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Schlusswort

Im Vorausgegangenen habe ich mit einigen Wiederholungen und vielem Straucheln eine ziemlich umfassende Theorie auseinandergesetzt, was Frauen und Männer der Jetztzeit zu tun hätten, um das menschliche Leben wieder hoffnungsvoll zu gestalten und Glück und Vollendung herbeizuführen. Ich hatte das meiste meines Stoffes für Vorlesungen ausgearbeitet und bedaure noch, dass Krankheit mich daran verhindert hat, diese Teile neu zu schreiben. Der warnende Zeigefinger ist häufiger erhoben, als es sich für ein Essay schickt. Es ist dies aber mehr ein Schönheits-, als ein Klarheitsmangel. Und da ich Tatsachen darlege und dem Leser kein literarisches Werk darbieten will, so glaube ich mich nicht entschuldigen zu müssen, wenn ich zum Schlusse dieses Buches die wichtigsten Gesichtspunkte noch einmal zusammenfassend hervorhebe.

Diese sind erstens: Der grosse Wandel in der Beschaffenheit der menschlichen Lebensumstände, und zweitens: die grosse Aufgabe der Anpassung an diese Verhältnisse, die hauptsächlich eine innerliche und geistige sein soll und die grosse Aufgabe unseres heutigen Geschlechts ist.

Politiker und Staatsmänner, die von einem Tag zum andern, von einem Ereignis zum andern leben, können diese Aufgabe in hohem Grade fördern oder hindern, eine Führung oder Herrschaft kann aber nicht von ihnen erwartet werden. Politiker und Staatsmänner leben und arbeiten notgedrungen in den Vorstellungskreisen ihrer Zeit. Unter dem Druck der allgemeinen Meinung können sie nachgeben und auch nützen, die treibende Kraft aber dieser grossen Aufgabe kann nicht von offizieller Seite kommen, sondern nur von dem unentwegten, entschlossenen Drängen nach Erziehung und Bildung einer ständig wachsenden Anzahl tief überzeugter Menschen. In Zeiten allgemeiner Schwankungen, Begriffsverschiebungen, Umwertungen aller Werte, steigt die Bedeutung des Lehrers – dieses Wort im weitesten Sinne genommen – mit der zunehmenden Auflösung der bestehenden Ordnungen.

Die schöpferische Verantwortlichkeit für die heutige Welt geht immer mehr auf die Schriftsteller über, auf die Schullehrer, die Studenten der sozialen Wissenschaften, Professoren und Dichter, Verleger und Journalisten, Zeitungsredakteure, Prediger, kurz auf alle uneigennützigen Leute, die einer Idee leben, die Kraft und Zeit dem Wiederaufbau des sozialen Gedankens widmen wollen. Bevor wir nicht einen weltumfassenden, sozialen Gedanken herauskristallisieren, wird sich das menschliche Leben immer chaotischer gestalten. Dieses – und keine der bestehenden Einrichtungen, keines der heute verfolgten Ziele – ist es, worauf es in der jetzigen Zeit ankommt.

