unfall‹, sagte ich unter Aufgebot aller Kräfte. ›In der Hand losgegangen.‹

Mein eigenes Bett.

Die Kleider werden mir losgeschnitten. Am Knie ist der Stoff kleben geblieben – der neue graue Anzug, den ich den ganzen Sommer hindurch hatte tragen wollen.

Zwei Fremde tauchen auf. Ärzte, geht es mir durch den Kopf. Sie flüstern, einer von ihnen hat die Ärmel hochgestülpt und läßt ein paar dicke, rosige Arme sehen. Ein Schwamm und das Plätschern von Wasser, das man in eine Waschschüssel gießt. Sie untersuchen mich. Verdammt! Das tat weh! Dann etwas scharf Brennendes. Wozu nur? Ich steckte in dem Körper drin, den sie untersuchten, und wußte genau Bescheid, wußte, daß ich ein toter Mann war.

Dann wieder Milly.

›Liebste‹, flüsterte ich. ›Liebster!‹ Und ihr armes tränenüberströmtes Gesicht blickte mich zärtlich an.

Tapfere Milly! Das Schicksal war ungerecht gegen sie.

Fanny? War Newberry sie holen gegangen? Er war jedenfalls verschwunden.

Sie würde nichts über Hetty sagen. Würde nichts verraten. Sie ist verläßlich, ist treu, treu wie – wie heißt es doch? – irgend etwas.

Die Ärmsten! Wie bestürzt und erregt sie alle waren. Ich schämte mich fast, daß ich im innersten Herzen froh war, aus dem Leben gehen zu können. Aber ich war froh. Als ob in einem dumpfen Zimmer eine Fensterscheibe eingeschlagen worden wäre, so hatte der Pistolenschuß gewirkt. Ich fühlte den lebhaften Wunsch, bei denen, die ich zurückließ, einen liebevollen und trostreichen Eindruck zu hinterlassen. Die Ärmsten, die vielleicht noch viele Jahre im dumpfen Wirrsal dieser Welt würden weiterleben müssen. Das Leben! Welch ein qualvolles Wirrsal war es doch gewesen! Ich brauchte nun wenigstens nicht alt zu werden ...

Irgend etwas Neues begibt sich, aus dem Nebenzimmer kommen Leute herein. Der eine ist ein Polizei-Inspektor in Uniform. Dem anderen sieht man trotz der Zivilkleidung den Polizeibeamten deutlich an. Nun ist der Augenblick gekommen! Ich bin ganz klar im Kopf – ganz klar. Nun muß ich aufpassen, was ich sage. Und wenn es mir besser scheint, gar nichts zu sagen, dann schließe ich eben die Augen.

›Innerliche Verblutung‹, sagte jemand.

Der Polizei-Inspektor setzte sich an mein Bett. Was für ein Walfisch war der Kerl doch! Er begann Fragen zu stellen. Ich überlegte, ob wohl irgendjemand Sumner gesehen haben mochte – Sumner, wie er gleich einem Kaninchen davonjagte. Darauf mußte ich's eben ankommen lassen.

›Sie ist mir in der Hand losgegangen‹, sagte ich.

Was fragte der Kerl? Wie lange ich den Revolver schon hätte?

›Heute mittag gekauft‹, sagte ich.

Fragte er nun, warum? Ganz recht. ›Um das Schießen nicht zu verlernen.‹

Wo? Ja, er wollte wissen, wo ich die Pistole gekauft hätte. ›Highbury.‹

›In welchem Teil von Highbury?‹ Aha, sie wollten der Herkunft der Pistole nachgehen, das sollten sie nicht. Die Schnitzeljagd mußte ich dem Herrn Inspektor verderben. ›In der Nähe von Highbury.‹

›Nicht in Highbury selbst?‹

Ich stellte mich schwach und wirr. ›Dort drüben‹, sagte ich matt.

›Bei einem Pfandleiher?‹

Am besten gar nicht antworten. Dann sagte ich, als ob es mich große Anstrengung kostete: ›Kl–einer L–laden.‹

›Ein nicht ausgelöstes Pfand?‹

Darauf erwiderte ich nichts. Ich dachte an eine andere Nuance, die ich meiner Darstellung geben könnte.

In schwach empörtem Ton sagte ich: ›Ich wußte nicht, daß sie geladen war. Wie hätte ich das ahnen sollen? Eine Pistole darf doch nicht geladen verkauft werden. Ich wollte sie mir betrachten –‹

Ich hielt inne und heuchelte Erschöpfung. Dann fühlte ich, daß ich nicht heuchelte, sondern wirklich erschöpft war. Alle Kraft schwand mir. Ich versank, glitt hinweg, aus dem Zimmer hinaus, weg von den Menschen, die mich umstanden. Sie wurden klein, schwach und verschwommen. Hatte ich noch irgend etwas sagen wollen? Es war jedenfalls zu spät dazu. Ich sank in Schlaf, sank in einen tiefen, tiefen Schlaf ...

Ganz weit weg war nun der Raum und die Menschen darin, weit, weit weg und unendlich klein.

›Es geht zu Ende‹, sagte eine fernklingende Stimme.

Einen Augenblick lang war es, als kehrte ich zurück.

Milly kam durch das Zimmer auf mich zu, ich hörte ihr Kleid rauschen ...

Und dann hörte ich Hettys Stimme wieder. Ich öffnete die Augen, und Hetty beugte sich über mich, da droben auf jener lieblichen Bergwiese. Nur war Hetty Heliane geworden, die geliebte Herrin und Meisterin meines Lebens. Und die Sonne beschien mich und sie, und ich rekelte mich, denn mein Rücken war ein wenig steif, und das eine Knie schmerzte mich.«

»Ich rief: wach' auf!« sagte Heliane. »Wach' auf! und ich schüttelte dich.«

»Und dann kamen wir, Iris und ich, und lachten dich aus«, sagte Beryll.

»Und du sagtest: ›Es gibt also noch ein Leben‹«, fiel Iris ein. »Und die Geschichte ist nur ein Traum! Es ist eine wunderbare Geschichte, Sarnac, und irgendwie glaube ich doch, daß sie wahr ist.«

»Das ist sie auch«, sagte Sarnac. »So gewiß ich heute und hier Sarnac bin, so sicher war ich einst Harry Mortimer Smith.«


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