Wir brauchen daher mehr als andere Organisationen, erzieherische Organisationen; wir brauchen mehr als alle andere Arbeit, erzieherische, aufklärende Arbeit; wir brauchen daher überall tätige Gesellschaften, die eine wirksame und tüchtige Leitung der öffentlichen Schulen, einen umfassenden, aufklärenden Lehrplan, ein weltumfassendes Erziehungsprogramm fordern und herbeiführen. Der bisherige Kostenaufwand für Flotte, Heer und Hofhaltung muss erbarmungslos erzieherischen Zwecken untergeordnet werden und es muss systematisch der Aufhetzung von Volk gegen Volk, Rasse gegen Rasse, Klasse gegen Klasse entgegengearbeitet werden. Ich wünschte, es könnten sich überall Erziehungsvereine zusammenschliessen, um die verschiedenen örtlichen Behörden zu überwachen, damit an weniger wichtiger Stelle gespart und die Ersparnisse für Erziehungszwecke verwandt werden; ich wünschte eine Überwachung der Kulturfeindlichkeit, der Reaktion und der schädlichen nationalistischen Lehren in den Schulen, Universitäten und in der Presse; eine Überwachung der Parlamentarier und leitenden Männer, in Hinsicht ihrer erzieherischen Absichten; eine Überwachung der Bibliotheken und Beschaffung gesunder Literatur; die Begründung eines Geldfonds zu erzieherischer Propaganda in armen Ländern wie China und so vernachlässigten wie Irland, unter Zusammenschluss ähnlicher Vereine in der ganzen Welt. Ich bin überzeugt, dass derartige Gemeinschaften in kurzem mehr Einfluss gewinnen könnten, als die gewöhnlichen politischen Klubs und Parteien, die heute in unserer abendländischen Welt so viel Energien verbrauchen. Wenn alle niedrigen politischen Erwägungen der erzieherischen Entwicklung, als dem was uns in unserer Zeit am meisten nottut, unterstellt würden, könnten selbst kleine Gemeinschaften eine grosse entscheidende Rolle im politischen Weltgang spielen. Und eine erzieherische Bewegung wird sich kräftiger behaupten als jede andere soziale oder politische Bewegung. Denn sie erzieht ihre Anhänger. Und was sie gewonnen, bleibt ihr. Ich lege allen Nachdruck, alle Bedeutung auf die erzieherische Notwendigkeit der Jetztzeit und weiss, dass es manchem Leser erscheinen mag, als liesse ich geflissentlich die tiefen, sich ständig entwickelnden ökonomischen, sozialen und Rassen-Konflikte ausser Acht. Ich tue es auch. Ich bin der Meinung, dass wir es in allen unseren menschlichen Angelegenheiten und Konflikten nur dann weiter bringen können, wenn wir sie zu vergessen suchen. Ich mache keinerlei politische Vorschläge oder Vorschriften in Fragen der Parteiergreifung für Frankreich oder Deutschland, Irland oder England, im Klassenkampf überhaupt. Ich kann keine Vorschläge machen, weil ich der Meinung bin, dass alle derartigen Konflikte vernunftwidrig und zerstörend sind und wirken, dass es für einen gesund denkenden Menschen, der der Welt dienen will; unmöglich wäre, in irgend einem Sinne Partei zu ergreifen. Diese Konflikte spiegeln den groben, leidenschaftlichen Stumpfsinn und Parteisinn unserer jetzigen Welt wieder. Der Klassenkampf, die Für- und Gegenbewegungen in dieser unbestimmten Neugestaltung, die man soziale Revolution nennt, alle diese Erscheinungen, sind die natürlichen Folgen der moralischen und intellektuellen Verworrenheit, die unsere Begriffe über Besitz und Eigentum beherrscht. Der Kapitalist, der Arbeitgeber, die besitzende Klasse – als Klasse – haben weder genug Vernunft noch Gewissen, um irgend welche moralischen Grenzen anzuerkennen. In der Verfügung über ihren Besitz sehen sie keine andere Grenze als den strengen Arm des Gesetzes. Ihre finstere, eigensinnige Unwissenheit, ihr grobes Abenteurertum, genannt Unternehmungsgeist, ihre unbewusste Frechheit den Armen gegenüber, ihre stumpfe, offenkundige Selbstgenügsamkeit, rufen als notwendige Folge den Hass der Arbeiter und Enteigneten hervor. Auf der einen Seite sehen wir Habsucht, Gefühllosigkeit und Unfähigkeit, auf der andern Leid und Neid, die zu rachsüchtiger Empörung führen. Auf keiner Seite Grossmut oder schöpferischen Willen. Keine der beiden vermag uns irgend eine der Wirklichkeiten zu bieten, die wir brauchen. Auf keiner finden wir etwas anderes, als Hass und Angriff. Wie könnten wir hier in irgend einem Sinne Partei ergreifen?

Die jetzige Ordnung kann offenbar, es sei denn dass sie Verstand und Herz in einem höheren Sinn ausbilde, nur zu neuen Kriegen, Zerstörung dessen, was von den Menschen noch übrig ist, führen, bis das Unheil uns alle verschlungen haben wird. Offenbar hat der revolutionäre Kommunist, auf seiner jetzigen Entwicklungsstufe, weder die Absicht noch die Fähigkeit, eine bessere Ordnung an Stelle der jetzigen, unsinnigen zu setzen, die ihrem Ende zuneigt. Auf einer höheren, geistigen Entwicklungsstufe, auf einer Stufe, auf der es möglich sein wird, die Eigentumsbegriffe zu klären und ein wahrhaft redliches, erfolgreiches Zusammenwirken von Individuum und Staat herbeizuführen, wird der zerstörende Konflikt zwischen Arbeitgeber und fanatischen Kommunisten, der eben die Welt zugrunde richtet – erlöschen. Er wird so vollständig erlöschen und verschwinden, wie die Ursachen eines mörderischen Streites zwischen zwei Betrunkenen, wenn man dieselben trennt und unter einen Strahl kalten Wassers stellt.

So bitte ich denn den Leser, sich von den Konflikten nationaler Politik, politischen Partei- und Rassenkampfes, trotz ihrer scheinbaren Dringlichkeit, so viel als möglich abzuwenden; oder sollte er sich nicht völlig davon lösen können, doch die Stellung, die er darin einnimmt, den Einfluss, den er ausübt, auszunutzen, um vor allem eine weitgehende Erziehung herbeizuführen, auf der wir eine neue Weltordnung begründen können. Ein entschlossenes Streben könnte in ganz kurzer Zeit die Grundlagen unseres menschlichen Daseins wieder aufrichten.

Ich habe in diesem Buch zu zeigen versucht, welcher Art dieses Streben sein müsste, ich habe zu zeigen versucht, dass begründete Hoffnung auf einen endlichen Erfolg vorliegt und dass, solange es ausbleibt, die Aussichten der Menschheit ausserordentlich trübe sind. Ich stelle diese Fragen der Betrachtung des Lesers anheim. Es sind keine flüchtigen Werturteile des Lebens, keine zufälligen Klagen über unsere heutigen Misstände, ich biete sie als grundlegende Vorschläge zu einem geordneten Aufbau an, bei welchem der Leser seiner Stellung und seinen Gaben entsprechend, leicht die ihm angemessene Rolle finden wird.


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